Fingerabdrücke bleiben
von Lynnix
Kurzbeschreibung
Nayeli genießt ihre letzte Woche als Studentin und lebt mit ihrer indianisch stämmigen Familie in einem alten Haus neben den Klippen des Superior Lakes. Sie kann es kaum erwarten ihren künftigen Job anzutreten, mit dem ihr eine aussichtsreiche Zukunft bevorsteht. Trotz Strapazen empfindet sie ihr Leben als perfekt aber was sie bis zu dem Zeitpunkt noch nicht weiß ist, dass ihr Vater eine große Last mit sich herumschleppt, dessen Folgen ihr den Boden unter den Füßen wegreißen werden. Die junge Frau lernt jemanden kennen, von dem sie noch nicht weiß, ob er Freund oder Feind ist. Plötzlich ist sie auf fremde Hilfe angewiesen, muss hinter Masken sehen, verstehen wie korrupt das Land ist, in dem sie lebt und auf schmerzhafte Weise Stück für Stück erfahren, wie tief ihr Vater in die Ereignisse verstrickt war. Sie muss Entscheidungen treffen, von denen sie glaubte, so etwas niemals tun zu müssen. Aber wie weit muss sie gehen um Schmerzen und Verlust zu überwinden?
GeschichteDrama, Krimi / P16 / Gen
23.02.2018
25.11.2021
129
578.228
7
Alle Kapitel
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10.05.2019
5.268
Kapitel 26 – Gnadenloser Trainer
Während Ruby und die Anderen nun selbst das Vergnügen mit Cataley haben, muss ich in das erste Obergeschoss. Wie bei Henrys Unterricht setze ich mich bei Simon ebenfalls nach vorn.
Für gewöhnlich mag ich es nicht in der ersten Reihe zu sitzen, aber hier vorne bekomme ich den Stoff viel besser mit und ich kann leichter lesen, was an die Wand projiziert oder auf das Flipchart geschrieben wird.
Auch Jim kommt kurz nach mir in den Unterrichtsraum und setzt sich neben mich. Ich blättere in meinen Aufzeichnungen herum und suche die Seiten der letzten Unterrichtsstunde.
>Ist das nicht ein bisschen doof als einzige Frau hier zu sein? Die Schule besteht ja aus einer Männerdomäne. < fragt Jim.
>Nicht wirklich. Es ist zwar schade, dass meine Freundin eine Stufe höher ist, aber sonst ist es okay. Die Anderen sind total in Ordnung. <
>Die wissen doch aber sicher gar nicht, wie sie mit dir umgehen sollen. Wer schlägt denn so eine … <
Ich funkle ihn böse an und offensichtlich bleibt ihm sein Spruch im Hals stecken.
>So eine was? So eine schmächtige, kraftlose Frau? Was glaubst du eigentlich was du tun musst, wenn deine Zielperson später weiblich ist? Willst du sie davonkommen lassen, nur weil sie nicht bedrohlich aussieht? <
>So habe ich das nicht gemeint. < rudert er zurück. >Aber ich würde dir nichts brechen wollen. Das macht man einfach nicht. <
>Lass uns nächste Stunde zusammen trainieren, dann siehst du wie schlecht du mir etwas brechen kannst, okay? <
Er schaut etwas skeptisch, da ich es so offensiv anbiete. Entweder denkt er, dass er mich wirklich auf keinen Fall schlagen möchte oder er bekommt ein kleines bisschen Angst, ob ich vielleicht doch nicht so harmlos bin wie ich aussehe. <
>Ehm … na schön. <
Dann kommt Simon in den Raum hinein. Er begrüßt noch einmal alle Neuen und verkündet, dass sie alle einfach mit in den Stoff einsteigen sollen und dass sie schon mitkommen werden. Die letzte Unterrichtsstunde mit ihm war genial und hat solchen Spaß gemacht, als wir mit den Wagen die Verfolgungsfahrt trainieren konnten. Inzwischen weiß ich, dass wir das in der zweiten und dritten Stufe auch nochmal machen. Der Schwierigkeitsgrad wird eben nur jedes Mal erhöht, genauso wie beim Schießen und Kämpfen.
Heute geht es um das, was Henry, Lukaz und auch Sam immer wieder predigen. Wir Schüler müssen lernen die Leute vor uns zu lesen. Ich habe mir am Wochenende im Club einen kleinen Spaß daraus gemacht und das bereits bei den Tanzwütigen versucht und sie in meinem Kopf analysiert. Aber bis dahin hatte ich noch keine Ahnung davon, wie man das wirklich macht.
Simon wirft einen flüchtigen Blick über uns Schüler und erklärt dann:
>Seit Beginn an dieser Schule sagen wir, dass es kaum etwas Wichtigeres gibt, als die gesuchte Person so gut wie möglich zu kennen. Die Lizenz bei uns zu bekommen ist leicht, aber den Alltag bestehen nicht viele neue Hunter. Ihr müsst eure Mimik und Gestik ebenfalls unter Kontrolle haben und nicht nur die des Flüchtigen verstehen. Für eure Zielperson reicht schon ein Zeichen der Schwäche, um euch plötzlich anzugreifen. Eine bebende Unterlippe, ein zitternder Finger am Abzug oder ein heftiges Atmen zeigen ihm, das ihr Unsicher seid oder Angst habt. Das ist fatal, denn ihr solltet nicht zögern bei dem, was ihr vorhabt. Dafür ist euer Job zu gefährlich. <
Ich sehe kurz in der Klasse umher, während Simon seinen Laptop hochfährt. So wie die neuen Schüler nach dieser kurzen Einleitung gucken, habe ich wohl auch am ersten Tag ausgesehen. Die sollen mal erstmal Henrys mörderische Statistik abwarten, da machen sie noch größere Augen.
Simons Beamer geht an und projiziert ein Bild von einem Mann an die Wand, der offensichtlich gerade in einem Verhör steckt.
>Ich zeige euch gleich ein Video, das einige Mikromimik und Gestik zeigt und wir klären hinterher auf, was deren Bedeutung dahinter ist. Wir beherrschen über 5000 Handgesten, mehr als 250.000 Gesichtsausdrücke und etwa 1000 verschiedene Körperhaltungen. 93 % der Kommunikation finden nonverbal statt. Unsere Augen reagieren 14-mal schneller als unsere Ohren und das bedeutet, dass ihr euch schon ein Bild von der Person machen könnt, noch bevor ihr überhaupt nur ein Wort mit ihr gewechselt habt. Ihr müsst lernen den Menschen vor euch sofort einzuschätzen und frühzeitig wissen, wann sie euch anlügt. Ihr könnt davon ausgehen, dass sie immer lügen wird, um aus ihrer Bredouille zu kommen. <
Simon tippt auf die Leertaste am Laptop und er spielt das Video ab. Es ist tatsächlich ein Verhör. Dem Angeklagten werden eine Menge Fragen gestellt, die er beantworten muss. Das Video zeigt zwei Perspektiven. Die Eine ist von etwas weiter weg, so wie der Polizist den Befragten sieht und die andere Ansicht zeigt das Gesicht des Täters ganz nah.
Diesem wird ein Bild von einer Frau gezeigt und er wird daraufhin gefragt, ob er sie getötet hat. Er verneint die Tat und kurz danach stoppt unser Trainer das Video.
>Was glaubt ihr? Sagt er die Wahrheit oder lügt er? < will Simon wissen.
>Er lügt. < platze ich heraus. Ups eigentlich wollte ich mich melden, aber es kam so herausgeschossen.
>Weshalb glaubst du das Kim? <
>Irgendwie wirkte er bei der Frage sehr verkrampft. Er hat mehrfach geschluckt und kurz zur Seite gesehen, als wollte er der Situation ausweichen. <
>Sehr gut! Wenn eine Person lügt, dann achtet besonders auf das Gesicht. Denn wer lügt, empfindet Angst. Der Körper sagt immer zuerst die Wahrheit, obwohl man sie verbergen will. Eine Millisekunde zuvor kann man seine wahren Gefühle nicht zurückhalten. Erst danach ist man in der Lage sein Pokerface aufzusetzen. Im Falle des Videos hat Kim recht. Das plötzliche Wegschauen, das nervöse Schlucken und er wirkt eingefroren – das alles sind Indizien dafür, dass er lügt. Was er außerdem noch getan hat, war, dass sich sein Mund und seine Augen vor Schreck geweitet haben. Außerdem blinzelte er übermäßig oft und hat seine Handflächen aneinander gerieben. <
Simon spielt das Video noch einmal ab und jetzt auf der vergrößerten Aufnahme seines Gesichtes, sieht man die winzige Sekunde, in der er seine Mimik nicht im Griff hat.
>Sogar die Pupillen weiten sich. < denke ich laut.
>Sehr guter Einwand. < johlt unser Trainer und deutet auf mich. >Geweitete Pupillen bedeuten Erregung. Der Mord hat ihm gefallen und als er daran erinnert wurde, gingen diese Gefühle mit ihm durch. Ihr seht also, die Sache ist komplexer als es auf den ersten Blick scheint. Ich zeige euch das nächste Band. <
Ich muss bei diesem Satz unweigerlich an meinen Dozenten vom College denken. Mister Berth – der kleine, unscheinbare Mann, der in Wahrheit ein Genie ist, wollte immer unseren Blick schärfen. Er brachte uns bei, dass wir das langweiligste Buch mit vollkommen anderen Augen sahen. Wir sollten über den Tellerrand hinüberschauen und herausfinden, weshalb nichts so ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Er hat mich in seinem Unterricht auf etwas vorbereitet, was wohl weder er noch ich jemals für möglich gehalten hätten. Von wegen Geisteswissenschaften sind öde.
Innerhalb des folgenden Blocks lerne ich so viele verschiedene Arten von Gefühlen kennen, dass ich mich frage, ob ich sie selbst alle schon mal durchlebt habe. Mir war nicht klar, dass wir so viele umfassende Empfindungen haben, die teilweise sogar widersprüchlich sein können. Bei einem weiteren Video hat die Person darauf einen harten Gesichtsausdruck mit gerümpfter Nase, verzogener Stirn, gebleckten Zähnen und zeigt damit, dass er den Polizisten vor sich am liebsten jeden Moment angreifen will.
Simon stoppt die Videos immer an den entscheidenden Stellen und möchte, dass jeder von uns seine Gedanken dazu laut äußert. Nach und nach werden wir auch viel besser darin. Wir lernen, dass sich ein Lügner sehr stark auf sich selbst konzentriert. Er ist damit beschäftigt, nicht aufzufliegen und deswegen erzählt er alles in chronologischer Reihenfolge, wirkt steif und erzählt wenige Details.
Inzwischen schmiere ich nur noch Stichpunkte auf mein Blatt, da ich bei Simon heute genauso viel schreibe wie bei Henry. Wir nehmen die Videos komplett auseinander und entdecken jedes Beinzucken, jede Transpiration, das vermehrte Blinzeln, die hochgezogen Schultern, die erhöhte Atemfrequenz – einfach alles. Manche Personen haben typische Ticks, die sie immer wieder machen. Sie fahren sich durchs Haar, streichen die Kleidung glatt und wirken einfach permanent nervös.
Aber bei dem letzten Video muss ich andauernd an Sam denken.
Der Mann auf dem Band schaut dem Polizisten sehr lange in die Augen und wendet den Blick nicht ein einziges Mal ab. Der Blick ist starr und entschlossen, seine Stimme ausdrucksstark und ehrlich. Sam sieht mich immer mit denselben entschlossenen Augen an, wenn er mir etwas verspricht. Eine spezielle Wärme macht sich in meinem Körper breit, als ich diese Zeichen jetzt ganz anders zu deuten weiß. Ich kann Sam so blind vertrauen, wie keinem Anderen und weiß mit Gewissheit, dass dieser Mann in dem Video unschuldig ist.
Zum Ende der Stunde ist Jim vollkommen begeistert von Simons Unterricht. Ich lache und erwidere:
>Na dann warte erstmal die Kriminalistik bei Henry ab. Ich glaube, manchmal habe ich schon mit offenem Mund in seinem Unterricht gesessen und hätte ihm pausenlos zuhören können. <
Diese Begeisterung hat bisher nicht abgenommen.
Wir laufen direkt nach unten in das zweite Untergeschoss zur Trainingshalle. Ruby und die Anderen haben den Raum leider schon zuvor gewechselt und unsere Stufe ist allein, so wie immer im letzten Block. Bevor die Pause um ist, laufe ich schnell mit meiner Wasserflasche davon und fülle sie.
Sobald ich wieder zurück bin, stehen die meisten Schüler schon paarweise zusammen, befinden sich aber unsicher auf ihrem Fleckchen, weil sie nicht wissen, was sie erwartet.
Kurz darauf kommt Lukaz rein. Er hat einen kleinen Wagen dabei und gibt den neuen Anwärtern, die noch in zivil herumlaufen, ihre Trainingskleidung.
Sobald alle umgezogen sind, legt er direkt los, zeigt die Handfassungen für Angriff und Verteidigung und will, dass wir sie anschließend durchgehen. Ich laufe ganz selbstverständlich zu Jim, denn immerhin hat er vorhin zugestimmt mit mir zu trainieren. Als ich ihm erkläre, dass er zuerst nur Abwehren soll, fragt er trotzdem mehrfach wegen der Handfassung nach. Für Louis war es in meiner ersten Stunde selbstverständlich mir alles exakt zu erklären, also tue ich das ebenfalls. Ich teile die Schläge und Tritte aus und nach nur wenigen Momenten reißt er die Augen erschrocken auf, als ich ohne Mitleid seine Hände und Unterarme treffe.
Er schüttelt seine Arme vor Schmerz aus und nimmt sie dann wieder nach oben.
Nach zehn Minuten schlage ich vor, dass wir tauschen und ich das Abwehren übernehme. In Zeitlupe zeige ich ihm wie er zuschlagen soll. Die Tritte soll er lieber später machen, denn ich halte mich gerade 1 zu 1 an Louis´ Vorgehensweise. Ich habe vom Unterrichten schließlich keine Ahnung, aber ich weiß, dass ich seine Methode sehr gut fand. Lukaz geht rum und schaut sich das Spektakel an. Ich will, dass Jim die Schläge endlich auch praktisch an mir übt, aber offensichtlich denkt er ich wäre zerbrechlich. Seine ersten Versuche sind sehr zaghaft und ich glaube, dass da eigentlich mehr hinter stecken könnte.
>Jetzt mach schon, trau dich! Du hast doch sicher mehr Kraft. < sporne ich ihn an.
>Ich schlage doch keine Frau. Hinterher hast du ein blaues Auge. <
Lukaz kommt zu uns und treibt uns beide etwas auseinander. Ich denke schon, dass er Jim zeigen will wie es funktioniert, aber da holt mein Trainer auch schon aus. Allerdings nicht bei Jim, sondern bei mir. Reflexartig wehre ich ihn ab und verteidige mich, wie ich es gelernt habe. Ich bekomme seine hohen Tritte und seine Schläge ab, aber teile genauso aus. Offensichtlich passte ihm unser Herumstehen nicht. Er bewegt sich so schnell wie immer und steht plötzlich hinter mir im Würgegriff.
Lukaz bekommt meinen Ellenbogen in den Magen und biegt sich mit mir zusammen nach vorn. Ich nutze diese Chance, greife schnell durch meine Beine hindurch und schnappe mir seinen Unterschenkel, um ihn durch meine Beine zu ziehen. Er lässt mich los und fällt nach hinten. Allerdings ist sein „fallen“ sehr elegant und er rollt sich schnell ab. Der Kerl ist so verdammt zäh. Ich laufe auf ihn zu, bevor er aufstehen kann und beuge mich runter. Jedes Mal will ich ihn mit meiner Faust treffen, aber er dreht sich auf dem Boden immer so geschickt weg und tritt mir plötzlich gegen mein Knie, dass ich nach hinten falle. Schon stürzt er sich auf mich und ich nehme sofort das andere Knie nach oben, das ihn in den Magen trifft. Die paar Sekunden helfen mir, damit ich wieder stehe. Lukaz steht mir ebenfalls wieder gegenüber und scheint kaum zu schwitzen. Dann beginnt er allerdings zu grinsen und nimmt komplett seine Deckung runter, also tue ich es auch.
>Hast du das gesehen Jim? Du schlägst ihr so schnell kein blaues Auge. Also leg los und übe deine Griffe richtig. < sagt er, schlägt ihm auf die Schulter und geht weiter zum nächsten Pärchen. Ich schüttele grinsend den Kopf. Das sollte also nur eine Show sein. Lukaz greift allerdings gerne mal aus heiterem Himmel an, um unsere Aufmerksamkeit zu fördern.
>Na los, komm schon! < fordere ich meinen Partner gutgelaunt auf, der mich mit großen Augen anstarrt. Offensichtlich hielt er mich bis eben wirklich für sehr zerbrechlich und hat mich während Cataleys Stunde nicht mit den Anderen kämpfen gesehen. Dort waren meine geübten Partner nämlich kein bisschen zimperlich mit mir.
Diese kleine Demonstration hat er ganz augenscheinlich gebraucht, denn danach traut er sich immerhin an mir zu üben. Die Techniken aus der Selbstverteidigung sind so simpel und einfach in der Anwendung, dass die Neuen schon eine Ahnung haben, wo der Weg hingehen soll. Sie stellen genauso wie ich fest, dass ein guter Hebel und etwas Körperspannung eine Menge bewirken können. Ich habe mir vor 1 ½ Wochen sogar den großen und schweren Max über die Schulter gelegt.
Lukaz beendet die Stunde nachdem sich Jim etwas eingespielt hat, aber er hat noch etwas zu verkünden.
>Cataley und ich hatten uns vor einer ganzen Weile schon mal etwas ausgedacht. Wir würden gern etwas frischen Wind in unsere Lehrpläne bringen und eine kleine Änderung für morgen vornehmen. Es ist natürlich doof, dass so viele Neue dazugekommen sind, die kaum Schießerfahrung haben, aber dafür bekommt ihr morgen ein ganz spezielles Training über Einsatztaktiken. Nach der Mittagspause werdet ihr Einsatzlehre haben und ich habe zeitgleich die zweite Stufe in Selbstverteidigung. Wir schließen die Stufen also zusammen und haben eine kleine Gemeinheit für euch vorbereitet. <
>Was für eine Gemeinheit? < will Karim wissen, der erst in der vergangenen Woche zu uns kam.
>Das werdet ihr schon sehen. <
Was ich vor allem sehen werde – beziehungsweise wen, werden sämtliche meiner Bekanntschaften sein. Max, Jeremy, Louis, Liam, Ruby und Cruisi sind in dieser Stufe. Ich freue mich schon darauf, was auch immer das für Gemeinheiten sein sollen.
Die Halle leert sich und die Neuen schleppen sich nach draußen. Mir ist klar, was ihnen morgen für ein fieser Muskelkater blühen wird.
Ich nehme einen großen und letzten Schluck aus meiner Flasche ehe sie leer ist, wische mir mit dem Handrücken über die Stirn und stehe auf, um duschen zu gehen.
>Du willst schon verschwinden? Das passt gar nicht zu dir. < wirft Lukaz hinter mir ein. Als ich mich umdrehe, steht er mit einer Augenbinde in der Hand da und diesem diebischen Grinsen.
>Bist du sicher? Ich will dich nicht jeden Tag um deinen Feierabend bringen. <
>Mach die Tür zu und komm her! < dirigiert er.
Als auch der letzte Schüler verschwunden ist, schließe ich die Tür, um wenigstens ein paar ablenkende Geräusche auszusperren.
Mein Puls steigt schon wieder an, weil ich weiß, was er vorhat. Aber ich glaube, ein bisschen steigt er auch vor freudiger Erwartung. Nicht dass ich es sonderlich toll finden würde mit verbundenen Augen zu trainieren, aber das Training mit Lukaz bringt mich nun mal am schnellsten voran.
Es ist in etwa so wie gestern und ich habe Probleme damit, mich auf seine Schritte zu konzentrieren. Im Flur herrscht viel Bewegung, was mich obendrein ablenkt. Immerhin brennt in der Halle noch das Licht, weshalb es unter meiner Augenbinde nicht gänzlich dunkel ist und ich nicht wieder in absolute Panik verfalle.
Dennoch ist es schwer zu reagieren, wenn ich nicht genau weiß, von welcher Seite er mich gleich angreifen wird.
>Du denkst immer noch zu viel nach. Schütte mal den Inhalt deines Gehirns aus. < bemängelt er.
Mit zusammengekniffenen Augen versuche ich das Rascheln seiner Kleidung zu hören, seine Atmung oder seine Schuhsohlen – einfach irgendwas.
Ich neige meinen Kopf leicht in die Richtung, in der ich ihn vermute. Plötzlich höre ich etwas, sprinte einfach in die Richtung, aus der das Geräusch kommt und umfasse Lukaz´ Rumpf, um ihn umzuwerfen. Er dreht sich allerdings im Schwung mit mir zusammen, weshalb ich ihn nicht umwerfe, sondern selbst zu Boden stürze. Bei ihm hört es sich nicht so an, als würde er sich bewegen, also steht er noch wie ein Fels in der Brandung. Auf allen Vieren stemme ich mich hoch und keuche.
>Komm schon Lukaz. Wie zur Hölle soll das funktionieren? <
>Irgendwann wird es funktionieren. Steh auf, konzentriere dich und mach weiter! <
Er ist genauso unnachgiebig wie Sam. Also stemme ich mich hoch, wie ich es die letzten zwei Wochen Tag für Tag getan habe und stelle mich in Position.
Wenn ich meine Augen trotz der Augenbinde schließe, klappt es besser, mich zu sammeln.
Er geht ein paar Schritte weiter. Ich kann ihn hören und versuche meinen Körper mit ihm zu drehen. Lukaz scheint mich zu umkreisen und gleicht in meinen Gedanken einer Raubkatze.
Dann ist er offensichtlich stehengeblieben und scheint mich einfach nur anzusehen. Es passiert nichts. Ich zähle leise vor mich hin, versuche etwas zu hören.
Ich laufe einige Schritte rückwärts, ohne zu wissen, wo vorn und hinten ist.
>Bitte Lukaz, lass mich diesen Stoff wegnehmen. Nichts zu sehen, ist eine Strafe. <
>Nein. Das hier ist deine größte Schwäche und daran werden wir arbeiten. Wenn es sein muss, machen wir das tagelang oder wochenlang. < höre ich ihn hinter mir, aber dann setzt er sich in Bewegung. Geht er etwa von mir weg?
Plötzlich ist der Lichtschein vor meiner Augenbinde verschwunden und mir ist klar, dass mein Trainer die Deckenlampen ausgestellt hat. Das gefällt mir überhaupt nicht. Innerlich fluche ich und laufe ein paar Schritte umher, um mich zu beruhigen. Kurz darauf gebe ich einen kurzen Schrei von mir, weil ich von hinten gepackt werde. Ich winde mich mit Händen und Füßen aus seinem Griff und versuche dort herauszukommen. Diese Art des Sondertrainings mag ich absolut nicht. Sobald ich frei bin, laufe ich einfach nur bis zu einer Wand, um mich wenigstens orientieren zu können.
>Jetzt haben wir beide die gleichen Bedingungen. Aber du bist zu laut. Deine Atmung und deine hektischen Schritte verraten dich. Ich weiß sofort wo du bist. Als Hunter musst du dich anschleichen können. <
An der Wand lasse ich mich herabsinken und atme vorsichtig aus. Es ist zum Glück nicht so schlimm wie gestern, denn immerhin hyperventiliere ich nicht. Allerdings befürchte ich, dass es noch passieren wird.
Lukaz kommt vor mir zum Stillstand, ich kann es fühlen.
>Steh wieder auf und komm bitte in die Mitte! < sagt er mit sanfter Stimme.
Meine Hände gehen hinter mich an die Wand und ich stemme mich nach oben.
Vorsichtig gehe ich erst ein paar Schritte seitwärts, denn mein Trainer befindet sich irgendwo vor mir und dann peile ich die Mitte des Raumes an. Ich kann nicht genau sagen, ob ich auch wirklich mittig stehe, aber zumindest bin ich mir sicher, keine Wand in meiner direkten Nähe zu haben.
Wenn ich Pech habe, dann stolpere ich höchstens über eine Matte am Boden.
Dann höre ich seine Hose beim Gehen schleifen. Er bewegt sich langsam und vorsichtig – vielleicht noch zwei Meter von mir entfernt. Dann rennt er los und ich nehme meine Arme hoch. Lukaz schlägt sie weg und deutet an, zu meiner Kehle zu greifen. Ich kann für eine Sekunde seine Fingerspitzen fühlen, winde meinen Kopf weg und schlage seitlich auf ihn ein. Auch wenn ich nicht weiß, welchen Körperteil ich getroffen habe, war es zumindest für einen kurzen Augenblick ein Erfolg. Einen Moment später ist er wieder hinter mir, verdreht mir einen Arm und verpasst mir einen Tritt in die Kniekehle, wodurch ich zusammensacke. Im Gegensatz zu meinen untrainierten Sinnen sind seine um einiges besser geschärft und er weiß genau, wo ich jedes Mal stecke. Er hält mich am Boden. Meine Arme sind bewegungsunfähig und auch meine Beine kann ich nicht wegziehen. Ich glaube, er hat sie zwischen seinen Beinen eingeklemmt.
Plötzlich bekomme ich einen Schlag ab und im Anschluss einen Weiteren mit vermutlich seinem Ellenbogen, der dafür sorgt, dass ich Blut schmecke. Es tut verdammt weh und ich brauche einen Moment, um mich davon zu erholen.
>Kim, jetzt tu endlich etwas! < fordert mein Trainer energisch. >Ich könnte dich umbringen, wenn ich wollte. Keiner auf der Straße hätte Gnade mit dir. Vergiss, dass es dunkel ist. Bei Tageslicht würdest du das hier locker hinbekommen. <
Mir geht allmählich die Kraft aus. Ich habe bereits im Unterricht beinahe meine gesamte Energie verbraucht und jetzt muss ich Lukaz noch irgendwie fertigmachen. Den Lukaz, der ganz offenbar regelmäßig von Sam auf möglichen Technikfehler geprüft wird.
Endlich schaffe ich es einen Arm freizubekommen und befördere ihn – mit der Faust voran, direkt zum Gesicht meines Trainers. Das Keuchen von ihm ist hörbar.
>Nenne mir ihre Namen! < zischt er plötzlich.
>Was? < japse ich und bekomme schließlich auch meinen anderen Ellenbogen frei, um seinen nächsten Schlag damit abzublocken.
>Sag ihre Namen! Ich weiß, dass Sam sie dir verraten hat. <
Einen Augenblick lang bin ich verdutzt, aber schließlich platzen sie aus mir heraus.
>Mischa. < Daraufhin treffe ich ihn offensichtlich mitten in den Magen, denn er sackt mit seinem Oberkörper etwas zusammen. >Raphael. < Ich ziehe mein Knie aus einem Klammergriff und kicke es nach oben. Damit befürchte ich, ihn auf diese Weise zeugungsunfähig zu machen. Er schnauft auf und rollt sich nach links, weshalb ich in diese Richtung aufstehe. >Phillipe. < Ich weiß, dass er noch am Boden liegt und lasse mich einfach auf ihn fallen. Noch ist er damit beschäftigt seine Wunden zu lecken, also gebe ich ihm einem Schubser durch mein Knie und rolle ihn auf den Bauch. Ich fixiere seine Hände auf den Rücken, genau wie bei einer Festnahme. >Und dieser verdammte Taliban. < fauche ich beinahe. Mit einer schnellen Bewegung ziehe ich das Tuch von meinen Augen. Er hat die Halle nicht gänzlich dunkel gemacht, sondern nur die Neonröhren ausgestellt und die wenigen Lampen an den Wänden stark gedimmt.
Ich sehe in Lukaz´ Gesicht, das seitlich am Boden liegt. Es zeigt eine interessante Mischung aus vergehendem Schmerz und einem leichten Lächeln. Ich glaube, ich habe ihn tatsächlich entmannt und nur deshalb ist mir wohl auch die Festnahme gelungen. Das ist mal wieder ein Beweis dafür, dass dieser Tritt zwischen die Beine über alles geht.
>Du … bist … ein Miststück. < antwortet er quietschend, aber lacht schnaufend dabei.
>Tut mir leid. Aber du wolltest ja eh keine Familie gründen. < erwidere ich trocken, lasse ihn los und stehe auf. Er bleibt noch ein paar Sekunden liegen und drückt sich dann als der Schmerz vergangen ist, lässig in einen Liegestütz hoch. Schmunzelnd steht er wieder vor mir.
>Das nicht, aber die schönen Dinge des Lebens, wollte ich schon noch genießen. Setz die Augenbinde wieder auf! Wir machen sofort weiter, du hast den Dreh langsam raus. <
Ich bin eigentlich vollkommen erschöpft, aber Lukaz ist genauso unnachgiebig wie Sam. Also setze ich mir das Ding wieder auf und ergebe mich meinem Schicksal. Ich glaube, ich muss Ruby heute Abend anflehen, meine Schultern zu massieren.
Die bisher vergangene Zeit würde mich sehr interessieren, denn meine Ohren gewöhnen sich immer mehr und mehr daran, dass sie jetzt besser als alle anderen Sinne funktionieren müssen. Die Methode meines Trainers scheint zu funktionieren und als er das bemerkt, hat er endlich Mitleid mit mir und lässt mich frei. So schnell es geht ziehe ich mir die Augenbinde hinunter und ich stütze mich keuchend auf meinen Knien ab.
>Ich fühle mich vollkommen fertig. < gebe ich zu. >Das hätte ich nie gedacht, dass das so erschöpfend sein kann. <
>Für deinen Kopf ist das ein extremes Training. Ich habe schon vielen Schülern nach dem Unterricht ein paar Kniffe gezeigt, aber so eine Vorgehensweise habe ich noch nie mit jemandem gemacht, das ist also auch für mich eine Premiere. <
>Ein paar Kniffe? Das ist in meinem Fall aber sicher etwas mehr. <
>Und wenn schon. < lacht er. >Jetzt verschwinde endlich unter die Dusche und hau ab zu deinen Freunden. Die wundern sich sicher schon, wo du wieder bist. <
>Oh stimmt. Ruby denkt wahrscheinlich, dass ich verschollen bin. <
>Na dann beruhige sie mal. Wir sehen uns sicher nachher zum Abendessen. <
Ich schnappe mir meine leere Wasserflasche, in der schon seit dem letzten Block nichts mehr drin war und sehe zu Lukaz. Er sieht ebenfalls etwas fertig aus und wischt sich seinen Schweiß von der Stirn.
>Danke. < hauche ich ehrfürchtig. >Sam wusste ganz genau, weshalb er mich ausgerechnet hierher geschickt hat. <
>Nun hör schon auf, sonst werde ich noch rot. < scherzt er.
>Bis später. <
Im schnellen Tempo renne ich in den Gang hinein, auf dem sich unsere Zimmer befinden. Ein paar Schüler stehen dort und blicken sich nach mir um.
>Wo hast du denn gesteckt? Ruby wollte schon einen Suchtrupp losschicken. < fragt Louis. Jeremy steht neben ihm und mustert mich von oben bis unten. Wahrscheinlich bin ich knallrot wie eine Tomate.
>Ich habe noch trainiert und habe sie vorher nicht mehr gesehen, um es ihr zu sagen. <
>Was denn, schon wieder? < japsen beide zeitgleich.
Unschuldig zucke ich mit den Schultern und laufe dann an ihnen vorbei zu meinem Zimmer.
Ich schließe die Tür auf und sehe Ruby auf ihrem Bett sitzen. Eine Tüte Chips liegt vor ihr und sie schaut etwas auf dem Tablet.
>Hey da bist du ja endlich. Ich musste erstmal in der Tiefgarage nachschauen, ob Cataley schon im Feierabend ist. Ich hätte sonst wohl gedacht, dass sie dich in die Mangel nimmt und danach deine Leiche verscharrt. <
>Das würde ihr sicher sehr gefallen aber es war nur Lukaz, der mich in die Mangel nahm. Er hat noch mit mir trainiert. <
>Weißt du, es gibt auch noch mehr im Leben. < murmelt sie.
>Vielleicht haben wir ja jetzt noch etwas Zeit für die Dinge dazwischen? < frage ich mit Engelsstimme. Ruby grinst und bewirft mich mit einem Chip.
>Hau du erstmal ab unter die Dusche, sonst gehe ich nirgendwo mit dir hin. Und übrigens bluten dein Mundwinkel und dein Ohr. <
Ich strecke ihr die Zunge raus und verschwinde im Badezimmer. Hinter mir schließe ich wie immer ab und mache mich mit etwas Beeilung fertig.
Noch tropfend stehe ich vor dem Spiegel und sehe mir meinen Körper an. Diese neuen blauen Flecken am Rumpf sind nicht so schlimm, wie die von letzter Woche. Das liegt wohl auch daran, dass ich seltener getroffen werde – zumindest von den anderen Schülern. Das holen Cataley und Lukaz dafür schnell wieder auf.
Mit gewaschenen Haaren und frisch gepeelter Haut kehre ich zurück in unser Zimmer.
>Hast du es eigentlich schon gehört? Morgen trainieren wir zusammen. < jubelt Ruby.
>Ja, Lukaz hat es uns gesagt. Das wird bestimmt cool. Was auch immer sie mit uns vorhaben. <
>Na ja wir werden es auf die eine oder andere Weise erfahren. Hast du schon Hunger oder wollen wir vorher noch was mit den Jungs machen? <
>Wie spät ist es denn? < frage ich und schaue eigentlich schon von selbst auf Rubys Wecker. >18 Uhr? < keuche ich geschockt.
>Ja, ich habe doch gesagt, ich wollte schon einen Suchtrupp losschicken. Du hast über zwei Stunden mit Lukaz trainiert. Und das machst du fast jedes Mal. Ich finde ja, du könntest mal eine Pause vertragen. <
>Wenn man erstmal dabei ist, merkt man es gar nicht. < erwidere ich lässig, obwohl es manchmal eine ziemliche Quälerei ist.
>Junkie. < hüstelt Ruby.
Ich verdrehe grinsend die Augen, aber vielleicht hat sie recht. Irgendwie macht das Training süchtig, auch wenn ich so oft verliere. Schnaufend setze ich mich auf mein Bett.
>Hunger hätte ich schon, aber irgendwie tut mir alles weh und ich bin so k.o., dass ich nichts mehr unternehmen will. Ich will mich nicht mal bewegen. Gut, dass atmen ein Reflex ist. <
>Hmm … dann ein anderer Vorschlag. Wir machen diese Tüte Chips hier leer, gehen dann nach oben und laden unsere Tabletts voll. Damit verdrücken wir uns heimlich auf unser Zimmer und machen Mädelskram. <
>Mädelskram? < lache ich. >Henry lässt uns außerdem bestimmt nicht mit dem Essen hier runter. <
>Henry muss davon gar nichts erfahren. Er isst immer erst viel später. Wir laden uns genug auf, dass es bis zum Mitternachtssnack reicht und lassen uns heute nicht mehr blicken. Dann erzählen wir uns wie unser Tag war und machen uns Gesichtsmasken drauf und lackieren uns die Fußnägel. < quietscht sie begeistert. Ich lasse mich über die Seite lachend in mein Bett fallen.
>Du bist in einem Boot Camp gelandet und hast Nagellack und Gesichtsmasken bei? <
>Na klar, es könnte eine Apokalypse losbrechen und ich würde das Zeug einpacken. Also bist du dabei? Mach ruhig mal was Unerlaubtes und Illegales. < erwidert sie erwartungsvoll.
Oh Ruby, wenn du nur wüsstest, was ich tatsächlich für illegale Dinge tue. Anderseits gefällt mir ihre Idee. Es klingt so, als würde man diesen „Mädelskram“ mit seiner besten Freundin oder großen Schwester machen. Also bin ich dabei.
Wir haben uns tatsächlich heimlich mit Essen vollgeladen und uns in unser Zimmer gehockt. Dort sehen wir mit knallroten Fußnägeln und grüner Maske im Gesicht den Film „Der Kautionscop“ auf Rubys iPad. Er ist mit Jennifer Aniston und ziemlich lustig. Ihr gespielter Ex-Mann war früher mal Cop und entschied sich dann ein Bounty Hunter zu werden. Wir lachen viel darüber, denn der Inhalt und das Handeln des Hauptdarstellers haben nichts mit dem zu tun, was wir hier eigentlich über diesen Job lernen. Aber darum geht es auch gar nicht, es ist eben eine Komödie. Ich komme dadurch auf andere Gedanken und kann endlich mein Bein schonen, das nach Lukaz´ Unterricht wieder unfassbar zu schmerzen begann. Da meine Mitbewohnerin so ziemlich alles in ihrer Tasche hat, gab sie mir eine kühlende Heilsalbe, die mich vor Erleichterung beinahe zum Seufzen gebracht hätte.
Trotzdem drängt sich ein Gedanke durch. Nach dem heutigen Tag würde ich liebend gern einen Strich an meine Zimmerwand malen, so wie es im Gefängnis üblich ist. Es ist mein 12. Tag in Stufe eins und mein 7. Tag ohne Sam.
Das Zweite finde ich bedeutend schlimmer.
Während Ruby und die Anderen nun selbst das Vergnügen mit Cataley haben, muss ich in das erste Obergeschoss. Wie bei Henrys Unterricht setze ich mich bei Simon ebenfalls nach vorn.
Für gewöhnlich mag ich es nicht in der ersten Reihe zu sitzen, aber hier vorne bekomme ich den Stoff viel besser mit und ich kann leichter lesen, was an die Wand projiziert oder auf das Flipchart geschrieben wird.
Auch Jim kommt kurz nach mir in den Unterrichtsraum und setzt sich neben mich. Ich blättere in meinen Aufzeichnungen herum und suche die Seiten der letzten Unterrichtsstunde.
>Ist das nicht ein bisschen doof als einzige Frau hier zu sein? Die Schule besteht ja aus einer Männerdomäne. < fragt Jim.
>Nicht wirklich. Es ist zwar schade, dass meine Freundin eine Stufe höher ist, aber sonst ist es okay. Die Anderen sind total in Ordnung. <
>Die wissen doch aber sicher gar nicht, wie sie mit dir umgehen sollen. Wer schlägt denn so eine … <
Ich funkle ihn böse an und offensichtlich bleibt ihm sein Spruch im Hals stecken.
>So eine was? So eine schmächtige, kraftlose Frau? Was glaubst du eigentlich was du tun musst, wenn deine Zielperson später weiblich ist? Willst du sie davonkommen lassen, nur weil sie nicht bedrohlich aussieht? <
>So habe ich das nicht gemeint. < rudert er zurück. >Aber ich würde dir nichts brechen wollen. Das macht man einfach nicht. <
>Lass uns nächste Stunde zusammen trainieren, dann siehst du wie schlecht du mir etwas brechen kannst, okay? <
Er schaut etwas skeptisch, da ich es so offensiv anbiete. Entweder denkt er, dass er mich wirklich auf keinen Fall schlagen möchte oder er bekommt ein kleines bisschen Angst, ob ich vielleicht doch nicht so harmlos bin wie ich aussehe. <
>Ehm … na schön. <
Dann kommt Simon in den Raum hinein. Er begrüßt noch einmal alle Neuen und verkündet, dass sie alle einfach mit in den Stoff einsteigen sollen und dass sie schon mitkommen werden. Die letzte Unterrichtsstunde mit ihm war genial und hat solchen Spaß gemacht, als wir mit den Wagen die Verfolgungsfahrt trainieren konnten. Inzwischen weiß ich, dass wir das in der zweiten und dritten Stufe auch nochmal machen. Der Schwierigkeitsgrad wird eben nur jedes Mal erhöht, genauso wie beim Schießen und Kämpfen.
Heute geht es um das, was Henry, Lukaz und auch Sam immer wieder predigen. Wir Schüler müssen lernen die Leute vor uns zu lesen. Ich habe mir am Wochenende im Club einen kleinen Spaß daraus gemacht und das bereits bei den Tanzwütigen versucht und sie in meinem Kopf analysiert. Aber bis dahin hatte ich noch keine Ahnung davon, wie man das wirklich macht.
Simon wirft einen flüchtigen Blick über uns Schüler und erklärt dann:
>Seit Beginn an dieser Schule sagen wir, dass es kaum etwas Wichtigeres gibt, als die gesuchte Person so gut wie möglich zu kennen. Die Lizenz bei uns zu bekommen ist leicht, aber den Alltag bestehen nicht viele neue Hunter. Ihr müsst eure Mimik und Gestik ebenfalls unter Kontrolle haben und nicht nur die des Flüchtigen verstehen. Für eure Zielperson reicht schon ein Zeichen der Schwäche, um euch plötzlich anzugreifen. Eine bebende Unterlippe, ein zitternder Finger am Abzug oder ein heftiges Atmen zeigen ihm, das ihr Unsicher seid oder Angst habt. Das ist fatal, denn ihr solltet nicht zögern bei dem, was ihr vorhabt. Dafür ist euer Job zu gefährlich. <
Ich sehe kurz in der Klasse umher, während Simon seinen Laptop hochfährt. So wie die neuen Schüler nach dieser kurzen Einleitung gucken, habe ich wohl auch am ersten Tag ausgesehen. Die sollen mal erstmal Henrys mörderische Statistik abwarten, da machen sie noch größere Augen.
Simons Beamer geht an und projiziert ein Bild von einem Mann an die Wand, der offensichtlich gerade in einem Verhör steckt.
>Ich zeige euch gleich ein Video, das einige Mikromimik und Gestik zeigt und wir klären hinterher auf, was deren Bedeutung dahinter ist. Wir beherrschen über 5000 Handgesten, mehr als 250.000 Gesichtsausdrücke und etwa 1000 verschiedene Körperhaltungen. 93 % der Kommunikation finden nonverbal statt. Unsere Augen reagieren 14-mal schneller als unsere Ohren und das bedeutet, dass ihr euch schon ein Bild von der Person machen könnt, noch bevor ihr überhaupt nur ein Wort mit ihr gewechselt habt. Ihr müsst lernen den Menschen vor euch sofort einzuschätzen und frühzeitig wissen, wann sie euch anlügt. Ihr könnt davon ausgehen, dass sie immer lügen wird, um aus ihrer Bredouille zu kommen. <
Simon tippt auf die Leertaste am Laptop und er spielt das Video ab. Es ist tatsächlich ein Verhör. Dem Angeklagten werden eine Menge Fragen gestellt, die er beantworten muss. Das Video zeigt zwei Perspektiven. Die Eine ist von etwas weiter weg, so wie der Polizist den Befragten sieht und die andere Ansicht zeigt das Gesicht des Täters ganz nah.
Diesem wird ein Bild von einer Frau gezeigt und er wird daraufhin gefragt, ob er sie getötet hat. Er verneint die Tat und kurz danach stoppt unser Trainer das Video.
>Was glaubt ihr? Sagt er die Wahrheit oder lügt er? < will Simon wissen.
>Er lügt. < platze ich heraus. Ups eigentlich wollte ich mich melden, aber es kam so herausgeschossen.
>Weshalb glaubst du das Kim? <
>Irgendwie wirkte er bei der Frage sehr verkrampft. Er hat mehrfach geschluckt und kurz zur Seite gesehen, als wollte er der Situation ausweichen. <
>Sehr gut! Wenn eine Person lügt, dann achtet besonders auf das Gesicht. Denn wer lügt, empfindet Angst. Der Körper sagt immer zuerst die Wahrheit, obwohl man sie verbergen will. Eine Millisekunde zuvor kann man seine wahren Gefühle nicht zurückhalten. Erst danach ist man in der Lage sein Pokerface aufzusetzen. Im Falle des Videos hat Kim recht. Das plötzliche Wegschauen, das nervöse Schlucken und er wirkt eingefroren – das alles sind Indizien dafür, dass er lügt. Was er außerdem noch getan hat, war, dass sich sein Mund und seine Augen vor Schreck geweitet haben. Außerdem blinzelte er übermäßig oft und hat seine Handflächen aneinander gerieben. <
Simon spielt das Video noch einmal ab und jetzt auf der vergrößerten Aufnahme seines Gesichtes, sieht man die winzige Sekunde, in der er seine Mimik nicht im Griff hat.
>Sogar die Pupillen weiten sich. < denke ich laut.
>Sehr guter Einwand. < johlt unser Trainer und deutet auf mich. >Geweitete Pupillen bedeuten Erregung. Der Mord hat ihm gefallen und als er daran erinnert wurde, gingen diese Gefühle mit ihm durch. Ihr seht also, die Sache ist komplexer als es auf den ersten Blick scheint. Ich zeige euch das nächste Band. <
Ich muss bei diesem Satz unweigerlich an meinen Dozenten vom College denken. Mister Berth – der kleine, unscheinbare Mann, der in Wahrheit ein Genie ist, wollte immer unseren Blick schärfen. Er brachte uns bei, dass wir das langweiligste Buch mit vollkommen anderen Augen sahen. Wir sollten über den Tellerrand hinüberschauen und herausfinden, weshalb nichts so ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Er hat mich in seinem Unterricht auf etwas vorbereitet, was wohl weder er noch ich jemals für möglich gehalten hätten. Von wegen Geisteswissenschaften sind öde.
Innerhalb des folgenden Blocks lerne ich so viele verschiedene Arten von Gefühlen kennen, dass ich mich frage, ob ich sie selbst alle schon mal durchlebt habe. Mir war nicht klar, dass wir so viele umfassende Empfindungen haben, die teilweise sogar widersprüchlich sein können. Bei einem weiteren Video hat die Person darauf einen harten Gesichtsausdruck mit gerümpfter Nase, verzogener Stirn, gebleckten Zähnen und zeigt damit, dass er den Polizisten vor sich am liebsten jeden Moment angreifen will.
Simon stoppt die Videos immer an den entscheidenden Stellen und möchte, dass jeder von uns seine Gedanken dazu laut äußert. Nach und nach werden wir auch viel besser darin. Wir lernen, dass sich ein Lügner sehr stark auf sich selbst konzentriert. Er ist damit beschäftigt, nicht aufzufliegen und deswegen erzählt er alles in chronologischer Reihenfolge, wirkt steif und erzählt wenige Details.
Inzwischen schmiere ich nur noch Stichpunkte auf mein Blatt, da ich bei Simon heute genauso viel schreibe wie bei Henry. Wir nehmen die Videos komplett auseinander und entdecken jedes Beinzucken, jede Transpiration, das vermehrte Blinzeln, die hochgezogen Schultern, die erhöhte Atemfrequenz – einfach alles. Manche Personen haben typische Ticks, die sie immer wieder machen. Sie fahren sich durchs Haar, streichen die Kleidung glatt und wirken einfach permanent nervös.
Aber bei dem letzten Video muss ich andauernd an Sam denken.
Der Mann auf dem Band schaut dem Polizisten sehr lange in die Augen und wendet den Blick nicht ein einziges Mal ab. Der Blick ist starr und entschlossen, seine Stimme ausdrucksstark und ehrlich. Sam sieht mich immer mit denselben entschlossenen Augen an, wenn er mir etwas verspricht. Eine spezielle Wärme macht sich in meinem Körper breit, als ich diese Zeichen jetzt ganz anders zu deuten weiß. Ich kann Sam so blind vertrauen, wie keinem Anderen und weiß mit Gewissheit, dass dieser Mann in dem Video unschuldig ist.
Zum Ende der Stunde ist Jim vollkommen begeistert von Simons Unterricht. Ich lache und erwidere:
>Na dann warte erstmal die Kriminalistik bei Henry ab. Ich glaube, manchmal habe ich schon mit offenem Mund in seinem Unterricht gesessen und hätte ihm pausenlos zuhören können. <
Diese Begeisterung hat bisher nicht abgenommen.
Wir laufen direkt nach unten in das zweite Untergeschoss zur Trainingshalle. Ruby und die Anderen haben den Raum leider schon zuvor gewechselt und unsere Stufe ist allein, so wie immer im letzten Block. Bevor die Pause um ist, laufe ich schnell mit meiner Wasserflasche davon und fülle sie.
Sobald ich wieder zurück bin, stehen die meisten Schüler schon paarweise zusammen, befinden sich aber unsicher auf ihrem Fleckchen, weil sie nicht wissen, was sie erwartet.
Kurz darauf kommt Lukaz rein. Er hat einen kleinen Wagen dabei und gibt den neuen Anwärtern, die noch in zivil herumlaufen, ihre Trainingskleidung.
Sobald alle umgezogen sind, legt er direkt los, zeigt die Handfassungen für Angriff und Verteidigung und will, dass wir sie anschließend durchgehen. Ich laufe ganz selbstverständlich zu Jim, denn immerhin hat er vorhin zugestimmt mit mir zu trainieren. Als ich ihm erkläre, dass er zuerst nur Abwehren soll, fragt er trotzdem mehrfach wegen der Handfassung nach. Für Louis war es in meiner ersten Stunde selbstverständlich mir alles exakt zu erklären, also tue ich das ebenfalls. Ich teile die Schläge und Tritte aus und nach nur wenigen Momenten reißt er die Augen erschrocken auf, als ich ohne Mitleid seine Hände und Unterarme treffe.
Er schüttelt seine Arme vor Schmerz aus und nimmt sie dann wieder nach oben.
Nach zehn Minuten schlage ich vor, dass wir tauschen und ich das Abwehren übernehme. In Zeitlupe zeige ich ihm wie er zuschlagen soll. Die Tritte soll er lieber später machen, denn ich halte mich gerade 1 zu 1 an Louis´ Vorgehensweise. Ich habe vom Unterrichten schließlich keine Ahnung, aber ich weiß, dass ich seine Methode sehr gut fand. Lukaz geht rum und schaut sich das Spektakel an. Ich will, dass Jim die Schläge endlich auch praktisch an mir übt, aber offensichtlich denkt er ich wäre zerbrechlich. Seine ersten Versuche sind sehr zaghaft und ich glaube, dass da eigentlich mehr hinter stecken könnte.
>Jetzt mach schon, trau dich! Du hast doch sicher mehr Kraft. < sporne ich ihn an.
>Ich schlage doch keine Frau. Hinterher hast du ein blaues Auge. <
Lukaz kommt zu uns und treibt uns beide etwas auseinander. Ich denke schon, dass er Jim zeigen will wie es funktioniert, aber da holt mein Trainer auch schon aus. Allerdings nicht bei Jim, sondern bei mir. Reflexartig wehre ich ihn ab und verteidige mich, wie ich es gelernt habe. Ich bekomme seine hohen Tritte und seine Schläge ab, aber teile genauso aus. Offensichtlich passte ihm unser Herumstehen nicht. Er bewegt sich so schnell wie immer und steht plötzlich hinter mir im Würgegriff.
Lukaz bekommt meinen Ellenbogen in den Magen und biegt sich mit mir zusammen nach vorn. Ich nutze diese Chance, greife schnell durch meine Beine hindurch und schnappe mir seinen Unterschenkel, um ihn durch meine Beine zu ziehen. Er lässt mich los und fällt nach hinten. Allerdings ist sein „fallen“ sehr elegant und er rollt sich schnell ab. Der Kerl ist so verdammt zäh. Ich laufe auf ihn zu, bevor er aufstehen kann und beuge mich runter. Jedes Mal will ich ihn mit meiner Faust treffen, aber er dreht sich auf dem Boden immer so geschickt weg und tritt mir plötzlich gegen mein Knie, dass ich nach hinten falle. Schon stürzt er sich auf mich und ich nehme sofort das andere Knie nach oben, das ihn in den Magen trifft. Die paar Sekunden helfen mir, damit ich wieder stehe. Lukaz steht mir ebenfalls wieder gegenüber und scheint kaum zu schwitzen. Dann beginnt er allerdings zu grinsen und nimmt komplett seine Deckung runter, also tue ich es auch.
>Hast du das gesehen Jim? Du schlägst ihr so schnell kein blaues Auge. Also leg los und übe deine Griffe richtig. < sagt er, schlägt ihm auf die Schulter und geht weiter zum nächsten Pärchen. Ich schüttele grinsend den Kopf. Das sollte also nur eine Show sein. Lukaz greift allerdings gerne mal aus heiterem Himmel an, um unsere Aufmerksamkeit zu fördern.
>Na los, komm schon! < fordere ich meinen Partner gutgelaunt auf, der mich mit großen Augen anstarrt. Offensichtlich hielt er mich bis eben wirklich für sehr zerbrechlich und hat mich während Cataleys Stunde nicht mit den Anderen kämpfen gesehen. Dort waren meine geübten Partner nämlich kein bisschen zimperlich mit mir.
Diese kleine Demonstration hat er ganz augenscheinlich gebraucht, denn danach traut er sich immerhin an mir zu üben. Die Techniken aus der Selbstverteidigung sind so simpel und einfach in der Anwendung, dass die Neuen schon eine Ahnung haben, wo der Weg hingehen soll. Sie stellen genauso wie ich fest, dass ein guter Hebel und etwas Körperspannung eine Menge bewirken können. Ich habe mir vor 1 ½ Wochen sogar den großen und schweren Max über die Schulter gelegt.
Lukaz beendet die Stunde nachdem sich Jim etwas eingespielt hat, aber er hat noch etwas zu verkünden.
>Cataley und ich hatten uns vor einer ganzen Weile schon mal etwas ausgedacht. Wir würden gern etwas frischen Wind in unsere Lehrpläne bringen und eine kleine Änderung für morgen vornehmen. Es ist natürlich doof, dass so viele Neue dazugekommen sind, die kaum Schießerfahrung haben, aber dafür bekommt ihr morgen ein ganz spezielles Training über Einsatztaktiken. Nach der Mittagspause werdet ihr Einsatzlehre haben und ich habe zeitgleich die zweite Stufe in Selbstverteidigung. Wir schließen die Stufen also zusammen und haben eine kleine Gemeinheit für euch vorbereitet. <
>Was für eine Gemeinheit? < will Karim wissen, der erst in der vergangenen Woche zu uns kam.
>Das werdet ihr schon sehen. <
Was ich vor allem sehen werde – beziehungsweise wen, werden sämtliche meiner Bekanntschaften sein. Max, Jeremy, Louis, Liam, Ruby und Cruisi sind in dieser Stufe. Ich freue mich schon darauf, was auch immer das für Gemeinheiten sein sollen.
Die Halle leert sich und die Neuen schleppen sich nach draußen. Mir ist klar, was ihnen morgen für ein fieser Muskelkater blühen wird.
Ich nehme einen großen und letzten Schluck aus meiner Flasche ehe sie leer ist, wische mir mit dem Handrücken über die Stirn und stehe auf, um duschen zu gehen.
>Du willst schon verschwinden? Das passt gar nicht zu dir. < wirft Lukaz hinter mir ein. Als ich mich umdrehe, steht er mit einer Augenbinde in der Hand da und diesem diebischen Grinsen.
>Bist du sicher? Ich will dich nicht jeden Tag um deinen Feierabend bringen. <
>Mach die Tür zu und komm her! < dirigiert er.
Als auch der letzte Schüler verschwunden ist, schließe ich die Tür, um wenigstens ein paar ablenkende Geräusche auszusperren.
Mein Puls steigt schon wieder an, weil ich weiß, was er vorhat. Aber ich glaube, ein bisschen steigt er auch vor freudiger Erwartung. Nicht dass ich es sonderlich toll finden würde mit verbundenen Augen zu trainieren, aber das Training mit Lukaz bringt mich nun mal am schnellsten voran.
Es ist in etwa so wie gestern und ich habe Probleme damit, mich auf seine Schritte zu konzentrieren. Im Flur herrscht viel Bewegung, was mich obendrein ablenkt. Immerhin brennt in der Halle noch das Licht, weshalb es unter meiner Augenbinde nicht gänzlich dunkel ist und ich nicht wieder in absolute Panik verfalle.
Dennoch ist es schwer zu reagieren, wenn ich nicht genau weiß, von welcher Seite er mich gleich angreifen wird.
>Du denkst immer noch zu viel nach. Schütte mal den Inhalt deines Gehirns aus. < bemängelt er.
Mit zusammengekniffenen Augen versuche ich das Rascheln seiner Kleidung zu hören, seine Atmung oder seine Schuhsohlen – einfach irgendwas.
Ich neige meinen Kopf leicht in die Richtung, in der ich ihn vermute. Plötzlich höre ich etwas, sprinte einfach in die Richtung, aus der das Geräusch kommt und umfasse Lukaz´ Rumpf, um ihn umzuwerfen. Er dreht sich allerdings im Schwung mit mir zusammen, weshalb ich ihn nicht umwerfe, sondern selbst zu Boden stürze. Bei ihm hört es sich nicht so an, als würde er sich bewegen, also steht er noch wie ein Fels in der Brandung. Auf allen Vieren stemme ich mich hoch und keuche.
>Komm schon Lukaz. Wie zur Hölle soll das funktionieren? <
>Irgendwann wird es funktionieren. Steh auf, konzentriere dich und mach weiter! <
Er ist genauso unnachgiebig wie Sam. Also stemme ich mich hoch, wie ich es die letzten zwei Wochen Tag für Tag getan habe und stelle mich in Position.
Wenn ich meine Augen trotz der Augenbinde schließe, klappt es besser, mich zu sammeln.
Er geht ein paar Schritte weiter. Ich kann ihn hören und versuche meinen Körper mit ihm zu drehen. Lukaz scheint mich zu umkreisen und gleicht in meinen Gedanken einer Raubkatze.
Dann ist er offensichtlich stehengeblieben und scheint mich einfach nur anzusehen. Es passiert nichts. Ich zähle leise vor mich hin, versuche etwas zu hören.
Ich laufe einige Schritte rückwärts, ohne zu wissen, wo vorn und hinten ist.
>Bitte Lukaz, lass mich diesen Stoff wegnehmen. Nichts zu sehen, ist eine Strafe. <
>Nein. Das hier ist deine größte Schwäche und daran werden wir arbeiten. Wenn es sein muss, machen wir das tagelang oder wochenlang. < höre ich ihn hinter mir, aber dann setzt er sich in Bewegung. Geht er etwa von mir weg?
Plötzlich ist der Lichtschein vor meiner Augenbinde verschwunden und mir ist klar, dass mein Trainer die Deckenlampen ausgestellt hat. Das gefällt mir überhaupt nicht. Innerlich fluche ich und laufe ein paar Schritte umher, um mich zu beruhigen. Kurz darauf gebe ich einen kurzen Schrei von mir, weil ich von hinten gepackt werde. Ich winde mich mit Händen und Füßen aus seinem Griff und versuche dort herauszukommen. Diese Art des Sondertrainings mag ich absolut nicht. Sobald ich frei bin, laufe ich einfach nur bis zu einer Wand, um mich wenigstens orientieren zu können.
>Jetzt haben wir beide die gleichen Bedingungen. Aber du bist zu laut. Deine Atmung und deine hektischen Schritte verraten dich. Ich weiß sofort wo du bist. Als Hunter musst du dich anschleichen können. <
An der Wand lasse ich mich herabsinken und atme vorsichtig aus. Es ist zum Glück nicht so schlimm wie gestern, denn immerhin hyperventiliere ich nicht. Allerdings befürchte ich, dass es noch passieren wird.
Lukaz kommt vor mir zum Stillstand, ich kann es fühlen.
>Steh wieder auf und komm bitte in die Mitte! < sagt er mit sanfter Stimme.
Meine Hände gehen hinter mich an die Wand und ich stemme mich nach oben.
Vorsichtig gehe ich erst ein paar Schritte seitwärts, denn mein Trainer befindet sich irgendwo vor mir und dann peile ich die Mitte des Raumes an. Ich kann nicht genau sagen, ob ich auch wirklich mittig stehe, aber zumindest bin ich mir sicher, keine Wand in meiner direkten Nähe zu haben.
Wenn ich Pech habe, dann stolpere ich höchstens über eine Matte am Boden.
Dann höre ich seine Hose beim Gehen schleifen. Er bewegt sich langsam und vorsichtig – vielleicht noch zwei Meter von mir entfernt. Dann rennt er los und ich nehme meine Arme hoch. Lukaz schlägt sie weg und deutet an, zu meiner Kehle zu greifen. Ich kann für eine Sekunde seine Fingerspitzen fühlen, winde meinen Kopf weg und schlage seitlich auf ihn ein. Auch wenn ich nicht weiß, welchen Körperteil ich getroffen habe, war es zumindest für einen kurzen Augenblick ein Erfolg. Einen Moment später ist er wieder hinter mir, verdreht mir einen Arm und verpasst mir einen Tritt in die Kniekehle, wodurch ich zusammensacke. Im Gegensatz zu meinen untrainierten Sinnen sind seine um einiges besser geschärft und er weiß genau, wo ich jedes Mal stecke. Er hält mich am Boden. Meine Arme sind bewegungsunfähig und auch meine Beine kann ich nicht wegziehen. Ich glaube, er hat sie zwischen seinen Beinen eingeklemmt.
Plötzlich bekomme ich einen Schlag ab und im Anschluss einen Weiteren mit vermutlich seinem Ellenbogen, der dafür sorgt, dass ich Blut schmecke. Es tut verdammt weh und ich brauche einen Moment, um mich davon zu erholen.
>Kim, jetzt tu endlich etwas! < fordert mein Trainer energisch. >Ich könnte dich umbringen, wenn ich wollte. Keiner auf der Straße hätte Gnade mit dir. Vergiss, dass es dunkel ist. Bei Tageslicht würdest du das hier locker hinbekommen. <
Mir geht allmählich die Kraft aus. Ich habe bereits im Unterricht beinahe meine gesamte Energie verbraucht und jetzt muss ich Lukaz noch irgendwie fertigmachen. Den Lukaz, der ganz offenbar regelmäßig von Sam auf möglichen Technikfehler geprüft wird.
Endlich schaffe ich es einen Arm freizubekommen und befördere ihn – mit der Faust voran, direkt zum Gesicht meines Trainers. Das Keuchen von ihm ist hörbar.
>Nenne mir ihre Namen! < zischt er plötzlich.
>Was? < japse ich und bekomme schließlich auch meinen anderen Ellenbogen frei, um seinen nächsten Schlag damit abzublocken.
>Sag ihre Namen! Ich weiß, dass Sam sie dir verraten hat. <
Einen Augenblick lang bin ich verdutzt, aber schließlich platzen sie aus mir heraus.
>Mischa. < Daraufhin treffe ich ihn offensichtlich mitten in den Magen, denn er sackt mit seinem Oberkörper etwas zusammen. >Raphael. < Ich ziehe mein Knie aus einem Klammergriff und kicke es nach oben. Damit befürchte ich, ihn auf diese Weise zeugungsunfähig zu machen. Er schnauft auf und rollt sich nach links, weshalb ich in diese Richtung aufstehe. >Phillipe. < Ich weiß, dass er noch am Boden liegt und lasse mich einfach auf ihn fallen. Noch ist er damit beschäftigt seine Wunden zu lecken, also gebe ich ihm einem Schubser durch mein Knie und rolle ihn auf den Bauch. Ich fixiere seine Hände auf den Rücken, genau wie bei einer Festnahme. >Und dieser verdammte Taliban. < fauche ich beinahe. Mit einer schnellen Bewegung ziehe ich das Tuch von meinen Augen. Er hat die Halle nicht gänzlich dunkel gemacht, sondern nur die Neonröhren ausgestellt und die wenigen Lampen an den Wänden stark gedimmt.
Ich sehe in Lukaz´ Gesicht, das seitlich am Boden liegt. Es zeigt eine interessante Mischung aus vergehendem Schmerz und einem leichten Lächeln. Ich glaube, ich habe ihn tatsächlich entmannt und nur deshalb ist mir wohl auch die Festnahme gelungen. Das ist mal wieder ein Beweis dafür, dass dieser Tritt zwischen die Beine über alles geht.
>Du … bist … ein Miststück. < antwortet er quietschend, aber lacht schnaufend dabei.
>Tut mir leid. Aber du wolltest ja eh keine Familie gründen. < erwidere ich trocken, lasse ihn los und stehe auf. Er bleibt noch ein paar Sekunden liegen und drückt sich dann als der Schmerz vergangen ist, lässig in einen Liegestütz hoch. Schmunzelnd steht er wieder vor mir.
>Das nicht, aber die schönen Dinge des Lebens, wollte ich schon noch genießen. Setz die Augenbinde wieder auf! Wir machen sofort weiter, du hast den Dreh langsam raus. <
Ich bin eigentlich vollkommen erschöpft, aber Lukaz ist genauso unnachgiebig wie Sam. Also setze ich mir das Ding wieder auf und ergebe mich meinem Schicksal. Ich glaube, ich muss Ruby heute Abend anflehen, meine Schultern zu massieren.
Die bisher vergangene Zeit würde mich sehr interessieren, denn meine Ohren gewöhnen sich immer mehr und mehr daran, dass sie jetzt besser als alle anderen Sinne funktionieren müssen. Die Methode meines Trainers scheint zu funktionieren und als er das bemerkt, hat er endlich Mitleid mit mir und lässt mich frei. So schnell es geht ziehe ich mir die Augenbinde hinunter und ich stütze mich keuchend auf meinen Knien ab.
>Ich fühle mich vollkommen fertig. < gebe ich zu. >Das hätte ich nie gedacht, dass das so erschöpfend sein kann. <
>Für deinen Kopf ist das ein extremes Training. Ich habe schon vielen Schülern nach dem Unterricht ein paar Kniffe gezeigt, aber so eine Vorgehensweise habe ich noch nie mit jemandem gemacht, das ist also auch für mich eine Premiere. <
>Ein paar Kniffe? Das ist in meinem Fall aber sicher etwas mehr. <
>Und wenn schon. < lacht er. >Jetzt verschwinde endlich unter die Dusche und hau ab zu deinen Freunden. Die wundern sich sicher schon, wo du wieder bist. <
>Oh stimmt. Ruby denkt wahrscheinlich, dass ich verschollen bin. <
>Na dann beruhige sie mal. Wir sehen uns sicher nachher zum Abendessen. <
Ich schnappe mir meine leere Wasserflasche, in der schon seit dem letzten Block nichts mehr drin war und sehe zu Lukaz. Er sieht ebenfalls etwas fertig aus und wischt sich seinen Schweiß von der Stirn.
>Danke. < hauche ich ehrfürchtig. >Sam wusste ganz genau, weshalb er mich ausgerechnet hierher geschickt hat. <
>Nun hör schon auf, sonst werde ich noch rot. < scherzt er.
>Bis später. <
Im schnellen Tempo renne ich in den Gang hinein, auf dem sich unsere Zimmer befinden. Ein paar Schüler stehen dort und blicken sich nach mir um.
>Wo hast du denn gesteckt? Ruby wollte schon einen Suchtrupp losschicken. < fragt Louis. Jeremy steht neben ihm und mustert mich von oben bis unten. Wahrscheinlich bin ich knallrot wie eine Tomate.
>Ich habe noch trainiert und habe sie vorher nicht mehr gesehen, um es ihr zu sagen. <
>Was denn, schon wieder? < japsen beide zeitgleich.
Unschuldig zucke ich mit den Schultern und laufe dann an ihnen vorbei zu meinem Zimmer.
Ich schließe die Tür auf und sehe Ruby auf ihrem Bett sitzen. Eine Tüte Chips liegt vor ihr und sie schaut etwas auf dem Tablet.
>Hey da bist du ja endlich. Ich musste erstmal in der Tiefgarage nachschauen, ob Cataley schon im Feierabend ist. Ich hätte sonst wohl gedacht, dass sie dich in die Mangel nimmt und danach deine Leiche verscharrt. <
>Das würde ihr sicher sehr gefallen aber es war nur Lukaz, der mich in die Mangel nahm. Er hat noch mit mir trainiert. <
>Weißt du, es gibt auch noch mehr im Leben. < murmelt sie.
>Vielleicht haben wir ja jetzt noch etwas Zeit für die Dinge dazwischen? < frage ich mit Engelsstimme. Ruby grinst und bewirft mich mit einem Chip.
>Hau du erstmal ab unter die Dusche, sonst gehe ich nirgendwo mit dir hin. Und übrigens bluten dein Mundwinkel und dein Ohr. <
Ich strecke ihr die Zunge raus und verschwinde im Badezimmer. Hinter mir schließe ich wie immer ab und mache mich mit etwas Beeilung fertig.
Noch tropfend stehe ich vor dem Spiegel und sehe mir meinen Körper an. Diese neuen blauen Flecken am Rumpf sind nicht so schlimm, wie die von letzter Woche. Das liegt wohl auch daran, dass ich seltener getroffen werde – zumindest von den anderen Schülern. Das holen Cataley und Lukaz dafür schnell wieder auf.
Mit gewaschenen Haaren und frisch gepeelter Haut kehre ich zurück in unser Zimmer.
>Hast du es eigentlich schon gehört? Morgen trainieren wir zusammen. < jubelt Ruby.
>Ja, Lukaz hat es uns gesagt. Das wird bestimmt cool. Was auch immer sie mit uns vorhaben. <
>Na ja wir werden es auf die eine oder andere Weise erfahren. Hast du schon Hunger oder wollen wir vorher noch was mit den Jungs machen? <
>Wie spät ist es denn? < frage ich und schaue eigentlich schon von selbst auf Rubys Wecker. >18 Uhr? < keuche ich geschockt.
>Ja, ich habe doch gesagt, ich wollte schon einen Suchtrupp losschicken. Du hast über zwei Stunden mit Lukaz trainiert. Und das machst du fast jedes Mal. Ich finde ja, du könntest mal eine Pause vertragen. <
>Wenn man erstmal dabei ist, merkt man es gar nicht. < erwidere ich lässig, obwohl es manchmal eine ziemliche Quälerei ist.
>Junkie. < hüstelt Ruby.
Ich verdrehe grinsend die Augen, aber vielleicht hat sie recht. Irgendwie macht das Training süchtig, auch wenn ich so oft verliere. Schnaufend setze ich mich auf mein Bett.
>Hunger hätte ich schon, aber irgendwie tut mir alles weh und ich bin so k.o., dass ich nichts mehr unternehmen will. Ich will mich nicht mal bewegen. Gut, dass atmen ein Reflex ist. <
>Hmm … dann ein anderer Vorschlag. Wir machen diese Tüte Chips hier leer, gehen dann nach oben und laden unsere Tabletts voll. Damit verdrücken wir uns heimlich auf unser Zimmer und machen Mädelskram. <
>Mädelskram? < lache ich. >Henry lässt uns außerdem bestimmt nicht mit dem Essen hier runter. <
>Henry muss davon gar nichts erfahren. Er isst immer erst viel später. Wir laden uns genug auf, dass es bis zum Mitternachtssnack reicht und lassen uns heute nicht mehr blicken. Dann erzählen wir uns wie unser Tag war und machen uns Gesichtsmasken drauf und lackieren uns die Fußnägel. < quietscht sie begeistert. Ich lasse mich über die Seite lachend in mein Bett fallen.
>Du bist in einem Boot Camp gelandet und hast Nagellack und Gesichtsmasken bei? <
>Na klar, es könnte eine Apokalypse losbrechen und ich würde das Zeug einpacken. Also bist du dabei? Mach ruhig mal was Unerlaubtes und Illegales. < erwidert sie erwartungsvoll.
Oh Ruby, wenn du nur wüsstest, was ich tatsächlich für illegale Dinge tue. Anderseits gefällt mir ihre Idee. Es klingt so, als würde man diesen „Mädelskram“ mit seiner besten Freundin oder großen Schwester machen. Also bin ich dabei.
Wir haben uns tatsächlich heimlich mit Essen vollgeladen und uns in unser Zimmer gehockt. Dort sehen wir mit knallroten Fußnägeln und grüner Maske im Gesicht den Film „Der Kautionscop“ auf Rubys iPad. Er ist mit Jennifer Aniston und ziemlich lustig. Ihr gespielter Ex-Mann war früher mal Cop und entschied sich dann ein Bounty Hunter zu werden. Wir lachen viel darüber, denn der Inhalt und das Handeln des Hauptdarstellers haben nichts mit dem zu tun, was wir hier eigentlich über diesen Job lernen. Aber darum geht es auch gar nicht, es ist eben eine Komödie. Ich komme dadurch auf andere Gedanken und kann endlich mein Bein schonen, das nach Lukaz´ Unterricht wieder unfassbar zu schmerzen begann. Da meine Mitbewohnerin so ziemlich alles in ihrer Tasche hat, gab sie mir eine kühlende Heilsalbe, die mich vor Erleichterung beinahe zum Seufzen gebracht hätte.
Trotzdem drängt sich ein Gedanke durch. Nach dem heutigen Tag würde ich liebend gern einen Strich an meine Zimmerwand malen, so wie es im Gefängnis üblich ist. Es ist mein 12. Tag in Stufe eins und mein 7. Tag ohne Sam.
Das Zweite finde ich bedeutend schlimmer.