Fingerabdrücke bleiben
von Lynnix
Kurzbeschreibung
Nayeli genießt ihre letzte Woche als Studentin und lebt mit ihrer indianisch stämmigen Familie in einem alten Haus neben den Klippen des Superior Lakes. Sie kann es kaum erwarten ihren künftigen Job anzutreten, mit dem ihr eine aussichtsreiche Zukunft bevorsteht. Trotz Strapazen empfindet sie ihr Leben als perfekt aber was sie bis zu dem Zeitpunkt noch nicht weiß ist, dass ihr Vater eine große Last mit sich herumschleppt, dessen Folgen ihr den Boden unter den Füßen wegreißen werden. Die junge Frau lernt jemanden kennen, von dem sie noch nicht weiß, ob er Freund oder Feind ist. Plötzlich ist sie auf fremde Hilfe angewiesen, muss hinter Masken sehen, verstehen wie korrupt das Land ist, in dem sie lebt und auf schmerzhafte Weise Stück für Stück erfahren, wie tief ihr Vater in die Ereignisse verstrickt war. Sie muss Entscheidungen treffen, von denen sie glaubte, so etwas niemals tun zu müssen. Aber wie weit muss sie gehen um Schmerzen und Verlust zu überwinden?
GeschichteDrama, Krimi / P16 / Gen
23.02.2018
25.11.2021
129
578.228
7
Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
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15.03.2019
5.031
Kapitel 18 - Naturtalent
Es ist Freitag, der letzte Tag der Schulwoche und eventuell mein Aufstieg in die nächste Stufe.
Heute bin ich bereits vor dem Weckerklingeln aufgestanden und kontrolliere im Badezimmer meine Handschuhe. Für das Training sind sie noch okay. Aber am Nachmittag sollte ich wohl lieber nochmal nachsehen. Als ich auf dem Klo bin, kann ich Rubys schreckliche Eule hören. An irgendeinem Morgen werde ich diesen Wecker gegen die Wand werfen.
Heute blüht mir eine Doppelstunde mit dem Biest.
Falls es Unklarheiten gibt: Das Biest ist Cataley!
Ihre tiefe Abneigung mir gegenüber ist nun wirklich nicht mehr wegzudiskutieren und umso schwieriger macht es das für mich, in ihrem Unterricht zu punkten.
Trotzdem ist mir klar, dass ich nichts unversucht lassen werde.
Ich mache mich eilig im Bad fertig, bis Ruby an die Tür klopft.
>Bin gleich draußen. < rufe ich.
>Mach schon. Ich muss aufs Klo. <
Ihrer mauligen Stimme nach zu urteilen, ist sie noch im Halbschlaf. Ich binde mir die Haare zu einem Zopf zusammen und schließe die Tür wieder auf.
>Na endlich. Ich pinkle mir gleich in die Hose. <
Sie saust an mir vorbei und landet blitzschnell auf dem Klo. Und genauso schnell renne ich zur Tür raus. Ich muss nun wirklich nicht alles von Ruby miterleben, auch wenn es heißt, dass Mädels immer gemeinsam auf Toilette verschwinden. So wortwörtlich ist das nicht gemeint. Aus dem Schrank, den ich mir mit Ruby teile, hole ich mein letztes frisches Shirt raus und eine Cargohose. Heute muss ich das Zeug unbedingt waschen, sonst muss ich mich Montag in die verschwitzen Klamotten werfen.
Ich packe meinen Rucksack und warte auf dem Bett, bis meine Zimmergenossin fertig ist. Solange mache ich nochmal die Augen zu.
Wie viele Stunden Zeitverschiebung sind es eigentlich von hier bis nach Russland? Und gibt es nicht selbst dort noch unterschiedliche Zeitzonen? Aber ich schätze, bei Sam ist es gerade irgendwann am Nachmittag.
Das ist für gewöhnlich eine Tageszeit, zu der er sich in weniger gefährlichen Situationen befindet. Die Nacht mag zwar sein Element sein, aber dort passieren ihm im schlimmsten Fall die furchtbarsten Dinge. Kann er nicht einfach schon fertig sein und zurückkommen? Kann er mich nicht einfach von hier fortholen?
Nichts gegen diesen Ort, aber ich will wieder zu ihm. Ich will, dass er mir wieder durch die Haare streicht, mich zum Lachen oder zum Fluchen bringt, mir nah ist ohne zu nah zu sein. Ergibt das Letzte irgendwie einen Sinn? Oh Mann Sam … was hast du nur mit mir gemacht?
Die Tür des Badezimmers geht auf und vor Schreck öffne ich meine Augen. Ruby kommt splitterfasernackt und gähnend heraus, lässt sich wie ein nasser Sack auf ihr Bett fallen und zieht sich mühsam im Liegen an. Wenn sie so weitermacht, dauert das noch Stunden.
>Was haben wir jetzt? < fragt sie mich.
>Strafprozessrecht mit Henry. Wenn du dich beeilst, dann schaffen wir es bis dahin den zweiten Kaffee in den Händen zu halten. <
>Kaffee klingt richtig gut. <
Von neuer Motivation gepackt, beeilt sie sich, damit wir endlich in der Mensa frühstücken können. Ich riskiere einen letzten Blick durch unser Zimmer und schließe dann die Tür hinter uns.
Nach dem Frühstück, in Henrys Unterricht
Inzwischen habe ich durch mehrmaliges Lesen den Stoff von letzter Woche verstanden, aber dafür schlagen wir uns jetzt mit den nächsten Paragraphen herum. Cruisi neben mir schläft, während ich so schnell mitschreibe, als würde ich in einem Stenokurs sitzen.
Ruby schaut andauernd zu meinen Notizen, weil ich schneller mitkomme als sie und dennoch blickt sie genauso verzweifelt wie letzte Woche. Natürlich muss ich über die Rechtslehre Bescheid wissen, aber das Wichtigste für mich ist eigentlich nur, dass wir Kopfgeldjäger so ziemlich all das tun können, was die Cops nicht dürfen.
Vielleicht gibt es ja eines Tages einen kleinen Kollateralschaden mit Mischa, Phillipe, Raphael und dem Taliban und huch … “leider“ musste ich schießen.
Ich muss diese Kerle unbedingt loswerden, ich weiß nur noch nicht wie.
Okay, zuallererst muss ich sie finden und allein daran hapert es schon.
Henry geht wahnsinnig ins Detail, was ich sowohl gut als auch erschöpfend finde. Andauernd schaut meine Banknachbarin zur Uhr und hofft wohl, dass wir schnell erlöst werden. Normalerweise würde ich mich auch darüber freuen, aber ich weiß, welche beiden Stunden noch auf uns zukommen.
Am Ende packen wir unsere Sachen zusammen, weil wir den Raum wechseln müssen.
>Ganz ehrlich, ich überlebe das einfach nicht. < mault Ruby. >Gebt mir drei Gegner auf einmal, aber bitte keine Paragraphen mehr. < wütend wirft sie ihre Stifte zusammen, macht einen Gummi drum herum und schmeißt sie in ihre Tasche.
>Cruisi hat offensichtlich kein Problem damit. < erwidere ich und stoße den schlafenden Julien mit meinem Ellenbogen an.
>Hä? < schreckt er hoch und sieht sich um.
>Guten Morgen. Du hast etwa 95 % des Unterrichts verschlafen. < motzt Ruby und wirft sich den Riemen ihres Rucksacks um die Schulter.
Er hingegen nuschelt irgendetwas Unverständliches und erhebt sich ebenfalls.
Auf in die Höhle des Löwen. Da wir ja bereits wissen was uns blüht, sorgen wir für unsere Erfrischungsgetränke und ich verziehe mich derweil in die Damenumkleide.
Mit beiden Händen auf ein Waschbecken gestützt, sehe ich mich im Spiegel an. Ich sehe so aus, als hätte ich die letzte Nacht kaum geschlafen. Nun gut, das stimmt auch. Ich habe einfach zu viel nachgedacht und will heute nicht scheitern.
Aus dem Wasserhahn lasse ich eiskaltes Wasser laufen und werfe es mir ins Gesicht.
>Keine Panik. < flüstere ich mir selbst zu und fühle mich, wie vor meinen Collegeprüfungen. >Du packst das. Zeig ihr einfach nur was du kannst. <
Ich atme ein paar Mal tief ein und aus, bevor ich in unsere Trainingshalle zurückgehe.
Dort sehe ich auf der anderen und abgegrenzten Seite viele Leute aus der dritten Stufe, die auf Lukaz warten. Owen, David, Ivan und Nigel stehen beisammen und grinsen mir zu.
>Hey Ruby. Siehst du die beiden blonden Kerle neben David? <
>Ja wieso, was ist mit denen? <
>Das sind die Brüder, von denen ich dir erzählt habe. Sie haben letztens mit mir trainiert und sind wirklich gut. <
>Mmh … weißt du, ob die eine Freundin haben? <
Ich lache los und muss mir die Hand vor den Mund halten.
>Echt jetzt? Erst Sam und dann die? Kannst du dich mal entscheiden? <
>Wozu? Das Leben ist zu kurz. Das muss man in allen Zügen genießen. Warum also nur mit dem Wenigsten zufriedengeben? <
Ich schüttele immer noch grinsend den Kopf. Die Kleine ist einfach herrlich. Plötzlich betritt Cataley die Halle und schlagartig ist mein Lachen wie weggewischt. Wie kann ein einzelner Mensch nur so eine frostige Aura besitzen?
Beiläufig sehe ich noch einmal zu den Leuten aus der dritten Stufe rüber und fange Lukaz´ Blick auf, der sich zu seinen Schülern gesellt. Er hält mir beide gedrückten Daumen nach oben und dreht sich schließlich zu seinen Drittstufigen.
Cataley klatscht ein paar Mal in die Hände und wir versammeln uns um sie herum. Als sie sich unserer Aufmerksamkeit bewusst sein kann, verkündet sie:
>Laut Stundenplan habt ihr erst Schießen und dann Einsatztraining. Aber heute tauschen wir. Ich will euch erst kämpfen sehen und zum Schießen gehen wir mal raus. Für das, was wir nachher vorhaben, ist es hier drin zu eng. Heute will ich einige aus dieser Stufe in die Nächste schieben. Wir brauchen Platz und viele können die Basics gut genug, sodass sie hier nichts mehr verloren haben. Also zeigt mir, was ihr wert seid. Ich will euch gegen jeden eurer Mitschüler kämpfen sehen. Zum Schluss werdet ihr eine Festnahme machen. Und wer das gut hinbekommt, beweist sich noch im Schießen. Also los, findet euch zusammen. <
Natürlich üben erstmal Ruby und ich zusammen. Bei ihr werde ich nicht ganz so gut sein, aber hoffentlich sieht Cataley bei meiner ersten Runde nicht so genau hin. Sie wollte keine bestimmte Technik sehen, also denken wir, dass wir einfach dafür sorgen sollen, dass unser Gegner am Boden liegt. Durch Lukaz´ Zusatztraining gestern Nachmittag habe ich mich auf seine Präzision und Schnelligkeit eingestellt. Mit Sam´s Tipp weiß ich, dass ich auf die Schulter achten soll, um die nächsten Schläge zu erahnen. Durch Cataley weiß ich, wie ich mich selbst mit meiner Schulter schützen kann. Ich bekomme so ziemlich alles ab – Handkanten, Ellenbogen, Knie, Fußspitzen und selbst Köpfe. Heute will es wirklich jeder wissen.
Ich bringe meine Mitschüler zu Fall und treffe die schmerzhaften Stellen, die mir beigebracht wurden. Es gibt in meiner Gruppe stärkere Schüler und welche, die für mich nicht mehr so kompliziert sind, aber eines fällt mir erst nach einer ganzen Weile auf. Das Ganze hier ist sicher kein Zuckerschlecken und schon gar nicht mit Ruby als Gegnerin, aber bisher lag ich nicht ein einziges Mal auf der Matte.
Stattdessen habe ich es hier und da bei den Anderen geschafft und das ist mein neuer Rekord. Ohne einen kleinen Moment der Pause haben wir eine ganze Stunde gegen jeden unserer Mitschüler gekämpft. Wir sehen offenbar alle ziemlich fertig und verschwitzt aus und verschnaufen nun doch für einen kurzen Augenblick.
>Ich habe nichts von Pause gesagt. Macht weiter! < ruft unsere Trainerin.
>Aber wir haben jeden durch. < keucht Viktor, der seine Hände auf seine Knie gestützt hat, um besser Luft zu kriegen.
>Dann fangt ihr eben wieder von vorne an. <
Sofort wollen Ruby und ich wieder aufeinander zulaufen, aber da drängt sich Cataley bereits zwischen uns und sagt:
>Nein Kim, du nimmst mich. <
Oh Scheiße. Ist das ihr Ernst? Ruby starrt mich mit großen Augen an und läuft dann zu irgendjemand anderen.
Automatisch weiche ich einen Schritt von Cataley weg, aber nur um mich in Position zu bringen. Sie lässt nicht lange auf sich warten und schon greift sie mich an. Mir ist klar, dass sie nicht fair spielen wird, aber ich bemerke relativ schnell einen Unterschied, der mir die letzten Male noch nicht aufgefallen war. Sie ist langsamer als Lukaz, auch wenn ihre Schlagkraft die meines Trainers in keiner Weise nachstehen. Bereits am Montag hat sie alles daran gesetzt, mich vor der gesamten Stufe als Probandin zu benutzen und zu verprügeln. Ich weiß nicht wie oft sie mich zu Boden schmiss oder wie oft sie mich so brutal verletze, aber ich stand immer wieder auf und ich wusste, das war ihr zuwider. Der blaue Fleck an meinem Rippenbogen ist noch von ihr und heute werden sicher ein paar zu den Vorhandenen dazukommen.
Am Dienstag jagte sie mich quer durch den Wald und wollte mir erneut zeigen was sie kann. Ich kehrte zwar humpelnd aber aufrecht zurück in die Schule. Tu was du willst Cataley, aber du kriegst mich nicht klein.
Während ich mit ihr die Griffe und Schlagtechniken durchgehe, frage ich mich, wieso mir zuvor nicht aufgefallen war, dass sie langsamer als mein Trainer für Selbstverteidigung ist. Lukaz bewegt sich so unfassbar schnell, dass sie mir jetzt vorkommt, als würde sie sich zurückhalten, aber ich weiß, dass das nicht wahr ist. Es sind nur endlich meine Erfolge sichtbar. Also versuche ich ihr so gut es geht auszuweichen, wehre sie ab und riskiere hier und da eine Gegenwehr. Irgendwann wird sie schon müde werden und während die Anderen bereits zum zweiten Mal ihren Gegner gewechselt haben, stehe ich immer noch mit Cataley auf der Matte.
Am Montag hätte sie mich auf diese Weise noch vernichtet, heute bin ich standhafter und das kann sie nicht wegdiskutieren. Trotzdem schafft sie es genau dreimal, mich auf den Boden zu befördern. Wenn meine Abwehr allerdings gut ist und ich sie beinahe treffe, dann wirkt sie nicht gerade zufrieden.
>Schluss damit. < ruft sie plötzlich und sieht genervt aus. >Ihr sollt noch eure Verhaftung zeigen. Wir verschwenden nur Zeit, wenn das noch so weitergeht. Vorn auf dem Tisch liegen Handschellen. Holt euch welche! < dann löst sie ihre Körperspannung komplett auf und dreht mir den Rücken zu, um zu dem Tisch zu laufen. Ich stehe immer noch in Schrittstellung mit erhobenen Fäusten da und kann es nicht fassen, nach drei Niederlagen dennoch wieder zu stehen.
Leider habe ich es bei Cataley kein einziges Mal geschafft, sie auf die Matte zu befördern, aber es ist trotzdem ein riesiger Fortschritt für heute. Wieder schaue ich zu Lukaz auf der anderen Seite. Er sieht allerdings nicht zu mir, sondern er grinst sieghaft in Cataleys Richtung, als sie ihn nicht beachtet. Schließlich wandern seine Augen zu mir und ich forme mit meinen Lippen ein „Danke.“ Das hätte ich ohne ihn nicht geschafft.
Mein Gegner für die Festnahme ist Cruisi. Ich finde, er ist in den Theoriefächern einfach unschlagbar, aber in den praxisbehafteten Fächern habe ich ihn inzwischen überholt. Zum ersten Mal seitdem ich hier trainiert werde, schaffe ich es, jemanden auf den Bauch zu werfen und ihm Handschellen anzulegen.
Am liebsten würde ich vor Freude meine Faust in die Luft ragen. Ich hingegen werde von ihm nicht in Handschellen abgeführt, da er mich nicht erwischen konnte.
>Na schön. < ruft unsere Trainerin. >Geht jetzt in eure Mittagspause! Danach will ich euch draußen hinter dem Gebäude versammelt sehen. <
Sie legt die Handschellen wieder zusammen und räumt unseren Trainingsplatz auf. Auch die Anderen aus der dritten Stufe haben nun ihre Pause und laufen auf uns zu. Als Letzter läuft Lukaz und als er bei mir ist, legt er mir einen Arm um die Schulter, um mich ein kleines Stück mit sich zu ziehen.
>Das sah für mich ziemlich gut aus. < verkündet er aufmunternd.
Dann lässt er mich wieder los, läuft an mir vorbei und lässt mich grinsend stehen.
>Bilde dir nicht zu viel ein. < höre ich nur eine Sekunde danach, die leise Stimme vom Biest. >Nur weil du Julien verhaftet hast, heißt das nicht, dass du das Gleiche an einem der Anderen geschafft hättest. Es ist dir an einem Schwächeren gelungen. Wenn du jemanden niederringst, der auf dem Level der aufgestiegenen Schüler ist, dann reden wir weiter. <
Und sofort schafft sie es wieder mein Hochgefühl zu zerstören. Ich halte meinen Mund und lasse mich nicht zu einem Wortgefecht provozieren. Das wäre wohl das, was sie will. Sie will, dass ich austicke aber das schafft sie nicht.
Ruby greift mich grob am Arm und zieht mich leise fluchend mit sich.
>Das ist doch wohl nicht ihr Ernst. Ich habe dich gesehen. < meckert sie leise und schiebt mich durch die Tür.
>Ist doch egal. Lass sie reden. <
>Lass sie reden? Ich schaue mir das schon seit einer Woche an. Kim, du musst das jemandem erzählen. Sie behandelt dich wie den letzten Dreck. <
>Nein! Ich gebe ihr nicht die Genugtuung. Ich schaffe das schon. <
>Was hat sie denn für ein Problem? <
>Das ist offenbar ihre Art. Sie führt jeden gern vor, das weißt du doch. <
Ruby sieht so aus, als müsste sie all ihren Ärger herunterschlucken und schnaubt wütend auf, als sie mit mir nach oben läuft.
>Sie kann nicht abstreiten, dass du viel besser geworden bist. Ich habe von Beginn an mit dir trainiert und heute hast du mich echt ins Schwitzen gebracht. <
Etwas wehmütig lächle ich sie an und bin dankbar für ihre ehrlichen Worte.
>Lass uns erstmal was Essen. Danach kann ich mich immer noch im Schießen beweisen. < schlage ich vor.
>Stimmt, das ist etwas, was du viel besser kannst als ich. <
Wir treffen in der Mensa auf die anderen Schüler und setzen uns an einen 10er-Tisch. Zu uns gesellen sich Owen, David, Ivan und Nigel aus der Dritten, sowie Jeremy Louis, Max und Liam aus der Zweiten. Meine Zimmergenossin lernt endlich die beiden Brüder kennen, von denen ich ihr schon erzählt habe. Kurz darauf taucht auch noch Cruisi mit einem elften Stuhl auf und wir rücken alle etwas zusammen. Bei mir gibt es einen gigantischen Hähnchensalat mit Dressing und Croutons. Ich schaue zwar auf die beladenen Tabletts der Anderen, die sich unter anderem Berge von Nudeln mit Fleischklößen auf die Teller geschaufelt haben, aber das spare ich mir für heute Abend auf. Ich will von dem schweren Essen nach der Pause nicht müde werden und brauche meine Konzentration für die bevorstehende Stunde.
>Was steht bei euch am Wochenende an? Wir müssen hier bleiben. < fragt Nigel, der ältere Bruder, in die Runde.
Jeremy schluckt seinen Bissen hinunter und antwortet:
>Ich fliege dieses Mal nach Hause. Das war schon letzte Woche geplant und nach dem Unterricht muss ich packen. <
>Owen und ich müssen auch mal wieder nach Hause. < erklärt David. >Meine Mum liegt mir schon eine Weile in den Ohren. Bevor ich meine Ausbildung hier anfing, hat sie mich schon vier Wochen zuvor nicht gesehen. Wie ich sie kenne, wird sie alles kochen was ich liebe und hoffen, dass sie mich damit zurückhält. <
>Und wird das funktionieren? < frage ich lachend. Er grinst und schaut so als müsse er stark überlegen.
>Sagen wir mal, meine Mutter weiß, wie sie mich rumkriegt. Aber nichts könnte mich von dieser Schule abhalten. <
>Okay und haut sonst noch einer ab? < will Max wissen. Da niemand sonst etwas sagt, setzt er erneut an: >Cool. Also bleiben ich, Cruisi, Ruby, Nigel, Liam, Louis, Ivan und Kim hier. Letztes Wochenende waren wir mit ein paar Schülern in der Vorstadt in einem Club. Der war eigentlich ganz in Ordnung. Habt ihr Lust, dass wir da abends hinfahren? <
>Ich bin tagsüber mit meinem Dad verabredet, aber abends wäre ich dabei. < verkündet Ruby. >Was ist mit dir Kim? Wir könnten sicher Spaß haben? <
>Oh ehm … na ja. Ich denke nicht, dass ich mitgehe. Mir ist das Geld gerade etwas ausgegangen. <
>Ach was. < wendet Ivan ein und beugt sich grinsend über den Tisch. >Samstag ist dort ladys night und Ruby und du kommen dort kostenlos rein. Ich gebe euch Mädels einen Drink aus, was haltet ihr davon? <
Ganz erwartungsvoll blickt mich meine Zimmergenossin an und zerbeißt sich beinahe ihre Lippe vor Gespanntheit.
>Gut, bin dabei. < verkünde ich, worauf die Männer am Tisch sichtlich begeistert sind. Es tut mir sicher mal gut, wenn ich rauszukomme und nicht über meine Ausbildung oder meine Beinahe-Mörder nachdenke.
Nach der Mittagspause befinden wir uns wie abgesprochen hinter dem Gebäude und warten auf Cataley. Wir haben nichts bei uns – keine Munition, keine Waffen oder Ziele. Plötzlich taucht Simon aus dem Wald auf und legt beide Handkanten an seinen Mund, um uns zuzurufen, dass wir ihm folgen sollen. Die Gelegenheit wird prompt von einigen Schülern genutzt, um nochmal eine Zigarette anzumachen. Einen Teil des Waldes kenne ich schon. Erst am Dienstag haben wir unser Training nach draußen verlagert, aber wir sind woanders abgebogen. Wir folgen Simon ein Stück, bis wir zu einer großen Lichtung kommen.
Ich erkenne rechts von uns – dort wo der Wald wieder beginnt, so etwas wie einen turmhohen Jagdhochstand. Vor uns steht ein ausgeklappter Tisch mit Schutzbrillen, Ohrstöpseln, Flinten und Patronen.
Daneben befindet sich Cataley mit verschränkten Armen und wartet, bis wir alle bei ihr eintreffen.
>Sind alle vollzählig? < will sie wissen. Viele nicken, da wir gemeinsam losgegangen sind. >Na schön. Wir sind heute hier, um euren Schießlevel zu erhöhen und um mir zu zeigen, dass ihr nicht nur auf einen starren Punkt, sondern auch auf bewegliche Ziele schießen könnt. Die Meisten eurer flüchtigen Personen werden vor euch davonlaufen und dann solltet ihr so eine Situation in den Griff bekommen, sonst war's das mit eurer Prämie. Simon ist hier, um mir für den Anfang zu helfen. Was wir heute tun, ist im Grunde Tontauben schießen. < daraufhin hält sie eine kleine orange Wurfscheibe nach oben, die ich schon mal in einer Reportage gesehen habe. >Dort oben von dem Turm kommen sie geflogen. Auf drei Etagen stehen die Maschinen bereit, wodurch es verschiedene Entfernungen und Höhen gibt, von der die Scheiben losfliegen. Bei der ersten Etage rollen sie schnell über den Boden, so als müsste man einen Hasen schießen. Bei der mittleren und obersten Etage fliegen sie bereits über unsere Köpfe. <
Dann greift sie sich eine Flinte, bricht sie in der Mitte, gibt zwei Patronen in die Kammern und lässt die Waffe einrasten, bis sie ein geladenes Gewehr in den Händen hält.
>Ihr habt immer zwei Versuche bis der Nächste an der Reihe ist. Wir starten mit der untersten Etage und arbeiten uns nach oben. < dann gibt Cataley Simon ein Kopfnicken, worauf er eine kleine Fernbedienung in seine Hände nimmt. Unsere Trainerin legt die Flinte an die Schulter an und steht in ihrer Position. Dann gibt es ein Geräusch, als die Tonscheibe in die Maschine einfährt. Blitzschnell wird diese abgefeuert und rollt – oder besser gesagt hüpft, über den Boden von rechts nach links. Ich beobachte Cataley wie sie langsam die Bewegung der Scheibe mit dem Gewehr verfolgt und schließlich abdrückt. Das Stück Ton zerspringt und der Staub löst sich im Wind auf. Eine zweite Platte wird abgefeuert und Cataley trifft sie wie zuvor. Dann bricht sie ihr Gewehr erneut, wodurch sich der Rauch sofort seinen Weg bahnt und sie nimmt die leeren Patronenhülsen raus, um sie durch die neue Munition zu ersetzen.
>Macht euch bereit! Ihr blickt immer auf einen Punkt vor dem Ziel, nicht genau darauf. Nach zwei Versuchen macht ihr Platz für den nächsten Kandidaten. Wenn alle durch sind, dann gehen wir eine Etage höher. Für heute fliegen die Scheiben nur geradeaus. Später fliegen sie kreuz und quer. <
Sie macht Platz, damit wir uns jeweils ein Gewehr greifen können. Wenn ich nicht wüsste, dass es heute wirklich um etwas Wichtiges geht, dann würde ich mich direkt auf das Training freuen und Spaß dabei haben.
Der Erste, der sich daran versucht, ist Viktor. Ich verfolge seine ersten beiden Schüsse, die in die Hose gehen. Soweit ich mich erinnern kann, schießt er sonst ganz passabel, aber das hier ist ein ganz anderer Schwierigkeitsgrad. Nach ihm ist Mike an der Reihe, mit dem ich noch nicht allzu viel Kontakt hatte. Auch ihm misslingen die beiden Versuche und so langsam legt sich meine Nervosität. Unsere Trainerin wird doch sicher nicht von uns verlangen, dass wir heute alle Wurfscheiben perfekt treffen, oder? Danach ist Ruby dran und bei der ersten Platte dachte ich, dass sie sie fast hatte, aber leider ist ihre Erfolgsquote dieselbe wie bei ihren Vorgängern. Die nächsten Schüler versuchen sich daran. Hier und da gibt es mal einen Glückstreffer, jedoch ist die erste Runde eher nüchtern.
>Kim, du bist dran. < sagt Cataley. Ich laufe vor zu der Ziellinie und lege mein Gewehr an. Meine linke Hand ist am Vorderschaft und die Rechte am Abzug.
Vorsichtig ausatmend warte ich auf das Einschieben der Platte in die Maschine und schließlich kommt sie geflogen. Mein Gewehr folgt der Flugbahn und ich drücke ab.
>Zu früh geschossen. < kommentiert meine Trainerin. Mist, ich will das hinkriegen.
Das Gewehr habe ich immer noch im Anschlag und warte auf die zweite Platte.
„Ich will, dass du diese Kerle jedes Mal vor Augen hast, wenn du kämpfst, wenn du schießt und selbst wenn du die blöde Theorie lernst. Sie treiben dich an.“
Ich höre Sam´s Stimme in meinem Kopf und weiß, dass er damit recht hat.
Die Platte fliegt, ich verfolge den Bereich vor der Scheibe und drücke ab. Ruby kreischt los, hüpft auf der Stelle und klatscht in die Hände.
>Yes! Das ist es. < ruft sie.
>Du hast sie nur noch im letzten Drittel erwischt. < wendet Cataley gelangweilt ein. Dann greift sie sich wieder ihre Waffe, legt an und wartet darauf, dass Simon die Maschinen wieder steuert. Dieses Mal fliegt die Tontaube aus der mittleren Etage los und ist sogar etwas unkontrollierter als die Vorherige.
Trotzdem zerspringen beide aufeinanderfolgenden Scheiben in mehrere Teile, als der Schuss sie trifft. Das ist Wahnsinn – ich kann einfach nicht damit aufhören, Cataley immer wieder gegen meinen Willen zu bewundern. Sie ist sicher ein super Bounty Hunter, aber dafür ein unsozialer Mensch.
Mit einem Kopfnicken von ihr sollen es die anderen Schüler wieder versuchen.
Viktor und Mike beginnen erneut nacheinander. Sie sind zwar beide näher dran als beim ersten Mal, aber treffen wieder nicht. Ich riskiere einen Blick zu Simon, der völlig neutral dem Spektakel zuschaut und ich denke, dass eigentlich keiner erwartet, dass wir die Tontauben der Reihe nach zerschießen können, so wie unsere Trainerin es vormachte. Es ist wirklich wahnsinnig schwierig.
Auf ein starres und unbewegliches Ziel zu schießen, fiel mir zu Anfang schon nicht leicht aber etwas hinterherzujagen, was so schnell ist, ist eine noch größere Herausforderung.
Ich sehe mir nach und nach die Techniken der Schützen an und zucke manchmal regelrecht mit, wenn ich normalerweise schon abdrücken würde. Mein Fokus liegt die ganze Zeit auf diesen Scheiben, bis ich endlich selbst wieder dran bin.
Ruby wirft mir einen vielsagenden Blick zu und hält die Daumen gedrückt. Ich bin nur froh, dass Simon die Fernbedienung für die Tonplatten in den Händen hält und nicht Cataley. Wenn sie könnte, würde sie mich hier sicher auch unvorbereitet treffen wollen.
In meiner Position eingefroren warte ich auf die Scheibe, die auch sofort von rechts nach links geschossen kommt. Mein Gewehr verfolgt die Flugbahn und ich drücke ab.
>Oh mein Gott, du hast sie mittig getroffen. < keucht Cruisi. Ich will mich natürlich darüber freuen, aber mich auch nicht ablenken lassen, denn die zweite Scheibe kommt jeden Moment und nur Sekunden später drücke ich ab.
Mit offenem Mund stehe ich da und lasse mich halb von Ruby über den Haufen rennen, als ich soeben auch diese getroffen habe.
>Ich sag´s dir Kim. Schießen ist dein Element. < jubelt sie.
Aus meinem Gewehr raucht es und ich puste in den Lauf hinein. Ungläubig schaue ich immer noch dahin, wo eben noch mein Ziel geflogen kam. So langsam beginne ich übers ganze Gesicht zu grinsen und gebe ein Gestotter von mir.
>Machen wir weiter. < mault Cataley und drängt sich an mir vorbei. >Die dritte Ebene ist die Schwierigste. Da oben herrscht viel mehr Wind und die Scheibe kann unkontrolliert hin- und her wackeln. <
Sie führt uns erneut vor, was wir tun sollen. Dabei ändert sich immer nur die Position ihres Gewehres, der Rest bleibt gleich. Wie die anderen Male zuvor, trifft sie perfekt und auch dann, als gerade eine Böe umherweht. Wir bleiben bis zum Ende der Stunde auf der dritten Ebene und können somit noch einige Male schießen. Es ist bei diesem Wind wirklich schwierig, genau zu treffen, aber normalerweise fliegen unsere Zielpersonen ja auch nicht. Um Genauigkeit zu trainieren, finde ich es allerdings genial. Manchmal treffe ich perfekt, manchmal noch gerade so und auch mal daneben. Aber ich muss zugeben, total zufrieden mit meiner Leistung zu sein.
Inzwischen hat nahezu jeder irgendwann mal das Ziel getroffen, denn wir üben es jetzt schon so lange, dass sich meine Mitschüler eingeschossen haben. Es macht mir richtig Spaß, aber dann wird mir wieder bewusst, wie wichtig das heute ist.
Mike ist der Letzte, der noch seine zwei Schüsse machen darf, ehe Cataley die Stunde beendet. Zum Schluss hat sie noch etwas zu sagen, also stellt sie sich vor uns und erklärt:
>Wie ich es gestern gesagt habe, schiebe ich heute einige von euch in die nächste Stufe, da am Montag viele Neue dazukommen werden und ich den Platz in der 1. Stufe brauche. Die, die ich gleich nenne, steigen somit auf. < Ruby greift sich zittrig meine Hand und steht erwartungsvoll mit mir in den Reihen. Ich bin ebenfalls so nervös, dass es mich wahnsinnig macht. >Ab Montag sind Viktor, Mike, Julien, Ruby, Alex, Colin, Finn und Ian in der nächsten Stufe. <
Mein Herz macht direkt einen Aussetzer. Ich bin nicht genannt worden, das kann doch nicht ihr Ernst sein.
>Hey Cataley. < sagt Ruby und meldet sich. >Du hast Kim ganz vergessen. <
>Nein, ich habe sie nicht vergessen. <
>Was? Aber sie war beim Schießen die Beste. <
Ich versuche sie zu beruhigen und ziehe an ihrer Hand. Aber unsere Trainerin kommt ein paar Schritte auf sie zu und sagt ganz leise und kühl:
>Schießen ist nicht alles, was ein Bounty Hunter tut. Und soweit ich weiß, hast nicht du das zu entscheiden, wer aufrückt und wer nicht. Falls du etwas gegen meine Entscheidung hast, dann kannst du ja gern noch in deiner Stufe bleiben. <
>Schon gut. Lass es. < flüstere ich zu Ruby, die sauer zu Boden schaut. Ich bin froh, dass sie nicht noch mehr sagt, denn Cataley dreht schließlich ab und sagt uns, dass wir verschwinden sollen.
Auf dem ganzen Weg zur Schule wettert Ruby herum, dass das unfair ist.
>Du warst wirklich gut. Das musst du doch selbst zugeben. Cruisi ist in beiden Bereichen viel schlechter und den hat sie weiter gelassen. Du hast ihn im zweiten Block locker festgenommen und seine Schüsse waren bei weitem nicht so wie deine. <
>Tu mir einen Gefallen und belasse es jetzt dabei. Sonst stuft sie dich womöglich wirklich noch zurück. < entgegne ich ihr.
>Wie kannst du dir das so gefallen lassen? <
>Herr Gott was soll ich denn tun? Du hast sie doch gehört. Sie entscheidet, wer vorrückt und wer nicht. Wenn ich mich jetzt mit ihr anlege, dann wird es wohl nicht gerade besser werden. Ich muss einfach noch mehr üben. <
Sauer windet sich Ruby aus meinem Griff und stampft voraus. Ich weiß nicht auf wen sie jetzt wütender ist. Auf Cataley, weil sie so unfair zu mir ist oder auf mich, weil ich mir das gefallen lasse.
Aber ich kenne diesen Typ Mensch zur Genüge. Jetzt auf die Barrikaden zu gehen, wäre dumm. Wenn ich aber besser werde, dass es selbst den Erststufigen auffällt, dann muss sie mich einfach weiter lassen.
Es ist Freitag, der letzte Tag der Schulwoche und eventuell mein Aufstieg in die nächste Stufe.
Heute bin ich bereits vor dem Weckerklingeln aufgestanden und kontrolliere im Badezimmer meine Handschuhe. Für das Training sind sie noch okay. Aber am Nachmittag sollte ich wohl lieber nochmal nachsehen. Als ich auf dem Klo bin, kann ich Rubys schreckliche Eule hören. An irgendeinem Morgen werde ich diesen Wecker gegen die Wand werfen.
Heute blüht mir eine Doppelstunde mit dem Biest.
Falls es Unklarheiten gibt: Das Biest ist Cataley!
Ihre tiefe Abneigung mir gegenüber ist nun wirklich nicht mehr wegzudiskutieren und umso schwieriger macht es das für mich, in ihrem Unterricht zu punkten.
Trotzdem ist mir klar, dass ich nichts unversucht lassen werde.
Ich mache mich eilig im Bad fertig, bis Ruby an die Tür klopft.
>Bin gleich draußen. < rufe ich.
>Mach schon. Ich muss aufs Klo. <
Ihrer mauligen Stimme nach zu urteilen, ist sie noch im Halbschlaf. Ich binde mir die Haare zu einem Zopf zusammen und schließe die Tür wieder auf.
>Na endlich. Ich pinkle mir gleich in die Hose. <
Sie saust an mir vorbei und landet blitzschnell auf dem Klo. Und genauso schnell renne ich zur Tür raus. Ich muss nun wirklich nicht alles von Ruby miterleben, auch wenn es heißt, dass Mädels immer gemeinsam auf Toilette verschwinden. So wortwörtlich ist das nicht gemeint. Aus dem Schrank, den ich mir mit Ruby teile, hole ich mein letztes frisches Shirt raus und eine Cargohose. Heute muss ich das Zeug unbedingt waschen, sonst muss ich mich Montag in die verschwitzen Klamotten werfen.
Ich packe meinen Rucksack und warte auf dem Bett, bis meine Zimmergenossin fertig ist. Solange mache ich nochmal die Augen zu.
Wie viele Stunden Zeitverschiebung sind es eigentlich von hier bis nach Russland? Und gibt es nicht selbst dort noch unterschiedliche Zeitzonen? Aber ich schätze, bei Sam ist es gerade irgendwann am Nachmittag.
Das ist für gewöhnlich eine Tageszeit, zu der er sich in weniger gefährlichen Situationen befindet. Die Nacht mag zwar sein Element sein, aber dort passieren ihm im schlimmsten Fall die furchtbarsten Dinge. Kann er nicht einfach schon fertig sein und zurückkommen? Kann er mich nicht einfach von hier fortholen?
Nichts gegen diesen Ort, aber ich will wieder zu ihm. Ich will, dass er mir wieder durch die Haare streicht, mich zum Lachen oder zum Fluchen bringt, mir nah ist ohne zu nah zu sein. Ergibt das Letzte irgendwie einen Sinn? Oh Mann Sam … was hast du nur mit mir gemacht?
Die Tür des Badezimmers geht auf und vor Schreck öffne ich meine Augen. Ruby kommt splitterfasernackt und gähnend heraus, lässt sich wie ein nasser Sack auf ihr Bett fallen und zieht sich mühsam im Liegen an. Wenn sie so weitermacht, dauert das noch Stunden.
>Was haben wir jetzt? < fragt sie mich.
>Strafprozessrecht mit Henry. Wenn du dich beeilst, dann schaffen wir es bis dahin den zweiten Kaffee in den Händen zu halten. <
>Kaffee klingt richtig gut. <
Von neuer Motivation gepackt, beeilt sie sich, damit wir endlich in der Mensa frühstücken können. Ich riskiere einen letzten Blick durch unser Zimmer und schließe dann die Tür hinter uns.
Nach dem Frühstück, in Henrys Unterricht
Inzwischen habe ich durch mehrmaliges Lesen den Stoff von letzter Woche verstanden, aber dafür schlagen wir uns jetzt mit den nächsten Paragraphen herum. Cruisi neben mir schläft, während ich so schnell mitschreibe, als würde ich in einem Stenokurs sitzen.
Ruby schaut andauernd zu meinen Notizen, weil ich schneller mitkomme als sie und dennoch blickt sie genauso verzweifelt wie letzte Woche. Natürlich muss ich über die Rechtslehre Bescheid wissen, aber das Wichtigste für mich ist eigentlich nur, dass wir Kopfgeldjäger so ziemlich all das tun können, was die Cops nicht dürfen.
Vielleicht gibt es ja eines Tages einen kleinen Kollateralschaden mit Mischa, Phillipe, Raphael und dem Taliban und huch … “leider“ musste ich schießen.
Ich muss diese Kerle unbedingt loswerden, ich weiß nur noch nicht wie.
Okay, zuallererst muss ich sie finden und allein daran hapert es schon.
Henry geht wahnsinnig ins Detail, was ich sowohl gut als auch erschöpfend finde. Andauernd schaut meine Banknachbarin zur Uhr und hofft wohl, dass wir schnell erlöst werden. Normalerweise würde ich mich auch darüber freuen, aber ich weiß, welche beiden Stunden noch auf uns zukommen.
Am Ende packen wir unsere Sachen zusammen, weil wir den Raum wechseln müssen.
>Ganz ehrlich, ich überlebe das einfach nicht. < mault Ruby. >Gebt mir drei Gegner auf einmal, aber bitte keine Paragraphen mehr. < wütend wirft sie ihre Stifte zusammen, macht einen Gummi drum herum und schmeißt sie in ihre Tasche.
>Cruisi hat offensichtlich kein Problem damit. < erwidere ich und stoße den schlafenden Julien mit meinem Ellenbogen an.
>Hä? < schreckt er hoch und sieht sich um.
>Guten Morgen. Du hast etwa 95 % des Unterrichts verschlafen. < motzt Ruby und wirft sich den Riemen ihres Rucksacks um die Schulter.
Er hingegen nuschelt irgendetwas Unverständliches und erhebt sich ebenfalls.
Auf in die Höhle des Löwen. Da wir ja bereits wissen was uns blüht, sorgen wir für unsere Erfrischungsgetränke und ich verziehe mich derweil in die Damenumkleide.
Mit beiden Händen auf ein Waschbecken gestützt, sehe ich mich im Spiegel an. Ich sehe so aus, als hätte ich die letzte Nacht kaum geschlafen. Nun gut, das stimmt auch. Ich habe einfach zu viel nachgedacht und will heute nicht scheitern.
Aus dem Wasserhahn lasse ich eiskaltes Wasser laufen und werfe es mir ins Gesicht.
>Keine Panik. < flüstere ich mir selbst zu und fühle mich, wie vor meinen Collegeprüfungen. >Du packst das. Zeig ihr einfach nur was du kannst. <
Ich atme ein paar Mal tief ein und aus, bevor ich in unsere Trainingshalle zurückgehe.
Dort sehe ich auf der anderen und abgegrenzten Seite viele Leute aus der dritten Stufe, die auf Lukaz warten. Owen, David, Ivan und Nigel stehen beisammen und grinsen mir zu.
>Hey Ruby. Siehst du die beiden blonden Kerle neben David? <
>Ja wieso, was ist mit denen? <
>Das sind die Brüder, von denen ich dir erzählt habe. Sie haben letztens mit mir trainiert und sind wirklich gut. <
>Mmh … weißt du, ob die eine Freundin haben? <
Ich lache los und muss mir die Hand vor den Mund halten.
>Echt jetzt? Erst Sam und dann die? Kannst du dich mal entscheiden? <
>Wozu? Das Leben ist zu kurz. Das muss man in allen Zügen genießen. Warum also nur mit dem Wenigsten zufriedengeben? <
Ich schüttele immer noch grinsend den Kopf. Die Kleine ist einfach herrlich. Plötzlich betritt Cataley die Halle und schlagartig ist mein Lachen wie weggewischt. Wie kann ein einzelner Mensch nur so eine frostige Aura besitzen?
Beiläufig sehe ich noch einmal zu den Leuten aus der dritten Stufe rüber und fange Lukaz´ Blick auf, der sich zu seinen Schülern gesellt. Er hält mir beide gedrückten Daumen nach oben und dreht sich schließlich zu seinen Drittstufigen.
Cataley klatscht ein paar Mal in die Hände und wir versammeln uns um sie herum. Als sie sich unserer Aufmerksamkeit bewusst sein kann, verkündet sie:
>Laut Stundenplan habt ihr erst Schießen und dann Einsatztraining. Aber heute tauschen wir. Ich will euch erst kämpfen sehen und zum Schießen gehen wir mal raus. Für das, was wir nachher vorhaben, ist es hier drin zu eng. Heute will ich einige aus dieser Stufe in die Nächste schieben. Wir brauchen Platz und viele können die Basics gut genug, sodass sie hier nichts mehr verloren haben. Also zeigt mir, was ihr wert seid. Ich will euch gegen jeden eurer Mitschüler kämpfen sehen. Zum Schluss werdet ihr eine Festnahme machen. Und wer das gut hinbekommt, beweist sich noch im Schießen. Also los, findet euch zusammen. <
Natürlich üben erstmal Ruby und ich zusammen. Bei ihr werde ich nicht ganz so gut sein, aber hoffentlich sieht Cataley bei meiner ersten Runde nicht so genau hin. Sie wollte keine bestimmte Technik sehen, also denken wir, dass wir einfach dafür sorgen sollen, dass unser Gegner am Boden liegt. Durch Lukaz´ Zusatztraining gestern Nachmittag habe ich mich auf seine Präzision und Schnelligkeit eingestellt. Mit Sam´s Tipp weiß ich, dass ich auf die Schulter achten soll, um die nächsten Schläge zu erahnen. Durch Cataley weiß ich, wie ich mich selbst mit meiner Schulter schützen kann. Ich bekomme so ziemlich alles ab – Handkanten, Ellenbogen, Knie, Fußspitzen und selbst Köpfe. Heute will es wirklich jeder wissen.
Ich bringe meine Mitschüler zu Fall und treffe die schmerzhaften Stellen, die mir beigebracht wurden. Es gibt in meiner Gruppe stärkere Schüler und welche, die für mich nicht mehr so kompliziert sind, aber eines fällt mir erst nach einer ganzen Weile auf. Das Ganze hier ist sicher kein Zuckerschlecken und schon gar nicht mit Ruby als Gegnerin, aber bisher lag ich nicht ein einziges Mal auf der Matte.
Stattdessen habe ich es hier und da bei den Anderen geschafft und das ist mein neuer Rekord. Ohne einen kleinen Moment der Pause haben wir eine ganze Stunde gegen jeden unserer Mitschüler gekämpft. Wir sehen offenbar alle ziemlich fertig und verschwitzt aus und verschnaufen nun doch für einen kurzen Augenblick.
>Ich habe nichts von Pause gesagt. Macht weiter! < ruft unsere Trainerin.
>Aber wir haben jeden durch. < keucht Viktor, der seine Hände auf seine Knie gestützt hat, um besser Luft zu kriegen.
>Dann fangt ihr eben wieder von vorne an. <
Sofort wollen Ruby und ich wieder aufeinander zulaufen, aber da drängt sich Cataley bereits zwischen uns und sagt:
>Nein Kim, du nimmst mich. <
Oh Scheiße. Ist das ihr Ernst? Ruby starrt mich mit großen Augen an und läuft dann zu irgendjemand anderen.
Automatisch weiche ich einen Schritt von Cataley weg, aber nur um mich in Position zu bringen. Sie lässt nicht lange auf sich warten und schon greift sie mich an. Mir ist klar, dass sie nicht fair spielen wird, aber ich bemerke relativ schnell einen Unterschied, der mir die letzten Male noch nicht aufgefallen war. Sie ist langsamer als Lukaz, auch wenn ihre Schlagkraft die meines Trainers in keiner Weise nachstehen. Bereits am Montag hat sie alles daran gesetzt, mich vor der gesamten Stufe als Probandin zu benutzen und zu verprügeln. Ich weiß nicht wie oft sie mich zu Boden schmiss oder wie oft sie mich so brutal verletze, aber ich stand immer wieder auf und ich wusste, das war ihr zuwider. Der blaue Fleck an meinem Rippenbogen ist noch von ihr und heute werden sicher ein paar zu den Vorhandenen dazukommen.
Am Dienstag jagte sie mich quer durch den Wald und wollte mir erneut zeigen was sie kann. Ich kehrte zwar humpelnd aber aufrecht zurück in die Schule. Tu was du willst Cataley, aber du kriegst mich nicht klein.
Während ich mit ihr die Griffe und Schlagtechniken durchgehe, frage ich mich, wieso mir zuvor nicht aufgefallen war, dass sie langsamer als mein Trainer für Selbstverteidigung ist. Lukaz bewegt sich so unfassbar schnell, dass sie mir jetzt vorkommt, als würde sie sich zurückhalten, aber ich weiß, dass das nicht wahr ist. Es sind nur endlich meine Erfolge sichtbar. Also versuche ich ihr so gut es geht auszuweichen, wehre sie ab und riskiere hier und da eine Gegenwehr. Irgendwann wird sie schon müde werden und während die Anderen bereits zum zweiten Mal ihren Gegner gewechselt haben, stehe ich immer noch mit Cataley auf der Matte.
Am Montag hätte sie mich auf diese Weise noch vernichtet, heute bin ich standhafter und das kann sie nicht wegdiskutieren. Trotzdem schafft sie es genau dreimal, mich auf den Boden zu befördern. Wenn meine Abwehr allerdings gut ist und ich sie beinahe treffe, dann wirkt sie nicht gerade zufrieden.
>Schluss damit. < ruft sie plötzlich und sieht genervt aus. >Ihr sollt noch eure Verhaftung zeigen. Wir verschwenden nur Zeit, wenn das noch so weitergeht. Vorn auf dem Tisch liegen Handschellen. Holt euch welche! < dann löst sie ihre Körperspannung komplett auf und dreht mir den Rücken zu, um zu dem Tisch zu laufen. Ich stehe immer noch in Schrittstellung mit erhobenen Fäusten da und kann es nicht fassen, nach drei Niederlagen dennoch wieder zu stehen.
Leider habe ich es bei Cataley kein einziges Mal geschafft, sie auf die Matte zu befördern, aber es ist trotzdem ein riesiger Fortschritt für heute. Wieder schaue ich zu Lukaz auf der anderen Seite. Er sieht allerdings nicht zu mir, sondern er grinst sieghaft in Cataleys Richtung, als sie ihn nicht beachtet. Schließlich wandern seine Augen zu mir und ich forme mit meinen Lippen ein „Danke.“ Das hätte ich ohne ihn nicht geschafft.
Mein Gegner für die Festnahme ist Cruisi. Ich finde, er ist in den Theoriefächern einfach unschlagbar, aber in den praxisbehafteten Fächern habe ich ihn inzwischen überholt. Zum ersten Mal seitdem ich hier trainiert werde, schaffe ich es, jemanden auf den Bauch zu werfen und ihm Handschellen anzulegen.
Am liebsten würde ich vor Freude meine Faust in die Luft ragen. Ich hingegen werde von ihm nicht in Handschellen abgeführt, da er mich nicht erwischen konnte.
>Na schön. < ruft unsere Trainerin. >Geht jetzt in eure Mittagspause! Danach will ich euch draußen hinter dem Gebäude versammelt sehen. <
Sie legt die Handschellen wieder zusammen und räumt unseren Trainingsplatz auf. Auch die Anderen aus der dritten Stufe haben nun ihre Pause und laufen auf uns zu. Als Letzter läuft Lukaz und als er bei mir ist, legt er mir einen Arm um die Schulter, um mich ein kleines Stück mit sich zu ziehen.
>Das sah für mich ziemlich gut aus. < verkündet er aufmunternd.
Dann lässt er mich wieder los, läuft an mir vorbei und lässt mich grinsend stehen.
>Bilde dir nicht zu viel ein. < höre ich nur eine Sekunde danach, die leise Stimme vom Biest. >Nur weil du Julien verhaftet hast, heißt das nicht, dass du das Gleiche an einem der Anderen geschafft hättest. Es ist dir an einem Schwächeren gelungen. Wenn du jemanden niederringst, der auf dem Level der aufgestiegenen Schüler ist, dann reden wir weiter. <
Und sofort schafft sie es wieder mein Hochgefühl zu zerstören. Ich halte meinen Mund und lasse mich nicht zu einem Wortgefecht provozieren. Das wäre wohl das, was sie will. Sie will, dass ich austicke aber das schafft sie nicht.
Ruby greift mich grob am Arm und zieht mich leise fluchend mit sich.
>Das ist doch wohl nicht ihr Ernst. Ich habe dich gesehen. < meckert sie leise und schiebt mich durch die Tür.
>Ist doch egal. Lass sie reden. <
>Lass sie reden? Ich schaue mir das schon seit einer Woche an. Kim, du musst das jemandem erzählen. Sie behandelt dich wie den letzten Dreck. <
>Nein! Ich gebe ihr nicht die Genugtuung. Ich schaffe das schon. <
>Was hat sie denn für ein Problem? <
>Das ist offenbar ihre Art. Sie führt jeden gern vor, das weißt du doch. <
Ruby sieht so aus, als müsste sie all ihren Ärger herunterschlucken und schnaubt wütend auf, als sie mit mir nach oben läuft.
>Sie kann nicht abstreiten, dass du viel besser geworden bist. Ich habe von Beginn an mit dir trainiert und heute hast du mich echt ins Schwitzen gebracht. <
Etwas wehmütig lächle ich sie an und bin dankbar für ihre ehrlichen Worte.
>Lass uns erstmal was Essen. Danach kann ich mich immer noch im Schießen beweisen. < schlage ich vor.
>Stimmt, das ist etwas, was du viel besser kannst als ich. <
Wir treffen in der Mensa auf die anderen Schüler und setzen uns an einen 10er-Tisch. Zu uns gesellen sich Owen, David, Ivan und Nigel aus der Dritten, sowie Jeremy Louis, Max und Liam aus der Zweiten. Meine Zimmergenossin lernt endlich die beiden Brüder kennen, von denen ich ihr schon erzählt habe. Kurz darauf taucht auch noch Cruisi mit einem elften Stuhl auf und wir rücken alle etwas zusammen. Bei mir gibt es einen gigantischen Hähnchensalat mit Dressing und Croutons. Ich schaue zwar auf die beladenen Tabletts der Anderen, die sich unter anderem Berge von Nudeln mit Fleischklößen auf die Teller geschaufelt haben, aber das spare ich mir für heute Abend auf. Ich will von dem schweren Essen nach der Pause nicht müde werden und brauche meine Konzentration für die bevorstehende Stunde.
>Was steht bei euch am Wochenende an? Wir müssen hier bleiben. < fragt Nigel, der ältere Bruder, in die Runde.
Jeremy schluckt seinen Bissen hinunter und antwortet:
>Ich fliege dieses Mal nach Hause. Das war schon letzte Woche geplant und nach dem Unterricht muss ich packen. <
>Owen und ich müssen auch mal wieder nach Hause. < erklärt David. >Meine Mum liegt mir schon eine Weile in den Ohren. Bevor ich meine Ausbildung hier anfing, hat sie mich schon vier Wochen zuvor nicht gesehen. Wie ich sie kenne, wird sie alles kochen was ich liebe und hoffen, dass sie mich damit zurückhält. <
>Und wird das funktionieren? < frage ich lachend. Er grinst und schaut so als müsse er stark überlegen.
>Sagen wir mal, meine Mutter weiß, wie sie mich rumkriegt. Aber nichts könnte mich von dieser Schule abhalten. <
>Okay und haut sonst noch einer ab? < will Max wissen. Da niemand sonst etwas sagt, setzt er erneut an: >Cool. Also bleiben ich, Cruisi, Ruby, Nigel, Liam, Louis, Ivan und Kim hier. Letztes Wochenende waren wir mit ein paar Schülern in der Vorstadt in einem Club. Der war eigentlich ganz in Ordnung. Habt ihr Lust, dass wir da abends hinfahren? <
>Ich bin tagsüber mit meinem Dad verabredet, aber abends wäre ich dabei. < verkündet Ruby. >Was ist mit dir Kim? Wir könnten sicher Spaß haben? <
>Oh ehm … na ja. Ich denke nicht, dass ich mitgehe. Mir ist das Geld gerade etwas ausgegangen. <
>Ach was. < wendet Ivan ein und beugt sich grinsend über den Tisch. >Samstag ist dort ladys night und Ruby und du kommen dort kostenlos rein. Ich gebe euch Mädels einen Drink aus, was haltet ihr davon? <
Ganz erwartungsvoll blickt mich meine Zimmergenossin an und zerbeißt sich beinahe ihre Lippe vor Gespanntheit.
>Gut, bin dabei. < verkünde ich, worauf die Männer am Tisch sichtlich begeistert sind. Es tut mir sicher mal gut, wenn ich rauszukomme und nicht über meine Ausbildung oder meine Beinahe-Mörder nachdenke.
Nach der Mittagspause befinden wir uns wie abgesprochen hinter dem Gebäude und warten auf Cataley. Wir haben nichts bei uns – keine Munition, keine Waffen oder Ziele. Plötzlich taucht Simon aus dem Wald auf und legt beide Handkanten an seinen Mund, um uns zuzurufen, dass wir ihm folgen sollen. Die Gelegenheit wird prompt von einigen Schülern genutzt, um nochmal eine Zigarette anzumachen. Einen Teil des Waldes kenne ich schon. Erst am Dienstag haben wir unser Training nach draußen verlagert, aber wir sind woanders abgebogen. Wir folgen Simon ein Stück, bis wir zu einer großen Lichtung kommen.
Ich erkenne rechts von uns – dort wo der Wald wieder beginnt, so etwas wie einen turmhohen Jagdhochstand. Vor uns steht ein ausgeklappter Tisch mit Schutzbrillen, Ohrstöpseln, Flinten und Patronen.
Daneben befindet sich Cataley mit verschränkten Armen und wartet, bis wir alle bei ihr eintreffen.
>Sind alle vollzählig? < will sie wissen. Viele nicken, da wir gemeinsam losgegangen sind. >Na schön. Wir sind heute hier, um euren Schießlevel zu erhöhen und um mir zu zeigen, dass ihr nicht nur auf einen starren Punkt, sondern auch auf bewegliche Ziele schießen könnt. Die Meisten eurer flüchtigen Personen werden vor euch davonlaufen und dann solltet ihr so eine Situation in den Griff bekommen, sonst war's das mit eurer Prämie. Simon ist hier, um mir für den Anfang zu helfen. Was wir heute tun, ist im Grunde Tontauben schießen. < daraufhin hält sie eine kleine orange Wurfscheibe nach oben, die ich schon mal in einer Reportage gesehen habe. >Dort oben von dem Turm kommen sie geflogen. Auf drei Etagen stehen die Maschinen bereit, wodurch es verschiedene Entfernungen und Höhen gibt, von der die Scheiben losfliegen. Bei der ersten Etage rollen sie schnell über den Boden, so als müsste man einen Hasen schießen. Bei der mittleren und obersten Etage fliegen sie bereits über unsere Köpfe. <
Dann greift sie sich eine Flinte, bricht sie in der Mitte, gibt zwei Patronen in die Kammern und lässt die Waffe einrasten, bis sie ein geladenes Gewehr in den Händen hält.
>Ihr habt immer zwei Versuche bis der Nächste an der Reihe ist. Wir starten mit der untersten Etage und arbeiten uns nach oben. < dann gibt Cataley Simon ein Kopfnicken, worauf er eine kleine Fernbedienung in seine Hände nimmt. Unsere Trainerin legt die Flinte an die Schulter an und steht in ihrer Position. Dann gibt es ein Geräusch, als die Tonscheibe in die Maschine einfährt. Blitzschnell wird diese abgefeuert und rollt – oder besser gesagt hüpft, über den Boden von rechts nach links. Ich beobachte Cataley wie sie langsam die Bewegung der Scheibe mit dem Gewehr verfolgt und schließlich abdrückt. Das Stück Ton zerspringt und der Staub löst sich im Wind auf. Eine zweite Platte wird abgefeuert und Cataley trifft sie wie zuvor. Dann bricht sie ihr Gewehr erneut, wodurch sich der Rauch sofort seinen Weg bahnt und sie nimmt die leeren Patronenhülsen raus, um sie durch die neue Munition zu ersetzen.
>Macht euch bereit! Ihr blickt immer auf einen Punkt vor dem Ziel, nicht genau darauf. Nach zwei Versuchen macht ihr Platz für den nächsten Kandidaten. Wenn alle durch sind, dann gehen wir eine Etage höher. Für heute fliegen die Scheiben nur geradeaus. Später fliegen sie kreuz und quer. <
Sie macht Platz, damit wir uns jeweils ein Gewehr greifen können. Wenn ich nicht wüsste, dass es heute wirklich um etwas Wichtiges geht, dann würde ich mich direkt auf das Training freuen und Spaß dabei haben.
Der Erste, der sich daran versucht, ist Viktor. Ich verfolge seine ersten beiden Schüsse, die in die Hose gehen. Soweit ich mich erinnern kann, schießt er sonst ganz passabel, aber das hier ist ein ganz anderer Schwierigkeitsgrad. Nach ihm ist Mike an der Reihe, mit dem ich noch nicht allzu viel Kontakt hatte. Auch ihm misslingen die beiden Versuche und so langsam legt sich meine Nervosität. Unsere Trainerin wird doch sicher nicht von uns verlangen, dass wir heute alle Wurfscheiben perfekt treffen, oder? Danach ist Ruby dran und bei der ersten Platte dachte ich, dass sie sie fast hatte, aber leider ist ihre Erfolgsquote dieselbe wie bei ihren Vorgängern. Die nächsten Schüler versuchen sich daran. Hier und da gibt es mal einen Glückstreffer, jedoch ist die erste Runde eher nüchtern.
>Kim, du bist dran. < sagt Cataley. Ich laufe vor zu der Ziellinie und lege mein Gewehr an. Meine linke Hand ist am Vorderschaft und die Rechte am Abzug.
Vorsichtig ausatmend warte ich auf das Einschieben der Platte in die Maschine und schließlich kommt sie geflogen. Mein Gewehr folgt der Flugbahn und ich drücke ab.
>Zu früh geschossen. < kommentiert meine Trainerin. Mist, ich will das hinkriegen.
Das Gewehr habe ich immer noch im Anschlag und warte auf die zweite Platte.
„Ich will, dass du diese Kerle jedes Mal vor Augen hast, wenn du kämpfst, wenn du schießt und selbst wenn du die blöde Theorie lernst. Sie treiben dich an.“
Ich höre Sam´s Stimme in meinem Kopf und weiß, dass er damit recht hat.
Die Platte fliegt, ich verfolge den Bereich vor der Scheibe und drücke ab. Ruby kreischt los, hüpft auf der Stelle und klatscht in die Hände.
>Yes! Das ist es. < ruft sie.
>Du hast sie nur noch im letzten Drittel erwischt. < wendet Cataley gelangweilt ein. Dann greift sie sich wieder ihre Waffe, legt an und wartet darauf, dass Simon die Maschinen wieder steuert. Dieses Mal fliegt die Tontaube aus der mittleren Etage los und ist sogar etwas unkontrollierter als die Vorherige.
Trotzdem zerspringen beide aufeinanderfolgenden Scheiben in mehrere Teile, als der Schuss sie trifft. Das ist Wahnsinn – ich kann einfach nicht damit aufhören, Cataley immer wieder gegen meinen Willen zu bewundern. Sie ist sicher ein super Bounty Hunter, aber dafür ein unsozialer Mensch.
Mit einem Kopfnicken von ihr sollen es die anderen Schüler wieder versuchen.
Viktor und Mike beginnen erneut nacheinander. Sie sind zwar beide näher dran als beim ersten Mal, aber treffen wieder nicht. Ich riskiere einen Blick zu Simon, der völlig neutral dem Spektakel zuschaut und ich denke, dass eigentlich keiner erwartet, dass wir die Tontauben der Reihe nach zerschießen können, so wie unsere Trainerin es vormachte. Es ist wirklich wahnsinnig schwierig.
Auf ein starres und unbewegliches Ziel zu schießen, fiel mir zu Anfang schon nicht leicht aber etwas hinterherzujagen, was so schnell ist, ist eine noch größere Herausforderung.
Ich sehe mir nach und nach die Techniken der Schützen an und zucke manchmal regelrecht mit, wenn ich normalerweise schon abdrücken würde. Mein Fokus liegt die ganze Zeit auf diesen Scheiben, bis ich endlich selbst wieder dran bin.
Ruby wirft mir einen vielsagenden Blick zu und hält die Daumen gedrückt. Ich bin nur froh, dass Simon die Fernbedienung für die Tonplatten in den Händen hält und nicht Cataley. Wenn sie könnte, würde sie mich hier sicher auch unvorbereitet treffen wollen.
In meiner Position eingefroren warte ich auf die Scheibe, die auch sofort von rechts nach links geschossen kommt. Mein Gewehr verfolgt die Flugbahn und ich drücke ab.
>Oh mein Gott, du hast sie mittig getroffen. < keucht Cruisi. Ich will mich natürlich darüber freuen, aber mich auch nicht ablenken lassen, denn die zweite Scheibe kommt jeden Moment und nur Sekunden später drücke ich ab.
Mit offenem Mund stehe ich da und lasse mich halb von Ruby über den Haufen rennen, als ich soeben auch diese getroffen habe.
>Ich sag´s dir Kim. Schießen ist dein Element. < jubelt sie.
Aus meinem Gewehr raucht es und ich puste in den Lauf hinein. Ungläubig schaue ich immer noch dahin, wo eben noch mein Ziel geflogen kam. So langsam beginne ich übers ganze Gesicht zu grinsen und gebe ein Gestotter von mir.
>Machen wir weiter. < mault Cataley und drängt sich an mir vorbei. >Die dritte Ebene ist die Schwierigste. Da oben herrscht viel mehr Wind und die Scheibe kann unkontrolliert hin- und her wackeln. <
Sie führt uns erneut vor, was wir tun sollen. Dabei ändert sich immer nur die Position ihres Gewehres, der Rest bleibt gleich. Wie die anderen Male zuvor, trifft sie perfekt und auch dann, als gerade eine Böe umherweht. Wir bleiben bis zum Ende der Stunde auf der dritten Ebene und können somit noch einige Male schießen. Es ist bei diesem Wind wirklich schwierig, genau zu treffen, aber normalerweise fliegen unsere Zielpersonen ja auch nicht. Um Genauigkeit zu trainieren, finde ich es allerdings genial. Manchmal treffe ich perfekt, manchmal noch gerade so und auch mal daneben. Aber ich muss zugeben, total zufrieden mit meiner Leistung zu sein.
Inzwischen hat nahezu jeder irgendwann mal das Ziel getroffen, denn wir üben es jetzt schon so lange, dass sich meine Mitschüler eingeschossen haben. Es macht mir richtig Spaß, aber dann wird mir wieder bewusst, wie wichtig das heute ist.
Mike ist der Letzte, der noch seine zwei Schüsse machen darf, ehe Cataley die Stunde beendet. Zum Schluss hat sie noch etwas zu sagen, also stellt sie sich vor uns und erklärt:
>Wie ich es gestern gesagt habe, schiebe ich heute einige von euch in die nächste Stufe, da am Montag viele Neue dazukommen werden und ich den Platz in der 1. Stufe brauche. Die, die ich gleich nenne, steigen somit auf. < Ruby greift sich zittrig meine Hand und steht erwartungsvoll mit mir in den Reihen. Ich bin ebenfalls so nervös, dass es mich wahnsinnig macht. >Ab Montag sind Viktor, Mike, Julien, Ruby, Alex, Colin, Finn und Ian in der nächsten Stufe. <
Mein Herz macht direkt einen Aussetzer. Ich bin nicht genannt worden, das kann doch nicht ihr Ernst sein.
>Hey Cataley. < sagt Ruby und meldet sich. >Du hast Kim ganz vergessen. <
>Nein, ich habe sie nicht vergessen. <
>Was? Aber sie war beim Schießen die Beste. <
Ich versuche sie zu beruhigen und ziehe an ihrer Hand. Aber unsere Trainerin kommt ein paar Schritte auf sie zu und sagt ganz leise und kühl:
>Schießen ist nicht alles, was ein Bounty Hunter tut. Und soweit ich weiß, hast nicht du das zu entscheiden, wer aufrückt und wer nicht. Falls du etwas gegen meine Entscheidung hast, dann kannst du ja gern noch in deiner Stufe bleiben. <
>Schon gut. Lass es. < flüstere ich zu Ruby, die sauer zu Boden schaut. Ich bin froh, dass sie nicht noch mehr sagt, denn Cataley dreht schließlich ab und sagt uns, dass wir verschwinden sollen.
Auf dem ganzen Weg zur Schule wettert Ruby herum, dass das unfair ist.
>Du warst wirklich gut. Das musst du doch selbst zugeben. Cruisi ist in beiden Bereichen viel schlechter und den hat sie weiter gelassen. Du hast ihn im zweiten Block locker festgenommen und seine Schüsse waren bei weitem nicht so wie deine. <
>Tu mir einen Gefallen und belasse es jetzt dabei. Sonst stuft sie dich womöglich wirklich noch zurück. < entgegne ich ihr.
>Wie kannst du dir das so gefallen lassen? <
>Herr Gott was soll ich denn tun? Du hast sie doch gehört. Sie entscheidet, wer vorrückt und wer nicht. Wenn ich mich jetzt mit ihr anlege, dann wird es wohl nicht gerade besser werden. Ich muss einfach noch mehr üben. <
Sauer windet sich Ruby aus meinem Griff und stampft voraus. Ich weiß nicht auf wen sie jetzt wütender ist. Auf Cataley, weil sie so unfair zu mir ist oder auf mich, weil ich mir das gefallen lasse.
Aber ich kenne diesen Typ Mensch zur Genüge. Jetzt auf die Barrikaden zu gehen, wäre dumm. Wenn ich aber besser werde, dass es selbst den Erststufigen auffällt, dann muss sie mich einfach weiter lassen.