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Fingerabdrücke bleiben

von Lynnix
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Krimi / P16 / Gen
23.02.2018
25.11.2021
129
578.228
7
Alle Kapitel
102 Reviews
Dieses Kapitel
2 Reviews
 
08.02.2019 5.149
 
Kapitel 13 - Abschied

*TRIGGERWARNUNG!*
Der Inhalt des folgenden Kapitels enthält Gewaltszenen.

An diesem Morgen höre ich vorerst zum letzten Mal „nothing else matters“ und wache – wie schon so oft, halb verschlungen in Sam's Armen auf. Er macht den Ton maulend aus, lässt das Handy aber noch ungeschickt auf den Boden fallen. Ermattet dreht er sich wieder zu mir und macht die Augen zu.
>Morgen Kleines. < sagt er leise, ohne mich anzusehen. Was machen wir hier eigentlich? Was machen wir eigentlich schon die ganze Zeit?
Ich antworte ihm mit einem müden Knurren und fahre mir durch das Gesicht.
>Bist du es nicht langsam leid, andauernd deinen Platz teilen zu müssen? < frage ich. Er antwortet mir leise, mit weiterhin geschlossenen Augen:
>Unsinn. Ich wache gern neben dir auf. Endlich ist da mal jemand, der mich anlächelt. <
Um das zu sehen, müsste der Morgenmuffel aber mal seine Augen öffnen, denke ich grinsend. Schließlich schlage ich nach ein paar Sekunden die Decke zur Seite und stehe auf. Zu lange im Bett bleiben ist gefährlich und man schläft bloß wieder ein.
Unbeholfen klettere ich über Sam und will mich aus dem Bett herausrollen. Er bleibt weiterhin so liegen, wie er sich zuvor positioniert hat.
Meine Morgenroutine geht vonstatten wie immer, nur dass ich nach dem Zähneputzen, schminken und frisieren alles in die Tasche hineinpacke. Das Badezimmer wirkt gleich viel leerer ohne den ganzen Kram, den Sam mir besorgt hat. Zum Glück schaue ich nochmal in den Schrank hinein und entdecke die Tampons, die ich wohl leider brauchen werde, sollte Sam doch länger als geplant weg sein. Unglaublich wie die Zeit bereits vergangen ist. Zur Not stecke ich sie also lieber in meine Tasche rein.
Ich kontrolliere außerdem meine Handschuhe auf Löcher oder Risse, aber sie sind in Ordnung und der heutige Tag geht noch mit ihnen. Ab morgen muss ich mir Gedanken machen, wie ich sie heimlich wechsle.
Ich stelle die Tasche und den Rucksack vor den Eingang und mache in der Küche bereits Frühstück. Sam kommt kurz darauf mit seinen Sachen herunter, stellt seine Reisetasche zu meiner und kontrolliert nochmal seine Pässe, sowie Waffen- und Jagdschein, damit er die Waffen einfliegen lassen kann.
            Nachdem wir gegessen haben, wasche ich das benutze Geschirr von Hand ab, während Sam abtrocknet. Wir gucken beide andauernd auf die Uhr, denn Sam darf seinen Flieger nicht verpassen. Heute bekomme nur ich einen Thermobecher mit Kaffee, denn Sam kann sich nachher im Flugzeug einen bestellen. Ich bin noch nie irgendwo hingeflogen. Genaugenommen habe ich Minnesota nie verlassen. Es würde mich so sehr interessieren, wie die anderen Staaten oder Kontinente aussehen.
Ich gehe nochmal durch sämtliche Räume und schaue, ob nicht noch irgendetwas von mir herumsteht. Sam ist bereits draußen und räumt die Taschen in den Wagen ein.
Mir ist ein bisschen mulmig zumute, obwohl ich dazu keinen Grund habe, denn immerhin habe ich den ersten Schritt bereits gewagt und werde ein Bounty Hunter.
Sam zieht im Haus von einigen Geräten den Stecker und schließt seine Haustür gleich zweimal ab. Nur wenige Augenblicke später verlassen wir sein Grundstück.

60 Meilen später  
Wir stehen vor dem Tor, das sich langsam Stück für Stück aufrollt und den Weg nach unten ins Parkhaus freigibt. Die anderen Tage hat Sam mich immer kurz vor dem Fahrstuhl aussteigen lassen, damit er gleich weiterfahren konnte. Heute parkt er allerdings ein und stellt den Motor ab.
>Ich komme noch kurz mit hoch. Henry erwartet mich. < erklärt er mir und schnallt sich bereits ab.
Das tue ich ihm gleich und steige auch aus, um mir meine Sachen zu greifen, aber ich komme nur zu meinem Rucksack, da sich mein Begleiter die Reisetasche schnappt.
Der Fahrstuhl ist leer und bekommt von Sam gesagt, wohin er fahren soll. Ich werfe ihm einen Seitenblick zu, denn ich werde ihn jetzt erstmal nicht mehr sehen können. Ich habe mich ziemlich an ihn gewöhnt, dass es jetzt komisch ist, ohne ihn sein zu müssen.
In der oberen Etage öffnet sich der Lift und wir gehen auf direktem Weg zu Henrys Büro. Anstandshalber klopfe ich kurz an und öffne dann seine Tür, die eigentlich auch von allein aufgehen kann. Er dreht erst seinen Kopf und dann seinen Rollstuhl zu uns. Zuvor schaute er zu Cataley, die mit einer Gesäßhälfte auf der Kante seines Tisches saß und mit verschränkten Armen auf ihn herabsah.
>Sam! < säuselt sie sofort und kommt zu uns. >Wann machen wir eigentlich mal wieder einen Workshop zusammen? Das letzte Mal ist schon eine Weile her. <
>Keine Ahnung. Vorerst jedenfalls nicht. < erwidert er mit höflicher Stimme, aber er schiebt mich bereits vorwärts zu Henry. Ich grinse den Leiter warm an und begrüße ihn.
>Guten Morgen Kim. Sam hat mich gestern Abend noch angerufen und ich weiß Bescheid. Setz dich bitte. Wir müssen noch ein paar Formalitäten klären. < erklärt Henry.
Ich ziehe den Stuhl vor seinem Schreibtisch ein Stück zurück und setze mich, genauso wie Sam.
>Bescheid worüber? < fragt Cataley irritiert und bemerkt offensichtlich jetzt erst meine zweite Tasche. Wieso muss sie ausgerechnet jetzt hier sein? Henry wirft ihr einen Blick zu und erklärt:
>Sam hat geschäftlich im Ausland zu tun, weshalb wir Kim für eine Weile natürlich herzlich willkommen heißen. <
Mir entgeht dieser eigenartige Blick von Cataley nicht. Ich weiß nicht, ob es der Anflug eines Grinsens ist, aber irgendetwas Gehässiges steckt dahinter. Jedoch schweigt sie. >Wir teilen dich in das Zimmer von Ruby ein, da es das einzige freie Zimmer ist, das eine Frau bewohnt. Ist das in Ordnung für dich? < fragt der Leiter an mich gewandt.
>Sicher. Ruby wird sich wie ein Kleinkind freuen. <
>Absolut. < lacht er. >Sie weiß seit gestern Abend von mir Bescheid und ist ganz außer sich. <
>Kann ich mir vorstellen. < erwidere ich grinsend. Die kleine Ruby ist cool und ich mag sie. Sicher wird sie dafür sorgen, dass ich in nächster Zeit gut abgelenkt bin.
>Sie hat gesagt, sie wartet auf dich, damit du deine Sachen abstellen kannst. Von ihr bekommst du den 2. Schlüssel für das Zimmer Nummer 27. <
Ich nicke und sehe zu Sam, der zu Henry hinübergreift und sich irgendein Formular von seinem Schreibtisch nimmt. Er liest es sich kurz durch und schnappt sich dann einen Kugelschreiber, um irgendetwas auszufüllen.
>Wie lange wirst du denn weg sein? < fragt Cataley, die sich ein Stück herunterbeugt und sich zwischen uns beide drängt. Dadurch habe ich mal wieder ihre Haare im Gesicht und wende mich schleunigst von ihr ab. Meine Güte ist die penetrant.
>Das wüsste ich auch gern. Aber ich werde mich beeilen. < nuschelt Sam, als er weiterhin schreibt und sie dabei nicht mal anschaut.
>Du tust deinen Job. Du musst dich für niemanden beeilen. < kichert sie süß und grinst ihn womöglich mit dem unschuldigsten Lächeln an, das sie zu bieten hat. Doch dann dreht sie sich zu mir und stemmt grinsend ihren Unterarm auf meiner Schulter ab. >Auf Kim werden wir hier schon gut aufpassen. <
>Davon gehe ich aus. <
Dann sieht er sie endlich einmal flüchtig an und legt dann das Formular rüber auf Henrys Schreibtisch, damit er es lesen kann. Ein Anderes, das darunter verborgen war, legt er mir vor die Nase und es erfordert lediglich meine Unterschrift. Ich kann es mir allerdings gar nicht durchlesen, da ich zwischen Sam und Cataley hin- und herblicke.
Selbst als ich Sam kennenlernte, war er niemals so abweisend zu mir. Sein Blick war kalt und düster, aber seine Stimmlage war nie so abgeneigt und von Desinteresse durchzogen. Henry überfliegt das Formular und als Cataley mich endlich wieder freigegeben hat, beuge ich mich etwas zu Sam rüber und flüstere:
>Was hast du da unterschrieben? <
Er hingegen gibt sich keine Mühe zu flüstern.
>Das ist die Ergänzung zum ersten Vertrag und die Anmeldung für deine Unterkunft. Du musst hier noch unterschreiben, Miss Grant. <
Daraufhin tippt er auf den Zettel vor mir. Gott sei Dank hat er den Nachnamen noch einmal erwähnt. In meiner Gedankenwelt vertieft hätte ich wahrscheinlich ein „M“ für Misra geschwungen, ehe es mir wieder eingefallen wäre und das wäre mit meiner Trainerin im Nacken alles andere als gut gewesen. Mit einem geschwungenen Bogen unterschreibe ich und lege es Henry vor.
>Sehr schön. < wendet sich der Leiter nun wieder an mich. >Das Frühstück ist in der Woche jeden Morgen von 6:30 Uhr bis 7:45 Uhr. Am Wochenende sogar bis 10:00 Uhr – für die Langschläfer. Punkt 8 solltest du in deinem Unterrichtsraum sein. Die Mittagspause kennst du ja bereits und abends ist die Mensa ab 18 Uhr mit dem Abendessen bestückt. Bis 22 Uhr kannst du tun und lassen was du willst und das Gelände verlassen. Später hier aufzutauchen ist inakzeptabel und du kommst nicht mehr in das Gebäude. In deiner Freizeit kannst du die Trainingsräume im vollen Umfang nutzen. <
>Okay ich halte mich dran. < versichere ich ihm.
>Gut, dann fühl dich wie zu Hause. <
>Danke. <
>Na los, du musst noch zu Ruby. Dein Unterricht fängt bald an. < drängt Sam an mich gewandt. Oh stimmt. Ich greife zu Rucksack und Tasche und laufe zur Tür, an der Sam schon blitzschnell angekommen ist und sie für mich aufhält. Mein flüchtiger Blick geht zu meinen beiden Dozenten. Henry lächelt mich warm an. Cataley lächelt auch, allerdings nur zu Sam.
Wir gehen aus dem Büro raus und bleiben davor stehen. Sam presst die Lippen aufeinander und sieht zu mir, als sich die Tür hinter uns schließt.
>Ich treffe gleich Dimitrij und dann geht bald unser Flugzeug. <
>Und du hast wirklich keinen Anhaltspunkt, wie lange es dauern wird? < frage ich etwas traurig.
>Nein, tut mir leid. Aber es werden hoffentlich nicht mehr als zwei oder drei Wochen und sobald wir wieder gelandet sind, komme ich dich holen. < Ich nicke aber Sam seufzt. >Ist das auch wirklich okay für dich? <
>Ja, jetzt hau schon ab. < lache ich. >Es ist dein Job und wenn du sagst, du bist da gerade etwas Großem auf der Schliche, dann musst du dort hin. Es ist wirklich okay. Ruby und ich werden uns wahrscheinlich total amüsieren. <
Er zieht einen Mundwinkel hoch und nimmt sich eine meiner Haarsträhnen, um sie zwischen seinen Fingern zu drehen. Das ist irgendwie so ein Ding von ihm, eine süße und liebenswerte Macke.
>Wenn ich zurück bin, werde ich dich nicht mehr wiedererkennen. < haucht er.
>Wollen wir es hoffen. Und ich habe dir angedroht alles an dir zu üben, was ich hier lerne. <
Dann schlingt er die Arme lachend um mich, so wie ich meine um ihn. Ich will nicht zu nah an seinem Brustkorb sein, damit er mein rasendes Herz nicht spürt. Als wir uns wieder etwas lockerer im Arm haben, wandern seine Hände von meinen Armen, hoch zu meinem Gesicht. Er schaut mich an – gefühlt lange und ohne ein Wort zu sagen. Am liebsten würde ich mein Gesicht in seine Hand hinein schmiegen.
Dann zieht er meinen Kopf ganz leicht zu seinem heran und ich sehe wie er seine Lippen öffnet. Ich weite meine Augen und ich schwöre, jeden Moment hüpft mir das Herz aus dem Brustkorb raus. Doch dann geht Henrys Bürotür ruppig auf und wir beide fahren aufgeschreckt auseinander. Cataleys Blick geht zwischen Sam und mir hin und her.
>Oh Gott hast du mich erschreckt. < keuche ich. Sam hingegen sagt eilig:
>Also dann Kim. Wir sehen uns. <
Er küsst mich flüchtig auf die Stirn. Ich nicke und hebe nochmal kurz meine Hand zum Abschied, als er auch schon davonläuft. Er wird mir schrecklich fehlen, das merke ich jetzt schon. Aber was ist das für ein anderes wehmütiges Gefühl? Weshalb ist es so eigenartig ihn gehen zu sehen? Er verschwindet im Treppenhaus und plötzlich ist er weg.
>Müsstest du nicht eigentlich in deiner Stufe sein? < mault Cataley unfreundlich.
>Ehm … ja. Bin schon unterwegs. <
Ich bin froh von hier abhauen zu können und greife mir eilig mein Zeug.
Mit klitschnassen Händen, beschleunigtem Atem und erhöhtem Blutdruck flüchte ich zum Fahrstuhl, um in das zweite Untergeschoss zu kommen.
Der Lift bringt mich nach unten und öffnet seine Türen. Ich laufe vorbei an unserer Trainingshalle, wo sich die Meisten schon zu ihrem Unterricht versammelt haben. Weiter hinten sehe ich dann die Zimmer mit Nummern versehen. Rechts sind die geraden und links die ungeraden Zahlen.
Auf der linken Seite gehe ich weiter, bis ich schließlich vor der 27 stehe und anklopfe. Daraufhin öffnet mir Ruby strahlend die Tür, gibt einen quietschenden Ton von sich und umarmt mich euphorisch.
>Hey! Das ist so cool, dass du hier bist. Jetzt bin ich endlich nicht mehr so einsam. Komm rein. < sagt sie eilig und macht mir an der Tür Platz.
>Danke, es ist aber so wie es aussieht nur vorübergehend. <
>Dann müssen wir die kurze Zeit voll ausnutzen. Ich mach dir ein bisschen Platz im Bad. <
Meine Tasche stelle ich auf das leere Bett und packe nur ein paar wenige Dinge ins gemeinsame Badezimmer. Den Rest kann ich auch noch heute Nachmittag einräumen. Beim Umpacken fallen mir allerdings die Handschuhe auf. Sie anzulegen wird eine Herausforderung, wenn ich mit Ruby ein Zimmer teile.
>Ist Sam denn schon weg? < will sie wissen.
>Ja gerade eben. < erwidere ich monoton. Danke für die Erinnerung, ich hatte es gerade verdrängt.
>Und hat er dich geküsst? < fragt sie euphorisch und hüpft im Schneidersitz auf ihrem Bett herum.
>Auf die Stirn, ja. <
>Nein ich meinte, ob er dich richtig geküsst hat. <
>Wieso sollte er? < keuche ich.
>Na lass mal überlegen. Vielleicht, weil ihr zwei voll heiß zusammen wärt. <
Ich gluckse aber schüttele auch schon den Kopf. Trotzdem frage ich mich, ob er es von Anfang an vorhatte, mich nur auf die Stirn zu küssen. Denn mein Empfinden sagt irgendwie etwas anderes. Sein Gesichtsausdruck war plötzlich so anders als sonst. Hach verdammt, weshalb musste Cataley ausgerechnet dann aus der Bürotür fallen?
Immer noch unausgeschlafen lasse ich mich auf das Bett fallen. Es ist weich und gemütlich und riecht so wundervoll nach frischem Weichspüler.
>Hast du schon gefrühstückt? < will Ruby wissen.
>Ja, aber das ist zwei Stunden her. <
Ich richte mich wieder auf und greife zu meinem Kaffeebecher. Meine Zimmergenossin dreht sich hingegen um und wirft mir dann einen Apfel zu, den ich mit einer Hand fange.
>Das Frühstück in der Mensa ist der Hammer. Man muss nichts mehr selber machen. Einfach selbst bedienen und hineinschaufeln. < erklärt sie begeistert.
Ich beiße dankend von dem Apfel ab und greife zu meinem Rucksack. Jetzt schleppe ich ernsthaft den ganzen Tag diese Handschuhe mit mir herum, weil ich sie vor Ruby nicht umpacken kann.
>Na los. Sonst kommen wir zu spät zum Unterricht. < dränge ich und sehe zu ihrem Wecker, der furchtbar kitschig ist. Ein mintfarbenes Gehäuse in Form einer Eule mit gigantisch großen Augen.
Ruby nickt, schwingt sich den Riemen ihrer Umhängetasche über die Schulter und verlässt mit mir das Zimmer. Im Gang löst sie den zweiten Schlüssel von dem Ring und reicht ihn mir, damit ich jederzeit in unser Zimmer komme.
Jetzt bin ich hier eine Schülerin mit allem, was dazugehört und ich sollte mich wohl seelisch und moralisch darauf vorbereiten, irgendeinen blöden Aufnahmeritus mitmachen zu müssen.

            Wir finden uns in der Trainingshalle ein, in der bereits einige unserer Mitschüler sind. Sie ist wieder mit diesem Netz geteilt, damit die Stufe drei ebenfalls ihren Unterricht machen kann. Dort drüben sieht es verdammt nach Schießübungen aus. Kaum habe ich das gedacht, da taucht auch schon Cataley auf und stolziert zu ihrer Stufe hinüber. Sie sieht beiläufig zu uns, aber ihr Blick haftet an mir. Und so langsam glaube ich nicht mehr daran, dass sie einfach nur schlechte Laune hat. Dieser Blick bedeutet Verachtung und ich frage mich ernsthaft, was ich dieser Frau getan haben könnte, dass sie mich so ansieht. Sie geht einfach weiter, wendet ihr Gesicht von mir ab und begrüßt schließlich ihre Teilnehmer.
Nur etwa zwei Minuten später taucht auch Lukaz auf und ist Punkt acht in der Trainingshalle, als er die Tür schließt.
>Morgen Leute. < sagt er in seinem russischen Akzent und hält eine Box in seinen Händen, die er auf dem Boden abstellt. >Gestern ging es darum, jemanden zu entwaffnen der ein Messer hat. Heute entwaffnet ihr jemanden mit einer Pistole. Die Handhabung ist dabei etwas anders. Denn die Waffe muss so schnell wie möglich von eurer Richtung weg, falls sich der Schuss löst. <
Dann kniet er sich hinunter und öffnet den Deckel der Box, die nun die Übungswaffen preisgibt. Stirnrunzelnd sehe ich mich in unserer Stufe um. Wir stehen alle im Kreis um unseren Trainer verteilt.
>Moment mal, da fehlen doch welche. < sage ich Ruby flüsternd. Denn wir sind nicht vollzählig und Lukaz beginnt bereits mit seinem Unterricht.
>Ach ja. Das hast du ja gar nicht mitbekommen, weil du schon gegangen warst. Drei wurden gestern nach Schulschluss noch in die zweite Stufe geholt. Angeblich sollen wir morgen neue Leute für unsere Stufe dazubekommen. <
Ich nicke daraufhin interessiert und höre dann wieder Lukaz zu. Cataley befielt ihrer Stufe bereits, sich die Ohrenschützer aufzusetzen und sie stellt die Lüftung an. Gleich wird es hier drin wieder mächtig laut werden.

              Die eine Hälfte von uns bekommt die Waffen, die andere Gruppe muss entwaffnen. Inzwischen sind wir eine ungerade Anzahl an Teilnehmern, weshalb Lukaz mit mir üben will. Umso mehr Cataley mich offensichtlich als Spielball benutzt, desto mehr habe ich bei meinem russischen Trainer das Gefühl, dass er mich besonders genau beim Training im Blick haben will. Ich bin ihm sehr dankbar für seine Korrekturen und seine Tipps. Seine Handfassungen sind ganz anders, als die der Leute in meiner Gruppe – was nur logisch ist. Ich glaube, dass mich das, was er einzeln mit mir macht, viel weiter bringt.
Im Moment üben wir das Entwaffnen bei einer normalen einhändigen Waffenführung. Wir haben gelernt mit beiden Händen zu schießen aber es gibt genug „Helden“ und Kleinkriminelle, die denken, das Schießen mit nur einer Hand sähe cool aus. Allerdings ist die schlechte Handhaltung für die Bounty Hunter gut, da die Entwaffnung dadurch besser funktioniert. Ich tue das, was Lukaz uns bis vor ein paar Minuten erklärt hat. Er steht in meiner unmittelbaren Nähe und hält die ungeladene Waffe vor mein Gesicht. Das Gefühl in einen Lauf zu starren, finde ich beklemmend.
Ich gehe aus der Schusslinie raus, schiebe die Waffe mit der äußeren Hand aus der Lauflinie und schlage Lukaz mit meiner anderen Handkante gegen sein Handgelenk. Ich spüre wie sein Gelenk sofort instabil bei dem Schlag wird und augenblicklich die Waffe loslässt. Sobald ich sie habe, drehe ich sie in meiner Hand und laufe einige Meter rückwärts, um sie auf ihn zu richten.
>Das war sehr gut, dass du ein paar Schritte Distanz zwischen uns geschaffen hast. Ansonsten könnte ich dich auf die gleiche Weise entwaffnen, wie du mich zuvor. < lobt er. Ich grinse und freue mich auch über die kleinen Erfolge. Er lässt mich immer wieder und wieder üben, bis die Ersten aus der Angreifergruppe jammern, dass ihnen ihr Handgelenk schmerzt. Immerhin bekommen sie andauernd harte Schläge darauf.
Schließlich bin ich diejenige, die es zu entwaffnen gilt und Lukaz ist so blitzschnell und brutal, dass mir bereits nach dem ersten Schlag die Finger taub werden.
Mir wird bewusst, dass meine Technik zuvor vielleicht gut war, aber die Härte meines Schlages steht definitiv im Schatten meines Trainers. Ich keuche auf und halte mir automatisch meine Hand.
Daraufhin hält Lukaz die Waffe wieder vor meine Nase, kommt mir näher und sagt:
>Habe keine Gnade. Es geht immer um dein Leben und ich weiß, dass du härter zuschlagen kannst. Schone weder mich, noch deine Mitschüler. <
Ich sehe mich um. Die anderen sind definitiv nicht zimperlich und das ist etwas, das ich von Anfang an gut fand. Ich wiederhole den Ablauf, den er uns beigebracht hat und haue ihm so sehr aufs Gelenk, dass er kurz einknickt. Anstatt zu fluchen, verzieht er zwar für einen Moment sein Gesicht, aber lächelt dann und nickt.
>Nochmal! < sagt er und ich tue es. Lukaz hat es nicht nötig es zu üben, weshalb die Anderen zwar ihre Rollen wechseln, ich aber die ganze Zeit das Entwaffnen üben kann. Er macht lediglich eine kurze Pause, um die anderen Schüler bei Fehlern zu korrigieren. Aber alles in allem ist diese Stunde absolut genial. Mich stören nicht mal die Schüsse der anderen Stufe um uns herum. Ich bin vollkommen vertieft und fasziniert, dass ich alles andere ausblende.

            Der Vormittag vergeht wie im Fluge, da ich bisher ziemlich coole Fächer hatte. Neben der Selbstverteidigung hatten wir wieder Kriminalistik mit Henry. Das hat mich so abgelenkt, dass ich gar nicht allzu viel über Sam nachgedacht habe. Aber seitdem ich mit Ruby und den anderen in der Mensa über unsere nächste Stunde spreche, kommt der Gedanke zurück. Ich pieke mit meiner Gabel den köstlichen Nudelsalat auf und höre Jeremy dabei zu, wie er sich auf die Einsatzlehre freut. Danach haben wir Schießen, was bedeutet, ich habe jetzt einen doppelten Block mit Cataley zu tun. Irgendwie dreht sich mir der Magen bei dem Gedanken um.
>Fühlt ihr euch nach den paar Tagen nicht auch so, als könntet ihr bereits dort rausgehen und sie alle fertigmachen? < fragt er euphorisch. >Wir können austeilen, einstecken, entwaffnen, schießen und solches Zeug. <
Ich stochere in meinem Essen herum und antworte Jeremy monoton:
>Das bezweifle ich, dass wir es wirklich können. Der Arsch wird uns auf Grundeis gehen, wenn die Zielperson vor uns steht. Wahrscheinlich werden wir panisch und alles infrage stellen, was wir an diesem Ort tun. Wer das erste Mal erfährt, wie es ist, richtige Angst zu haben, davonzulaufen und angeschossen zu werden, der fühlt sich höchstwahrscheinlich nicht mehr bereit. <
Als keiner etwas sagt, sehe ich auf. Die meisten starren mich mit offenem Mund oder gerunzelter Stirn an.
>Was? < frage ich verwirrt und dann wird mir erst bewusst, was ich da eigentlich gerade von mir gegeben habe. Sofort beschleunigt sich mein Herzschlag und ich verstumme.
>Was hast du nochmal vorher gemacht, bevor du hierherkamst? < fragt Louis.
>Ehm na ja … < druckse ich und beginne zu lügen. >Ich habe überall mal gejobbt. Davor war ich auf einem College aber ich habe es abgebrochen, weil es doch nicht so mein Ding war, Medizin zu studieren. <
Ich bin von mir begeistert, dass ich diese Rolle so locker spielen kann.
>Ist dir mal irgendwas passiert oder so? < fragt er erneut nach und runzelt die Stirn. Ich überspiele die Situation mit einem Lachen und streiche unschuldig eine lose Strähne hinter mein Ohr.
>Nein. Ich habe mich vor kurzem mit einem ehemaligen Soldaten unterhalten. Der hat mir so ziemlich das Gleiche erzählt und irgendwie musste ich gerade daran denken. Er hat nur angerissen, wie furchtbar das Ganze war. <
Damit löse ich eine Welle los, die mir gerade recht kommt.
>Oh Mann, das kann ich mir vorstellen. < wirft Jeremy ein. >Ich habe mal ein Gemälde gesehen, das ich nicht mehr vergessen kann. Das war von einem Kriegsmaler und trug den Titel „Two Thousand Yard Stare“ . Er hat den starren Blick eines Soldaten gemalt, der traumatisiert und erschöpft war. Glaubt ihr, sowas kann uns auch passieren? <
>Ach Unsinn, das kannst du mit unserem Job nicht vergleichen. Das sind bei denen viel krassere Bedingungen. < hält Louis dagegen. Ich bin heilfroh, dass sich die beiden nun gänzlich darüber unterhalten und ich aus der Sache raus bin. Keine Ahnung was mich geritten hat, den Mund bei diesem Thema aufzumachen, aber ich weiß, dass ich recht habe. Das erste Mal wird eigenartig sein, wenn ich auf mich allein gestellt sein werde. Vielleicht wird auch die geballte Ladung meiner Emotionen freigelassen werden und mich zu Boden reißen. Ich schiebe mir die letzte Gabel in den Mund und sehe auf. Ruby mustert mich nachdenklich und kaut auf ihrer Wange herum – allerdings sagt sie nichts. Ich lächle ihr kurz zu und widme mich dann meinem Nachtisch.

            Nach der Pause füllen wir unsere Wasserflaschen auf, denn die nächsten Stunden werden wir sie brauchen. Wir haben Einsatzlehre, was bedeutet, dass uns Cataley als Erstes laufen schickt. Allerdings nicht in der Halle, so wie wir alle dachten, sondern sie geht mit uns in den Wald. Weit hinter der Schule ist das gesamte Gebiet abgesperrt und sie scheucht uns umher. Der Waldboden ist weich und uneben. Wir springen über Äste, Steine und Kuhlen, die von Wildschweinen umgegraben wurden. Den brennenden Schmerz in meiner Lunge ignoriere ich, sowie den pochenden Schmerz in meinem Bein. Ich gebe mir alle Mühe nicht zu humpeln, werde schneller und schließe fast hinter meiner Trainerin auf. Früher war ich immer eine gute Läuferin, daher wüsste ich nicht, weshalb ich das jetzt nicht auch sein sollte – abgesehen von dieser verdammten Schussverletzung. Von ihr will ich mich allerdings nicht beherrschen lassen und mache weiter.
Nachdem wir gute 20 Minuten im Wald gejoggt sind, üben wir mit dem, was uns die Natur zur Verfügung stellt und Cataley erklärt uns:
>Egal an welchem Ort ihr gerade seid, ihr müsst euch überall zurechtfinden und das Material nutzen, das gerade da ist. Wenn ihr einen schnellen Richtungswechsel machen müsst, rennt ihr auf Wände, Laternen, Bäume oder was auch immer zu. Stoßt euch mit den Beinen ab, holt Schwung, ändert die Richtung und greift wieder an. Ihr müsst die Situation immer unter Kontrolle haben. Zieht euch an allem hoch, das ihr finden könnt, wenn ihr eure Zielperson verfolgt. Seid euch nicht zu fein, euch die Hände aufzureißen, irgendwelche Zäune hochzuklettern oder wenn es sein muss, auf Hausdächern zu balancieren. Ich will, dass ihr alles hier nutzt. Die eine Gruppe flüchtet, die andere verfolgt. Ich will euch kämpfen sehen. Ist das klar? <
Wir rufen ihr alle einstimmig ein „ja“ entgegen, so als wären wir bei der Navy. Cataley teilt uns ein und leider sind wir immer noch eine ungerade Anzahl. Als Ruby grienend auf mich zuläuft, wird sie unsanft von unserer Trainerin weggeschoben.
>Ruby, du gehst rüber zu Julien. < dirigiert sie, worauf meine Zimmergenossin ein langes Gesicht macht. Dann wendet sich Cataley an mich und erklärt mir mit einem kühlen Blick:
>Ich bin deine Zielperson und wenn du es nicht schaffst mich einzuholen, dann bekommst du Punkte abgezogen. <
>Was, hier geht es nach Punkten? Und die anderen Schüler? < frage ich bestürzt, da sie sich bereits aufteilen und die Ersten losrennen.
>Willst du etwa, dass ihnen Punkte abgezogen werden? < fragt sie honigsüß.
>Natürlich nicht. <
Daraufhin nickt sie wissentlich und geht einige ruhige Schritte von mir weg. Ich sehe die Anderen um mich herum und bemerke, wie sie sich tatsächlich alles zur Hilfe nehmen, was ihnen hier geboten wird. Schließlich dreht sich Cataley auf dem Absatz und rennt los. Keine Sekunde lasse ich verstreichen und renne hinter ihr her. Man könnte es als kleines Kinder-Fangen-Spiel abtun, aber das ist es nicht. Es ist bitterer Ernst – zumindest für mich. Keine Ahnung was sie mir für Punkte abziehen will –denn ich wusste nicht, dass es welche gibt, aber ich will sie ungern wegen meiner Trainerin verlieren. Sie schlägt Haken und zeigt mir ziemlich gut vor, wie ich mich hinter ihr bewegen sollte. Ihre Bewegungen sind grazil und trainiert. Ich kann nicht anders und bewundere sie dafür. Mich hat der Ehrgeiz gepackt und ich renne und renne. Ich strecke bereits meinen Arm nach ihr aus, um sie an der Schulter zu packen, aber ich merke sofort, dass mich diese Bewegung bremst. Ich benötige beide Arme für den Schwung beim Laufen. Als ich schließlich näher an ihr dran bin, rennt sie schnurstracks auf einen Baum zu. Ist sie verrückt? Sie wird dort gegen laufen. Als ich sie gerade warnen will, stemmt sie beide Füße gegen den Stamm, um sich davon abzustoßen. Damit ich nicht kollidiere, bin ich ausgewichen. Das bedeutet allerdings, dass sie ihre Energie kaum verloren hat, während ich meine Geschwindigkeit heruntergebremst habe und ich nun wieder von vorn beginnen muss, um ihr nachzulaufen. Eines muss ich zugeben, ich kann von dieser Frau eine ganze Menge lernen. Ich mache es ihr nach, versuche das zu tun, was sie sagte und nutze meine Umgebung. Ich komme ihr jedes Mal verdammt nah, weshalb sie mir schon mehrere Male einen hektischen Blick zugeworfen hat. Sie ging eindeutig nicht davon aus, dass ich mit ihr mithalten könnte. Doch endlich, als kein Baum in der Nähe ist und sie nirgendwo hin kann, außer ein paar weitere Haken zu schlagen, schaffe ich es und erwische sie an der Schulter. Ich ziehe sie zu mir nach hinten und es passiert das, was ich befürchtet habe. Sie sagte, die eine Gruppe soll verfolgen und sie will uns kämpfen sehen. Keine gefährliche Zielperson würde sich einfach so fangen lassen und mit uns gehen. Als ich Cataley schließlich habe, fackelt sie nicht lang und verpasst mir einen Schlag in den Magen. Ich keuche auf, aber versuche sofort dagegenzuhalten und mich nicht in die Knie zwingen zu lassen. Sam hat das mit mir geübt – ich schaffe das schon irgendwie. Allerdings hat Sam im Gegensatz zu meiner Trainerin, nicht vorgehabt mich zu verletzen. Aber ihrem Blick nach zu urteilen, hat sie das eindeutig vor.
Ich merke ernüchternd, dass sie meine Schläge lachhaft findet. Sie wehrt sie ab und schlägt mich erneut. Inzwischen bereue ich es so viel gegessen zu haben, denn ich bekomme einen erneuten Hieb in den Magen und würde mich am liebsten übergeben. Keuchend sinke ich auf den Boden und setze mich atemlos auf meine Fersen.
>Punktabzug Grant. < verkündet sie triumphal.
>Nein. < japse ich und versuche wenigstens genug Spucke zusammenzusammeln, um weiterzusprechen. >Du sagtest ich bekomme Punkte abgezogen, wenn ich dich nicht einhole, aber ich habe dich eingeholt. <
Sie wirft mir einen Blick zu und schürzt grinsend die Lippen. In diesem Moment habe ich das Gefühl, dass wir zwei uns gerade ein stilles Versprechen gegeben haben. Keine von uns beiden wird nachgeben. Sie wird jede Situation nutzen, um mich fertigzumachen und ich werde jede Möglichkeit nutzen, um ihr zu zeigen, dass sie das nicht kann. Die nächste Zeit werde ich einen Spießrutenlauf gehen und es war mir von dem Augenblick an klar, als sie mich an Sam's Seite gesehen hat.
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