Fingerabdrücke bleiben
von Lynnix
Kurzbeschreibung
Nayeli genießt ihre letzte Woche als Studentin und lebt mit ihrer indianisch stämmigen Familie in einem alten Haus neben den Klippen des Superior Lakes. Sie kann es kaum erwarten ihren künftigen Job anzutreten, mit dem ihr eine aussichtsreiche Zukunft bevorsteht. Trotz Strapazen empfindet sie ihr Leben als perfekt aber was sie bis zu dem Zeitpunkt noch nicht weiß ist, dass ihr Vater eine große Last mit sich herumschleppt, dessen Folgen ihr den Boden unter den Füßen wegreißen werden. Die junge Frau lernt jemanden kennen, von dem sie noch nicht weiß, ob er Freund oder Feind ist. Plötzlich ist sie auf fremde Hilfe angewiesen, muss hinter Masken sehen, verstehen wie korrupt das Land ist, in dem sie lebt und auf schmerzhafte Weise Stück für Stück erfahren, wie tief ihr Vater in die Ereignisse verstrickt war. Sie muss Entscheidungen treffen, von denen sie glaubte, so etwas niemals tun zu müssen. Aber wie weit muss sie gehen um Schmerzen und Verlust zu überwinden?
GeschichteDrama, Krimi / P16 / Gen
23.02.2018
25.11.2021
129
578.228
7
Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
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23.03.2018
3.671
Kapitel 05 - Das Geschenk zum Abschluss
Am nächsten Morgen reibe ich mein Gesicht an dem Kissen und fühle ein Brennen unter meinen Augen. Die Haut fühlt sich dünn und gerötet an. Es hat gestern Abend ewig gedauert, bis ich eingeschlafen bin und deshalb bin ich froh, dass heute kein Wecker klingelt. Es ist kurz vor 11 Uhr am Vormittag und langsam muss ich aufstehen, wenn ich mich rechtzeitig mit Megan treffen will.
Ich habe mich in meinen gestrigen Klamotten einfach ins Bett gelegt, dass ich sie im Badezimmer direkt in den Wäschekorb schmeiße.
Im Spiegelbild sehe ich mir mein Gesicht an, das von Tränen zerstört aussieht.
Tiefe, dunkle Augenringe lassen mich vollkommen fertig aussehen. Ich wende den Blick von meiner Erscheinung ab und steige in die Badewanne hinein.
Damit wir am Ende des Jahres nicht wieder so viele Wasserkosten nachzahlen müssen, mache ich mich nur kurz nass und stelle den Duschkopf sofort wieder aus. Dann seife ich mich mit dem tollen Duschgel ein, das ich von meiner besten Freundin geschenkt bekommen habe. Sie meinte, sie habe es im Laden gesehen und musste direkt an mich denken. Nicht wegen der Farbe oder des Geruchs, sondern wegen der Aufschrift: Sei frech, wild und wunderbar.
Beim Shampoonieren meiner Haare könnte ich daran verzweifeln, weil sie so schwer und lang sind, dass sie jedes Mal zurück auf meine Schultern klatschen, sobald ich versuche, die Masse an Haaren gemeinsam in einem Knäuel zu waschen. Ich würde gerne mal wieder zum Frisör und mir gute fünfzehn Zentimeter abschneiden lassen. Aber dafür reichen nicht mal die zwanzig Dollar von meinem Dad. Ein schneidendes Gefühl durchfährt meinen Körper, wenn ich daran denke, wie nötig dieses Geld woanders zu gebrauchen wäre. Mein Entschluss steht fest! Ich werde mit Megan nur umherziehen und nichts kaufen. Das kann ich einfach nicht. Was denkt sich mein Vater eigentlich?
Nachdem ich die kurze Dusche genossen und mich nur notdürftig in ein Handtuch eingewickelt habe, laufe ich mit nassen Zehenspitzen zurück zu meinem Zimmer und schnappe mir ein paar Sachen. Ich hüpfe in eine helle Jeans und in ein beiges Trägertop hinein. Da ich nur zwei Taschen besitze – nämlich meine Schultasche und eine zum Ausgehen, muss ich schnell alles umpacken. Der Schein meines Vaters liegt einsam und verlassen auf dem Schreibtisch neben meinem Zeugnis.
Wenn ich ihn weiterhin so böse anschaue, dann geht er womöglich noch in Flammen auf. Trotzdem überrede ich mich, ihn zumindest in mein Portemonnaie zu packen und in meiner Tasche zu versenken.
Vor dem Spiegel krame ich mein dürftiges Make-up raus und versuche die Augenringe wegzubekommen. Nach zehn Minuten finde ich, dass sich das Ergebnis sehenlassen kann. Dass ich erschöpft aussehe, ist zu erkennen aber zumindest sieht es nicht nach einer tränenreichen Nacht aus.
Bei meinen Haaren brauche ich nicht viel zu machen. Ich bürste sie einmal durch und setze den Föhn an. Wenn ich bedenke, wie lange Megan dabei braucht, dann ist es bei mir ein regelrecht kurzes Vergnügen. Sie sprüht sich massenhaft Zeug zur Pflege hinein, weil sie ihre Haare lange mit einer Rundbürste glatt föhnt und hinterher sogar noch mit einem Glätteisen hantieren muss, damit ihre Haare halbwegs das tun, was sie will. Dabei finde ich ihre krausen Locken so süß an ihr.
Ich schaue zur Uhr – in zwanzig Minuten werde ich abgeholt und will wenigstens eine Kleinigkeit essen. Die Tasche schwinge ich mir über die Schulter und gehe die Treppe hinunter. Meine Mutter ist schon dabei, ihren gewohnten Haushalt zu schmeißen und beseitigt den Couchtisch im Wohnzimmer gerade von möglichen Staubresten.
>Morgen. < werfe ich ihr entgegen, als ich über die Diele in die Küche komme.
>Guten Morgen. Du hast ja lange geschlafen. Ich habe schon überlegt, ob ich dich wecken soll. <
>Naja ich schätze, die Prüfung hat mich ziemlich ausgelaugt. <
Ich greife in einen Schrank hinein und schnappe mir eine Packung Cornflakes. Im Kühlschrank suche ich allerdings verzweifelt die Milch. Als ich sie nicht finde, schaue ich in unserer Vorratskammer nach. Da ist jedoch auch keine mehr. Das Einzige, was noch da ist, ist der Apfelsaft. Ich verziehe meinen Mund allein bei dem Gedanken aber irgendetwas sollte ich hier essen, denn im Einkaufscenter ist es zu teuer.
Und so esse ich meine Cornflakes zusammen mit Apfelsaft. Es schmeckt allerdings gar nicht so schlecht wie ich dachte und es macht erstmal satt. Sobald ich alles verschlungen habe, räume ich mein Geschirr weg und werfe noch mal einen Blick in den Kühlschrank, um mögliche Zutaten für heute Abend zu überfliegen.
>Mum, wenn du willst koche ich heute Abend. Wir haben noch Schinken und in der Kammer habe ich Ananas in einer Konserve gefunden… ich könnte Pizza machen. <
>Ich glaube ich habe nicht mehr genügend Mehl für den Teig da. < mutmaßt sie und kommt zu mir gelaufen, um in einen der fast leeren Schränke zu schauen. Seufzend hält sie nur noch einen kleinen Rest in der Dose hoch. >Dein Dad hat seinen Lohn noch nicht bekommen und ich kann nicht einkaufen. <
Mein Blick geht automatisch zu meiner Tasche.
>Ich kann welches mitbringen, das kostet nur ein paar Penny. < wende ich ein und versuche in meiner Stimme keine Spur meiner Schockstarre zu hinterlassen. Die Konten sind leer und Dad hat kein Gehalt bekommen. Meine Mutter presst die Lippen zusammen, nickt dann aber. Irgendetwas müssen wir ja schließlich essen. >Vielleicht haben sie ihn vergessen und er bekommt es heute oder morgen und dann gehen wir einkaufen. Ich helfe dir dann, okay? <
>Ja das wäre schön. < sie ringt sich ein Lächeln ab und will gerade noch etwas sagen, als eine laute Hupe mehrmals losgeht.
>Oh da ist sie schon. Ich bin dann weg – bis heute Abend. < sage ich zu meiner Mutter und winke ihr zu.
>Viel Spaß. <
Die Tür geht krachend hinter mir zu. Megan hat die Scheibe runtergelassen und hält lässig ihren Unterarm raus. Mit der anderen Hand schiebt sie sich ihre Sonnenbrille von der Nase.
>Na Süße, bereit für alle Schandtaten? < lacht sie und dreht die Musik von P!nk laut auf. Ich bin kaum in ihrem knallroten Ford Fiesta angeschnallt, da singt sie schon What about us mit. Nicht gerade gut aber zumindest laut. Sie verlässt unsere nicht asphaltierte und buckelige Straße und ich schmettere den Song mit ihr mit.
>Verdammt, diese Straße ist grauenhaft. < beschwert sie sich, als wir nur von links nach rechts geschleudert werden.
>Von welcher Straße redest du? < lache ich auf.
Sie wirft mir einen dramatischen Augenaufschlag entgegen und wendet sich dann wieder dem Straßenverkehr zu, der beginnt, sobald man aus diesem Waldstück heraus ist.
Megans CD spielt danach Rihannas Song Umbrella ab und wir sind nicht mehr zu halten. Wir stehen an einer roten Ampel und schütteln unsere Köpfe umher. Das ältere Pärchen neben uns hält uns wahrscheinlich für verrückt. Jemand hinter uns muss erst hupen, um Megan die Grünphase begreiflich zu machen. Danach fahren wir gesitteter erst über die Trinity Road und dann über den Miller Trunk Highway. Nach Rihanna sind nur drei weitere Songs nötig und wir trudeln bereits auf dem Parkplatz ein. Megan ergattert sich gleich ganz vorne eine Stellfläche und jubelt.
>Wow ich habe hier noch nie so schnell einen Parkplatz bekommen. <
>Das könnte daran liegen, dass wir zu dieser Zeit normalerweise im Hörsaal sind. < werfe ich feixend ein. Allein die Herfahrt mit ihr hat mir meine gute Laune wiederbeschafft.
Wir schnallen uns ab und steigen vor der Miller Hill Mall aus. Gut gelaunt schlendern wir eingehakt erstmal etwas herum und können nicht bei Lids vorbeilaufen. Das ist ein Laden, voll mit Basecaps. Ich weiß nicht, woher wir beide diese Vorliebe haben aber irgendwie mögen wir diese Kappen einfach zu sehr.
Kaufen tun wir zwar keine, trotzdem macht es Spaß sie aufzusetzen und Fotos damit zu machen, bis die Kassiererin irgendwann böse guckt und wir lieber schleunigst wieder gehen.
Neidvoll schaue ich zu all den Frauen, die soeben beim Frisör gegenüber eine Kopfmassage bekommen, während ihnen die Haare gewaschen werden.
Wir gehen vorbei an einem kleinen Laden, bei dem man sich die Fingernägel machen lassen kann. Auf den Plakaten in den Schaufenstern, sind ausschließlich knallbunte Hexenkrallen zu sehen. Ich bezweifle, dass man bei dieser Länge überhaupt eine Münze anheben kann und trotzdem wäre das ein Luxus für mich, den ich mir derzeit nie leisten könnte. Überraschend zieht mich Megan gegenüber zu Build a Bear hinein, sodass ich fast mein Gleichgewicht verliere.
>Schau mal ist der nicht cool? <
>Sind wir dafür nicht etwas zu alt? < lache ich los, als sie mir einen Minion als Kuscheltier entgegenhält.
>Ach was. Dafür ist man nie zu alt. <
In einem Laden namens JCPenney habe ich wirklich Sorge um mein Geld. Ein Teil ist schöner als das andere und Megan präsentiert sich im Minutentakt in anderen Klamotten. Es steht ihr ausnahmslos einfach alles und ich bin jedes Mal begeistert, wenn sie mich fragt, wie ich es finde. Als ich so dasitze und darauf warte, dass sich meine Freundin das nächste Teil übergeworfen hat, geht mein Blick seitlich zu einer Kleiderstange.
In allen möglichen Farben hängt dort ein hübsches Oberteil. Ich laufe dorthin, lasse den Stoff durch meine Hände gleiten und halte es dann an meinen Körper heran.
>Wow, das ist ja süß. < höre ich meine Freundin. Ich grinse ihr nickend zu aber hänge es wieder weg. >Ziehe es doch mal an. <
>Nein, lieber nicht. Hinterher verliebe ich mich darin und dann? <
Ich kenne diese Momente schon und es macht mir im Grunde genommen nicht mehr viel aus. Plumpsend lasse ich mich wieder auf das Sofa fallen und beäuge meine Freundin in einem kurzen roten Kleid.
>Sieht scharf aus. < sage ich anerkennend. Daraufhin lächelnd sie kokett. Anstatt aber zurück in die Kabine zu gehen, läuft sie schnurstracks zu dem Kleiderständer, an dem ich eben noch stand. Das war klar. Wir haben denselben Geschmack bei Klamotten – das wird ihr genauso gut stehen, wie alles andere bisher.
>Komm her und probiere es an. < befiehlt sie.
>Nein, sowas macht man nicht. Wenn man kein Geld hat, sollte man sich nicht in solche Teile schmeißen. <
>Nayeli Misra, du kommst sofort her und ziehst es an! <
Augenrollend ergebe ich mich. Aber nur, weil ich weiß, dass sie mir sowieso keine Ruhe lassen wird.
Das Schlimmste ist, es sieht in zart lila echt toll an mir aus – im Grunde das, was ich befürchtet habe. Megan steht mit mir zusammen in der Kabine und bestätigt mir das Gleiche. Ich starre auf das Preisschild und ziehe es sofort wieder aus. Das hat einfach keinen Sinn. Megan bleibt noch eine Weile und probiert alles Mögliche an.
Als sie irgendwann wieder herauskommt, sind ihre Arme bepackt bis obenhin. Damit torkelt sie zur Kasse und zahlt dort stolze 183 $. Da bleibt einem die Luft weg.
Ich gehe schon mal vor und schaue, wo wir noch hingehen könnten. Als sie wieder herausspringt, küsst sie mich auf die Wange und hält mir eine kleine Tüte hin.
>Herzlichen Glückwunsch zum Abschluss. <
>Nein, das hast du doch nicht… < ich schaue in die Tüte. Sie hat! >Das ist wirklich toll, aber das kann ich nicht annehmen. <
>Ach was. Lass den Quatsch! Wenn du demnächst mal ein Haufen Kohle verdienst, bekomme ich von dir auch mal ein Teil, dann sind wir quitt. <
Unbeholfen nehme ich den Stoff heraus und lasse ihn erneut durch meine Hände gleiten.
>Danke. < hauche ich.
>Na los, komm schon. Hier gibt’s noch viel mehr. < lacht sie und hakt sich wieder bei mir ein.
Vor einem Schmuckladen stehen wir immerhin gemeinsam und drücken uns die Nasen platt.
>Stell dir mal vor, der da ist dein Verlobungsring. < staunt sie und zeigt auf alle möglichen Schmuckstücke.
>Glaubst du echt, dass ein Mann so viel Geld dafür ausgeben würde? <
>Keine Ahnung. So viel würde ich nicht mal für mich selbst ausgeben. < erwidert sie trocken und ich lache.
Wir kommen weiter an allen möglichen Süßwaren-, Donut- und Eisständen vorbei. Einer schöner als der andere aber wir bleiben beide standhaft.
>Können wir da mal reingehen? < ich nicke zu BARNES & NOBLE. Durch und durch ein Buchladen. Wie ich mich kenne, kann ich sowieso nichts kaufen aber mich interessieren die Bestsellerlisten.
>Da sollte man doch meinen, dass du genug von Büchern hast. < feixt Megan und geht mit mir zusammen dort hinein. Ich könnte hier Ewigkeiten verbringen und mir dutzende Bücher unter den Arm klemmen. Irgendwann ist Megan einfach in der Ecke mit den Romanen verschwunden, während ich bei den Krimis herumstehe. Eigentlich ist das nicht meine Richtung aber ich habe inzwischen einige Cover-Rückseiten gelesen, die echt interessant klingen. Zwei Büchern verspreche ich still, bald zurückzukommen und sie abzuholen. Auf dem Weg zu meiner Freundin komme ich an einem Kartenständer vorbei und kann mich plötzlich nicht mehr losreißen. Darauf stehen alle möglich Weisheiten oder lustigen Sprüche. Manche sind so doof, dass ich laut loslache und von den anderen angestarrt werde. Peinlich berührt, presse ich meine Lippen aufeinander und gebe mir Mühe, jetzt den Mund zu halten.
Ich drehe den Ständer einfach weiter herum und sehe dann eine Postkarte, die mich dazu verleitet, sie aus dem Gitter herauszuholen. Wie gebannt lese ich den Text mehrmals, als Megan plötzlich hinter mir auftaucht und über meine Schulter lugt.
„Wie stark du tatsächlich bist, erfährst du erst dann, wenn stark sein die einzige Option ist, die du hast.“
>Hmm… hat was. < murmelt sie.
Ich nicke und gehe damit zur Kasse. Dafür muss ich nicht mal Dads Schein hergeben, weil die Karte nur einen viertel Dollar kostet. Den besitze ich immerhin selbst noch.
Sobald wir draußen sind, lege ich die Karte vorsichtig in die Tüte mit dem Oberteil hinein.
>Oh… da wollte ich immer schon mal rein. < Megan zerrt mich am Arm hinter sich her und läuft einfach auf einen Laden drauf zu, mit dem ich aus dieser Entfernung noch nicht viel anfangen kann.
Als ich dann aber merke, dass sie schnurstracks auf einen Sexshop zuläuft, stemme ich meine Fersen in den Boden.
>Meg, das ist kein Dessouladen. <
>Ich weiß. < antwortet sie trocken und zieht mich wieder mit sich.
Vor manchen Dingen stehen wir völlig überfragt und haben keine Ahnung was das sein soll oder ob es für den weiblichen oder männlichen Gebrauch gedacht ist.
Sie hält mir eine Verpackung mit zwei pinken, aneinandergereihten Kugeln vor mein Gesicht und fragt:
>Was glaubst du wie sowas ist? <
>Keine Ahnung… aber solltest du es jemals ausprobieren, dann weiß ich, dass ich es von dir erfahren werde. Ganz gleich, ob ich will oder nicht. <
Grinsend boxt sie mir auf den Arm und bestätigt mir somit, was ich eben behauptet habe. In der Hinsicht ist es manchmal eigenartig eine beste Freundin zu haben. Man muss sich jedes noch so kleine Detail aus ihrem Liebesleben anhören und natürlich wird es von einem erwartet, dass man selbst auch sehr viel darüber redet.
Wir sind also ein offenes Buch für die andere. Jetzt haben rosa Plüschhandschellen ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
>Was hältst du davon? < will sie wissen und zeigt mir die Verpackung.
Ich nehme sie ihr ab und schaue auf die Bilder.
>Keine Ahnung. Ich meine, da ist Plüsch dran. <
>Ja klar, damit es nicht wehtut. <
>Aber ist das nicht eigentlich der Sinn dahinter, dass es wehtut? <
Damit scheint meine Freundin überfragt zu sein und stellt die Packung wieder weg, um den nächsten Gang entlangzugehen.
Grinsend drückt sie mir dort einen pinken Vibrator in die Hand mit den Worten „Wäre doch mal wieder dran, oder?“
Na danke auch.
>Wieso ist das ganze Zeug eigentlich immer in Pink? < frage ich verdutzt und sehe mich genauer in dem Laden um.
>Keine Ahnung. Vielleicht soll es die Frauen ansprechen. <
Irgendwann haben wir jedoch genug davon und hauen wieder ab, als Megs Neugier befriedigt ist.
Wir sind zum Schluss noch in einen weiteren Klamottenladen gegangen, in dem sich Megan nach ewiger Bedenkzeit eine Jeans gekauft hat. Solange sie überlegte, bin ich schnell in ein Lebensmittelgeschäft hineingelaufen und habe eine große Packung Mehl und Milch besorgt.
Vollkommen erledigt von diesen Shoppingstunden und mit schmerzenden Beinen, sitzen wir wieder im Auto. Ich lege das zart lilafarbene Oberteil auf meinen Schoß und breite es aus.
>Das sah echt toll aus. < erinnert mich meine Freundin.
>Danke. Das mache ich wirklich wieder gut. <
Megan winkt daraufhin mit einer Hand ab und fährt vom Parkplatz runter. Inzwischen ist deutlich mehr Verkehr auf den Straßen als heute Mittag. Die meisten Frühschichtmenschen haben wahrscheinlich gerade Feierabend und deswegen bewegt sich das Auto nur schleppend vorwärts. Gute zwanzig Minuten später biegen wir in die 5th Avenue hinein.
>Was machen wir denn hier? < frage ich überrumpelt.
>Wolltest du etwa schon nach Hause? <
>Nicht zwangsläufig. < murmle ich.
>Na dann los. Ich habe Hunger. <
Schnell schnalle ich mich ab und laufe ihr hinterher. Am Restaurant ihrer Eltern angekommen, verriegelt sie ihren Wagen und hält mir die Eingangstür auf. Hier riecht es nach Curry, Curcuma und Öl - alles was ich an diesem Laden liebe.
Immerhin habe ich meine halbe Kindheit hier drin verbracht.
Megan setzt sich schon selbstverständlich an ihren Tisch und wartet darauf, dass ich auch endlich Platz nehme.
Ihre Mutter Mandira kommt gerade mit einem Arm voller Teller heraus und bewirtschaftet ihre Gäste. Danach kommt sie in einem hübschen roten Sari zu uns gelaufen und nimmt mich in die Arme.
>Es ist so schön dich wiederzusehen. Ich gratuliere dir zu deinem Abschluss. < sagt sie in ihrem indischen Akzent. Da Megan in Amerika geboren ist, besitzt sie diesen gar nicht. Dabei finde ich, dass es total toll klingt.
>Danke. Das war ein hartes Stück Arbeit. < grinse ich zurück.
>Mama, so lange ist das gar nicht her. Nayeli war erst vor ein paar Wochen noch täglich zum Lernen da und letzten Mittwoch auch bei uns. <
>Siehst du. Das ist schon wieder viel zu lange her. Zeitweise wohnt da eine zweite Tochter bei mir und dann ist sie wieder verschwunden. <
Ich lache, weil ich es toll finde, wenn Mandira so etwas sagt. Ohne Megans Familie würde mir wahrscheinlich wirklich etwas fehlen.
>Ihr seid sicher durstig. Ich hole euch ein paar Mangolassis. <
Und schon ist sie mit wehendem Sari in ihrer Küche verschwunden. Wir bekommen hier inzwischen nicht einmal mehr Speisekarten, da wir sowieso immer das Gleiche essen.
>Ich weiß gar nicht wie viele Gerichte ich deinen Eltern inzwischen schon schuldig bin. < murmle ich geistesabwesend.
>Hör auf damit! Du bist ihnen überhaupt nichts schuldig. Sie tun das gerne… schon immer. <
>Ich weiß. Es ist nur immer noch komisch. <
>Wenn dich das zufrieden stimmt, dann musst du demnächst alles selbst bezahlen. Aber meine Eltern würden das Geld von dir sowieso nicht annehmen. <
>Das ist es ja, was ich befürchte. <
Hinter dem klappernden Vorhang aus vielen aneinandergereihten Holzstückchen, kommt Mandira zurück und stellt uns die Lassis auf den Tisch.
>Wie lief eigentlich dein Bewerbungsgespräch gestern? < will ich wissen.
>Schwer zu sagen. Ich hatte eigentlich kein schlechtes Gefühl aber wie es immer so ist… Die rücken halt nie mit der Sprache raus und sagen einfach „wir melden uns“.
Ich habe ja am Donnerstag noch das beim Verlag, vielleicht zeigen die ihr Interesse ja offener und es klappt. Aber wenn ich ehrlich bin, dann würde ich viel lieber in einem Museum arbeiten. <
Ich finde auch, dass meine Freundin dort besser hinpasst und hoffe, dass sie Glück bei dieser Stelle hat. Der erste Job ist immer etwas Besonderes.
Ohne dass wir irgendetwas bestellen mussten, serviert mir Megans Vater mit einem Augenzwinkern, mein geliebtes Butterchicken und seiner Tochter wie immer Lamm Biryani.
Ich genieße diesen Tag mit ihr in vollen Zügen nach all der Lernerei und vor allem nach dem gestrigen Gespräch mit meinen Eltern. Ich habe es nahezu in all den Stunden geschafft, diesen Gedanken zu verdrängen. Hoffentlich hat mich meine Mutter nicht angelogen und diese Schulden sind mit einem Festgehalt mehr endlich ausradiert. Mir ist das Ganze so unangenehm, dass ich es nicht meiner besten Freundin sagen kann.
Als Megan und ich alles bis auf den letzten Krümel Reis im Magen haben, glauben wir fast zu platzen. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Meg´s Vater Rohan heimlichtuerisch mit zwei kleinen Schalen zu uns herankommt und sie auf unserem Tisch abstellt. Heute trägt er einen gewickelten grünen Turban mit gleichfarbigem, längerem Hemd. Im selben indischen Akzent wie seine Frau sagt er:
>Das ist eine ganz neue Idee von mir. Kostet es und sagt mir, ob wir es in die Karte mit aufnehmen sollen. <
>Was ist das? < will meine Freundin wissen.
>Das ist indisches Eis aus Milch, Sahne, Safran, Mandeln, Pistazien und Kardamom. < erklärt Rohan.
>Bäh Papa. Kardamom im Eis? Das kann doch nicht schmecken. <
>Na los, kostet es. < fordert er uns auf und legt uns zwei Löffel hin.
Ich bin vollkommen satt aber den Gefallen tu ich ihm gerne noch. Genauso wie Megan schmunzle ich auch über das Gewürz im Eis.
Wir nehmen beide eine Kostprobe, lassen sie auf der Zunge zergehen … und sind sprachlos. Wir starren erst uns an, dann Rohan und dann unsere Schüssel Eis, um noch mehr davon zu verdrücken.
>Und was sagt ihr? < will er wissen.
>Kann nicht reden, muss essen. < schmatzt Megan.
>Das ist verdammt lecker. < schmachte ich. >Das muss unbedingt auf die Karte. <
Am nächsten Morgen reibe ich mein Gesicht an dem Kissen und fühle ein Brennen unter meinen Augen. Die Haut fühlt sich dünn und gerötet an. Es hat gestern Abend ewig gedauert, bis ich eingeschlafen bin und deshalb bin ich froh, dass heute kein Wecker klingelt. Es ist kurz vor 11 Uhr am Vormittag und langsam muss ich aufstehen, wenn ich mich rechtzeitig mit Megan treffen will.
Ich habe mich in meinen gestrigen Klamotten einfach ins Bett gelegt, dass ich sie im Badezimmer direkt in den Wäschekorb schmeiße.
Im Spiegelbild sehe ich mir mein Gesicht an, das von Tränen zerstört aussieht.
Tiefe, dunkle Augenringe lassen mich vollkommen fertig aussehen. Ich wende den Blick von meiner Erscheinung ab und steige in die Badewanne hinein.
Damit wir am Ende des Jahres nicht wieder so viele Wasserkosten nachzahlen müssen, mache ich mich nur kurz nass und stelle den Duschkopf sofort wieder aus. Dann seife ich mich mit dem tollen Duschgel ein, das ich von meiner besten Freundin geschenkt bekommen habe. Sie meinte, sie habe es im Laden gesehen und musste direkt an mich denken. Nicht wegen der Farbe oder des Geruchs, sondern wegen der Aufschrift: Sei frech, wild und wunderbar.
Beim Shampoonieren meiner Haare könnte ich daran verzweifeln, weil sie so schwer und lang sind, dass sie jedes Mal zurück auf meine Schultern klatschen, sobald ich versuche, die Masse an Haaren gemeinsam in einem Knäuel zu waschen. Ich würde gerne mal wieder zum Frisör und mir gute fünfzehn Zentimeter abschneiden lassen. Aber dafür reichen nicht mal die zwanzig Dollar von meinem Dad. Ein schneidendes Gefühl durchfährt meinen Körper, wenn ich daran denke, wie nötig dieses Geld woanders zu gebrauchen wäre. Mein Entschluss steht fest! Ich werde mit Megan nur umherziehen und nichts kaufen. Das kann ich einfach nicht. Was denkt sich mein Vater eigentlich?
Nachdem ich die kurze Dusche genossen und mich nur notdürftig in ein Handtuch eingewickelt habe, laufe ich mit nassen Zehenspitzen zurück zu meinem Zimmer und schnappe mir ein paar Sachen. Ich hüpfe in eine helle Jeans und in ein beiges Trägertop hinein. Da ich nur zwei Taschen besitze – nämlich meine Schultasche und eine zum Ausgehen, muss ich schnell alles umpacken. Der Schein meines Vaters liegt einsam und verlassen auf dem Schreibtisch neben meinem Zeugnis.
Wenn ich ihn weiterhin so böse anschaue, dann geht er womöglich noch in Flammen auf. Trotzdem überrede ich mich, ihn zumindest in mein Portemonnaie zu packen und in meiner Tasche zu versenken.
Vor dem Spiegel krame ich mein dürftiges Make-up raus und versuche die Augenringe wegzubekommen. Nach zehn Minuten finde ich, dass sich das Ergebnis sehenlassen kann. Dass ich erschöpft aussehe, ist zu erkennen aber zumindest sieht es nicht nach einer tränenreichen Nacht aus.
Bei meinen Haaren brauche ich nicht viel zu machen. Ich bürste sie einmal durch und setze den Föhn an. Wenn ich bedenke, wie lange Megan dabei braucht, dann ist es bei mir ein regelrecht kurzes Vergnügen. Sie sprüht sich massenhaft Zeug zur Pflege hinein, weil sie ihre Haare lange mit einer Rundbürste glatt föhnt und hinterher sogar noch mit einem Glätteisen hantieren muss, damit ihre Haare halbwegs das tun, was sie will. Dabei finde ich ihre krausen Locken so süß an ihr.
Ich schaue zur Uhr – in zwanzig Minuten werde ich abgeholt und will wenigstens eine Kleinigkeit essen. Die Tasche schwinge ich mir über die Schulter und gehe die Treppe hinunter. Meine Mutter ist schon dabei, ihren gewohnten Haushalt zu schmeißen und beseitigt den Couchtisch im Wohnzimmer gerade von möglichen Staubresten.
>Morgen. < werfe ich ihr entgegen, als ich über die Diele in die Küche komme.
>Guten Morgen. Du hast ja lange geschlafen. Ich habe schon überlegt, ob ich dich wecken soll. <
>Naja ich schätze, die Prüfung hat mich ziemlich ausgelaugt. <
Ich greife in einen Schrank hinein und schnappe mir eine Packung Cornflakes. Im Kühlschrank suche ich allerdings verzweifelt die Milch. Als ich sie nicht finde, schaue ich in unserer Vorratskammer nach. Da ist jedoch auch keine mehr. Das Einzige, was noch da ist, ist der Apfelsaft. Ich verziehe meinen Mund allein bei dem Gedanken aber irgendetwas sollte ich hier essen, denn im Einkaufscenter ist es zu teuer.
Und so esse ich meine Cornflakes zusammen mit Apfelsaft. Es schmeckt allerdings gar nicht so schlecht wie ich dachte und es macht erstmal satt. Sobald ich alles verschlungen habe, räume ich mein Geschirr weg und werfe noch mal einen Blick in den Kühlschrank, um mögliche Zutaten für heute Abend zu überfliegen.
>Mum, wenn du willst koche ich heute Abend. Wir haben noch Schinken und in der Kammer habe ich Ananas in einer Konserve gefunden… ich könnte Pizza machen. <
>Ich glaube ich habe nicht mehr genügend Mehl für den Teig da. < mutmaßt sie und kommt zu mir gelaufen, um in einen der fast leeren Schränke zu schauen. Seufzend hält sie nur noch einen kleinen Rest in der Dose hoch. >Dein Dad hat seinen Lohn noch nicht bekommen und ich kann nicht einkaufen. <
Mein Blick geht automatisch zu meiner Tasche.
>Ich kann welches mitbringen, das kostet nur ein paar Penny. < wende ich ein und versuche in meiner Stimme keine Spur meiner Schockstarre zu hinterlassen. Die Konten sind leer und Dad hat kein Gehalt bekommen. Meine Mutter presst die Lippen zusammen, nickt dann aber. Irgendetwas müssen wir ja schließlich essen. >Vielleicht haben sie ihn vergessen und er bekommt es heute oder morgen und dann gehen wir einkaufen. Ich helfe dir dann, okay? <
>Ja das wäre schön. < sie ringt sich ein Lächeln ab und will gerade noch etwas sagen, als eine laute Hupe mehrmals losgeht.
>Oh da ist sie schon. Ich bin dann weg – bis heute Abend. < sage ich zu meiner Mutter und winke ihr zu.
>Viel Spaß. <
Die Tür geht krachend hinter mir zu. Megan hat die Scheibe runtergelassen und hält lässig ihren Unterarm raus. Mit der anderen Hand schiebt sie sich ihre Sonnenbrille von der Nase.
>Na Süße, bereit für alle Schandtaten? < lacht sie und dreht die Musik von P!nk laut auf. Ich bin kaum in ihrem knallroten Ford Fiesta angeschnallt, da singt sie schon What about us mit. Nicht gerade gut aber zumindest laut. Sie verlässt unsere nicht asphaltierte und buckelige Straße und ich schmettere den Song mit ihr mit.
>Verdammt, diese Straße ist grauenhaft. < beschwert sie sich, als wir nur von links nach rechts geschleudert werden.
>Von welcher Straße redest du? < lache ich auf.
Sie wirft mir einen dramatischen Augenaufschlag entgegen und wendet sich dann wieder dem Straßenverkehr zu, der beginnt, sobald man aus diesem Waldstück heraus ist.
Megans CD spielt danach Rihannas Song Umbrella ab und wir sind nicht mehr zu halten. Wir stehen an einer roten Ampel und schütteln unsere Köpfe umher. Das ältere Pärchen neben uns hält uns wahrscheinlich für verrückt. Jemand hinter uns muss erst hupen, um Megan die Grünphase begreiflich zu machen. Danach fahren wir gesitteter erst über die Trinity Road und dann über den Miller Trunk Highway. Nach Rihanna sind nur drei weitere Songs nötig und wir trudeln bereits auf dem Parkplatz ein. Megan ergattert sich gleich ganz vorne eine Stellfläche und jubelt.
>Wow ich habe hier noch nie so schnell einen Parkplatz bekommen. <
>Das könnte daran liegen, dass wir zu dieser Zeit normalerweise im Hörsaal sind. < werfe ich feixend ein. Allein die Herfahrt mit ihr hat mir meine gute Laune wiederbeschafft.
Wir schnallen uns ab und steigen vor der Miller Hill Mall aus. Gut gelaunt schlendern wir eingehakt erstmal etwas herum und können nicht bei Lids vorbeilaufen. Das ist ein Laden, voll mit Basecaps. Ich weiß nicht, woher wir beide diese Vorliebe haben aber irgendwie mögen wir diese Kappen einfach zu sehr.
Kaufen tun wir zwar keine, trotzdem macht es Spaß sie aufzusetzen und Fotos damit zu machen, bis die Kassiererin irgendwann böse guckt und wir lieber schleunigst wieder gehen.
Neidvoll schaue ich zu all den Frauen, die soeben beim Frisör gegenüber eine Kopfmassage bekommen, während ihnen die Haare gewaschen werden.
Wir gehen vorbei an einem kleinen Laden, bei dem man sich die Fingernägel machen lassen kann. Auf den Plakaten in den Schaufenstern, sind ausschließlich knallbunte Hexenkrallen zu sehen. Ich bezweifle, dass man bei dieser Länge überhaupt eine Münze anheben kann und trotzdem wäre das ein Luxus für mich, den ich mir derzeit nie leisten könnte. Überraschend zieht mich Megan gegenüber zu Build a Bear hinein, sodass ich fast mein Gleichgewicht verliere.
>Schau mal ist der nicht cool? <
>Sind wir dafür nicht etwas zu alt? < lache ich los, als sie mir einen Minion als Kuscheltier entgegenhält.
>Ach was. Dafür ist man nie zu alt. <
In einem Laden namens JCPenney habe ich wirklich Sorge um mein Geld. Ein Teil ist schöner als das andere und Megan präsentiert sich im Minutentakt in anderen Klamotten. Es steht ihr ausnahmslos einfach alles und ich bin jedes Mal begeistert, wenn sie mich fragt, wie ich es finde. Als ich so dasitze und darauf warte, dass sich meine Freundin das nächste Teil übergeworfen hat, geht mein Blick seitlich zu einer Kleiderstange.
In allen möglichen Farben hängt dort ein hübsches Oberteil. Ich laufe dorthin, lasse den Stoff durch meine Hände gleiten und halte es dann an meinen Körper heran.
>Wow, das ist ja süß. < höre ich meine Freundin. Ich grinse ihr nickend zu aber hänge es wieder weg. >Ziehe es doch mal an. <
>Nein, lieber nicht. Hinterher verliebe ich mich darin und dann? <
Ich kenne diese Momente schon und es macht mir im Grunde genommen nicht mehr viel aus. Plumpsend lasse ich mich wieder auf das Sofa fallen und beäuge meine Freundin in einem kurzen roten Kleid.
>Sieht scharf aus. < sage ich anerkennend. Daraufhin lächelnd sie kokett. Anstatt aber zurück in die Kabine zu gehen, läuft sie schnurstracks zu dem Kleiderständer, an dem ich eben noch stand. Das war klar. Wir haben denselben Geschmack bei Klamotten – das wird ihr genauso gut stehen, wie alles andere bisher.
>Komm her und probiere es an. < befiehlt sie.
>Nein, sowas macht man nicht. Wenn man kein Geld hat, sollte man sich nicht in solche Teile schmeißen. <
>Nayeli Misra, du kommst sofort her und ziehst es an! <
Augenrollend ergebe ich mich. Aber nur, weil ich weiß, dass sie mir sowieso keine Ruhe lassen wird.
Das Schlimmste ist, es sieht in zart lila echt toll an mir aus – im Grunde das, was ich befürchtet habe. Megan steht mit mir zusammen in der Kabine und bestätigt mir das Gleiche. Ich starre auf das Preisschild und ziehe es sofort wieder aus. Das hat einfach keinen Sinn. Megan bleibt noch eine Weile und probiert alles Mögliche an.
Als sie irgendwann wieder herauskommt, sind ihre Arme bepackt bis obenhin. Damit torkelt sie zur Kasse und zahlt dort stolze 183 $. Da bleibt einem die Luft weg.
Ich gehe schon mal vor und schaue, wo wir noch hingehen könnten. Als sie wieder herausspringt, küsst sie mich auf die Wange und hält mir eine kleine Tüte hin.
>Herzlichen Glückwunsch zum Abschluss. <
>Nein, das hast du doch nicht… < ich schaue in die Tüte. Sie hat! >Das ist wirklich toll, aber das kann ich nicht annehmen. <
>Ach was. Lass den Quatsch! Wenn du demnächst mal ein Haufen Kohle verdienst, bekomme ich von dir auch mal ein Teil, dann sind wir quitt. <
Unbeholfen nehme ich den Stoff heraus und lasse ihn erneut durch meine Hände gleiten.
>Danke. < hauche ich.
>Na los, komm schon. Hier gibt’s noch viel mehr. < lacht sie und hakt sich wieder bei mir ein.
Vor einem Schmuckladen stehen wir immerhin gemeinsam und drücken uns die Nasen platt.
>Stell dir mal vor, der da ist dein Verlobungsring. < staunt sie und zeigt auf alle möglichen Schmuckstücke.
>Glaubst du echt, dass ein Mann so viel Geld dafür ausgeben würde? <
>Keine Ahnung. So viel würde ich nicht mal für mich selbst ausgeben. < erwidert sie trocken und ich lache.
Wir kommen weiter an allen möglichen Süßwaren-, Donut- und Eisständen vorbei. Einer schöner als der andere aber wir bleiben beide standhaft.
>Können wir da mal reingehen? < ich nicke zu BARNES & NOBLE. Durch und durch ein Buchladen. Wie ich mich kenne, kann ich sowieso nichts kaufen aber mich interessieren die Bestsellerlisten.
>Da sollte man doch meinen, dass du genug von Büchern hast. < feixt Megan und geht mit mir zusammen dort hinein. Ich könnte hier Ewigkeiten verbringen und mir dutzende Bücher unter den Arm klemmen. Irgendwann ist Megan einfach in der Ecke mit den Romanen verschwunden, während ich bei den Krimis herumstehe. Eigentlich ist das nicht meine Richtung aber ich habe inzwischen einige Cover-Rückseiten gelesen, die echt interessant klingen. Zwei Büchern verspreche ich still, bald zurückzukommen und sie abzuholen. Auf dem Weg zu meiner Freundin komme ich an einem Kartenständer vorbei und kann mich plötzlich nicht mehr losreißen. Darauf stehen alle möglich Weisheiten oder lustigen Sprüche. Manche sind so doof, dass ich laut loslache und von den anderen angestarrt werde. Peinlich berührt, presse ich meine Lippen aufeinander und gebe mir Mühe, jetzt den Mund zu halten.
Ich drehe den Ständer einfach weiter herum und sehe dann eine Postkarte, die mich dazu verleitet, sie aus dem Gitter herauszuholen. Wie gebannt lese ich den Text mehrmals, als Megan plötzlich hinter mir auftaucht und über meine Schulter lugt.
„Wie stark du tatsächlich bist, erfährst du erst dann, wenn stark sein die einzige Option ist, die du hast.“
>Hmm… hat was. < murmelt sie.
Ich nicke und gehe damit zur Kasse. Dafür muss ich nicht mal Dads Schein hergeben, weil die Karte nur einen viertel Dollar kostet. Den besitze ich immerhin selbst noch.
Sobald wir draußen sind, lege ich die Karte vorsichtig in die Tüte mit dem Oberteil hinein.
>Oh… da wollte ich immer schon mal rein. < Megan zerrt mich am Arm hinter sich her und läuft einfach auf einen Laden drauf zu, mit dem ich aus dieser Entfernung noch nicht viel anfangen kann.
Als ich dann aber merke, dass sie schnurstracks auf einen Sexshop zuläuft, stemme ich meine Fersen in den Boden.
>Meg, das ist kein Dessouladen. <
>Ich weiß. < antwortet sie trocken und zieht mich wieder mit sich.
Vor manchen Dingen stehen wir völlig überfragt und haben keine Ahnung was das sein soll oder ob es für den weiblichen oder männlichen Gebrauch gedacht ist.
Sie hält mir eine Verpackung mit zwei pinken, aneinandergereihten Kugeln vor mein Gesicht und fragt:
>Was glaubst du wie sowas ist? <
>Keine Ahnung… aber solltest du es jemals ausprobieren, dann weiß ich, dass ich es von dir erfahren werde. Ganz gleich, ob ich will oder nicht. <
Grinsend boxt sie mir auf den Arm und bestätigt mir somit, was ich eben behauptet habe. In der Hinsicht ist es manchmal eigenartig eine beste Freundin zu haben. Man muss sich jedes noch so kleine Detail aus ihrem Liebesleben anhören und natürlich wird es von einem erwartet, dass man selbst auch sehr viel darüber redet.
Wir sind also ein offenes Buch für die andere. Jetzt haben rosa Plüschhandschellen ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
>Was hältst du davon? < will sie wissen und zeigt mir die Verpackung.
Ich nehme sie ihr ab und schaue auf die Bilder.
>Keine Ahnung. Ich meine, da ist Plüsch dran. <
>Ja klar, damit es nicht wehtut. <
>Aber ist das nicht eigentlich der Sinn dahinter, dass es wehtut? <
Damit scheint meine Freundin überfragt zu sein und stellt die Packung wieder weg, um den nächsten Gang entlangzugehen.
Grinsend drückt sie mir dort einen pinken Vibrator in die Hand mit den Worten „Wäre doch mal wieder dran, oder?“
Na danke auch.
>Wieso ist das ganze Zeug eigentlich immer in Pink? < frage ich verdutzt und sehe mich genauer in dem Laden um.
>Keine Ahnung. Vielleicht soll es die Frauen ansprechen. <
Irgendwann haben wir jedoch genug davon und hauen wieder ab, als Megs Neugier befriedigt ist.
Wir sind zum Schluss noch in einen weiteren Klamottenladen gegangen, in dem sich Megan nach ewiger Bedenkzeit eine Jeans gekauft hat. Solange sie überlegte, bin ich schnell in ein Lebensmittelgeschäft hineingelaufen und habe eine große Packung Mehl und Milch besorgt.
Vollkommen erledigt von diesen Shoppingstunden und mit schmerzenden Beinen, sitzen wir wieder im Auto. Ich lege das zart lilafarbene Oberteil auf meinen Schoß und breite es aus.
>Das sah echt toll aus. < erinnert mich meine Freundin.
>Danke. Das mache ich wirklich wieder gut. <
Megan winkt daraufhin mit einer Hand ab und fährt vom Parkplatz runter. Inzwischen ist deutlich mehr Verkehr auf den Straßen als heute Mittag. Die meisten Frühschichtmenschen haben wahrscheinlich gerade Feierabend und deswegen bewegt sich das Auto nur schleppend vorwärts. Gute zwanzig Minuten später biegen wir in die 5th Avenue hinein.
>Was machen wir denn hier? < frage ich überrumpelt.
>Wolltest du etwa schon nach Hause? <
>Nicht zwangsläufig. < murmle ich.
>Na dann los. Ich habe Hunger. <
Schnell schnalle ich mich ab und laufe ihr hinterher. Am Restaurant ihrer Eltern angekommen, verriegelt sie ihren Wagen und hält mir die Eingangstür auf. Hier riecht es nach Curry, Curcuma und Öl - alles was ich an diesem Laden liebe.
Immerhin habe ich meine halbe Kindheit hier drin verbracht.
Megan setzt sich schon selbstverständlich an ihren Tisch und wartet darauf, dass ich auch endlich Platz nehme.
Ihre Mutter Mandira kommt gerade mit einem Arm voller Teller heraus und bewirtschaftet ihre Gäste. Danach kommt sie in einem hübschen roten Sari zu uns gelaufen und nimmt mich in die Arme.
>Es ist so schön dich wiederzusehen. Ich gratuliere dir zu deinem Abschluss. < sagt sie in ihrem indischen Akzent. Da Megan in Amerika geboren ist, besitzt sie diesen gar nicht. Dabei finde ich, dass es total toll klingt.
>Danke. Das war ein hartes Stück Arbeit. < grinse ich zurück.
>Mama, so lange ist das gar nicht her. Nayeli war erst vor ein paar Wochen noch täglich zum Lernen da und letzten Mittwoch auch bei uns. <
>Siehst du. Das ist schon wieder viel zu lange her. Zeitweise wohnt da eine zweite Tochter bei mir und dann ist sie wieder verschwunden. <
Ich lache, weil ich es toll finde, wenn Mandira so etwas sagt. Ohne Megans Familie würde mir wahrscheinlich wirklich etwas fehlen.
>Ihr seid sicher durstig. Ich hole euch ein paar Mangolassis. <
Und schon ist sie mit wehendem Sari in ihrer Küche verschwunden. Wir bekommen hier inzwischen nicht einmal mehr Speisekarten, da wir sowieso immer das Gleiche essen.
>Ich weiß gar nicht wie viele Gerichte ich deinen Eltern inzwischen schon schuldig bin. < murmle ich geistesabwesend.
>Hör auf damit! Du bist ihnen überhaupt nichts schuldig. Sie tun das gerne… schon immer. <
>Ich weiß. Es ist nur immer noch komisch. <
>Wenn dich das zufrieden stimmt, dann musst du demnächst alles selbst bezahlen. Aber meine Eltern würden das Geld von dir sowieso nicht annehmen. <
>Das ist es ja, was ich befürchte. <
Hinter dem klappernden Vorhang aus vielen aneinandergereihten Holzstückchen, kommt Mandira zurück und stellt uns die Lassis auf den Tisch.
>Wie lief eigentlich dein Bewerbungsgespräch gestern? < will ich wissen.
>Schwer zu sagen. Ich hatte eigentlich kein schlechtes Gefühl aber wie es immer so ist… Die rücken halt nie mit der Sprache raus und sagen einfach „wir melden uns“.
Ich habe ja am Donnerstag noch das beim Verlag, vielleicht zeigen die ihr Interesse ja offener und es klappt. Aber wenn ich ehrlich bin, dann würde ich viel lieber in einem Museum arbeiten. <
Ich finde auch, dass meine Freundin dort besser hinpasst und hoffe, dass sie Glück bei dieser Stelle hat. Der erste Job ist immer etwas Besonderes.
Ohne dass wir irgendetwas bestellen mussten, serviert mir Megans Vater mit einem Augenzwinkern, mein geliebtes Butterchicken und seiner Tochter wie immer Lamm Biryani.
Ich genieße diesen Tag mit ihr in vollen Zügen nach all der Lernerei und vor allem nach dem gestrigen Gespräch mit meinen Eltern. Ich habe es nahezu in all den Stunden geschafft, diesen Gedanken zu verdrängen. Hoffentlich hat mich meine Mutter nicht angelogen und diese Schulden sind mit einem Festgehalt mehr endlich ausradiert. Mir ist das Ganze so unangenehm, dass ich es nicht meiner besten Freundin sagen kann.
Als Megan und ich alles bis auf den letzten Krümel Reis im Magen haben, glauben wir fast zu platzen. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Meg´s Vater Rohan heimlichtuerisch mit zwei kleinen Schalen zu uns herankommt und sie auf unserem Tisch abstellt. Heute trägt er einen gewickelten grünen Turban mit gleichfarbigem, längerem Hemd. Im selben indischen Akzent wie seine Frau sagt er:
>Das ist eine ganz neue Idee von mir. Kostet es und sagt mir, ob wir es in die Karte mit aufnehmen sollen. <
>Was ist das? < will meine Freundin wissen.
>Das ist indisches Eis aus Milch, Sahne, Safran, Mandeln, Pistazien und Kardamom. < erklärt Rohan.
>Bäh Papa. Kardamom im Eis? Das kann doch nicht schmecken. <
>Na los, kostet es. < fordert er uns auf und legt uns zwei Löffel hin.
Ich bin vollkommen satt aber den Gefallen tu ich ihm gerne noch. Genauso wie Megan schmunzle ich auch über das Gewürz im Eis.
Wir nehmen beide eine Kostprobe, lassen sie auf der Zunge zergehen … und sind sprachlos. Wir starren erst uns an, dann Rohan und dann unsere Schüssel Eis, um noch mehr davon zu verdrücken.
>Und was sagt ihr? < will er wissen.
>Kann nicht reden, muss essen. < schmatzt Megan.
>Das ist verdammt lecker. < schmachte ich. >Das muss unbedingt auf die Karte. <