Fingerabdrücke bleiben
von Lynnix
Kurzbeschreibung
Nayeli genießt ihre letzte Woche als Studentin und lebt mit ihrer indianisch stämmigen Familie in einem alten Haus neben den Klippen des Superior Lakes. Sie kann es kaum erwarten ihren künftigen Job anzutreten, mit dem ihr eine aussichtsreiche Zukunft bevorsteht. Trotz Strapazen empfindet sie ihr Leben als perfekt aber was sie bis zu dem Zeitpunkt noch nicht weiß ist, dass ihr Vater eine große Last mit sich herumschleppt, dessen Folgen ihr den Boden unter den Füßen wegreißen werden. Die junge Frau lernt jemanden kennen, von dem sie noch nicht weiß, ob er Freund oder Feind ist. Plötzlich ist sie auf fremde Hilfe angewiesen, muss hinter Masken sehen, verstehen wie korrupt das Land ist, in dem sie lebt und auf schmerzhafte Weise Stück für Stück erfahren, wie tief ihr Vater in die Ereignisse verstrickt war. Sie muss Entscheidungen treffen, von denen sie glaubte, so etwas niemals tun zu müssen. Aber wie weit muss sie gehen um Schmerzen und Verlust zu überwinden?
GeschichteDrama, Krimi / P16 / Gen
23.02.2018
25.11.2021
129
578.228
7
Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
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18.01.2019
4.961
Kapitel 10 - Zweisam
Umso länger ich in Grand Portage bin, desto mehr Details offenbaren sich mir zu den Tagen, an denen ich wegen meiner Verletzungen nicht bei Bewusstsein war. Dass Sam mir sogar einen Liter seines Universalblutes gegeben hat, war das Letzte, das ich gedacht hätte. Jetzt hätte er es selbst ganz gut gebrauchen können.
>Wie wäre es, wenn du einfach mal einen Tag lang auf der Couch verbringst, anstatt gleich wieder unter Dauerstrom zu sein? Wir haben gestern den ganzen Nachmittag trainiert. Das ist okay für mich. Ab morgen habe ich sowieso wieder Schule. < versichere ich ihm, obwohl ich liebend gern ein paar Dinge mit ihm üben möchte. Aber auf keinen Fall in seinem Zustand.
>Keine Widerrede Kleines. Du musst mehr schießen, um sicherer zu werden. < hält er dagegen und läuft aus der Küche, die Treppe nach oben.
>Lässt du dir eigentlich jemals was sagen? < rufe ich zu ihm hoch.
Ich höre ihn lediglich lachen und in sein Zimmer verschwinden. Kurz darauf hat er sich einen Pulli mit Schalkragen übergezogen, der an ihm echt gut aussieht und kommt wieder zu mir nach unten.
>Wenn zwei sture Böcke aufeinandertreffen, was passiert dann? < frage ich ihn provokant.
>Einer von beiden ist durchsetzungsfähiger und gewinnt. In dem Fall ich. <
Schon geht er zur Tür raus und lässt mich stehen. Widerwillig folge ich ihm, aber wenn er mit etwas anderem anfängt als mit dem Schießen, dann ziehe ich ihm die Ohren lang.
Ich weiß, dass er bereits in seiner Schießhalle ist, auch wenn ich ihn nicht sehen kann. Heute ist es wieder sehr bewölkt, windig und kühl, daher flitze ich schnell zu ihm.
Einen Moment später trete ich durch die Tür und sehe, wie er die Munition auf dem Tisch verstreut. Er braucht überhaupt nichts zu sagen, denn ich weiß, was er von mir erwartet. Also schnappe ich mir kommentarlos eine Patronenkammer und befülle sie bis oben hin mit Munition. Das Gleiche mache ich mit der Zweiten, lasse das Magazin schließlich in die Pistole einrasten und entsichere sie. Sam gibt mir wieder seinen Gürtel mit dem Hoster und ich verstaue die Waffe darin.
>Wir machen es so wie gestern. Du nimmst die Hände hoch und wenn ich pfeife, zielst und schießt du. Zweimal aus dem Stand und dreimal aus den Knien. Dann die Waffe wieder zurückstecken. < bestimmt Sam.
>Ich tue überhaupt nichts, solange du hier herumstehst. Also hinsetzen! < meckere ich. Sam verdreht etwas amüsiert die Augen und setzt sich auf den Tisch in der Mitte der Halle.
>Dann los, ich drehe Däumchen und bilde neue Blutkörperchen, während du übst. Zufrieden? <
>Nicht wirklich, aber zumindest ist es ein Kompromiss. <
Ich stehe bereit und weiß, dass ich sofort loslegen muss. Mein Welpenschutz mit den Plastikkugeln ist wohl endgültig vorbei. Sam pfeift und ich gehe meinen Ablauf durch. Etwas zu spät ziehe ich die Waffe, zögere eine Sekunde und kneife bei dem ersten Schuss die Augen zusammen. „Egal“, denke ich und gebe den zweiten Schuss aus dem Stand ab, sowie die drei Weiteren aus den Knien heraus. Zum Ende stehe ich wieder mit weggesteckter Waffe aufrecht.
>Die ersten beiden Schüsse waren totaler Mist, aber die letzten drei ganz okay. Wenn ich allerdings an gestern denke, dann ist das ein ziemlicher Fortschritt, weil du nicht wieder blockiert hast. Mach es nochmal. < nuschelt Sam und tippt sich gedankenverloren an die Lippe.
Ich hingegen starre bloß auf seinen Mund, auf dem er noch herumtippt und reagiere nicht. War er wirklich schon so weggetreten als er mich küsste? Dann sagt er irgendetwas zu mir, worauf ich überhaupt nicht achte.
>Hä? < frage ich verpeilt und schüttele meinen Kopf.
>Was ist denn mit dir los? < feixt er. >Ich sagte, du sollst deine Grundhaltung einnehmen. <
>Entschuldige, ich war gerade woanders. <
Danach tue ich einfach wieder was er sagt und bin tatsächlich bedeutend besser als gestern. Nicht was meine Zielgenauigkeit betrifft, sondern was meine Angst vor einer echten Waffe angeht. Ich bemühe mich meinen Kopf auszuschalten und Sam hat absolut recht damit, dass ich perfekt sein könnte, wenn der Rest meines Körpers von Beginn an voll dabei ist.
Er lässt mich nicht nur mit der Pistole schießen, sondern gibt mir so ziemlich alles aus seinem Waffenarsenal, das tauglich für diese Halle ist. Irgendwie verbinde ich ein Gewehr mit meinem Dad. Ich habe davor bei weitem nicht so viel Angst, obwohl das ja vollkommener Blödsinn ist. Gefährlich ist jede Waffe, vollkommen egal wie lang der Lauf oder wie groß das Projektil ist. Aber es ist so, als stünde mein Dad hinter mir, der ein paar alte, rostige Dosen platziert hat, damit ich aus Spaß üben konnte. Wir haben das nur heimlich getan, während meine Mum mit Iye bei einer Elternversammlung oder einer Freundin war. Wenn mein Dad jetzt sehen könnte, was in mir steckt, dann weiß ich nicht was er jetzt sagen würde. Damals war es Spaß, heute ist es Ernst.
Ich stelle mir plötzlich bildlich seine Mörder vor und erkenne nicht mehr das Ziel vor mir, sondern nur ihre Gesichter. Den schwarzen Punkt in der Mitte versuche ich gar nicht mehr zu treffen, sondern ich schieße die Reihen der Ringe nach oben. Dort wo ich mir ihren Körper vorstelle und ihnen einfach nur vertikal die Kugel von unten nach oben hineinjagen würde. Es knallt und knallt und knallt. Schließlich klickt meine Waffe, weil die Munition leer ist und ich komme erst wieder zu mir.
>Wow. Das hättest du mit einem Lineal nicht besser machen können. < japst Sam. Ich sehe was er meint. Die Löcher gehen beinahe perfekt in einer Linie nach oben. >An was hast du gerade gedacht? < fragt er mit verschränkten Armen und zusammengezogenen Augenbrauen.
>An Raphael McCurdy und diesem Taliban. Die beiden waren die eigentlichen Mörder. Ich glaube Dimech stand bloß Schmiere. <
Daraufhin presst Sam die Lippen aufeinander und rutscht vorsichtig von dem Tisch hinunter, von dem er unter normalen Umständen gesprungen wäre.
>Dann will ich, dass du diese Kerle jedes Mal vor Augen hast, wenn du kämpfst, wenn du schießt und selbst wenn du die blöde Theorie lernst. Sie treiben dich an. <
Ich nicke und seufze. Sam streckt seine Hand aus und ich reiche ihm seine Waffe zurück. >Ich denke, das reicht für heute. Du solltest nach der gestrigen Nacht vielleicht etwas Ruhe bekommen. <
>Pah! < lache ich. >Und du? Du müsstest dich mal sehen. Dein Gesicht ist ziemlich blass. <
>Keine Sorge, es geht mir gut. Aber ich glaube, ich werde mich mal aufs Ohr hauen. <
>Ist auch besser so. Wirklich lange hast du nicht geschlafen. < wende ich ein und sammle die leeren Patronenhülsen im Sand auf.
>Dafür aber wie ein Stein. Dass manche Leute von Morphium abhängig werden, kann ich völlig verstehen. Da ist einem so ziemlich alles egal und man schwebt auf Wolken. <
>Und man weiß nicht mehr was man tut. < murmle ich und denke wieder an diesen Kuss.
>Dafür habe ich ja dich, damit du mir wieder auf die Sprünge hilfst. < erwidert er breit grinsend.
>Du hast in Unterwäsche auf dem Tisch getanzt. <
>Wenn ich das mit meiner Wunde getan hätte, dann wäre ich wohl grün und blau von dir. <
Ich ziehe grinsend einen Mundwinkel hoch. Das stimmt allerdings. Aber das, was er jetzt eben mit mir veranstaltet hat, ist auch nicht wirklich besser.
>Du Sam? < frage ich jetzt wesentlich vorsichtiger und in meiner Stimme schwingt ganz eindeutig Missbilligung mit. >Du gehst heute aber nicht arbeiten, oder? <
Als er bereits auf dem Weg zum Ausgang ist, bleibt er stehen und schaut zu mir.
>Nein Kleines, du musst morgen wieder zur Schule und ich habe ein paar andere Dinge zu erledigen. Aber wegen der gestrigen Nacht solltest du eines nicht vergessen: Ich bekam gestern zwar eine neue Narbe, aber eine junge Frau hat dafür ihr Leben behalten, die sich der Kerl schnappen wollte. Das ist doch ein ziemlich kleiner Preis, den ich dafür gezahlt habe. <
>Wenn es nur bei einer Narbe bleibt, kann man damit leben. Sterben solltest du dafür aber nicht. <
Er kommt ein paar Schritte zu mir, legt den Arm über meine Schultern und schiebt mich vorwärts zur Tür.
>Ich bin beim nächsten Mal vorsichtiger. < versichert er mir. Dann schließt er die Tür und geht mit mir zusammen zum Haus.
Das ist eben sein Job, aber ich hoffe, dass es kein nächstes Mal geben wird und es nicht so endet, wie vergangene Nacht.
Etwas später
Ich finde es gut, dass Sam´s Erschöpfungszustand ihn zwingt, etwas ruhiger zu treten und er jetzt oben in seinem Zimmer ist. Hoffentlich schläft er auch wirklich und sitzt nicht an dem iMac. Ich bin aber nicht seine Mutter und will ihm nicht hinterherschnüffeln. Auf jeden Fall kann ich sicher sein, dass er nicht irgendwelche heiklen und körperlich anstrengenden Dinge tut.
Da er nun aber nicht bei mir ist, ist mir relativ schnell langweilig. Ich setze mich auf sein Sofa – weit weg von der Stelle, auf der er die vergangene Nacht lag. Sie ist zwar komplett unbefleckt aber es ist dennoch seltsam. In meinen Händen habe ich meinen Block und lasse den Fernseher nebenbei leise laufen.
Im Grunde brauche ich nichts mehr auswendig zu lernen. Ich habe es gestern und vorgestern schon gemacht und der Stoff von zwei Tagen ist in meinem Kopf hängen geblieben.
Ich denke an das, was Cataley und Lukaz zu mir gesagt haben. Meine Technik ist etwas unsauber und mir fehlt die Routine. Das habe ich gestern mit Sam gesehen. Wie oft lag er am Boden? Ich glaube nur einmal. Wie oft lag ich dort? Hundertmal?
Die Theorie ist kein Problem aber die Praxis könnte mein Feind werden. Nach dreißig Minuten habe ich mir im Grunde alles selbst vorgeflüstert, was vor mir geschrieben steht und ich klappe das Geschriebene wieder zu.
Also zappe ich etwas durch die Programme und bleibe schließlich bei CNN hängen. Eine Gangschießerei forderte in New Orleans die Leben von drei Menschen, wobei sieben schwerverletzt wurden. Offenbar wurde blind in eine Menschenmenge geschossen. Das ist die offizielle Version. Und die Inoffizielle? Ich selbst weiß zur Genüge, wie schnell Fakten vollkommen verdreht werden können und daher frage ich mich ernsthaft, wie viel Glauben man in die Medien stecken kann. Was ist, wenn so ziemlich jeder zweite Bericht verfälscht ist? Niemand kann das herausfinden.
Wer war es, der meinen Fall so verzogen hat und mich unglaubwürdig machte? Es kann niemand dieser Männer gewesen sein, der mit mir direkt zu tun hatte. War es irgendeiner bei der Polizei der für Mischa De Angelis arbeitet oder ihm zumindest noch einen Gefallen schuldig war? Ich schalte weiter durch das Programm, das von Sam ziemlich gut sortiert wurde. Sämtliche Nachrichten- und Infosender sind ganz am Anfang. Dokus gleich danach und alles was ihn eher weniger interessiert, hat er nach hinten in die Liste verbannt. Die Berichte, die ich einschalte, sind alle ähnlich. Es gibt Tote oder häufig Verletzte und es sind fast immer Geschosse im Spiel.
Man kann diese Welt nicht zu einem besseren Ort machen, weil es einfach zu viele Menschen gibt, die anderen Menschen schaden wollen. Aber man kann die Anzahl der Morde und der anderen Vorfälle mithilfe von Leuten wie Sam und eines Tages auch mir etwas eindämmen. Ich schalte den Fernseher aus und lege meine Unterlagen auf dem Couchtisch ab. Noch länger will ich hier nicht herumsitzen und ich brauche Sam nicht um zu trainieren. In meinem Zimmer ziehe ich mich aus und schlinge mir ein Handtuch um die Brust. So bekleidet laufe ich mit trockenen Klamotten unter meinem Arm zum Lake, sehe mich aus einem Reflex heraus um und werfe das alles auf den Baumstamm.
Mit zusammengebissenen Zähnen springe ich in den kühlen Lake hinein und versuche mit schnellen Zügen meine Armmuskeln zu trainieren. Ich brauche definitiv mehr Kraft und ich muss schneller werden. Das Schwimmen ist nur mein Aufwärmprogramm. Ich trainiere unter Wasser meine Schlagtechniken, die ich gelernt habe. Es ist viel anstrengender durch das verdrängende Wasser und ich bin wahnsinnig langsam, aber das ist nur logisch. Ich tauche unter und mache es so wie Cataley es mir am Freitag zeigte. Mein Arm muss gestreckt nach vorn gehen und ich muss gleichzeitig mit der Schulter meine Gesichtshälfte schützen. Noch denke ich viel darüber nach was ich tun muss, aber irgendwann soll ich es blind tun und es sollte so einfach sein wie atmen.
Sam ist auch dann noch nicht wach, als ich nach über einer Stunde wieder aus dem Wasser komme. Jedenfalls ist er bisher nicht aus dem Haus gekommen und ich konnte ihn auch nicht an einem der Fenster sehen. Noch dazu ist es verdammt ruhig. Ich steige mit wahrscheinlich blauen Lippen aus, weil das Wasser so kühl ist. Das Handtuch schwinge ich mir eilig über und versuche mich halbwegs trocken zu bekommen, damit ich in meine Klamotten einsteigen kann. Das Tuch lasse ich auf dem Baumstamm liegen und jogge sofort los. Mir ist so kalt, dass ich das Gefühl habe, meine Beine sind zu steif um richtig loslaufen zu können. Dieses Gefühl wird sich in wenigen Minuten bestimmt gegeben haben.
Laufen ist mal mein Element gewesen und ich weiß, dass ich das normalerweise besser könnte, aber dieses blöde verletzte Bein ist zu hinderlich. Meine Ausdauer hat mir womöglich vor drei Wochen mein Leben gerettet, auch wenn sie jetzt ein paar Kratzer abbekommen hat.
Meine Kraft und meine Kondition werden zurückkommen und dann macht euch gefasst Mischa, Phillipe, Raphael und Taliban.
Ich gebe mein Bestes, aber halte es nicht so lange aus wie das Schwimmen, also laufe ich keuchend zurück und komme schon bald wieder bei Sam's Haus an. Wahrscheinlich schläft er immer noch oder vielleicht ist er auch an seinem Computer. An sich bin ich gerade so in Trainingslaune, dass ich noch nicht wieder hineingehen will. Eher aus Langeweile umkreise ich sein Haus und sehe, dass das Schloss an seinem Nebengelass gar nicht eingerastet ist.
Vielleicht war es Absicht, damit ich freiwillig dort üben kann oder er hat es einfach vergessen. Ich ziehe das Schloss raus und öffne die Tür. Die Spinde habe ich bisher noch nie verschlossen gesehen also schaue ich hinein, was er alles dort drin hat. Neben den Air Soft Pistolen – die mein bester Freund sind, liegt auch die Munition, Pfefferspray, einer von diesen fiesen Schockern – den Cataley an Cruisi gehalten hat und jede Menge eingetüteter Papierziele. Ich finde darin nicht nur die kreisrunden, die ich hier immer benutze, sondern auch die, die den Umriss von Personen haben, wie wir sie in der Schule benutzen. Ein Schrank weiter liegt ein Boxsack am Boden. Das ist ja cool. Sofort suche ich die Halle nach einem Karabinerhaken ab und werde fündig. Der Boxsack wiegt schätzungsweise um die fünfundzwanzig Kilo und ist daher nicht so schwer, wie die im Quartier. Das Aufhängen gestaltet sich allein trotzdem alles andere als einfach, aber nach mehreren Anläufen schaffe ich es endlich. Davon bin ich eigentlich schon fix und alle.
Zumindest ist mein Körper ausreichend aufgewärmt. Leider habe ich keine bandagierten Hände wie in der Schule, aber die habe ich bei meinem ersten Einsatz sicherlich auch nicht. Also wie war das? Breiter Stand, gerade Schläge, möglichst viel den Körper drehen und wenig Energie aus nur einem einzigen Muskel aufwenden.
Ich tue es so, wie es noch in meinem Kopf ist und in der Reihenfolge, die ich Cataley erst kürzlich aufgesagt habe. Irgendwie will das dennoch nicht so richtig klappen. Es fühlt sich irgendwie anders an als im Training, aber zumindest bewegt sich der Boxsack hier richtig, weil er leichter ist. Die Kette daran scheppert bei jedem Schlag oder Tritt und der Aufprall hört sich zumindest an, als würde ich etwas tun. Aber dennoch ist es ziemlich laut. Leiser zuschlagen kann ich allerdings nicht.
Etwa zehn Minuten darauf höre ich neben meinem Gekeuche ein paar Schritte und danach das Knarren die Tür. Atemlos drehe ich mich dort hin.
>Wie bist du hier reingekommen? < fragt Sam und läuft zu mir.
>Das Schloss war offen. Ich wusste nicht, ob es Absicht von dir war. <
>Nein eigentlich nicht. Da siehst du mal wie du mich ablenkst. < grinst er.
>Tja also jetzt bist eher du derjenige, der mich ablenkt. < kontere ich.
Er nimmt sich eine meiner nassen Haarsträhnen und sieht mich stirnrunzelnd an.
>Warst du etwa bei der Kälte schwimmen? Oh schon klar, dir war wieder langweilig. < Unschuldig zucke ich mit den Schultern. Das Herumliegen ist eben nicht mein Ding. >Okay, dann zeig mir was du geübt hast! < fordert er mich auf und läuft zu dem Boxsack.
>Da wirst du dich wahrscheinlich schlapp lachen. <
Aber inzwischen ist mir vor Sam so ziemlich nichts mehr zu doof. Ich weiß, dass er mir ja nur helfen will und seine Kritik nehme ich hundertmal lieber an, als die von Cataley. Bei ihr bin ich mir nicht immer so sicher, ob sie einfach nur gerade schlechte Laune hat. Ich präsentiere ihm das, was ich gelernt habe. Höflicherweise hält er sich erstmal zurück und lacht mich zumindest nicht aus. Jetzt wo er neben mir steht, versuche ich alles zu geben und höre schließlich irgendwann keuchend auf. Ich stemme meine Hände auf meine Knie und warte auf seine Beurteilung.
>Na los, vernichte mich! Was habe ich falsch gemacht? < will ich wissen.
>Gar nicht mal so viel, aber man sieht eben, dass du ein Anfänger bist. Das ist noch vollkommen normal. Allerdings ist mir gerade und auch gestern schon aufgefallen, dass du immer nach oben siehst. Guck deiner Zielperson nicht ins Gesicht, schaue ihr auf die Schulter. Auf der Brust siehst du die Bewegung, die sie machen wird. Erst dann kannst du auch auf die nächsten Schritte reagieren. Hier sieh mal …<
In Zeitlupe führt er einen angedeuteten Schlag zu meinem Gesicht aus und ich sehe was er meint. Die Schulter zeigt deutlich die zukünftigen Schläge an.
>Das ist ein ziemlich brauchbarer Einwand. < erwidere ich verblüfft.
>Dann übe das vor dem Spiegel und lerne erstmal die Technik, damit sie sauber ist. Und lern für den Anfang gerade zu schlagen, bevor du alles andere machst. Mit geraden Wegen rechnet keiner und vor allem sind sie oftmals viel gefährlicher. Viele Gegner machen immer gern diese ausholenden Schwinger, weil sie denken, dann mehr Kraft zu haben. Die geraden Wege sind allerdings kurz und präzise, dass die Typen viel eher schlafen gehen. <
Ich versuche direkt das zu tun, was er mir erklärt hat. Okay ein Boxsack hat jetzt vielleicht keine Schulter so wie ein Mensch, aber ich gewöhne damit sofort mir an, dorthin zu sehen, wo normalerweise eine wäre. Alle Fehler, die Sam sofort ausmerzt, können später nicht zu meiner blöden Angewohnheit werden.
Er steht eigentlich nur mit verschränkten Armen in meiner Nähe und macht hier und da ein paar Anmerkungen. Ich bin richtig stolz auf ihn, dass er sich selbst nicht als Versuchskaninchen hinstellt. Oder hat er vielleicht zu große Schmerzen, dass er nicht mal auf die Idee kommen würde?
Automatisch halte ich bei dem Gedanken inne und sehe kurz zu ihm.
>Wie geht es dir eigentlich, nachdem du geschlafen hast? <
>Gut, aber das war vorher auch kaum anders. Allerdings musste ich vor ein paar Minuten niesen und das war echt mies an der Bauchnaht. <
Ich gluckse, auch wenn das eigentlich nicht lustig ist, aber seine lässige Tonart dabei hilft irgendwie, das Ganze nicht mehr so eng zu sehen. Ich finde jedenfalls er sieht besser aus und immerhin läuft er normal, ohne eine gekrümmte Haltung einzunehmen. Entweder hat er sich eine Tablette eingeworfen oder er ist tatsächlich härter im Nehmen und ich müsste mir gar nicht so viele Gedanken um ihn machen.
Ich kreise meine Schulter einige Male, weil meine Wunde auf der Rückseite inzwischen wieder brennt. Die Dusche ruft bereits laut und deutlich meinen Namen.
>Gerade hast du mich mit den Dingen gefoltert, in denen du gut bist. Aber wenn ich geduscht habe, dann zeige ich dir, in was ich gut bin. Dann bist du derjenige, der meine Befehle ausführen muss. Du hast dich beim letzten Mal nämlich erfolgreich um den Koch-Crash-Kurs gedrückt. <
>Du grinst so teuflisch, wenn du das sagst. Das gefällt mir nicht. <
Feixend laufe ich an ihm vorbei und lasse ihn mit bangem Blick stehen. Er läuft mir eilig nach, schließt seine Tür dieses Mal richtig und ruft mir hinterher als ich schon fast am Haus bin:
>Ich kann Spiegeleier und Bacon braten. Ach ja und Kaffee kochen. Wenn das mal keine Qualitäten sind. <
>So zufrieden wie du grinst, meinst du das wahrscheinlich auch noch ernst. <
Er lacht, beschleunigt eilig um vor mir an der Tür zu sein und öffnet sie mir.
Im Flur stelle ich meine Schuhe ab und laufe auf direktem Weg ins Bad. So saukalt wie das Wasser zu Anfang war, wurde es draußen allmählich immer heißer und seine Halle heizt sich relativ schnell auf. In diesem Jahr spielt das Wetter besonders verrückt. Immerhin haben wir Hochsommer. Erst vor kurzem hatten wir 9 °C in der Nacht und bei all dem Regen und Gewitter, das hier des Öfteren tobt, fühlt es sich eher wie Oktober an und nicht wie Ende Juli.
Nach dem Duschen föhne ich mir eilig die Haare und mache währenddessen gedanklich einen Schlachtplan für Sam. Vielleicht fangen wir mit etwas Leichtem an. Als ich soweit trocken bin, ziehe ich mir in meinem Zimmer etwas drüber und suche dann meinen Gastgeber. Ich finde ihn in seinem Wohnzimmer.
>Wieso schließt du dich in letzter Zeit eigentlich im Bad ein? < fragt Sam und kommt mir zuvor, ehe ich etwas sagen kann.
>Grinse nicht so. Du weißt genau warum. <
>Hast du Angst vor mir? <
>Nein, aber ich will dich nicht nochmal in der Dusche hinter mir haben. <
Er lacht schnaubend, stellt seinen Laptop auf den Couchtisch und steht schließlich auf, um ein paar Schritte auf mich zuzulaufen.
>Lieber vor dir? < fragt er ernst, aber sein Mundwinkel zuckt leicht und mir ist klar, dass er sich wieder über meine Reaktion amüsieren will.
>Was ist, wenn ich „ja“ sage, würdest du dann wieder kneifen? < ich setze mein durchtriebenstes Lächeln auf. Das blöde Spiel kann ich auch mitspielen.
>Was heißt hier „wieder“? Ich habe nicht vorgehabt noch mehr mit dir anzustellen. <
„Leider“ denke ich sehnsüchtig, aber würde mir im nächsten Moment am liebsten gegen die Stirn klatschen.
>Komm schon, reden wir nicht so einen Blödsinn. Ich habe vor, dich in die Mangel zu nehmen Mister. <
Nervös streiche ich mir mein Haar nach hinten und drehe ihm den Rücken zu. Diese Minuten unter der Dusche sind nach wie vor noch ein sehr heikles Thema wie ich finde.
In der Küche hole ich schon mal eine Pfanne und sämtliches anderes Zeug hervor. Sam kommt dazu und tut artig genau das, was ich ihm sage. Er macht den Teig für die Wraps, während ich ihm ein paar Anweisungen gebe. Ich wasche einige Tomaten ab und schaue gerade noch im richtigen Moment zu ihm rüber.
>Stopp! Nicht so viel Salz! < rufe ich und schaffe es gerade noch ihm die Dose zu entreißen.
>Du hast gesagt, das muss daran. <
>Aber kein halbes Kilo. <
Er grinst unschuldig und lässt mich schnell den Rest zusammenrühren.
>Du bist eine Gefahr für dich selbst. < nuschle ich.
>Hey dafür habe ich andere Talente. <
>Das stimmt. < ich greife rüber zu der Seite, auf der ich eben noch stand und lege ihm alles vor die Nase. >Hier, mit Messern kannst du doch sicher umgehen. < wende ich ein und reiche ihm eines davon, sowie eine Rispe Tomaten.
>Das ist schon eher mein Ding. < feixt er und legt los.
Und so beginnt er, der Crashkurs im Kochen. Vielleicht sollte ich Sam „Kochen für DUMMIES“ besorgen, wenn ich meine erste Prämie bekommen habe. Wir sollten das allerdings wirklich häufiger tun, denn eigentlich macht das wirklich Spaß mit ihm.
Die Wraps mache ich dann allerdings doch lieber selbst in der Pfanne, bevor noch mehr Katastrophen passieren. Er hingegen soll so eine Art Chili con carne machen, womit wir die Teigfladen füllen. Als er mal einen Moment nicht hinguckt, schmecke ich es schnell ab und fange immer beiläufig an, eine Prise hiervon oder davon hineinzugeben. Die fertigen Teigfladen lasse ich abkühlen und sehe ihm bei den letzten Handgriffen zu, als er noch eine Dose Mais hineinkippt.
>Musstet ihr euch bei der Army nicht selbst verpflegen? Wie hast du da überlebt? <
>„Verpflegen“ ist zu viel gesagt. Wir waren vollbepackt mit Aluschalen, wo wir nur eine Folie abgezogen hatten. Zu trinken gab es Wasser mit Brausepulver und wenn es mal was ganz Besonderes sein sollte, dann haben wir Brühwürfel ins heiße Wasser geworfen. Ansonsten wurde bei uns im Lager gekocht. <
>Und ich dachte schon, ihr habt euch Heuschrecken in die Pfanne gehauen oder Skorpione lebend gegessen. <
>Solche Soldaten hat man tatsächlich manchmal dabei. <
Die Vorstellung einen Hund oder eine Katze zu essen finde ich schon widerlich genug. Wenn ich dann auch noch an Insekten oder Kriechtiere denke … bähh.
Ich stelle zwei weitere Teller raus und positioniere jeweils einen Wrap darauf.
>Also dann, sieh zu und lerne. < dirigiere ich und lege los.
Die Chili con Carne mache ich mittig von unten nach oben auf den Fladen und zeige ihm, wie man die Dinger faltet. Er macht es mir nach und sein Zweiter gelingt ihm immerhin besser. Damit ziehen wir rüber zum Küchentisch und machen uns über das Essen her.
Eines muss Sam im Laufe dieses Tages definitiv zugeben. Er ist ziemlich erledigt und heute nicht zu Höchstleistungen bereit. Vielleicht ist es immer noch eine Nachwirkung des Morphiums, dass er so viel Schlaf braucht. Früher als gewöhnlich verabschiedet er sich von mir und geht bereits nach oben in sein Bad. Ich tue das Gleiche im Erdgeschoss, aber brauche nicht lang. In meinem provisorischen Zimmer packe ich alles für morgen zusammen in den Rucksack und ziehe mich dann um.
Ich finde es nicht verkehrt, heute mal früher schlafen zu gehen, da mich die vergangene Nacht ebenfalls ziemlich auf Trab gehalten hat. Allerdings liege ich nur eine ganze Minute in meinem Bett und stehe dann wieder auf.
Ich laufe mit meiner Bettdecke und meinem Kissen nach oben zu Sam und schiebe mit meinem Fuß die Tür auf.
Er dreht sich verwundert zu mir um, steht mit freiem Oberkörper im Raum und tippt an seinem Smartphone herum.
>Ist dir in deinem Zimmer unten zu kalt? < grinst er und nickt zu der Bettwäsche.
>Nein. Wie ich dich kenne, würdest du niemals sagen, wenn es dir schlechter geht. Aber falls du in der Nacht Fieber bekommst oder fantasierst, dann werde ich das mitbekommen. Ob du willst oder nicht. <
>Wie uneigennützig. < säuselt er amüsiert und greift hinter sich zu seinem Schreibtisch, während ich das Bettzeug abwerfe. >Dann kannst du mir vielleicht helfen. <
Er greift zu einem neuen Gazeverband und einem Wundspray. Wortlos laufe ich auf ihn zu und versuche seine Haut am Bauch ein wenig mit meiner Hand zu straffen, damit ich ihm an der Wunde nicht wehtue und ziehe den alten Verband runter.
>Das sieht … <
> …gar nicht mal so übel aus. < vervollständigt er. Das stimmt. Zumindest habe ich es mir schlimmer vorgestellt. Aus seinem Bad hole ich einen feuchten Lappen mit warmem Wasser und knie mich vor ihm hin, um vorsichtig ein paar Blutreste wegzutupfen.
>Vielleicht lässt du dir das von einem Chirurgen lieber nochmal nachbessern. <
>Unsinn, das wird schon. <
Ich sehe zu ihm hoch, während ich das Desinfektionsspray schüttle. Mir fällt auf, wie er dabei meine Beine mustert. Sie sind immerhin frei, bis sein T-Shirt den oberen Teil meiner Oberschenkel bedeckt. Wie war das nochmal? Er liebt Frauen und dann auch noch welche mit schönen Beinen und langen Haaren. Als ich mir das Kichern verkneifen muss, sprühe ich das Spray auf seine Wunde und er japst unterdrückt, während er schon zur Decke schielt anstatt zu mir. Dieses Teufelszeug brennt wie Feuer, aber es ist nun mal notwendig. Mit meiner Hand fächere ich etwas Luft zu, damit das Brennen schnell vergeht und klebe ihm danach wieder etwas auf seine Haut. Die verbrauchten Sachen werfe ich unten weg und wasche mir die Hände, ehe ich wieder nach oben tapse.
Er sitzt schon auf der Matratze, aber spielt noch an dem Smartphone herum.
Da sein Einbaubett in einer Nische auf den Zentimeter genau eingepfercht ist, muss ich halb über ihn drüber krabbeln, um auf die andere Seite zu kommen.
Wieder schielt er zu mir, als ich mich soeben zudecke und mich dann mit dem Gesicht in das Kissen fallen lasse. Ich umarme es noch zusätzlich, weil es so wundervoll weich ist. Dem Geräusch nach, legt Sam sein Telefon auf den Nachttisch und steht nochmal auf, um das Deckenlicht auszustellen.
Kurz darauf legt er sich tief seufzend auf den Rücken. Allerdings nicht für lange, denn er dreht sich zu mir und sein Brustkorb kommt näher an meine Flanke. Seine Hand geht über mich auf die andere Seite zu meinem Rippenbogen. Ich drehe mich in seinem Arm zu ihm hin und spüre seinen ruhigen Atem auf meiner Stirn.
Exakt dort haucht er mir einen unschuldigen Kuss hin und nuschelt:
>Schlaf gut Kleines. <
Umso länger ich in Grand Portage bin, desto mehr Details offenbaren sich mir zu den Tagen, an denen ich wegen meiner Verletzungen nicht bei Bewusstsein war. Dass Sam mir sogar einen Liter seines Universalblutes gegeben hat, war das Letzte, das ich gedacht hätte. Jetzt hätte er es selbst ganz gut gebrauchen können.
>Wie wäre es, wenn du einfach mal einen Tag lang auf der Couch verbringst, anstatt gleich wieder unter Dauerstrom zu sein? Wir haben gestern den ganzen Nachmittag trainiert. Das ist okay für mich. Ab morgen habe ich sowieso wieder Schule. < versichere ich ihm, obwohl ich liebend gern ein paar Dinge mit ihm üben möchte. Aber auf keinen Fall in seinem Zustand.
>Keine Widerrede Kleines. Du musst mehr schießen, um sicherer zu werden. < hält er dagegen und läuft aus der Küche, die Treppe nach oben.
>Lässt du dir eigentlich jemals was sagen? < rufe ich zu ihm hoch.
Ich höre ihn lediglich lachen und in sein Zimmer verschwinden. Kurz darauf hat er sich einen Pulli mit Schalkragen übergezogen, der an ihm echt gut aussieht und kommt wieder zu mir nach unten.
>Wenn zwei sture Böcke aufeinandertreffen, was passiert dann? < frage ich ihn provokant.
>Einer von beiden ist durchsetzungsfähiger und gewinnt. In dem Fall ich. <
Schon geht er zur Tür raus und lässt mich stehen. Widerwillig folge ich ihm, aber wenn er mit etwas anderem anfängt als mit dem Schießen, dann ziehe ich ihm die Ohren lang.
Ich weiß, dass er bereits in seiner Schießhalle ist, auch wenn ich ihn nicht sehen kann. Heute ist es wieder sehr bewölkt, windig und kühl, daher flitze ich schnell zu ihm.
Einen Moment später trete ich durch die Tür und sehe, wie er die Munition auf dem Tisch verstreut. Er braucht überhaupt nichts zu sagen, denn ich weiß, was er von mir erwartet. Also schnappe ich mir kommentarlos eine Patronenkammer und befülle sie bis oben hin mit Munition. Das Gleiche mache ich mit der Zweiten, lasse das Magazin schließlich in die Pistole einrasten und entsichere sie. Sam gibt mir wieder seinen Gürtel mit dem Hoster und ich verstaue die Waffe darin.
>Wir machen es so wie gestern. Du nimmst die Hände hoch und wenn ich pfeife, zielst und schießt du. Zweimal aus dem Stand und dreimal aus den Knien. Dann die Waffe wieder zurückstecken. < bestimmt Sam.
>Ich tue überhaupt nichts, solange du hier herumstehst. Also hinsetzen! < meckere ich. Sam verdreht etwas amüsiert die Augen und setzt sich auf den Tisch in der Mitte der Halle.
>Dann los, ich drehe Däumchen und bilde neue Blutkörperchen, während du übst. Zufrieden? <
>Nicht wirklich, aber zumindest ist es ein Kompromiss. <
Ich stehe bereit und weiß, dass ich sofort loslegen muss. Mein Welpenschutz mit den Plastikkugeln ist wohl endgültig vorbei. Sam pfeift und ich gehe meinen Ablauf durch. Etwas zu spät ziehe ich die Waffe, zögere eine Sekunde und kneife bei dem ersten Schuss die Augen zusammen. „Egal“, denke ich und gebe den zweiten Schuss aus dem Stand ab, sowie die drei Weiteren aus den Knien heraus. Zum Ende stehe ich wieder mit weggesteckter Waffe aufrecht.
>Die ersten beiden Schüsse waren totaler Mist, aber die letzten drei ganz okay. Wenn ich allerdings an gestern denke, dann ist das ein ziemlicher Fortschritt, weil du nicht wieder blockiert hast. Mach es nochmal. < nuschelt Sam und tippt sich gedankenverloren an die Lippe.
Ich hingegen starre bloß auf seinen Mund, auf dem er noch herumtippt und reagiere nicht. War er wirklich schon so weggetreten als er mich küsste? Dann sagt er irgendetwas zu mir, worauf ich überhaupt nicht achte.
>Hä? < frage ich verpeilt und schüttele meinen Kopf.
>Was ist denn mit dir los? < feixt er. >Ich sagte, du sollst deine Grundhaltung einnehmen. <
>Entschuldige, ich war gerade woanders. <
Danach tue ich einfach wieder was er sagt und bin tatsächlich bedeutend besser als gestern. Nicht was meine Zielgenauigkeit betrifft, sondern was meine Angst vor einer echten Waffe angeht. Ich bemühe mich meinen Kopf auszuschalten und Sam hat absolut recht damit, dass ich perfekt sein könnte, wenn der Rest meines Körpers von Beginn an voll dabei ist.
Er lässt mich nicht nur mit der Pistole schießen, sondern gibt mir so ziemlich alles aus seinem Waffenarsenal, das tauglich für diese Halle ist. Irgendwie verbinde ich ein Gewehr mit meinem Dad. Ich habe davor bei weitem nicht so viel Angst, obwohl das ja vollkommener Blödsinn ist. Gefährlich ist jede Waffe, vollkommen egal wie lang der Lauf oder wie groß das Projektil ist. Aber es ist so, als stünde mein Dad hinter mir, der ein paar alte, rostige Dosen platziert hat, damit ich aus Spaß üben konnte. Wir haben das nur heimlich getan, während meine Mum mit Iye bei einer Elternversammlung oder einer Freundin war. Wenn mein Dad jetzt sehen könnte, was in mir steckt, dann weiß ich nicht was er jetzt sagen würde. Damals war es Spaß, heute ist es Ernst.
Ich stelle mir plötzlich bildlich seine Mörder vor und erkenne nicht mehr das Ziel vor mir, sondern nur ihre Gesichter. Den schwarzen Punkt in der Mitte versuche ich gar nicht mehr zu treffen, sondern ich schieße die Reihen der Ringe nach oben. Dort wo ich mir ihren Körper vorstelle und ihnen einfach nur vertikal die Kugel von unten nach oben hineinjagen würde. Es knallt und knallt und knallt. Schließlich klickt meine Waffe, weil die Munition leer ist und ich komme erst wieder zu mir.
>Wow. Das hättest du mit einem Lineal nicht besser machen können. < japst Sam. Ich sehe was er meint. Die Löcher gehen beinahe perfekt in einer Linie nach oben. >An was hast du gerade gedacht? < fragt er mit verschränkten Armen und zusammengezogenen Augenbrauen.
>An Raphael McCurdy und diesem Taliban. Die beiden waren die eigentlichen Mörder. Ich glaube Dimech stand bloß Schmiere. <
Daraufhin presst Sam die Lippen aufeinander und rutscht vorsichtig von dem Tisch hinunter, von dem er unter normalen Umständen gesprungen wäre.
>Dann will ich, dass du diese Kerle jedes Mal vor Augen hast, wenn du kämpfst, wenn du schießt und selbst wenn du die blöde Theorie lernst. Sie treiben dich an. <
Ich nicke und seufze. Sam streckt seine Hand aus und ich reiche ihm seine Waffe zurück. >Ich denke, das reicht für heute. Du solltest nach der gestrigen Nacht vielleicht etwas Ruhe bekommen. <
>Pah! < lache ich. >Und du? Du müsstest dich mal sehen. Dein Gesicht ist ziemlich blass. <
>Keine Sorge, es geht mir gut. Aber ich glaube, ich werde mich mal aufs Ohr hauen. <
>Ist auch besser so. Wirklich lange hast du nicht geschlafen. < wende ich ein und sammle die leeren Patronenhülsen im Sand auf.
>Dafür aber wie ein Stein. Dass manche Leute von Morphium abhängig werden, kann ich völlig verstehen. Da ist einem so ziemlich alles egal und man schwebt auf Wolken. <
>Und man weiß nicht mehr was man tut. < murmle ich und denke wieder an diesen Kuss.
>Dafür habe ich ja dich, damit du mir wieder auf die Sprünge hilfst. < erwidert er breit grinsend.
>Du hast in Unterwäsche auf dem Tisch getanzt. <
>Wenn ich das mit meiner Wunde getan hätte, dann wäre ich wohl grün und blau von dir. <
Ich ziehe grinsend einen Mundwinkel hoch. Das stimmt allerdings. Aber das, was er jetzt eben mit mir veranstaltet hat, ist auch nicht wirklich besser.
>Du Sam? < frage ich jetzt wesentlich vorsichtiger und in meiner Stimme schwingt ganz eindeutig Missbilligung mit. >Du gehst heute aber nicht arbeiten, oder? <
Als er bereits auf dem Weg zum Ausgang ist, bleibt er stehen und schaut zu mir.
>Nein Kleines, du musst morgen wieder zur Schule und ich habe ein paar andere Dinge zu erledigen. Aber wegen der gestrigen Nacht solltest du eines nicht vergessen: Ich bekam gestern zwar eine neue Narbe, aber eine junge Frau hat dafür ihr Leben behalten, die sich der Kerl schnappen wollte. Das ist doch ein ziemlich kleiner Preis, den ich dafür gezahlt habe. <
>Wenn es nur bei einer Narbe bleibt, kann man damit leben. Sterben solltest du dafür aber nicht. <
Er kommt ein paar Schritte zu mir, legt den Arm über meine Schultern und schiebt mich vorwärts zur Tür.
>Ich bin beim nächsten Mal vorsichtiger. < versichert er mir. Dann schließt er die Tür und geht mit mir zusammen zum Haus.
Das ist eben sein Job, aber ich hoffe, dass es kein nächstes Mal geben wird und es nicht so endet, wie vergangene Nacht.
Etwas später
Ich finde es gut, dass Sam´s Erschöpfungszustand ihn zwingt, etwas ruhiger zu treten und er jetzt oben in seinem Zimmer ist. Hoffentlich schläft er auch wirklich und sitzt nicht an dem iMac. Ich bin aber nicht seine Mutter und will ihm nicht hinterherschnüffeln. Auf jeden Fall kann ich sicher sein, dass er nicht irgendwelche heiklen und körperlich anstrengenden Dinge tut.
Da er nun aber nicht bei mir ist, ist mir relativ schnell langweilig. Ich setze mich auf sein Sofa – weit weg von der Stelle, auf der er die vergangene Nacht lag. Sie ist zwar komplett unbefleckt aber es ist dennoch seltsam. In meinen Händen habe ich meinen Block und lasse den Fernseher nebenbei leise laufen.
Im Grunde brauche ich nichts mehr auswendig zu lernen. Ich habe es gestern und vorgestern schon gemacht und der Stoff von zwei Tagen ist in meinem Kopf hängen geblieben.
Ich denke an das, was Cataley und Lukaz zu mir gesagt haben. Meine Technik ist etwas unsauber und mir fehlt die Routine. Das habe ich gestern mit Sam gesehen. Wie oft lag er am Boden? Ich glaube nur einmal. Wie oft lag ich dort? Hundertmal?
Die Theorie ist kein Problem aber die Praxis könnte mein Feind werden. Nach dreißig Minuten habe ich mir im Grunde alles selbst vorgeflüstert, was vor mir geschrieben steht und ich klappe das Geschriebene wieder zu.
Also zappe ich etwas durch die Programme und bleibe schließlich bei CNN hängen. Eine Gangschießerei forderte in New Orleans die Leben von drei Menschen, wobei sieben schwerverletzt wurden. Offenbar wurde blind in eine Menschenmenge geschossen. Das ist die offizielle Version. Und die Inoffizielle? Ich selbst weiß zur Genüge, wie schnell Fakten vollkommen verdreht werden können und daher frage ich mich ernsthaft, wie viel Glauben man in die Medien stecken kann. Was ist, wenn so ziemlich jeder zweite Bericht verfälscht ist? Niemand kann das herausfinden.
Wer war es, der meinen Fall so verzogen hat und mich unglaubwürdig machte? Es kann niemand dieser Männer gewesen sein, der mit mir direkt zu tun hatte. War es irgendeiner bei der Polizei der für Mischa De Angelis arbeitet oder ihm zumindest noch einen Gefallen schuldig war? Ich schalte weiter durch das Programm, das von Sam ziemlich gut sortiert wurde. Sämtliche Nachrichten- und Infosender sind ganz am Anfang. Dokus gleich danach und alles was ihn eher weniger interessiert, hat er nach hinten in die Liste verbannt. Die Berichte, die ich einschalte, sind alle ähnlich. Es gibt Tote oder häufig Verletzte und es sind fast immer Geschosse im Spiel.
Man kann diese Welt nicht zu einem besseren Ort machen, weil es einfach zu viele Menschen gibt, die anderen Menschen schaden wollen. Aber man kann die Anzahl der Morde und der anderen Vorfälle mithilfe von Leuten wie Sam und eines Tages auch mir etwas eindämmen. Ich schalte den Fernseher aus und lege meine Unterlagen auf dem Couchtisch ab. Noch länger will ich hier nicht herumsitzen und ich brauche Sam nicht um zu trainieren. In meinem Zimmer ziehe ich mich aus und schlinge mir ein Handtuch um die Brust. So bekleidet laufe ich mit trockenen Klamotten unter meinem Arm zum Lake, sehe mich aus einem Reflex heraus um und werfe das alles auf den Baumstamm.
Mit zusammengebissenen Zähnen springe ich in den kühlen Lake hinein und versuche mit schnellen Zügen meine Armmuskeln zu trainieren. Ich brauche definitiv mehr Kraft und ich muss schneller werden. Das Schwimmen ist nur mein Aufwärmprogramm. Ich trainiere unter Wasser meine Schlagtechniken, die ich gelernt habe. Es ist viel anstrengender durch das verdrängende Wasser und ich bin wahnsinnig langsam, aber das ist nur logisch. Ich tauche unter und mache es so wie Cataley es mir am Freitag zeigte. Mein Arm muss gestreckt nach vorn gehen und ich muss gleichzeitig mit der Schulter meine Gesichtshälfte schützen. Noch denke ich viel darüber nach was ich tun muss, aber irgendwann soll ich es blind tun und es sollte so einfach sein wie atmen.
Sam ist auch dann noch nicht wach, als ich nach über einer Stunde wieder aus dem Wasser komme. Jedenfalls ist er bisher nicht aus dem Haus gekommen und ich konnte ihn auch nicht an einem der Fenster sehen. Noch dazu ist es verdammt ruhig. Ich steige mit wahrscheinlich blauen Lippen aus, weil das Wasser so kühl ist. Das Handtuch schwinge ich mir eilig über und versuche mich halbwegs trocken zu bekommen, damit ich in meine Klamotten einsteigen kann. Das Tuch lasse ich auf dem Baumstamm liegen und jogge sofort los. Mir ist so kalt, dass ich das Gefühl habe, meine Beine sind zu steif um richtig loslaufen zu können. Dieses Gefühl wird sich in wenigen Minuten bestimmt gegeben haben.
Laufen ist mal mein Element gewesen und ich weiß, dass ich das normalerweise besser könnte, aber dieses blöde verletzte Bein ist zu hinderlich. Meine Ausdauer hat mir womöglich vor drei Wochen mein Leben gerettet, auch wenn sie jetzt ein paar Kratzer abbekommen hat.
Meine Kraft und meine Kondition werden zurückkommen und dann macht euch gefasst Mischa, Phillipe, Raphael und Taliban.
Ich gebe mein Bestes, aber halte es nicht so lange aus wie das Schwimmen, also laufe ich keuchend zurück und komme schon bald wieder bei Sam's Haus an. Wahrscheinlich schläft er immer noch oder vielleicht ist er auch an seinem Computer. An sich bin ich gerade so in Trainingslaune, dass ich noch nicht wieder hineingehen will. Eher aus Langeweile umkreise ich sein Haus und sehe, dass das Schloss an seinem Nebengelass gar nicht eingerastet ist.
Vielleicht war es Absicht, damit ich freiwillig dort üben kann oder er hat es einfach vergessen. Ich ziehe das Schloss raus und öffne die Tür. Die Spinde habe ich bisher noch nie verschlossen gesehen also schaue ich hinein, was er alles dort drin hat. Neben den Air Soft Pistolen – die mein bester Freund sind, liegt auch die Munition, Pfefferspray, einer von diesen fiesen Schockern – den Cataley an Cruisi gehalten hat und jede Menge eingetüteter Papierziele. Ich finde darin nicht nur die kreisrunden, die ich hier immer benutze, sondern auch die, die den Umriss von Personen haben, wie wir sie in der Schule benutzen. Ein Schrank weiter liegt ein Boxsack am Boden. Das ist ja cool. Sofort suche ich die Halle nach einem Karabinerhaken ab und werde fündig. Der Boxsack wiegt schätzungsweise um die fünfundzwanzig Kilo und ist daher nicht so schwer, wie die im Quartier. Das Aufhängen gestaltet sich allein trotzdem alles andere als einfach, aber nach mehreren Anläufen schaffe ich es endlich. Davon bin ich eigentlich schon fix und alle.
Zumindest ist mein Körper ausreichend aufgewärmt. Leider habe ich keine bandagierten Hände wie in der Schule, aber die habe ich bei meinem ersten Einsatz sicherlich auch nicht. Also wie war das? Breiter Stand, gerade Schläge, möglichst viel den Körper drehen und wenig Energie aus nur einem einzigen Muskel aufwenden.
Ich tue es so, wie es noch in meinem Kopf ist und in der Reihenfolge, die ich Cataley erst kürzlich aufgesagt habe. Irgendwie will das dennoch nicht so richtig klappen. Es fühlt sich irgendwie anders an als im Training, aber zumindest bewegt sich der Boxsack hier richtig, weil er leichter ist. Die Kette daran scheppert bei jedem Schlag oder Tritt und der Aufprall hört sich zumindest an, als würde ich etwas tun. Aber dennoch ist es ziemlich laut. Leiser zuschlagen kann ich allerdings nicht.
Etwa zehn Minuten darauf höre ich neben meinem Gekeuche ein paar Schritte und danach das Knarren die Tür. Atemlos drehe ich mich dort hin.
>Wie bist du hier reingekommen? < fragt Sam und läuft zu mir.
>Das Schloss war offen. Ich wusste nicht, ob es Absicht von dir war. <
>Nein eigentlich nicht. Da siehst du mal wie du mich ablenkst. < grinst er.
>Tja also jetzt bist eher du derjenige, der mich ablenkt. < kontere ich.
Er nimmt sich eine meiner nassen Haarsträhnen und sieht mich stirnrunzelnd an.
>Warst du etwa bei der Kälte schwimmen? Oh schon klar, dir war wieder langweilig. < Unschuldig zucke ich mit den Schultern. Das Herumliegen ist eben nicht mein Ding. >Okay, dann zeig mir was du geübt hast! < fordert er mich auf und läuft zu dem Boxsack.
>Da wirst du dich wahrscheinlich schlapp lachen. <
Aber inzwischen ist mir vor Sam so ziemlich nichts mehr zu doof. Ich weiß, dass er mir ja nur helfen will und seine Kritik nehme ich hundertmal lieber an, als die von Cataley. Bei ihr bin ich mir nicht immer so sicher, ob sie einfach nur gerade schlechte Laune hat. Ich präsentiere ihm das, was ich gelernt habe. Höflicherweise hält er sich erstmal zurück und lacht mich zumindest nicht aus. Jetzt wo er neben mir steht, versuche ich alles zu geben und höre schließlich irgendwann keuchend auf. Ich stemme meine Hände auf meine Knie und warte auf seine Beurteilung.
>Na los, vernichte mich! Was habe ich falsch gemacht? < will ich wissen.
>Gar nicht mal so viel, aber man sieht eben, dass du ein Anfänger bist. Das ist noch vollkommen normal. Allerdings ist mir gerade und auch gestern schon aufgefallen, dass du immer nach oben siehst. Guck deiner Zielperson nicht ins Gesicht, schaue ihr auf die Schulter. Auf der Brust siehst du die Bewegung, die sie machen wird. Erst dann kannst du auch auf die nächsten Schritte reagieren. Hier sieh mal …<
In Zeitlupe führt er einen angedeuteten Schlag zu meinem Gesicht aus und ich sehe was er meint. Die Schulter zeigt deutlich die zukünftigen Schläge an.
>Das ist ein ziemlich brauchbarer Einwand. < erwidere ich verblüfft.
>Dann übe das vor dem Spiegel und lerne erstmal die Technik, damit sie sauber ist. Und lern für den Anfang gerade zu schlagen, bevor du alles andere machst. Mit geraden Wegen rechnet keiner und vor allem sind sie oftmals viel gefährlicher. Viele Gegner machen immer gern diese ausholenden Schwinger, weil sie denken, dann mehr Kraft zu haben. Die geraden Wege sind allerdings kurz und präzise, dass die Typen viel eher schlafen gehen. <
Ich versuche direkt das zu tun, was er mir erklärt hat. Okay ein Boxsack hat jetzt vielleicht keine Schulter so wie ein Mensch, aber ich gewöhne damit sofort mir an, dorthin zu sehen, wo normalerweise eine wäre. Alle Fehler, die Sam sofort ausmerzt, können später nicht zu meiner blöden Angewohnheit werden.
Er steht eigentlich nur mit verschränkten Armen in meiner Nähe und macht hier und da ein paar Anmerkungen. Ich bin richtig stolz auf ihn, dass er sich selbst nicht als Versuchskaninchen hinstellt. Oder hat er vielleicht zu große Schmerzen, dass er nicht mal auf die Idee kommen würde?
Automatisch halte ich bei dem Gedanken inne und sehe kurz zu ihm.
>Wie geht es dir eigentlich, nachdem du geschlafen hast? <
>Gut, aber das war vorher auch kaum anders. Allerdings musste ich vor ein paar Minuten niesen und das war echt mies an der Bauchnaht. <
Ich gluckse, auch wenn das eigentlich nicht lustig ist, aber seine lässige Tonart dabei hilft irgendwie, das Ganze nicht mehr so eng zu sehen. Ich finde jedenfalls er sieht besser aus und immerhin läuft er normal, ohne eine gekrümmte Haltung einzunehmen. Entweder hat er sich eine Tablette eingeworfen oder er ist tatsächlich härter im Nehmen und ich müsste mir gar nicht so viele Gedanken um ihn machen.
Ich kreise meine Schulter einige Male, weil meine Wunde auf der Rückseite inzwischen wieder brennt. Die Dusche ruft bereits laut und deutlich meinen Namen.
>Gerade hast du mich mit den Dingen gefoltert, in denen du gut bist. Aber wenn ich geduscht habe, dann zeige ich dir, in was ich gut bin. Dann bist du derjenige, der meine Befehle ausführen muss. Du hast dich beim letzten Mal nämlich erfolgreich um den Koch-Crash-Kurs gedrückt. <
>Du grinst so teuflisch, wenn du das sagst. Das gefällt mir nicht. <
Feixend laufe ich an ihm vorbei und lasse ihn mit bangem Blick stehen. Er läuft mir eilig nach, schließt seine Tür dieses Mal richtig und ruft mir hinterher als ich schon fast am Haus bin:
>Ich kann Spiegeleier und Bacon braten. Ach ja und Kaffee kochen. Wenn das mal keine Qualitäten sind. <
>So zufrieden wie du grinst, meinst du das wahrscheinlich auch noch ernst. <
Er lacht, beschleunigt eilig um vor mir an der Tür zu sein und öffnet sie mir.
Im Flur stelle ich meine Schuhe ab und laufe auf direktem Weg ins Bad. So saukalt wie das Wasser zu Anfang war, wurde es draußen allmählich immer heißer und seine Halle heizt sich relativ schnell auf. In diesem Jahr spielt das Wetter besonders verrückt. Immerhin haben wir Hochsommer. Erst vor kurzem hatten wir 9 °C in der Nacht und bei all dem Regen und Gewitter, das hier des Öfteren tobt, fühlt es sich eher wie Oktober an und nicht wie Ende Juli.
Nach dem Duschen föhne ich mir eilig die Haare und mache währenddessen gedanklich einen Schlachtplan für Sam. Vielleicht fangen wir mit etwas Leichtem an. Als ich soweit trocken bin, ziehe ich mir in meinem Zimmer etwas drüber und suche dann meinen Gastgeber. Ich finde ihn in seinem Wohnzimmer.
>Wieso schließt du dich in letzter Zeit eigentlich im Bad ein? < fragt Sam und kommt mir zuvor, ehe ich etwas sagen kann.
>Grinse nicht so. Du weißt genau warum. <
>Hast du Angst vor mir? <
>Nein, aber ich will dich nicht nochmal in der Dusche hinter mir haben. <
Er lacht schnaubend, stellt seinen Laptop auf den Couchtisch und steht schließlich auf, um ein paar Schritte auf mich zuzulaufen.
>Lieber vor dir? < fragt er ernst, aber sein Mundwinkel zuckt leicht und mir ist klar, dass er sich wieder über meine Reaktion amüsieren will.
>Was ist, wenn ich „ja“ sage, würdest du dann wieder kneifen? < ich setze mein durchtriebenstes Lächeln auf. Das blöde Spiel kann ich auch mitspielen.
>Was heißt hier „wieder“? Ich habe nicht vorgehabt noch mehr mit dir anzustellen. <
„Leider“ denke ich sehnsüchtig, aber würde mir im nächsten Moment am liebsten gegen die Stirn klatschen.
>Komm schon, reden wir nicht so einen Blödsinn. Ich habe vor, dich in die Mangel zu nehmen Mister. <
Nervös streiche ich mir mein Haar nach hinten und drehe ihm den Rücken zu. Diese Minuten unter der Dusche sind nach wie vor noch ein sehr heikles Thema wie ich finde.
In der Küche hole ich schon mal eine Pfanne und sämtliches anderes Zeug hervor. Sam kommt dazu und tut artig genau das, was ich ihm sage. Er macht den Teig für die Wraps, während ich ihm ein paar Anweisungen gebe. Ich wasche einige Tomaten ab und schaue gerade noch im richtigen Moment zu ihm rüber.
>Stopp! Nicht so viel Salz! < rufe ich und schaffe es gerade noch ihm die Dose zu entreißen.
>Du hast gesagt, das muss daran. <
>Aber kein halbes Kilo. <
Er grinst unschuldig und lässt mich schnell den Rest zusammenrühren.
>Du bist eine Gefahr für dich selbst. < nuschle ich.
>Hey dafür habe ich andere Talente. <
>Das stimmt. < ich greife rüber zu der Seite, auf der ich eben noch stand und lege ihm alles vor die Nase. >Hier, mit Messern kannst du doch sicher umgehen. < wende ich ein und reiche ihm eines davon, sowie eine Rispe Tomaten.
>Das ist schon eher mein Ding. < feixt er und legt los.
Und so beginnt er, der Crashkurs im Kochen. Vielleicht sollte ich Sam „Kochen für DUMMIES“ besorgen, wenn ich meine erste Prämie bekommen habe. Wir sollten das allerdings wirklich häufiger tun, denn eigentlich macht das wirklich Spaß mit ihm.
Die Wraps mache ich dann allerdings doch lieber selbst in der Pfanne, bevor noch mehr Katastrophen passieren. Er hingegen soll so eine Art Chili con carne machen, womit wir die Teigfladen füllen. Als er mal einen Moment nicht hinguckt, schmecke ich es schnell ab und fange immer beiläufig an, eine Prise hiervon oder davon hineinzugeben. Die fertigen Teigfladen lasse ich abkühlen und sehe ihm bei den letzten Handgriffen zu, als er noch eine Dose Mais hineinkippt.
>Musstet ihr euch bei der Army nicht selbst verpflegen? Wie hast du da überlebt? <
>„Verpflegen“ ist zu viel gesagt. Wir waren vollbepackt mit Aluschalen, wo wir nur eine Folie abgezogen hatten. Zu trinken gab es Wasser mit Brausepulver und wenn es mal was ganz Besonderes sein sollte, dann haben wir Brühwürfel ins heiße Wasser geworfen. Ansonsten wurde bei uns im Lager gekocht. <
>Und ich dachte schon, ihr habt euch Heuschrecken in die Pfanne gehauen oder Skorpione lebend gegessen. <
>Solche Soldaten hat man tatsächlich manchmal dabei. <
Die Vorstellung einen Hund oder eine Katze zu essen finde ich schon widerlich genug. Wenn ich dann auch noch an Insekten oder Kriechtiere denke … bähh.
Ich stelle zwei weitere Teller raus und positioniere jeweils einen Wrap darauf.
>Also dann, sieh zu und lerne. < dirigiere ich und lege los.
Die Chili con Carne mache ich mittig von unten nach oben auf den Fladen und zeige ihm, wie man die Dinger faltet. Er macht es mir nach und sein Zweiter gelingt ihm immerhin besser. Damit ziehen wir rüber zum Küchentisch und machen uns über das Essen her.
Eines muss Sam im Laufe dieses Tages definitiv zugeben. Er ist ziemlich erledigt und heute nicht zu Höchstleistungen bereit. Vielleicht ist es immer noch eine Nachwirkung des Morphiums, dass er so viel Schlaf braucht. Früher als gewöhnlich verabschiedet er sich von mir und geht bereits nach oben in sein Bad. Ich tue das Gleiche im Erdgeschoss, aber brauche nicht lang. In meinem provisorischen Zimmer packe ich alles für morgen zusammen in den Rucksack und ziehe mich dann um.
Ich finde es nicht verkehrt, heute mal früher schlafen zu gehen, da mich die vergangene Nacht ebenfalls ziemlich auf Trab gehalten hat. Allerdings liege ich nur eine ganze Minute in meinem Bett und stehe dann wieder auf.
Ich laufe mit meiner Bettdecke und meinem Kissen nach oben zu Sam und schiebe mit meinem Fuß die Tür auf.
Er dreht sich verwundert zu mir um, steht mit freiem Oberkörper im Raum und tippt an seinem Smartphone herum.
>Ist dir in deinem Zimmer unten zu kalt? < grinst er und nickt zu der Bettwäsche.
>Nein. Wie ich dich kenne, würdest du niemals sagen, wenn es dir schlechter geht. Aber falls du in der Nacht Fieber bekommst oder fantasierst, dann werde ich das mitbekommen. Ob du willst oder nicht. <
>Wie uneigennützig. < säuselt er amüsiert und greift hinter sich zu seinem Schreibtisch, während ich das Bettzeug abwerfe. >Dann kannst du mir vielleicht helfen. <
Er greift zu einem neuen Gazeverband und einem Wundspray. Wortlos laufe ich auf ihn zu und versuche seine Haut am Bauch ein wenig mit meiner Hand zu straffen, damit ich ihm an der Wunde nicht wehtue und ziehe den alten Verband runter.
>Das sieht … <
> …gar nicht mal so übel aus. < vervollständigt er. Das stimmt. Zumindest habe ich es mir schlimmer vorgestellt. Aus seinem Bad hole ich einen feuchten Lappen mit warmem Wasser und knie mich vor ihm hin, um vorsichtig ein paar Blutreste wegzutupfen.
>Vielleicht lässt du dir das von einem Chirurgen lieber nochmal nachbessern. <
>Unsinn, das wird schon. <
Ich sehe zu ihm hoch, während ich das Desinfektionsspray schüttle. Mir fällt auf, wie er dabei meine Beine mustert. Sie sind immerhin frei, bis sein T-Shirt den oberen Teil meiner Oberschenkel bedeckt. Wie war das nochmal? Er liebt Frauen und dann auch noch welche mit schönen Beinen und langen Haaren. Als ich mir das Kichern verkneifen muss, sprühe ich das Spray auf seine Wunde und er japst unterdrückt, während er schon zur Decke schielt anstatt zu mir. Dieses Teufelszeug brennt wie Feuer, aber es ist nun mal notwendig. Mit meiner Hand fächere ich etwas Luft zu, damit das Brennen schnell vergeht und klebe ihm danach wieder etwas auf seine Haut. Die verbrauchten Sachen werfe ich unten weg und wasche mir die Hände, ehe ich wieder nach oben tapse.
Er sitzt schon auf der Matratze, aber spielt noch an dem Smartphone herum.
Da sein Einbaubett in einer Nische auf den Zentimeter genau eingepfercht ist, muss ich halb über ihn drüber krabbeln, um auf die andere Seite zu kommen.
Wieder schielt er zu mir, als ich mich soeben zudecke und mich dann mit dem Gesicht in das Kissen fallen lasse. Ich umarme es noch zusätzlich, weil es so wundervoll weich ist. Dem Geräusch nach, legt Sam sein Telefon auf den Nachttisch und steht nochmal auf, um das Deckenlicht auszustellen.
Kurz darauf legt er sich tief seufzend auf den Rücken. Allerdings nicht für lange, denn er dreht sich zu mir und sein Brustkorb kommt näher an meine Flanke. Seine Hand geht über mich auf die andere Seite zu meinem Rippenbogen. Ich drehe mich in seinem Arm zu ihm hin und spüre seinen ruhigen Atem auf meiner Stirn.
Exakt dort haucht er mir einen unschuldigen Kuss hin und nuschelt:
>Schlaf gut Kleines. <