Fingerabdrücke bleiben
von Lynnix
Kurzbeschreibung
Nayeli genießt ihre letzte Woche als Studentin und lebt mit ihrer indianisch stämmigen Familie in einem alten Haus neben den Klippen des Superior Lakes. Sie kann es kaum erwarten ihren künftigen Job anzutreten, mit dem ihr eine aussichtsreiche Zukunft bevorsteht. Trotz Strapazen empfindet sie ihr Leben als perfekt aber was sie bis zu dem Zeitpunkt noch nicht weiß ist, dass ihr Vater eine große Last mit sich herumschleppt, dessen Folgen ihr den Boden unter den Füßen wegreißen werden. Die junge Frau lernt jemanden kennen, von dem sie noch nicht weiß, ob er Freund oder Feind ist. Plötzlich ist sie auf fremde Hilfe angewiesen, muss hinter Masken sehen, verstehen wie korrupt das Land ist, in dem sie lebt und auf schmerzhafte Weise Stück für Stück erfahren, wie tief ihr Vater in die Ereignisse verstrickt war. Sie muss Entscheidungen treffen, von denen sie glaubte, so etwas niemals tun zu müssen. Aber wie weit muss sie gehen um Schmerzen und Verlust zu überwinden?
GeschichteDrama, Krimi / P16 / Gen
23.02.2018
25.11.2021
129
578.228
7
Alle Kapitel
102 Reviews
102 Reviews
Dieses Kapitel
1 Review
1 Review
04.01.2019
5.720
Kapitel 08 - Gefühlsachterbahn
*TRIGGERWARNUNG!*
Der Inhalt des folgenden Kapitels kann bei vereinzelten Personen eventuell emotional aufwühlend und belastend wirken.
Sam macht sich bereits an seinem Schloss zu schaffen und winkt mich dann durch die Tür durch.
>Warte hier. Ich bin gleich da. < befiehlt er.
Ich nicke und sehe ihm nach. Unbewusst wische ich mit meiner Hand über meinen immer noch kribbelnden Hals und laufe weiter vorwärts zu den Zielen. Vom letzten Mal sehe ich noch wo das Papier dem Druck der kleinen Plastikkugeln nicht standgehalten hat. Ein paar Minuten später höre ich, wie die Tür einen Spalt hinter mir aufgeht. Sam kommt zurück mit mehreren Waffen und kleinen Schachteln in der Hand. Er legt alles auf dem Tisch in der Mitte ab und ich runzle die Stirn als ich sehe, was er da anschleppt.
>Moment mal. Das ist doch das Zeug aus deinem Keller, oder? <
>Ganz genau. < schmunzelt er.
>Wieso lässt du mich nicht weiter mit den Soft Air-Pistolen üben? <
>Weil mir Lukaz gesagt hat, dass du in einer Starre bist, bevor du vernünftig schießt. Er hat es gestern von der anderen Seite aus gesehen, als er die dritte Stufe trainiert hat. Das musst du wirklich ablegen, denn beim Schießen geht es ums schnell sein. <
Na der ist ja eine tolle Petze, denke ich. An dieser Schule wird wohl nichts geheim bleiben, wenn es um meine Fortschritte geht.
>Ich befinde mich in dieser Starre, weil alle um mich herum anfangen zu schießen. Dieses laute Knallen der anderen Waffen macht mich nervös. < gebe ich zu.
>Du verbindest das Geräusch unterschwellig mit dieser Nacht. <
>Schätze schon. < erwidere ich achselzuckend.
>Du hast dafür keine Zeit, dich davon zurückhalten zu lassen. Denk niemals zu lange nach, wenn du handeln musst. <
Er war dreimal im Auslandseinsatz, wo ihm die Kugeln wahrscheinlich um die Ohren geflogen sind und wo man wie ferngesteuert reagieren muss. Das beherrsche ich weit weitem nicht so wie er.
>Hier. Laden und entsichern! < sagt er und legt mir eine Pistole auf den Holztisch mit der nötigen Munition.
Ich tue was er sagt und muss dabei überhaupt nicht überlegen, da mir diese Handgriffe vollkommen geläufig sind. Es wird nur schwer eine echte Waffe abzufeuern.
>Wenn du das erste Mal deinen Auftrag hast und die Zielperson jagst, dann ist deine Waffe aus Zeitgründen niemals gesichert, also ist sie sofort einsatzbereit. Meistens kooperieren die Leute, wenn mehrere Bounty Hunter am Ort des Geschehens sind, aber häufig rasten sie auch vollkommen aus. Wenn es dazu kommt, dann muss es dir egal sein was mit ihm passiert und du wirst im schlimmsten Fall schießen. Und wenn es so weit ist, dann musst du schnell sein. <
Ohne mir zu erklären was er vorhat, öffnet er seinen Gürtel und zieht ihn aus seinen Schlaufen heraus. Dann legt er ihn mir um, befestigt ein Holster für die Waffe daran und steckt die Pistole hinein, dass sie sich an meiner rechten Hüfte befindet.
>Schrittstellung einnehmen und Hände in die Luft nehmen. Wenn ich pfeife, dann ziehst du deine Waffe so schnell du kannst und zielst zweimal aus dem Stand und dreimal aus den Knien. Wenn du das getan hast, dann steckst du die Waffe zurück und nimmst die Hände wieder nach oben. < dirigiert Sam, worauf ich nicke.
Ich nehme die Haltung ein, die er von mir sehen will und warte auf sein Zeichen.
Sobald sein Pfiff ertönt, ziehe ich mit Verzögerung die Waffe heraus und halte sie vor meinen Körper. Hier drin sind keine Plastikkugeln wie mir wieder einfällt. Mein Zeigefinger reagiert nicht, er zuckt nur.
>Zu lange gezögert. Steck die Waffe zurück. < sagt Sam, als ich mich nicht überwinden kann zu schießen. Ich tue es und kurz darauf pfeift er erneut. Dieses Mal ziehe ich zumindest die Pistole schneller und drücke meinen Finger etwas auf den Abzug, allerdings nicht kräftig genug um ihn auszulösen.
>Steck sie zurück! < wiederholt Sam dieses Mal verstimmter.
>Es tut mir leid. < keuche ich. Daraufhin geht er von mir weg zu den Spinden und holt eine der Soft-Air-Waffen heraus. Er reicht sie mir und wir tauschen die Waffen. Auf seinen Pfiff hin zücke ich die unechte Waffe, schieße zweimal im Stand und dreimal aus den Knien, um sie dann wieder wegzustecken. Ich treffe dabei perfekt.
>Du hast wirklich ein Kopfproblem. < murmelt Sam. Das weiß ich schon die ganze Zeit. Die kleinen Plastikkugeln in den unechten Waffen machen lediglich ein kurzes und dumpfes „Puff“. >Mach es nochmal. Dann bekommst du wenigstens die Übungen mit dem schnellen Ziehen und Schießen. < drängt er und ich benutze weiter die Waffe, mit der ich mich wohler fühle.
Nachdem ich es bis zum Erbrechen geübt habe, tauscht Sam die Waffe, die ich halte, gegen eine der Echten. Sofort fühlt es sich an, als hätte ich einen Felsbrocken im Magen.
>Wie lange machen wir das jetzt schon? < frage ich. Denn ich muss zugeben, so langsam reicht mir das Ganze.
>Eine Weile und wir machen das so lang weiter, bis du es kannst. Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wie wir das Problem anders umgehen können, als dich einfach ins kalte Wasser zu schmeißen. <
>Na danke. < murmle ich leise und stecke die echte, geladene Waffe in das Holster am Gürtel. Auf Sam's Pfiff ziehe ich sie schnell raus, lege den Finger auf den Abzug und … blockiere wieder vollkommen.
>Verdammt, das gibt’s doch nicht. < fluche ich.
>Gib her! Wir tauschen nochmal. < sagt er und ich reiche ihm die Waffe, ohne zu ihm zu sehen. Dann bekomme ich die andere zurück und gehe so vor, wie die ganze Zeit schon. Sam pfeift, ich ziehe und schieße ohne drüber nachzudenken. Allerdings erschrecke ich mich so sehr vor dem Knall, dass ich verstimmt zu Sam schaue.
>Du hast die Waffe überhaupt nicht getauscht. < zische ich.
>Stimmt. Aber sieh dir mal dein Ergebnis an. < erwidert er grinsend und nickt zu dem Ziel. Mit heruntergezogenen Augenbrauen drehe ich mich dorthin um. Die Kugel sitzt tadellos in der Mitte des Ziels. >Du könntest perfekt sein Kleines. < sagt er leise hinter mir und schnappt sich die Waffe aus meiner Hand. Nun hält er mir beide Pistolen vor die Nase. >Ganz egal, ob du die Echte oder die Falsche benutzt, beim Abfeuern gibt es nicht den geringsten Unterschied. Nur dein Ziel muss ein anderes sein. Du lernst zu schießen, damit du für den Ernstfall gewappnet bist. Im Normalfall nimmst du die Personen fest, ohne sie zu verletzen. Du bist kein Killer so wie ich, also schalte deinen Kopf aus. < Er drückt mir eine der Waffen in die Hand und ich weiß nicht welche davon die Echte ist. >So wie du schießt, kannst du nicht den Falschen treffen. Aber durch dein Zögern, könntest du dem Täter genug Vorlaufzeit geben, damit er wieder verschwunden ist. Manchmal hast du nur diese eine Gelegenheit. <
>Ist ja gut. < sage ich ermattet. >Welche Waffe habe ich in der Hand? <
>Das sollte keine Rolle spielen. <
Seufzend stecke ich sie in das Holster, nehme meine Hände nach oben und weiß, dass er recht hat. Er soll nicht denken, dass ich das Ganze nicht ernst nehme. Ich warte auf mein Signal und stehe in Schrittstellung. An meiner Hüfte befindet sich die echte Waffe – ich weiß es. Alles andere wäre nicht Sam.
Ich werfe ihm einen Seitenblick zu und warte immer noch auf seinen Pfiff. Fragend sehe ich ihn an, weil er einfach nur grinsend dasteht. Als ich ihn gerade fragen will, wann er mal gedenkt loszulegen, bekomme ich mein Zeichen um die Pistole zu zücken, zu zielen und mit zusammengepressten Lippen abzudrücken. Es knallt einmal laut und dann schieße ich das zweite Mal aus dem Stand. Verdammt, ich wusste doch, dass es die echte ist. Dann gehe ich mehr in die Knie und schieße noch dreimal. Schließlich stecke ich die Pistole weg und hebe wieder meine Hände.
Sam schürzt die Lippen, blickt kurz zu mir und geht dann ohne Kommentar nach vorn zu dem Ziel. Zurück kommt er mit dem Blatt Papier und hält es mir vor die Nase.
>Sieh dir mal an wie gut du bist, wenn du nicht nachdenkst. Kannst du dich noch an das erste Mal erinnern, als du mit der Soft-Air geschossen hast? Da hast du noch gemeckert und meintest, mit dem Gewehr hättest du besser getroffen. <
>Sieht ganz gut aus. < bestätige ich ihm monoton.
>Allerdings. Neu laden und dann nochmal. < befiehlt er. Ich dachte Lukaz und Cataley wären gnadenlos, aber wie mir bewusst wird, haben sie das nur von dem Mann neben mir gelernt.
Das ganze Spiel geht von vorn los und unermüdlich verballere ich sinnloser Weise die teure Munition, was Sam vollkommen egal zu sein scheint. Eigentlich könnte ich ihn übers Knie legen aber nach und nach merke ich, wie sehr er mir damit hilft. Ich ziehe die Waffe schneller und feuere sie ab ohne lange zu zögern.
Endlich bin ich von dieser Quälerei erlöst und kann unter die Dusche springen. Als wir vor wenigen Minuten ins Haus zurückkehrten, hatte ich mich total erschrocken wie spät es schon ist. Weit nach 18 Uhr kommt Sam endlich dazu, sich an seinen Laptop zu setzen und nochmal alles über seinen heutigen Auftrag zu lesen.
Ich hingegen genieße die Wärme, die an meinem Körper herunterfließt. Mein Nacken und meine Schultern fühlen sich durch das Training und das ewige Hochhalten meiner Arme völlig verspannt an und auch mein Rücken meldet sich ebenfalls. Schlimmer als alles zusammen ist allerdings dieses verdammte linke Bein.
Aber was erwarte ich eigentlich? Es ist und bleibt eine Schusswunde. Eine, die vielleicht niemals komplett verheilen wird und eventuell für immer dieses irrtümliche Gefühl hinterlassen wird, als wäre die Wunde offen und würde immer noch nachbluten.
Mit frisch gewaschenen Haaren und sauberen Sachen tapse ich barfuß in Sam's Küche. Aus seinem Wohnzimmer kommt rockige Musik und ich tänzle etwas vor dem Kühlschrank herum. Vor mich hinsummend überfliege ich den Inhalt und habe zumindest eine Reihe von Ideen. Dann laufe ich zu Sam und will ihn fragen, auf was er Lust hat aber mein Blick geht direkt zu seinem Laptop, den er auf dem Couchtisch hat.
>Oh mein Gott. < keuche ich, als ich darauf ein junges Mädchen sehe. Zumindest glaube ich, dass sie jung ist, denn allzu viel erkenne ich von ihrem Gesicht nicht. Sie sieht so aus, als wäre stundenlang auf sie eingeprügelt worden. Mit tränenverschmiertem Make-up und blutunterlaufenen Augen blickt sie ausdruckslos in die Kamera. Ihr Wangen- und Schläfenbereich ist geschwollen und die Hämatome sind nicht zu übersehen, die sich sogar noch bis zu ihrem Hals und ihrer Schulter hinunterziehen. Auf ihrer Kehle befinden sich Zeichen als hätte man sie gewürgt. Mehr kann ich nicht sehen, da es nur ein Porträtbild von ihr ist.
>Sie ist eine Überlebende. < erklärt Sam auf mein Gekeuche hin. >Das ist Marlen O´Connor und sie wurde von dem Typen misshandelt, der für heute Nacht auf meiner Liste steht. In der Regel bringt er die Frauen um, aber sie konnte entkommen. <
Ich komme ihm näher und setze mich zu ihm, als ich diese Frau sehe.
>Wie alt ist sie? < will ich wissen.
>So wie du. Er hat sie mitten am Tag in einem Parkhaus in den Kofferraum gestoßen und fuhr los. <
Ich kenne Sam's Zielgruppe und trotzdem schockiert es mich immer noch so etwas zu hören. Solche Typen können mir später auch begegnen und irgendwie glaube ich, dass ich dann kein großes Problem hätte meine Pistole zu zücken. Wie kann man das einer anderen Person antun?
>Wie sieht er aus? < will ich wissen. Daraufhin schließt Sam die Datei, sucht etwas in seiner Datenbank herum und öffnet schließlich die Akte des Mannes, der heute Nacht sterben wird.
Wow sieht der fies aus. Allein sein Fahndungsbild lässt mich zurückweichen. Ich überfliege den Text, der ihn beschreibt und seine Merkmale hervorhebt. Der Typ ist ein Riese, schaut bösartig und muskulös aus.
>Hast du jemanden der dir heute Nacht hilft? <
>Nein. Ich arbeite immer allein. Das weißt du doch. <
>Hast du denn keine Angst? <
Daraufhin schmunzelt er.
>Machst du dir etwa Sorgen um mich? <
>Natürlich. Jede Nacht, wenn du gehst. <
Daraufhin streicht er meine nassen Haare aus dem Weg. Dann stellt er seinen Laptop auf dem Tisch etwas weiter weg, kommt wieder näher zu mir und lehnt seinen Ellenbogen gemütlich auf der Sofalehne ab.
>Ich mache das schon viele Jahre. Um mich musst du dir keine Sorgen machen. < versichert er mir. Das kann er nie wissen und ich weiß, dass er das ohnehin nur sagt, um mich zu beruhigen.
>Eigentlich wollte ich gar nicht über deinen Job reden. Irgendwie finde ich das immer noch unheimlich. <
>Und was wolltest du dann? <
>Dich fragen, was ich kochen soll. Ich habe gerade alles durchforstet. <
>Wie wäre es mit dem Reh im Keller? Die Teile sind abgepackt in der Kühltruhe. <
>Na gut … aber erwarte bitte keine Meisterleistung. Das habe ich noch nie gemacht. <
>Irgendetwas Tolles bekommst du doch immer hin. < grinst er und greift wieder zu seinem Laptop.
>Kann ich dann dein Handy haben? Ich muss wenigstens nach einem Rezept googeln. < Er antwortet nicht, sondern runzelt die Stirn und überlegt. >Ich rufe niemanden an. < verspreche ich im Nachgang.
>Nein darum geht es nicht. < erwidert er, aber schließlich zückt er das Smartphone – was ich inzwischen als sein „Haupthandy“ bezeichne, aus seiner Hosentasche und tippt darauf herum. Dann reicht er es mir und ich haue damit in die Küche ab.
Ich plündere nicht nur Sam's gesamten Vorrat an Wildfound, sondern auch noch seine letzte Flasche Rotwein, die laut Rezept daran gehört. Zum Glück habe ich relativ früh damit angefangen, denn diese Keule muss bei geringer Temperatur ewig im Ofen bleiben. Es gibt Rezepte, bei denen ich im Traum nie dran dachte, diese mal zu machen, weil die Zutaten für meine Familie viel zu teuer gewesen wären.
Über zwei Stunden lang dauert das Ganze und Sam hat offensichtlich echt Hunger, denn andauernd kommt er schauen, was ich mache und blickt wie ein kleines Kind an Weihnachten in den Backofen. Kurz darauf ist er aber auch schon wieder verschwunden und ich räume in der Zeit etwas auf.
Auf der Arbeitsplatte liegt noch sein entriegeltes Handy und ich will es ihm wieder zurückbringen, aber dann bleibe ich stehen und schiele verschmitzt darauf.
In dem Smartphone suche ich die Fotofunktion, stelle die Kamera auf mich selbst und strecke grinsend die Zunge raus. Es macht ein leises „Klick“ und ich verriegle sein Telefon wieder. Vielleicht wird er dieses Bild ja irgendwann mal finden, wenn wir getrennte Wege gehen und vielleicht wird er sich dann an mich erinnern. Ich werde wohl kein Bild von ihm brauchen, denn ich könnte ihn nie vergessen.
Nachdem ich Sam endlich verkünden konnte, dass er in die Küche kommen kann, war er vollkommen aus dem Häuschen. Ich liebe diesen Blick an ihm, wenn ich etwas gekocht habe das ihm schmeckt. Dadurch dass ich aber so lange gebraucht habe um fertig zu werden, ist es schon relativ spät. Daher können wir nicht so wie sonst lange zusammensitzen, weil Sam schon bald losmuss. Er bekam noch einige letzte Informationen geschickt und den genauen Standort des Typen, mit den heutigen Plänen eines Insiders. Der Täter hat sich bereits ein weiteres Mädchen ausgeguckt, welches er haben will. Dieses Mädchen wird niemals erfahren, dass Sam sie heute retten wird.
Als er schließlich in seiner Vollmontur – bestehend aus der dunklen Jacke, Strickmütze und schwarzen Lederhandschuhen bereitsteht, habe ich ein ungutes Gefühl, welches ich nicht beschreiben kann.
>Willst du nicht vielleicht doch lieber Lukaz mitnehmen? Der Typ auf deiner Liste sah riesig aus. < frage ich.
>Blödsinn, das bekomme ich schon hin. Außerdem ist Lukaz in genau der entgegengesetzten Richtung von der, in die ich muss. <
>Pass bloß auf dich auf. < bitte ich ihn leise. Er grinst und zwinkert mir keck zu, als er sich seinen Rucksack um die Schulter wirft.
>Schlaf gut Kleines. Wehe du bist noch auf den Beinen, wenn ich wiederkomme. < erwidert er tadelnd und ich grinse unschuldig zu ihm. Er zieht die Tür hinter sich zu und fährt schließlich davon. Da mir kurz nach seinem Verschwinden langweilig ist und ich noch nicht müde bin, stelle ich den TV-Sender um und suche nach einem wo Musik läuft. Sam's Handywecker nach zu urteilen, steht er offensichtlich auf Metallica – aber vielleicht ist es auch nur dieser eine Song, den er so sehr mag. Auf jeden Fall hat er es gern etwas rockiger und obwohl er nicht hier ist, suche ich danach. So fühlt es sich irgendwie an, als wäre ich gar nicht alleine.
Als ich endlich fündig geworden bin, werfe ich eine Waschmaschine an und fange an, ein paar Räume vom Staub zu befreien. Es ist vielleicht nicht gerade die übliche Zeit für so etwas, aber gemacht werden muss es. Das war schließlich der Deal zwischen Sam und mir und tagsüber habe ich nun genug andere Beschäftigungen über mehrere Wochen hinweg.
Ab und zu sehe ich dabei nach draußen. Dort ist der Mond kaum zu erkennen. Die Wolken ziehen so über ihn hinweg, dass es aussieht wie in einem Horrorfilm, indem gleich der Werwolf hervorspringt. Mir ist ziemlich kalt, daher schnappe ich mir eine Jacke von Megan aus meinem Zimmer und mache den Kamin an. Nach getaner Arbeit setze ich mich wieder.
Der TV-Sender springt zu einer gewissen Uhrzeit schließlich um und spielt keine Musik mehr, sondern uralte Serien. Wie immer, wenn Sam nicht da ist, versuche ich die Zeit totzuschlagen aber das funktioniert immer nur eine Weile. Schließlich, da sein Haus sauber ist und ich nichts mehr zu tun habe, sitze ich auf seinem Sofa und versuche nicht an seine Zielperson zu denken.
Stunden später
Obwohl ich die üblen Gedanken verdrängen wollte, habe ich in dieser Nacht ein alarmierendes Gefühl und ich weiß einfach nicht weshalb. Ich bin immer bloß im 10-Minuten-Takt auf dem Sofa eingeschlafen aber wollte nicht ins Bett gehen. Sam kommt heute ewig nicht zurück. Er dachte, es würde nicht lange dauern aber es sind inzwischen 4 ½ Stunden vergangen. Um mich abzulenken zappe ich durch das nächtliche TV-Programm, indem nur Schrott läuft. Genervt werfe ich die Fernbedienung auf das Sofa, lege mir Megs Jacke enger um den Brustkorb und laufe ziellos im Haus umher. Das macht mich wiederum eher munter als müde.
Nach Lesen ist mir absolut nicht, nach Fernsehen ist mir nicht, nach schlafen auch nicht. Ich will, dass Sam endlich zurückkommt. Gibt es einen Grund, weshalb ich mir Sorgen machen sollte oder braucht er heute eben einfach länger? Vielleicht hat er die Person verpasst oder sie tauchte überhaupt nicht dort auf, wo sie heute hätte sein sollen. Schließlich ändern Leute ihre Pläne und auch Sam's Insider können nicht immer perfekt sein und die Zukunft vorhersagen.
Ich gehe in die dunkle Küche, lasse allerdings das Licht im Flur an, um nicht vollkommen in der Finsternis zu stehen. Eher aus Langeweile als aus einem Hungergefühl heraus, öffne ich die Kühlschranktür und mache sie wieder zu, ohne mir etwas herauszuholen. Ich werde innerlich immer unruhiger und lehne mich mit wippendem Bein gegen die Küchenzeile. Mein Blick geht nach draußen in die dunkle Nacht bis ich mir einbilde, etwas zu sehen.
Vielleicht schimmert das Flurlicht auf der Fensterscheibe? Nach ein paar weiteren Sekunden bin ich mir allerdings sicher, dass ich mich nicht täusche. Denn helle Scheinwerfer tauchen mitten im Wald auf, die immer näher kommen. Es ist natürlich möglich, dass hier auch mal ein Fremder vorbeikommt, aber kaum habe ich meinen Gedanken zu Ende gedacht, da weiß ich, dass es Sam in seinem Pick-up sein muss. Endlich lache ich erleichtert auf.
Er kommt allerdings viel zu schnell auf das Haus zu. Er wird doch wohl nicht am Steuer eingeschlafen sein? Viel zu schnell rast er weiterhin auf mich und das Küchenfenster zu. Erst kurz vor der Hauswand macht er eine Vollbremsung, was mich automatisch vor Schreck schreiend gegen den Tisch hinter mir knallen lässt. Den Motor und die Scheinwerfer lässt er immer noch an und steigt nicht aus. Keuchend sehe ich verwirrt zu ihm und kann seine Gestalt nicht erkennen. Ich wundere mich, weil er einfach nicht aussteigt. Einen kurzen Moment warte ich noch, aber dann gehen Sekunden später die Alarmglocken bei mir an – hier stimmt irgendetwas nicht. Ich renne eilig in den Flur, springe barfuß in die offenen Stiefel von ihm und schließe die Tür auf, um zum Pick-up zu laufen.
Ich reiße die Fahrertür auf, bis mir Sam schon fast seitlich in die Arme fällt.
>Verdammt Sam was ist passiert? < rufe ich, als ich ihn stöhnen höre.
>Nichts, ist nur ein Kratzer. < sagt er angestrengt und stellt den Motor aus. Er hievt sich aus dem Wagen, allerdings lässt er sich von mir ziemlich stützen – was schon eine Menge bei ihm zu heißen hat. Sobald wir in die Nähe der Eingangstür kommen, sehe ich, dass er seine Hand auf seinen Bauch presst. Panik steigt in mir auf und ich bringe ihn rein, um ihn erstmal aufs Sofa zu legen. Er lässt sich schmerzvoll stöhnend wie einen nassen Sack fallen.
Um zu sehen, was ihm fehlt, mache ich das Deckenlicht im Wohnzimmer an und gefriere zu Eis. Er blutet am Bauch und das nicht gerade wenig, so angefeuchtet wie sein schwarzes Shirt aussieht. Ich versuche mich eilig wieder zu fangen und ziehe seine Jacke weiter auseinander und sein Shirt ein Stück nach oben. Sofort sind meine Fingerspitzen voller Blut.
>Was muss ich tun, Sam? < frage ich zu meiner Überraschung ruhiger als ich mich fühle.
>Geh in den Keller … da findest du Verbandszeug und Nähmaterial. Auf der rechten Seite im Spind … gleich ganz oben … findest du eine blaue Tasche. < japst er.
Ich nicke hektisch und springe auf, um sofort hinunterzulaufen. Das Licht im Keller flackert noch ehe es endlich anbleibt, aber da bin ich schon die Treppe runtergewetzt. Hektisch durchkrame ich den Spind und finde endlich was ich brauche. Ich verhasple mich und lasse die Tasche auf dem Weg direkt zweimal fallen. Ohne überhaupt eine Ahnung zu haben, was ich jetzt tun soll, renne ich damit zurück zu ihm. Er zieht sich bereits die schwarzen Handschuhe mit den Zähnen aus und verzieht schmerzhaft sein Gesicht.
>Und jetzt? < frage ich, als ich mich neben ihm auf die Knie werfe.
Sam versucht sich sein Shirt über den Kopf zu ziehen, aber er schafft es nicht allein, weshalb ich ihm helfe.
>Schon gut … ich mach das. < sagt er angestrengt und fischt in der Tasche nach allen nötigen Dingen. >Es ist okay …Kleines. Danke für deine Hilfe. Geh wieder … ins Bett. <
>Bist du verrückt? Ich lasse dich doch nicht allein. <
>Doch das tust du! Das musst du nicht sehen. < sagt er zorniger.
>Nein! Dieses Mal lasse ich mir nichts von dir sagen – außer was ich bei deiner Wunde tun muss. Also sag´s mir endlich! <
Er blickt mich kurzatmig und stur an, überlegt es sich dann aber offensichtlich doch anders.
Sam nimmt seine Hand von der blutenden Wunde und mir wird sofort übel.
>Versuche das Blut wegzutupfen und desinfiziere die Wunde. < erklärt er keuchend und greift in die Tasche hinein, um sich selbst eine steril verpackte Spritze und eine gläserne Ampulle herauszuholen. Darauf lese ich Morphium. Gott sei Dank ist das Fläschchen bei dem Aufprall im Keller nicht kaputtgegangen.
Ich packe schnell ein Paar Handschuhe aus und ziehe sie drüber. Dann lege ich ein paar der verpackten Tupfer auf seine Wunde und versuche das zu tun, was er sagte. Ich finde das Wunddesinfektionsmittel und halte es ein paar Zentimeter vor seinen Bauch.
>Das wird dir bestimmt wehtun. < warne ich ihn vor.
>Jetzt mach schon! <
Ich sprühe drauflos und er windet sich lautlos vor Schmerz, worauf ich solidarisch ebenfalls mein Gesicht verziehe. Die Wunde blutet stark, sodass ich kaum etwas erkennen kann. Als Sam den scharfen, brennenden Schmerz verdaut hat, setzt er die Nadel der Spritze in die Ampulle und zieht das Schmerzmittel ein.
>Das sieht aus wie ein langer, breiter Messerschnitt. < sage ich, als ich die Wunde genauer betrachte.
>Es war eine …scharfe Eisenstange. Der Mistkerl wollte nicht so schnell aufgeben, aber letzten Endes … bin ich doch der Bessere gewesen. < schnauft er und lächelt zufrieden.
>Das klären wir hinterher, wenn du noch lebst. <
>Bleib ruhig. Ich hatte schon schlimmere Verletzungen. <
>Oh also das beruhigt mich ja jetzt. Soll ich dir vielleicht einen Tampon holen? < antworte ich sarkastisch und finde das alles andere als lustig.
Er hingegen lacht, bereut es aber sofort wieder, weil der Schmerz durchschießt. Länger hält er es offenbar nicht mehr aus und injiziert sich selbst das Morphium in seine Vene.
Ich drücke noch ein paar Tupfer auf die desinfizierte Wunde und versuche somit die Blutung etwas zu stoppen.
>Und was mache ich jetzt? < frage ich als meine Hände bereits eingefärbt sind.
Sam zieht die Nadel aus seinem Arm und lässt den Kopf auf ein Sofakissen sinken. Gott sei Dank wirkt das Mittel offenbar schnell. Er kramt entkräftet mit einer Hand in der Tasche herum und zieht dann eine chirurgische Nadel heraus – zumindest sieht es für mich so aus. Er führt einen starren Faden aus einer Verpackung hinein und gibt mir alles zusammen mit einer längeren Zange.
>Sprüh nochmal Desinfektion darauf und dann …musst du den Schnitt verschließen. <
Ich nicke und agiere irgendwie, ohne wirklich drüber nachzudenken, was ich tue. Als ich denke, dass Sam, ich und das gesamte Wohnzimmer steril sein müssten, halte ich mit der Zange die Nadel fest und zittere über seiner blutenden Wunde.
>Was ist los? < fragt Sam mit engen Augenschlitzen, weil ich innehalte.
>Ich will dir nicht wehtun. <
>Mach schon. Ich bin schon längst auf Droge. Es ist egal wie die Naht aussieht. <
Ich atme noch mal schwer aus und stelle mir vor, ich würde einfach einen Riss in der Hose nähen.
Sam zuckt trotz des Schmerzmittels minimal zusammen. Ich versuche so schnell und präzise zu arbeiten, wie ich es nur laienhaft machen kann. Es wäre besser gewesen, wenn ich Medizin studiert hätte, statt der verdammten Geisteswissenschaften. Was würde ich jetzt darum geben, meinen Collegefreund Sasha am Telefon zu haben, der mir ruhig zuredet und sagt was ich tun muss. Ich sehe immer wieder zu Sam, der mit jedem Stich seltener zusammenzuckt. Er sieht mich stattdessen mit schmalen Augen und schweißnasser Stirn an, aber sein Blick geht eher durch mich hindurch. Seine Lippen sind leicht geöffnet und er atmet flach. Ich versuche mit aller Macht meine Hände ruhig zu halten. Mit meinem unerfahrenen Auge kann ich nicht erkennen, ob er auch Organschäden hat – falls ja, dann bin ich die Letzte, die ihm helfen kann.
Ich gehe näher heran und versuche bei all dem Blut und Gewebe mehr zu erkennen, das für mich alles gleich aussieht. Aber schlussendlich – als ich immer wieder das Blut weggetupft habe, bin ich mir sicher, dass der Schnitt nicht so tief war, wie ich es befürchtet habe. Zum Schluss verbinde ich die Enden des Fadens und verknote sie um sie abzuschneiden.
Sam wirkt immer teilnahmsloser aber schaut mich weiterhin durch schmale Augenschlitze an. Großzügig desinfiziere ich zum wiederholten Mal seine Wunde, was ihn inzwischen nicht mehr zu stören scheint.
>Bryan. < murmelt er unverständlich. >Nein, nicht heute! Nicht heute. <
>Sam, kannst du mich noch hören? < wende ich unheilvoll ein. Fantasiert er jetzt?
>Bryan? <
>Nein, ich bin es. Nayeli. <
>Nayeli? < säuselt er erst irritiert und fängt dann an zu grinsen. >Du … bist immer noch hier? <
>Klar bin ich noch hier. Du hast mir mein Leben gerettet und jetzt rette ich deines. <
Ich ziehe mir die Handschuhe ab und lasse ihn so liegen, laufe dann schnell in das untere Bad und wasche dort meine Hände bis hoch zu den Ellenbogen, an denen sein Blut klebt.
Dann fülle ich eine Schüssel mit warmem Wasser und gehe zurück an seine Seite.
>Sam? < frage ich nervös als er mit geschlossenen Augen daliegt. Ich lege meine Hand auf sein Herz und es erscheint mir eindeutig zu schnell, aber immerhin schlägt es. Er öffnet die Augen einen Spalt als ich vor ihm auf die Knie gehe und mich vor das Sofa hocke.
Mit dem Lappen tupfe ich vorsichtig das Blut von seinem restlichen Körper und wasche die Wundränder so weit wie ich herankomme. Zum Schluss spüle ich den Lappen im Bad aus und tränke ihn mit eiskaltem Wasser.
Er dreht seinen Kopf zu mir als ich wieder da bin und grinst. Jedoch atmet Sam ziemlich oberflächlich und hat Schweißperlen auf der Stirn, weshalb ich den kalten Lappen darauf liegenlasse. Ich geselle mich zu ihm an den Rand des Sofas und dabei setzt er ein so zufriedenes Grinsen auf, welches ich noch nie an ihm gesehen habe. Seine Hand legt sich auf meinem Knie ab und zärtlich streicht er mit seinem Daumen darüber, was ein Kribbeln in mir verursacht.
Ich ignoriere es und hole einen Gazeverband aus der Tasche, um ihn auf seine Wunde draufzulegen.
Als ich damit fertig bin, hocke ich mich auf den Boden und lege meinen Kopf auf meinem Arm ab, damit ich mit Sam auf gleicher Höhe bin.
Zittrig bewegt er seine Hand zu meinem Gesicht und legt sie gegen meine Wange.
>Komm her! < fleht er mit rauer Stimme.
Ich runzle die Stirn. Schließlich bin ich direkt vor ihm, wo soll ich denn noch hin?
Da ich denke, dass seine Stimme immer brüchiger wird und er nur will, dass ich ihn besser verstehe, bewege ich mein Gesicht näher zu seinem und beuge mich vor.
>Es wird alles wieder gut Sam. Du darfst mich nicht auch noch alleine lassen. Versprich es mir. <
>Okay Kleines. < flüstert er und seine Hand wandert von meiner Wange an meinen Hinterkopf. Er zieht mich noch mehr zu sich heran und küsst mich unerwartet. Noch heißeres Adrenalin rauscht mir durch den Körper als ohnehin schon.
Für einen kurzen Moment schließe ich meine Augen und lasse meine Lippen von seinen etwas auseinanderschieben, aber dann weiche ich schockiert zurück. Wenn er nicht so schwach wäre, hätte er mich locker daran hindern können.
>Sam du weißt nicht was du tust. Du bist im Delirium. <
Er feixt stattdessen leise und seine Hand geht von meinem Hinterkopf kraftlos auf das Sofa.
>Das hat mich schon die ganze Zeit interessiert … wie es ist. < murmelt er, schließt seine Augen und macht einen tiefen Seufzer.
>Was? Wie was ist? < frage ich verwirrt, aber er antwortet gar nicht. >Sam? Hallo? <
>Nicht heute! < wiederholt er noch einmal leise mit geschlossenen Augen und zieht die Augenbrauen zusammen.
Ich taste an seinen Hosentaschen herum bis ich sein Handy finde. Dort ziehe ich es heraus und bin froh, dass sein Akku noch ein paar Prozente hat. Eilig stecke ich es ans Ladekabel und gehe auf die Entriegelung. Wie ich es mir dachte, hat Sam aber einen Zahlencode drin. Soweit ich weiß, kann ich trotzdem irgendwie den Notruf anrufen, auch wenn ich nicht in sein Menü komme. Mir fällt plötzlich die Schublade in seinem Zimmer ein, in der dutzende Prepaidtelefone sind. Im Notfall nehme ich eines von denen. Ich werfe Sam einen erneuten Blick zu. Er atmet wieder ruhiger aber er scheint vollkommen weg zu sein. Nervös beiße ich mir auf die Unterlippe, die immer noch von dem brennt, was er eben getan hat. Dem Ganzen sollte ich absolut keine Bedeutung beimessen, der arme Kerl ist immerhin vollkommen zugedröhnt. Mit etwas Überwindung lege ich sein Handy auf den Tisch und verwerfe erstmal den Gedanken mit dem Krankenwagen. Das würde er mir wohl übel nehmen wie ich ihn kenne – öffentliche Krankenhäuser sind für ihn wie eine Mausefalle. Aber dieses Risiko werde ich jederzeit eingehen, wenn es ihm schlechter geht. Wenn doofe Fragen gestellt werden, wie er verletzt wurde, dann würde ich mir schon irgendetwas einfallen lassen.
Statt Hilfe zu holen, streiche ich ihm über seine Wange. Er hat mir einen echten Schrecken eingejagt. Gerade Sam wirkt immer so, als könnte ihn nichts umhauen. Das zeigt mir, wie gefährlich sein Job und wie normal er als Mensch eigentlich ist. Dem Mistkerl, der ihm das angetan hat, sollte ich eigenhändig den Kopf abreißen, aber das ist ja schon längst geschehen.
Ich bin nur froh, dass Sam derjenige von beiden ist, der noch atmet. Hoffentlich tut er es auch morgen noch. Langsam flaut mein Adrenalinspiegel ab und ich verstehe was hier eigentlich passiert ist. Ich musste irgendwie funktionieren und habe dabei gar nicht gemerkt, wie viel Angst ich eigentlich um Sam hatte und immer noch habe.
Meine Hand fährt über seine kurzen Haare und er knurrt irgendetwas Unverständliches. Sam ist nicht mehr ansprechbar, aber er atmet und sein Herzschlag fühlt sich inzwischen regelmäßiger an. Wenn es ihm schlechter geht, dann werde ich aber nicht länger warten und sofort den Notarzt anrufen, egal was er davon halten würde. Ich decke ihn bis zur Brust zu und setze mich wieder neben ihn auf den Boden. Mir ist klar, dass ich ihn die ganze Nacht nicht aus den Augen lassen werde und bei ihm bleibe.
Den kühlen Lappen auf seiner Stirn erneuere ich noch einmal. Von dem Wasser sind meine Hände so kalt, dass ich sie links und rechts an sein Gesicht lege, das genauso heiß ist, wie der Rest.
>Lass mich nicht alleine, hörst du? < flüstere ich und lege meinen Kopf an seine Schulter.
*TRIGGERWARNUNG!*
Der Inhalt des folgenden Kapitels kann bei vereinzelten Personen eventuell emotional aufwühlend und belastend wirken.
Sam macht sich bereits an seinem Schloss zu schaffen und winkt mich dann durch die Tür durch.
>Warte hier. Ich bin gleich da. < befiehlt er.
Ich nicke und sehe ihm nach. Unbewusst wische ich mit meiner Hand über meinen immer noch kribbelnden Hals und laufe weiter vorwärts zu den Zielen. Vom letzten Mal sehe ich noch wo das Papier dem Druck der kleinen Plastikkugeln nicht standgehalten hat. Ein paar Minuten später höre ich, wie die Tür einen Spalt hinter mir aufgeht. Sam kommt zurück mit mehreren Waffen und kleinen Schachteln in der Hand. Er legt alles auf dem Tisch in der Mitte ab und ich runzle die Stirn als ich sehe, was er da anschleppt.
>Moment mal. Das ist doch das Zeug aus deinem Keller, oder? <
>Ganz genau. < schmunzelt er.
>Wieso lässt du mich nicht weiter mit den Soft Air-Pistolen üben? <
>Weil mir Lukaz gesagt hat, dass du in einer Starre bist, bevor du vernünftig schießt. Er hat es gestern von der anderen Seite aus gesehen, als er die dritte Stufe trainiert hat. Das musst du wirklich ablegen, denn beim Schießen geht es ums schnell sein. <
Na der ist ja eine tolle Petze, denke ich. An dieser Schule wird wohl nichts geheim bleiben, wenn es um meine Fortschritte geht.
>Ich befinde mich in dieser Starre, weil alle um mich herum anfangen zu schießen. Dieses laute Knallen der anderen Waffen macht mich nervös. < gebe ich zu.
>Du verbindest das Geräusch unterschwellig mit dieser Nacht. <
>Schätze schon. < erwidere ich achselzuckend.
>Du hast dafür keine Zeit, dich davon zurückhalten zu lassen. Denk niemals zu lange nach, wenn du handeln musst. <
Er war dreimal im Auslandseinsatz, wo ihm die Kugeln wahrscheinlich um die Ohren geflogen sind und wo man wie ferngesteuert reagieren muss. Das beherrsche ich weit weitem nicht so wie er.
>Hier. Laden und entsichern! < sagt er und legt mir eine Pistole auf den Holztisch mit der nötigen Munition.
Ich tue was er sagt und muss dabei überhaupt nicht überlegen, da mir diese Handgriffe vollkommen geläufig sind. Es wird nur schwer eine echte Waffe abzufeuern.
>Wenn du das erste Mal deinen Auftrag hast und die Zielperson jagst, dann ist deine Waffe aus Zeitgründen niemals gesichert, also ist sie sofort einsatzbereit. Meistens kooperieren die Leute, wenn mehrere Bounty Hunter am Ort des Geschehens sind, aber häufig rasten sie auch vollkommen aus. Wenn es dazu kommt, dann muss es dir egal sein was mit ihm passiert und du wirst im schlimmsten Fall schießen. Und wenn es so weit ist, dann musst du schnell sein. <
Ohne mir zu erklären was er vorhat, öffnet er seinen Gürtel und zieht ihn aus seinen Schlaufen heraus. Dann legt er ihn mir um, befestigt ein Holster für die Waffe daran und steckt die Pistole hinein, dass sie sich an meiner rechten Hüfte befindet.
>Schrittstellung einnehmen und Hände in die Luft nehmen. Wenn ich pfeife, dann ziehst du deine Waffe so schnell du kannst und zielst zweimal aus dem Stand und dreimal aus den Knien. Wenn du das getan hast, dann steckst du die Waffe zurück und nimmst die Hände wieder nach oben. < dirigiert Sam, worauf ich nicke.
Ich nehme die Haltung ein, die er von mir sehen will und warte auf sein Zeichen.
Sobald sein Pfiff ertönt, ziehe ich mit Verzögerung die Waffe heraus und halte sie vor meinen Körper. Hier drin sind keine Plastikkugeln wie mir wieder einfällt. Mein Zeigefinger reagiert nicht, er zuckt nur.
>Zu lange gezögert. Steck die Waffe zurück. < sagt Sam, als ich mich nicht überwinden kann zu schießen. Ich tue es und kurz darauf pfeift er erneut. Dieses Mal ziehe ich zumindest die Pistole schneller und drücke meinen Finger etwas auf den Abzug, allerdings nicht kräftig genug um ihn auszulösen.
>Steck sie zurück! < wiederholt Sam dieses Mal verstimmter.
>Es tut mir leid. < keuche ich. Daraufhin geht er von mir weg zu den Spinden und holt eine der Soft-Air-Waffen heraus. Er reicht sie mir und wir tauschen die Waffen. Auf seinen Pfiff hin zücke ich die unechte Waffe, schieße zweimal im Stand und dreimal aus den Knien, um sie dann wieder wegzustecken. Ich treffe dabei perfekt.
>Du hast wirklich ein Kopfproblem. < murmelt Sam. Das weiß ich schon die ganze Zeit. Die kleinen Plastikkugeln in den unechten Waffen machen lediglich ein kurzes und dumpfes „Puff“. >Mach es nochmal. Dann bekommst du wenigstens die Übungen mit dem schnellen Ziehen und Schießen. < drängt er und ich benutze weiter die Waffe, mit der ich mich wohler fühle.
Nachdem ich es bis zum Erbrechen geübt habe, tauscht Sam die Waffe, die ich halte, gegen eine der Echten. Sofort fühlt es sich an, als hätte ich einen Felsbrocken im Magen.
>Wie lange machen wir das jetzt schon? < frage ich. Denn ich muss zugeben, so langsam reicht mir das Ganze.
>Eine Weile und wir machen das so lang weiter, bis du es kannst. Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wie wir das Problem anders umgehen können, als dich einfach ins kalte Wasser zu schmeißen. <
>Na danke. < murmle ich leise und stecke die echte, geladene Waffe in das Holster am Gürtel. Auf Sam's Pfiff ziehe ich sie schnell raus, lege den Finger auf den Abzug und … blockiere wieder vollkommen.
>Verdammt, das gibt’s doch nicht. < fluche ich.
>Gib her! Wir tauschen nochmal. < sagt er und ich reiche ihm die Waffe, ohne zu ihm zu sehen. Dann bekomme ich die andere zurück und gehe so vor, wie die ganze Zeit schon. Sam pfeift, ich ziehe und schieße ohne drüber nachzudenken. Allerdings erschrecke ich mich so sehr vor dem Knall, dass ich verstimmt zu Sam schaue.
>Du hast die Waffe überhaupt nicht getauscht. < zische ich.
>Stimmt. Aber sieh dir mal dein Ergebnis an. < erwidert er grinsend und nickt zu dem Ziel. Mit heruntergezogenen Augenbrauen drehe ich mich dorthin um. Die Kugel sitzt tadellos in der Mitte des Ziels. >Du könntest perfekt sein Kleines. < sagt er leise hinter mir und schnappt sich die Waffe aus meiner Hand. Nun hält er mir beide Pistolen vor die Nase. >Ganz egal, ob du die Echte oder die Falsche benutzt, beim Abfeuern gibt es nicht den geringsten Unterschied. Nur dein Ziel muss ein anderes sein. Du lernst zu schießen, damit du für den Ernstfall gewappnet bist. Im Normalfall nimmst du die Personen fest, ohne sie zu verletzen. Du bist kein Killer so wie ich, also schalte deinen Kopf aus. < Er drückt mir eine der Waffen in die Hand und ich weiß nicht welche davon die Echte ist. >So wie du schießt, kannst du nicht den Falschen treffen. Aber durch dein Zögern, könntest du dem Täter genug Vorlaufzeit geben, damit er wieder verschwunden ist. Manchmal hast du nur diese eine Gelegenheit. <
>Ist ja gut. < sage ich ermattet. >Welche Waffe habe ich in der Hand? <
>Das sollte keine Rolle spielen. <
Seufzend stecke ich sie in das Holster, nehme meine Hände nach oben und weiß, dass er recht hat. Er soll nicht denken, dass ich das Ganze nicht ernst nehme. Ich warte auf mein Signal und stehe in Schrittstellung. An meiner Hüfte befindet sich die echte Waffe – ich weiß es. Alles andere wäre nicht Sam.
Ich werfe ihm einen Seitenblick zu und warte immer noch auf seinen Pfiff. Fragend sehe ich ihn an, weil er einfach nur grinsend dasteht. Als ich ihn gerade fragen will, wann er mal gedenkt loszulegen, bekomme ich mein Zeichen um die Pistole zu zücken, zu zielen und mit zusammengepressten Lippen abzudrücken. Es knallt einmal laut und dann schieße ich das zweite Mal aus dem Stand. Verdammt, ich wusste doch, dass es die echte ist. Dann gehe ich mehr in die Knie und schieße noch dreimal. Schließlich stecke ich die Pistole weg und hebe wieder meine Hände.
Sam schürzt die Lippen, blickt kurz zu mir und geht dann ohne Kommentar nach vorn zu dem Ziel. Zurück kommt er mit dem Blatt Papier und hält es mir vor die Nase.
>Sieh dir mal an wie gut du bist, wenn du nicht nachdenkst. Kannst du dich noch an das erste Mal erinnern, als du mit der Soft-Air geschossen hast? Da hast du noch gemeckert und meintest, mit dem Gewehr hättest du besser getroffen. <
>Sieht ganz gut aus. < bestätige ich ihm monoton.
>Allerdings. Neu laden und dann nochmal. < befiehlt er. Ich dachte Lukaz und Cataley wären gnadenlos, aber wie mir bewusst wird, haben sie das nur von dem Mann neben mir gelernt.
Das ganze Spiel geht von vorn los und unermüdlich verballere ich sinnloser Weise die teure Munition, was Sam vollkommen egal zu sein scheint. Eigentlich könnte ich ihn übers Knie legen aber nach und nach merke ich, wie sehr er mir damit hilft. Ich ziehe die Waffe schneller und feuere sie ab ohne lange zu zögern.
Endlich bin ich von dieser Quälerei erlöst und kann unter die Dusche springen. Als wir vor wenigen Minuten ins Haus zurückkehrten, hatte ich mich total erschrocken wie spät es schon ist. Weit nach 18 Uhr kommt Sam endlich dazu, sich an seinen Laptop zu setzen und nochmal alles über seinen heutigen Auftrag zu lesen.
Ich hingegen genieße die Wärme, die an meinem Körper herunterfließt. Mein Nacken und meine Schultern fühlen sich durch das Training und das ewige Hochhalten meiner Arme völlig verspannt an und auch mein Rücken meldet sich ebenfalls. Schlimmer als alles zusammen ist allerdings dieses verdammte linke Bein.
Aber was erwarte ich eigentlich? Es ist und bleibt eine Schusswunde. Eine, die vielleicht niemals komplett verheilen wird und eventuell für immer dieses irrtümliche Gefühl hinterlassen wird, als wäre die Wunde offen und würde immer noch nachbluten.
Mit frisch gewaschenen Haaren und sauberen Sachen tapse ich barfuß in Sam's Küche. Aus seinem Wohnzimmer kommt rockige Musik und ich tänzle etwas vor dem Kühlschrank herum. Vor mich hinsummend überfliege ich den Inhalt und habe zumindest eine Reihe von Ideen. Dann laufe ich zu Sam und will ihn fragen, auf was er Lust hat aber mein Blick geht direkt zu seinem Laptop, den er auf dem Couchtisch hat.
>Oh mein Gott. < keuche ich, als ich darauf ein junges Mädchen sehe. Zumindest glaube ich, dass sie jung ist, denn allzu viel erkenne ich von ihrem Gesicht nicht. Sie sieht so aus, als wäre stundenlang auf sie eingeprügelt worden. Mit tränenverschmiertem Make-up und blutunterlaufenen Augen blickt sie ausdruckslos in die Kamera. Ihr Wangen- und Schläfenbereich ist geschwollen und die Hämatome sind nicht zu übersehen, die sich sogar noch bis zu ihrem Hals und ihrer Schulter hinunterziehen. Auf ihrer Kehle befinden sich Zeichen als hätte man sie gewürgt. Mehr kann ich nicht sehen, da es nur ein Porträtbild von ihr ist.
>Sie ist eine Überlebende. < erklärt Sam auf mein Gekeuche hin. >Das ist Marlen O´Connor und sie wurde von dem Typen misshandelt, der für heute Nacht auf meiner Liste steht. In der Regel bringt er die Frauen um, aber sie konnte entkommen. <
Ich komme ihm näher und setze mich zu ihm, als ich diese Frau sehe.
>Wie alt ist sie? < will ich wissen.
>So wie du. Er hat sie mitten am Tag in einem Parkhaus in den Kofferraum gestoßen und fuhr los. <
Ich kenne Sam's Zielgruppe und trotzdem schockiert es mich immer noch so etwas zu hören. Solche Typen können mir später auch begegnen und irgendwie glaube ich, dass ich dann kein großes Problem hätte meine Pistole zu zücken. Wie kann man das einer anderen Person antun?
>Wie sieht er aus? < will ich wissen. Daraufhin schließt Sam die Datei, sucht etwas in seiner Datenbank herum und öffnet schließlich die Akte des Mannes, der heute Nacht sterben wird.
Wow sieht der fies aus. Allein sein Fahndungsbild lässt mich zurückweichen. Ich überfliege den Text, der ihn beschreibt und seine Merkmale hervorhebt. Der Typ ist ein Riese, schaut bösartig und muskulös aus.
>Hast du jemanden der dir heute Nacht hilft? <
>Nein. Ich arbeite immer allein. Das weißt du doch. <
>Hast du denn keine Angst? <
Daraufhin schmunzelt er.
>Machst du dir etwa Sorgen um mich? <
>Natürlich. Jede Nacht, wenn du gehst. <
Daraufhin streicht er meine nassen Haare aus dem Weg. Dann stellt er seinen Laptop auf dem Tisch etwas weiter weg, kommt wieder näher zu mir und lehnt seinen Ellenbogen gemütlich auf der Sofalehne ab.
>Ich mache das schon viele Jahre. Um mich musst du dir keine Sorgen machen. < versichert er mir. Das kann er nie wissen und ich weiß, dass er das ohnehin nur sagt, um mich zu beruhigen.
>Eigentlich wollte ich gar nicht über deinen Job reden. Irgendwie finde ich das immer noch unheimlich. <
>Und was wolltest du dann? <
>Dich fragen, was ich kochen soll. Ich habe gerade alles durchforstet. <
>Wie wäre es mit dem Reh im Keller? Die Teile sind abgepackt in der Kühltruhe. <
>Na gut … aber erwarte bitte keine Meisterleistung. Das habe ich noch nie gemacht. <
>Irgendetwas Tolles bekommst du doch immer hin. < grinst er und greift wieder zu seinem Laptop.
>Kann ich dann dein Handy haben? Ich muss wenigstens nach einem Rezept googeln. < Er antwortet nicht, sondern runzelt die Stirn und überlegt. >Ich rufe niemanden an. < verspreche ich im Nachgang.
>Nein darum geht es nicht. < erwidert er, aber schließlich zückt er das Smartphone – was ich inzwischen als sein „Haupthandy“ bezeichne, aus seiner Hosentasche und tippt darauf herum. Dann reicht er es mir und ich haue damit in die Küche ab.
Ich plündere nicht nur Sam's gesamten Vorrat an Wildfound, sondern auch noch seine letzte Flasche Rotwein, die laut Rezept daran gehört. Zum Glück habe ich relativ früh damit angefangen, denn diese Keule muss bei geringer Temperatur ewig im Ofen bleiben. Es gibt Rezepte, bei denen ich im Traum nie dran dachte, diese mal zu machen, weil die Zutaten für meine Familie viel zu teuer gewesen wären.
Über zwei Stunden lang dauert das Ganze und Sam hat offensichtlich echt Hunger, denn andauernd kommt er schauen, was ich mache und blickt wie ein kleines Kind an Weihnachten in den Backofen. Kurz darauf ist er aber auch schon wieder verschwunden und ich räume in der Zeit etwas auf.
Auf der Arbeitsplatte liegt noch sein entriegeltes Handy und ich will es ihm wieder zurückbringen, aber dann bleibe ich stehen und schiele verschmitzt darauf.
In dem Smartphone suche ich die Fotofunktion, stelle die Kamera auf mich selbst und strecke grinsend die Zunge raus. Es macht ein leises „Klick“ und ich verriegle sein Telefon wieder. Vielleicht wird er dieses Bild ja irgendwann mal finden, wenn wir getrennte Wege gehen und vielleicht wird er sich dann an mich erinnern. Ich werde wohl kein Bild von ihm brauchen, denn ich könnte ihn nie vergessen.
Nachdem ich Sam endlich verkünden konnte, dass er in die Küche kommen kann, war er vollkommen aus dem Häuschen. Ich liebe diesen Blick an ihm, wenn ich etwas gekocht habe das ihm schmeckt. Dadurch dass ich aber so lange gebraucht habe um fertig zu werden, ist es schon relativ spät. Daher können wir nicht so wie sonst lange zusammensitzen, weil Sam schon bald losmuss. Er bekam noch einige letzte Informationen geschickt und den genauen Standort des Typen, mit den heutigen Plänen eines Insiders. Der Täter hat sich bereits ein weiteres Mädchen ausgeguckt, welches er haben will. Dieses Mädchen wird niemals erfahren, dass Sam sie heute retten wird.
Als er schließlich in seiner Vollmontur – bestehend aus der dunklen Jacke, Strickmütze und schwarzen Lederhandschuhen bereitsteht, habe ich ein ungutes Gefühl, welches ich nicht beschreiben kann.
>Willst du nicht vielleicht doch lieber Lukaz mitnehmen? Der Typ auf deiner Liste sah riesig aus. < frage ich.
>Blödsinn, das bekomme ich schon hin. Außerdem ist Lukaz in genau der entgegengesetzten Richtung von der, in die ich muss. <
>Pass bloß auf dich auf. < bitte ich ihn leise. Er grinst und zwinkert mir keck zu, als er sich seinen Rucksack um die Schulter wirft.
>Schlaf gut Kleines. Wehe du bist noch auf den Beinen, wenn ich wiederkomme. < erwidert er tadelnd und ich grinse unschuldig zu ihm. Er zieht die Tür hinter sich zu und fährt schließlich davon. Da mir kurz nach seinem Verschwinden langweilig ist und ich noch nicht müde bin, stelle ich den TV-Sender um und suche nach einem wo Musik läuft. Sam's Handywecker nach zu urteilen, steht er offensichtlich auf Metallica – aber vielleicht ist es auch nur dieser eine Song, den er so sehr mag. Auf jeden Fall hat er es gern etwas rockiger und obwohl er nicht hier ist, suche ich danach. So fühlt es sich irgendwie an, als wäre ich gar nicht alleine.
Als ich endlich fündig geworden bin, werfe ich eine Waschmaschine an und fange an, ein paar Räume vom Staub zu befreien. Es ist vielleicht nicht gerade die übliche Zeit für so etwas, aber gemacht werden muss es. Das war schließlich der Deal zwischen Sam und mir und tagsüber habe ich nun genug andere Beschäftigungen über mehrere Wochen hinweg.
Ab und zu sehe ich dabei nach draußen. Dort ist der Mond kaum zu erkennen. Die Wolken ziehen so über ihn hinweg, dass es aussieht wie in einem Horrorfilm, indem gleich der Werwolf hervorspringt. Mir ist ziemlich kalt, daher schnappe ich mir eine Jacke von Megan aus meinem Zimmer und mache den Kamin an. Nach getaner Arbeit setze ich mich wieder.
Der TV-Sender springt zu einer gewissen Uhrzeit schließlich um und spielt keine Musik mehr, sondern uralte Serien. Wie immer, wenn Sam nicht da ist, versuche ich die Zeit totzuschlagen aber das funktioniert immer nur eine Weile. Schließlich, da sein Haus sauber ist und ich nichts mehr zu tun habe, sitze ich auf seinem Sofa und versuche nicht an seine Zielperson zu denken.
Stunden später
Obwohl ich die üblen Gedanken verdrängen wollte, habe ich in dieser Nacht ein alarmierendes Gefühl und ich weiß einfach nicht weshalb. Ich bin immer bloß im 10-Minuten-Takt auf dem Sofa eingeschlafen aber wollte nicht ins Bett gehen. Sam kommt heute ewig nicht zurück. Er dachte, es würde nicht lange dauern aber es sind inzwischen 4 ½ Stunden vergangen. Um mich abzulenken zappe ich durch das nächtliche TV-Programm, indem nur Schrott läuft. Genervt werfe ich die Fernbedienung auf das Sofa, lege mir Megs Jacke enger um den Brustkorb und laufe ziellos im Haus umher. Das macht mich wiederum eher munter als müde.
Nach Lesen ist mir absolut nicht, nach Fernsehen ist mir nicht, nach schlafen auch nicht. Ich will, dass Sam endlich zurückkommt. Gibt es einen Grund, weshalb ich mir Sorgen machen sollte oder braucht er heute eben einfach länger? Vielleicht hat er die Person verpasst oder sie tauchte überhaupt nicht dort auf, wo sie heute hätte sein sollen. Schließlich ändern Leute ihre Pläne und auch Sam's Insider können nicht immer perfekt sein und die Zukunft vorhersagen.
Ich gehe in die dunkle Küche, lasse allerdings das Licht im Flur an, um nicht vollkommen in der Finsternis zu stehen. Eher aus Langeweile als aus einem Hungergefühl heraus, öffne ich die Kühlschranktür und mache sie wieder zu, ohne mir etwas herauszuholen. Ich werde innerlich immer unruhiger und lehne mich mit wippendem Bein gegen die Küchenzeile. Mein Blick geht nach draußen in die dunkle Nacht bis ich mir einbilde, etwas zu sehen.
Vielleicht schimmert das Flurlicht auf der Fensterscheibe? Nach ein paar weiteren Sekunden bin ich mir allerdings sicher, dass ich mich nicht täusche. Denn helle Scheinwerfer tauchen mitten im Wald auf, die immer näher kommen. Es ist natürlich möglich, dass hier auch mal ein Fremder vorbeikommt, aber kaum habe ich meinen Gedanken zu Ende gedacht, da weiß ich, dass es Sam in seinem Pick-up sein muss. Endlich lache ich erleichtert auf.
Er kommt allerdings viel zu schnell auf das Haus zu. Er wird doch wohl nicht am Steuer eingeschlafen sein? Viel zu schnell rast er weiterhin auf mich und das Küchenfenster zu. Erst kurz vor der Hauswand macht er eine Vollbremsung, was mich automatisch vor Schreck schreiend gegen den Tisch hinter mir knallen lässt. Den Motor und die Scheinwerfer lässt er immer noch an und steigt nicht aus. Keuchend sehe ich verwirrt zu ihm und kann seine Gestalt nicht erkennen. Ich wundere mich, weil er einfach nicht aussteigt. Einen kurzen Moment warte ich noch, aber dann gehen Sekunden später die Alarmglocken bei mir an – hier stimmt irgendetwas nicht. Ich renne eilig in den Flur, springe barfuß in die offenen Stiefel von ihm und schließe die Tür auf, um zum Pick-up zu laufen.
Ich reiße die Fahrertür auf, bis mir Sam schon fast seitlich in die Arme fällt.
>Verdammt Sam was ist passiert? < rufe ich, als ich ihn stöhnen höre.
>Nichts, ist nur ein Kratzer. < sagt er angestrengt und stellt den Motor aus. Er hievt sich aus dem Wagen, allerdings lässt er sich von mir ziemlich stützen – was schon eine Menge bei ihm zu heißen hat. Sobald wir in die Nähe der Eingangstür kommen, sehe ich, dass er seine Hand auf seinen Bauch presst. Panik steigt in mir auf und ich bringe ihn rein, um ihn erstmal aufs Sofa zu legen. Er lässt sich schmerzvoll stöhnend wie einen nassen Sack fallen.
Um zu sehen, was ihm fehlt, mache ich das Deckenlicht im Wohnzimmer an und gefriere zu Eis. Er blutet am Bauch und das nicht gerade wenig, so angefeuchtet wie sein schwarzes Shirt aussieht. Ich versuche mich eilig wieder zu fangen und ziehe seine Jacke weiter auseinander und sein Shirt ein Stück nach oben. Sofort sind meine Fingerspitzen voller Blut.
>Was muss ich tun, Sam? < frage ich zu meiner Überraschung ruhiger als ich mich fühle.
>Geh in den Keller … da findest du Verbandszeug und Nähmaterial. Auf der rechten Seite im Spind … gleich ganz oben … findest du eine blaue Tasche. < japst er.
Ich nicke hektisch und springe auf, um sofort hinunterzulaufen. Das Licht im Keller flackert noch ehe es endlich anbleibt, aber da bin ich schon die Treppe runtergewetzt. Hektisch durchkrame ich den Spind und finde endlich was ich brauche. Ich verhasple mich und lasse die Tasche auf dem Weg direkt zweimal fallen. Ohne überhaupt eine Ahnung zu haben, was ich jetzt tun soll, renne ich damit zurück zu ihm. Er zieht sich bereits die schwarzen Handschuhe mit den Zähnen aus und verzieht schmerzhaft sein Gesicht.
>Und jetzt? < frage ich, als ich mich neben ihm auf die Knie werfe.
Sam versucht sich sein Shirt über den Kopf zu ziehen, aber er schafft es nicht allein, weshalb ich ihm helfe.
>Schon gut … ich mach das. < sagt er angestrengt und fischt in der Tasche nach allen nötigen Dingen. >Es ist okay …Kleines. Danke für deine Hilfe. Geh wieder … ins Bett. <
>Bist du verrückt? Ich lasse dich doch nicht allein. <
>Doch das tust du! Das musst du nicht sehen. < sagt er zorniger.
>Nein! Dieses Mal lasse ich mir nichts von dir sagen – außer was ich bei deiner Wunde tun muss. Also sag´s mir endlich! <
Er blickt mich kurzatmig und stur an, überlegt es sich dann aber offensichtlich doch anders.
Sam nimmt seine Hand von der blutenden Wunde und mir wird sofort übel.
>Versuche das Blut wegzutupfen und desinfiziere die Wunde. < erklärt er keuchend und greift in die Tasche hinein, um sich selbst eine steril verpackte Spritze und eine gläserne Ampulle herauszuholen. Darauf lese ich Morphium. Gott sei Dank ist das Fläschchen bei dem Aufprall im Keller nicht kaputtgegangen.
Ich packe schnell ein Paar Handschuhe aus und ziehe sie drüber. Dann lege ich ein paar der verpackten Tupfer auf seine Wunde und versuche das zu tun, was er sagte. Ich finde das Wunddesinfektionsmittel und halte es ein paar Zentimeter vor seinen Bauch.
>Das wird dir bestimmt wehtun. < warne ich ihn vor.
>Jetzt mach schon! <
Ich sprühe drauflos und er windet sich lautlos vor Schmerz, worauf ich solidarisch ebenfalls mein Gesicht verziehe. Die Wunde blutet stark, sodass ich kaum etwas erkennen kann. Als Sam den scharfen, brennenden Schmerz verdaut hat, setzt er die Nadel der Spritze in die Ampulle und zieht das Schmerzmittel ein.
>Das sieht aus wie ein langer, breiter Messerschnitt. < sage ich, als ich die Wunde genauer betrachte.
>Es war eine …scharfe Eisenstange. Der Mistkerl wollte nicht so schnell aufgeben, aber letzten Endes … bin ich doch der Bessere gewesen. < schnauft er und lächelt zufrieden.
>Das klären wir hinterher, wenn du noch lebst. <
>Bleib ruhig. Ich hatte schon schlimmere Verletzungen. <
>Oh also das beruhigt mich ja jetzt. Soll ich dir vielleicht einen Tampon holen? < antworte ich sarkastisch und finde das alles andere als lustig.
Er hingegen lacht, bereut es aber sofort wieder, weil der Schmerz durchschießt. Länger hält er es offenbar nicht mehr aus und injiziert sich selbst das Morphium in seine Vene.
Ich drücke noch ein paar Tupfer auf die desinfizierte Wunde und versuche somit die Blutung etwas zu stoppen.
>Und was mache ich jetzt? < frage ich als meine Hände bereits eingefärbt sind.
Sam zieht die Nadel aus seinem Arm und lässt den Kopf auf ein Sofakissen sinken. Gott sei Dank wirkt das Mittel offenbar schnell. Er kramt entkräftet mit einer Hand in der Tasche herum und zieht dann eine chirurgische Nadel heraus – zumindest sieht es für mich so aus. Er führt einen starren Faden aus einer Verpackung hinein und gibt mir alles zusammen mit einer längeren Zange.
>Sprüh nochmal Desinfektion darauf und dann …musst du den Schnitt verschließen. <
Ich nicke und agiere irgendwie, ohne wirklich drüber nachzudenken, was ich tue. Als ich denke, dass Sam, ich und das gesamte Wohnzimmer steril sein müssten, halte ich mit der Zange die Nadel fest und zittere über seiner blutenden Wunde.
>Was ist los? < fragt Sam mit engen Augenschlitzen, weil ich innehalte.
>Ich will dir nicht wehtun. <
>Mach schon. Ich bin schon längst auf Droge. Es ist egal wie die Naht aussieht. <
Ich atme noch mal schwer aus und stelle mir vor, ich würde einfach einen Riss in der Hose nähen.
Sam zuckt trotz des Schmerzmittels minimal zusammen. Ich versuche so schnell und präzise zu arbeiten, wie ich es nur laienhaft machen kann. Es wäre besser gewesen, wenn ich Medizin studiert hätte, statt der verdammten Geisteswissenschaften. Was würde ich jetzt darum geben, meinen Collegefreund Sasha am Telefon zu haben, der mir ruhig zuredet und sagt was ich tun muss. Ich sehe immer wieder zu Sam, der mit jedem Stich seltener zusammenzuckt. Er sieht mich stattdessen mit schmalen Augen und schweißnasser Stirn an, aber sein Blick geht eher durch mich hindurch. Seine Lippen sind leicht geöffnet und er atmet flach. Ich versuche mit aller Macht meine Hände ruhig zu halten. Mit meinem unerfahrenen Auge kann ich nicht erkennen, ob er auch Organschäden hat – falls ja, dann bin ich die Letzte, die ihm helfen kann.
Ich gehe näher heran und versuche bei all dem Blut und Gewebe mehr zu erkennen, das für mich alles gleich aussieht. Aber schlussendlich – als ich immer wieder das Blut weggetupft habe, bin ich mir sicher, dass der Schnitt nicht so tief war, wie ich es befürchtet habe. Zum Schluss verbinde ich die Enden des Fadens und verknote sie um sie abzuschneiden.
Sam wirkt immer teilnahmsloser aber schaut mich weiterhin durch schmale Augenschlitze an. Großzügig desinfiziere ich zum wiederholten Mal seine Wunde, was ihn inzwischen nicht mehr zu stören scheint.
>Bryan. < murmelt er unverständlich. >Nein, nicht heute! Nicht heute. <
>Sam, kannst du mich noch hören? < wende ich unheilvoll ein. Fantasiert er jetzt?
>Bryan? <
>Nein, ich bin es. Nayeli. <
>Nayeli? < säuselt er erst irritiert und fängt dann an zu grinsen. >Du … bist immer noch hier? <
>Klar bin ich noch hier. Du hast mir mein Leben gerettet und jetzt rette ich deines. <
Ich ziehe mir die Handschuhe ab und lasse ihn so liegen, laufe dann schnell in das untere Bad und wasche dort meine Hände bis hoch zu den Ellenbogen, an denen sein Blut klebt.
Dann fülle ich eine Schüssel mit warmem Wasser und gehe zurück an seine Seite.
>Sam? < frage ich nervös als er mit geschlossenen Augen daliegt. Ich lege meine Hand auf sein Herz und es erscheint mir eindeutig zu schnell, aber immerhin schlägt es. Er öffnet die Augen einen Spalt als ich vor ihm auf die Knie gehe und mich vor das Sofa hocke.
Mit dem Lappen tupfe ich vorsichtig das Blut von seinem restlichen Körper und wasche die Wundränder so weit wie ich herankomme. Zum Schluss spüle ich den Lappen im Bad aus und tränke ihn mit eiskaltem Wasser.
Er dreht seinen Kopf zu mir als ich wieder da bin und grinst. Jedoch atmet Sam ziemlich oberflächlich und hat Schweißperlen auf der Stirn, weshalb ich den kalten Lappen darauf liegenlasse. Ich geselle mich zu ihm an den Rand des Sofas und dabei setzt er ein so zufriedenes Grinsen auf, welches ich noch nie an ihm gesehen habe. Seine Hand legt sich auf meinem Knie ab und zärtlich streicht er mit seinem Daumen darüber, was ein Kribbeln in mir verursacht.
Ich ignoriere es und hole einen Gazeverband aus der Tasche, um ihn auf seine Wunde draufzulegen.
Als ich damit fertig bin, hocke ich mich auf den Boden und lege meinen Kopf auf meinem Arm ab, damit ich mit Sam auf gleicher Höhe bin.
Zittrig bewegt er seine Hand zu meinem Gesicht und legt sie gegen meine Wange.
>Komm her! < fleht er mit rauer Stimme.
Ich runzle die Stirn. Schließlich bin ich direkt vor ihm, wo soll ich denn noch hin?
Da ich denke, dass seine Stimme immer brüchiger wird und er nur will, dass ich ihn besser verstehe, bewege ich mein Gesicht näher zu seinem und beuge mich vor.
>Es wird alles wieder gut Sam. Du darfst mich nicht auch noch alleine lassen. Versprich es mir. <
>Okay Kleines. < flüstert er und seine Hand wandert von meiner Wange an meinen Hinterkopf. Er zieht mich noch mehr zu sich heran und küsst mich unerwartet. Noch heißeres Adrenalin rauscht mir durch den Körper als ohnehin schon.
Für einen kurzen Moment schließe ich meine Augen und lasse meine Lippen von seinen etwas auseinanderschieben, aber dann weiche ich schockiert zurück. Wenn er nicht so schwach wäre, hätte er mich locker daran hindern können.
>Sam du weißt nicht was du tust. Du bist im Delirium. <
Er feixt stattdessen leise und seine Hand geht von meinem Hinterkopf kraftlos auf das Sofa.
>Das hat mich schon die ganze Zeit interessiert … wie es ist. < murmelt er, schließt seine Augen und macht einen tiefen Seufzer.
>Was? Wie was ist? < frage ich verwirrt, aber er antwortet gar nicht. >Sam? Hallo? <
>Nicht heute! < wiederholt er noch einmal leise mit geschlossenen Augen und zieht die Augenbrauen zusammen.
Ich taste an seinen Hosentaschen herum bis ich sein Handy finde. Dort ziehe ich es heraus und bin froh, dass sein Akku noch ein paar Prozente hat. Eilig stecke ich es ans Ladekabel und gehe auf die Entriegelung. Wie ich es mir dachte, hat Sam aber einen Zahlencode drin. Soweit ich weiß, kann ich trotzdem irgendwie den Notruf anrufen, auch wenn ich nicht in sein Menü komme. Mir fällt plötzlich die Schublade in seinem Zimmer ein, in der dutzende Prepaidtelefone sind. Im Notfall nehme ich eines von denen. Ich werfe Sam einen erneuten Blick zu. Er atmet wieder ruhiger aber er scheint vollkommen weg zu sein. Nervös beiße ich mir auf die Unterlippe, die immer noch von dem brennt, was er eben getan hat. Dem Ganzen sollte ich absolut keine Bedeutung beimessen, der arme Kerl ist immerhin vollkommen zugedröhnt. Mit etwas Überwindung lege ich sein Handy auf den Tisch und verwerfe erstmal den Gedanken mit dem Krankenwagen. Das würde er mir wohl übel nehmen wie ich ihn kenne – öffentliche Krankenhäuser sind für ihn wie eine Mausefalle. Aber dieses Risiko werde ich jederzeit eingehen, wenn es ihm schlechter geht. Wenn doofe Fragen gestellt werden, wie er verletzt wurde, dann würde ich mir schon irgendetwas einfallen lassen.
Statt Hilfe zu holen, streiche ich ihm über seine Wange. Er hat mir einen echten Schrecken eingejagt. Gerade Sam wirkt immer so, als könnte ihn nichts umhauen. Das zeigt mir, wie gefährlich sein Job und wie normal er als Mensch eigentlich ist. Dem Mistkerl, der ihm das angetan hat, sollte ich eigenhändig den Kopf abreißen, aber das ist ja schon längst geschehen.
Ich bin nur froh, dass Sam derjenige von beiden ist, der noch atmet. Hoffentlich tut er es auch morgen noch. Langsam flaut mein Adrenalinspiegel ab und ich verstehe was hier eigentlich passiert ist. Ich musste irgendwie funktionieren und habe dabei gar nicht gemerkt, wie viel Angst ich eigentlich um Sam hatte und immer noch habe.
Meine Hand fährt über seine kurzen Haare und er knurrt irgendetwas Unverständliches. Sam ist nicht mehr ansprechbar, aber er atmet und sein Herzschlag fühlt sich inzwischen regelmäßiger an. Wenn es ihm schlechter geht, dann werde ich aber nicht länger warten und sofort den Notarzt anrufen, egal was er davon halten würde. Ich decke ihn bis zur Brust zu und setze mich wieder neben ihn auf den Boden. Mir ist klar, dass ich ihn die ganze Nacht nicht aus den Augen lassen werde und bei ihm bleibe.
Den kühlen Lappen auf seiner Stirn erneuere ich noch einmal. Von dem Wasser sind meine Hände so kalt, dass ich sie links und rechts an sein Gesicht lege, das genauso heiß ist, wie der Rest.
>Lass mich nicht alleine, hörst du? < flüstere ich und lege meinen Kopf an seine Schulter.