Fingerabdrücke bleiben
von Lynnix
Kurzbeschreibung
Nayeli genießt ihre letzte Woche als Studentin und lebt mit ihrer indianisch stämmigen Familie in einem alten Haus neben den Klippen des Superior Lakes. Sie kann es kaum erwarten ihren künftigen Job anzutreten, mit dem ihr eine aussichtsreiche Zukunft bevorsteht. Trotz Strapazen empfindet sie ihr Leben als perfekt aber was sie bis zu dem Zeitpunkt noch nicht weiß ist, dass ihr Vater eine große Last mit sich herumschleppt, dessen Folgen ihr den Boden unter den Füßen wegreißen werden. Die junge Frau lernt jemanden kennen, von dem sie noch nicht weiß, ob er Freund oder Feind ist. Plötzlich ist sie auf fremde Hilfe angewiesen, muss hinter Masken sehen, verstehen wie korrupt das Land ist, in dem sie lebt und auf schmerzhafte Weise Stück für Stück erfahren, wie tief ihr Vater in die Ereignisse verstrickt war. Sie muss Entscheidungen treffen, von denen sie glaubte, so etwas niemals tun zu müssen. Aber wie weit muss sie gehen um Schmerzen und Verlust zu überwinden?
GeschichteDrama, Krimi / P16 / Gen
23.02.2018
25.11.2021
129
578.228
7
Alle Kapitel
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30.11.2018
5.113
Kapitel 03 - Gesichter
Ich lasse mich mehr in Sam's Pick-up hineinfallen, als elegant einzusteigen. Mühevoll greife ich mit dem Arm nach hinten, um mich anzuschnallen.
>Oh Gott, ich werde morgen überall blau sein und Muskelkater haben. < klage ich.
>Davon kannst du ausgehen. Wie fandst du es? <
>Tja das ist auf jeden Fall was anderes als mein Studium, soviel ist sicher. Allerdings war es echt spannend und hat mit den anderen Schülern ziemlichen Spaß gemacht, aber es war auch ein bisschen unheimlich. <
>Unheimlich? <
>Ja. Die Vorstellung so nah an einem Kriminellen dran zu sein, ist irgendwie surreal. Und Henry redete so düster darüber. <
>Das ist etwas ganz anderes, wenn du das erste Mal Kontakt zu einem hattest. Du hast hier eine Grundausbildung und der Alltag wird dich erst formen. Wenn du in deinem ersten Monat gearbeitet hast, dann weißt du was ich meine. Du wirst mit der Zeit immer besser werden und dann wirst du dir die Finger danach lecken, an die Kerle heranzukommen, die die wirklich üblen Dinge tun. Die Kleinen interessieren dich dann überhaupt nicht mehr. <
>Du meinst, das trifft wohl eher auf dich zu. <
Er startet den Wagen, hält kurz inne und grinst dann zu mir.
>War das so offensichtlich? <
>Ziemlich. < kichere ich. >Aber das ist irgendwie auch so etwas Eigenartiges … Ich wollte nie etwas anderes, als mein eigenes Büro zu haben und plötzlich erlebe ich völlig unverhofft diesen Sinneswandel. <
>Manchmal ändert man seine Entscheidungen. Und wenn man das getan hat, ändert man sie wieder und wieder. Du kannst nicht wissen welchen Weg du in zwanzig Jahren einschlagen wirst aber ich hoffe, dass du nie einen davon bereuen wirst. <
Er fährt aus dem Parkhaus heraus, während die meisten anderen Autos bisher unbewegt bleiben.
Wenn ich so genau drüber nachdenke, habe ich meine Meinung selten geändert und hätte man meiner Familie nicht so etwas Schreckliches angetan, dann hätte ich auch jetzt nicht meine Entscheidungen abgeändert.
>Bereust du denn deinen Weg? < will ich wissen.
>Nein. Ich bin stolz auf das, was ich tue – auch wenn du es vielleicht für unmoralisch hältst. <
>Das tue ich gar nicht – nicht mehr jedenfalls. Zu dir passt es. < grinse ich.
Daraufhin wirft er mir einen skeptischen Seitenblick zu.
>Ein Killer zu sein passt zu mir? Sehe ich so furchteinflößend aus? <
>Wenn du diesen ganz speziellen Blick aufsetzt, dann ja. Diese kühlen, abgeklärten Züge passen wohl irgendwie dort hin. Vielleicht muss man das sein, wenn man so einen Job hat. <
>Soll ich dir den Blick beibringen? < fragt er amüsiert und ich lache allein bei der Vorstellung. Bei mir würde es wohl aussehen, als würde ich einen Schlaganfall bekommen. >Erzähl mir lieber, was du heute gelernt hast. < wendet er wieder ein.
>Bei Simon und Henry hatte ich Theorie. Beide Sachen waren relativ ähnlich und gingen um das unentdeckte Verhalten, wenn wir jemandem auf der Spur sind. Ich habe so viel mitgeschrieben, dass mir zwischenzeitlich die Hand wehtat. < daraufhin halte ich meinen Schreibblock etwas von mir weg, um mir meine Mitschriften anzusehen.
>Oh, bevor ich es vergesse … ich habe den hier für dich besorgt. Irgendwie musst du ja dein Zeug herumtragen. <
Er hebt einen Rucksack neben mir an, von dem ich dachte, es wäre seiner.
>Das ist super. Vielen Dank. < eilig packe ich meine neuen Klamotten dort hinein, sowie mein Schreibzeug.
>Und was hast du sonst noch gemacht? < will er wissen.
>Bei Lukaz hatten wir Selbstverteidigung. Dabei habe ich häufiger zusammengezuckt als ich abgewehrt habe, aber mein Partner wollte immer wieder, dass ich mit dem linken Bein zutrete … das war ziemlich grenzwertig. <
>Lass dir deine Verletzungen nicht anmerken. Die Krücken hast du beeindruckender Weise so schnell es ging in die Ecke geworfen und dein Bein recht schnell vollständig belastet. Du bist verdammt hart im Nehmen und das solltest du ausnutzen. Deine Schmerzgrenze ist erstaunlich hoch und aus genau diesem Grund habe ich dich schon in die Schule hineingesteckt. Bei mir langweilst du dich sonst nur. <
>Das mag ja sein, aber ich habe Angst etwas kaputtzumachen. <
>Das Einzige, das du kaputtmachst, ist deine Hemmschwelle. Du fandst die anderen Schüler neben dem Gebäude gestern fesselnd, genauso wie Lukaz´ Techniken und du willst gern wissen, wie weit du kommen und wie gut du werden kannst. Ich im Übrigen auch. <
>Wow. Wer von uns beiden hat nochmal ein paar Blöcke Psychologie gehabt? <
>Ich lese dich wie ein Buch Kleines. Deine Blicke verraten so viel von dir, dass du manchmal gar nichts sagen brauchst. <
Daraufhin grinse ich. Es stimmt schon, meistens liegt er ziemlich richtig mit seinen Vermutungen.
Wir sind bereits aus dem Waldstück heraus und kommen wieder auf die freie Landstraße, wo dicht dahinter hoffentlich diese ganzen Pferde stehen werden. Ich habe meinen ersten Tag an dieser Schule überlebt und es war nicht so schlimm wie ich dachte.
>Auf jeden Fall ist das Tempo, was sie einem dort aufbrummen, nicht gerade ohne. < werfe ich noch zusätzlich ein.
>Das muss es auch. Sie haben nicht gerade viel Zeit für euch. <
>Ist das denn wirklich realistisch, dass ich danach voll einsetzbar bin? Ich kann mir das überhaupt noch nicht vorstellen. <
>Auf einer FBI Academy ist man in 9 Monaten fertig und da lernen sie absolut alles.
Ermittlungen und Vernehmungen sind nicht eure Sache, das macht ihr in abgewandelter Form, da ihr bis zu eurem Einsatz bereits die meisten Informationen habt. Aber das Festnehmen, Schießen und Kämpfen musst du genauso gut können. Sei nicht so ein Grübler. Ich wette du hast dich besser geschlagen, als du es zugeben willst. <
>Na ja … Cataley hat uns zum Schluss Schießen lassen und ich fand, ich war eigentlich ganz gut, nachdem ich mich mal gefangen hatte. Ich musste die umherfliegenden echten Geschosse nur irgendwie ignorieren. < murmle ich etwas angespannt.
>Mit was hast du geschossen? <
>Mit einem einfachen Jagdgewehr. Ich musste nach jedem Schuss nachladen. <
>Und wie war sie drauf? <
>Wer? Cataley? < er nickt. >Irgendwie war sie etwas mürrisch aber sie hat nicht wirklich mit mir geredet. <
Daraufhin verzieht Sam den Mund. Bei Cataley bin ich mir noch nicht so sicher, was sie für ein Mensch ist und deswegen will ich nicht drüber reden.
>Was hast du denn so lange getrieben, während man mich vermöbelt hat? < setze ich erneut an.
>Ich war bloß eine gute halbe Stunde von dir entfernt. Das war so ähnlich wie mit David Pimps. Ich spioniere einem Spion hinterher, ohne dass er merkt, dass ich spioniere. Ich bin ganz gut vorangekommen. Der Kerl hat sich für eine ganze Woche ein Hotelzimmer gemietet. Ich werde schon noch näher an ihn herankommen. <
>Ist er jemand den du umbringen wirst? <
>Nein. Aber er kennt ein paar Leute, die auf meiner Liste stehen. Und deswegen ist er in Schwierigkeiten … in verdammt Großen sogar. <
Wollen wir hoffen, dass Sam es schafft den anderen Zielpersonen den Gar auszumachen, ehe seine Schwierigkeiten ausufern. Schließlich weiß ich aus eigener Erfahrung, dass der Zeitfaktor eine wichtige Rolle spielt.
Nach über einer Stunde kann ich nicht mehr sitzen und strecke meinen Rücken durch. Erst dann merke ich wie Sam meinen Körper mustert.
>Was ist denn los? < frage ich.
>Der Aufzug steht dir gut. Ich bin wirklich stolz auf dich, dass du das durchziehen willst. <
>Du weißt, dass ich das inzwischen aber nicht nur für dich tue, oder? <
>Ja und das finde ich sogar noch besser. < erwidert er grinsend.
>Ich frage mich nur was meine Eltern denken würden, wenn sie wüssten, was für eine Richtung ich gerade einschlage. <
>Keine Ahnung. Sie wären stolz nehme ich an. <
Ich zucke nur mit den Schultern. Meine Mum war ein totaler Waffengegner und hat es gehasst, wenn mein Dad die Schrotflinte herausholte. Ich glaube nicht, dass sie stolz wäre aber ich kann sie schlecht danach fragen.
>Mich hat heute übrigens eine Anwärterin gefragt, wo ich herkomme. Da habe ich ganz schön Schweißausbrüche bekommen. Ich musste erstmal überlegen, welche Städte in Tennessee sind. <
Daraufhin starrt mich Sam entgeistert an und keucht:
>Und was hast du gesagt? <
>Nashville. Wieso? <
>Hast du eigentlich jemals auf deinen Pass gesehen, außer auf den Namen? <
>Ehrlich gesagt nein. Der Deckname hat mich so abgeschreckt, dass ich nichts anderes sehen wollte. <
Sam lässt genervt den Kopf gegen die Kopfstütze prallen.
>Oh Mann Kleines. Das müssen wir heute Abend aber echt noch üben. Du hast Glück, dass dort tatsächlich Nashville steht. Dein Geburtsdatum ist gleichgeblieben. <
Ich schlucke lautstark. Daran hatte ich ja gar nicht gedacht. Fast hätte ich die ganze Tarnung zunichtegemacht. Sophia, Dimitrij und Sam haben so viel Arbeit in meinen Zeugenschutz gesteckt, dass ich wirklich etwas aufgeschlossener gegenüber meiner falschen Identität sein sollte. Müde sehe ich aus dem Fenster und verfolge die Sonne, die so wirkt, als würde sie während der Fahrt neben uns hergleiten. Ich fühle mich als wäre eine Verbindung zu meiner Familie gekappt worden. Dieser Name und dieser Weg des Bounty Hunters sind etwas, dass mich irgendwie von ihnen entfernt. Letztendlich versuche ich den Gedanken an sie lieber zu verdrängen. Nicht dass ich nicht an sie denken möchte – das ginge auch überhaupt nicht, aber ich will mich nicht wieder so schlecht und allein fühlen. Ich hätte es niemals für möglich gehalten, dass man so sehr trauern kann, dass einen das beinahe auffrisst. Noch vor kurzem konnte ich an nichts anderes denken und fing schon an zu weinen, wenn ich nur eine bestimmte Situation von früher im Kopf hatte. Das ist zwar inzwischen etwas besser, aber ich weiß, ich habe es nicht im Griff und fürchte mich vor dem Moment, in dem ich einfach wieder damit beginne, heillos loszuschluchzen.
>Du bist plötzlich so ruhig. < wendet Sam ein.
>Ich bin k.o., das ist alles. <
Nach insgesamt 1 ½ Stunden sind wir endlich wieder zurück und ich bin so erledigt, dass ich am liebsten gleich ins Bett gehen würde. Die Klamotten, die ich bekommen habe, wasche ich lieber nochmal durch und stecke sie erstmal mit der restlichen Schmutzwäsche in die Waschmaschine. Dann suche ich Sam und finde ihn in seinem Wohnzimmer. Er sieht genauso müde aus wie ich, muss sich aber offenbar wieder an seinen Laptop setzen. Ich glaube so etwas wie einen freien Tag hat er selten. Im Hintergrund läuft gerade ein Footballspiel der Carolina Pathers gegen die Minnesota Vikings.
>Wenn das okay ist, würde ich erst gern duschen gehen und dann was kochen. Ich habe das Gefühl, drei Tage lang kein Wasser am Körper gehabt zu haben. <
>Lass dir ruhig Zeit. Ich kann auch etwas machen. < wendet er ein und sieht kurz von seinem Laptop hoch. Daraufhin schaue ich etwas skeptisch. >Jetzt guck nicht so. Inzwischen habe ich deinetwegen doch einen Gewürztempel. Irgendetwas bekomme ich schon hin. Also lass dir Zeit. <
>Okay. < murmle ich misstrauisch mit spitzem Mund und gehe ganz schleunig wieder raus. Im Badezimmer schließe ich sofort die Tür hinter mir zu. Nachdem was gestern Morgen in der Dusche passiert ist, bin ich nicht scharf darauf, dass sich das wiederholt. Na ja … zumindest nicht darauf, dass er mich einfach wieder allein zurücklässt.
So wie er sagte, lasse ich mir alle Zeit der Welt. Unter dem Wasser fühle ich mich gut und erschöpft im selben Moment. Ich bin so froh, endlich wieder etwas machen zu können. Dieses ewige Herumsitzen und in den Tag hineinleben ist einfach nicht mein Ding, trotz dem was passiert ist. Wahrscheinlich brauche ich gerade deswegen die Ablenkung. Stille und Einsamkeit sind die Kombination, die es schlimmer machen und mich erst recht in meinen Kummer zurückwerfen.
Diese ganze Aktion und die vielen sozialen Kontakte an der Schule kommen mir da gerade recht. Allerdings etwas Vergleichbares wie heute, habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gemacht.
Selbst wenn ich versuche meine Muskeln leicht zu kneten, tun sie weh – aber auf eine merkwürdige gute Weise. Auch wenn die Wärme hilft, will ich Sam nicht allzu lang allein in der Küche lassen. Das mit dem Frühstück bekommt er ja noch ganz gut hin, aber alles andere ist eher nicht sein Ding. Ich beeile mich mit dem Abtrocknen und föhne mir eilig die Haare. In ein Handtuch gewickelt, tapse ich zu meinem Zimmer und rieche auf der kurzen Strecke durch den Flur bereits irgendetwas Seltsames.
„Oh Gott Sam was hast du getan?“, denke ich bereits verschwörerisch. Ich nehme mir ein paar saubere Klamotten, ziehe mich an und will mir das Übel ansehen. Sobald ich um die Ecke komme, steht er fragend mit einer Packung in den Händen da und schaut ratlos in die Pfanne.
Ich riskiere einen Blick hinein und muss mich wirklich anstrengen, nicht laut loszulachen. Sollen das etwa Chicken Nuggets sein? Mit einer Gabel steche ich hinein, aber komme nicht einmal durch das Fleisch.
>Das ist verbrannt und gefroren zur selben Zeit. < wende ich ernst ein und muss meine Mundwinkel mit aller Macht unten halten.
>Hier steht, man soll sie alle in die Pfanne hauen und wenden, wenn eine Seite braun ist. Das habe ich doch getan. < meckert er. >Ach egal. Ich habe gerade schnell was vom Chinesen geholt, das ist zumindest essbar. <
Er deutet auf den Küchentisch, wo eine weiße Tüte steht und von wo zumindest ein angenehmer Duft hervorkommt. Ich nehme ihm die Papierschachtel der Nuggets aus den Händen, schnappe mir die Pfanne und haue den Inhalt in den Müll.
>Du kannst das tiefgekühlte Zeug nicht ins heiße Öl werfen. Die Panade verbrennt dir, bevor der innere Kern überhaupt aufgetaut ist. <
>Siehst du! Deswegen bin ich ein Freund von Dosenravioli – das muss nur noch in die Mikrowelle. <
>Wolltest du mir nicht gestern erst weismachen, dass du sehr eigen bist, was Essen angeht? < feixe ich und gehe zum Besteckkasten, um alles herauszuholen.
>Wenn ich essen gehe, dann stimmt das auch. Aber selbst kochen … na ja du siehst es ja. Kaffeekochen, ein Reh auf den Grill werfen und Fisch räuchern ist alles, was ich kann. <
>Hey unterschlage nicht deinen Meerrettichdip Der ist einmalig. <
Er schüttelt grinsend den Kopf und öffnet derweil den Knoten der Tüte. Er holt zwei große Nudelboxen heraus und legt dann stirnrunzelnd zwei golden verpackte Werbeartikel auf den Tisch.
>Oh cool, Glückskekse. < juble ich.
>Jetzt sag mir nicht, dass du an sowas glaubst. <
>Wieso denn nicht? Das ist doch lustig. <
Ich fische zu den beiden winzigen Tütchen und drücke ihm eines in die Hand. Wie ein kleines Kind an Weihnachten mache ich die Verpackung auf, breche den Keks durch und lese den Zettel vor.
>Wende dein Gesicht der Sonne zu, dann fallen die Schatten hinter dich. <
>Oh ja ganz tolle Weisheit. Das hätte ich dir auch sagen können, dazu brauchst du keinen Spruch im Keks. < erwidert Sam ausdruckslos.
>Jetzt sei nicht so ein Miesmacher. Was steht in deinem? <
Er rollt mit den Augen und knackt den Keks in einer Hand auf. Aus den kaputten Teilen fischt er den Zettel und liest leise für sich.
Erst schaut er unbeeindruckt aber dann wird seine Unterlippe schmal und seine Augen groß, bevor er mir einen flüchtigen Blick zuwirft.
>Was ist? < will ich wissen.
>Da steht: „Hilfe, ich werde in einer Keksfabrik gefangen gehalten.“ <
>Sehr witzig. Gibt schon her. < erwidere ich und halte meine Hand auf.
Er zieht seine Hand weg, damit ich den Zettel nicht in die Finger bekomme.
>Da steht, heute ist mein Glückstag und ich soll Lotto spielen. <
>Ich bezweifle, dass du das nötig hast. < werfe ich überzeugt ein.
Er grinst, zerknüllt den Zettel und wirft ihn in den Mülleimer. Mit den zwei Nudelboxen und den Gabeln – die er mir aus der Hand nimmt, läuft er in Richtung des Wohnzimmers.
Statt ihm sofort zu folgen, greife ich in den Mülleimer rein und falte den Zettel wieder auf, den er weggeworfen hat. So viel Theater nur wegen eines Spruches, aber dann lese ich:
„Manchmal steht das Glück direkt vor uns. Wir müssen nur unsere Augen öffnen.“
Hmm okay, vielleicht sind Glückskekse ja wirklich Unsinn aber zumindest sind sie lecker. Ich folge ihm ins Wohnzimmer und sehe, wie er gerade eine Flasche Wein öffnet, worauf ich ihn irritiert ansehe.
>Ich hatte heute Morgen einen Kater. Gibt es etwas zu feiern, dass sich das wiederholt? < frage ich.
>Ich finde schon. Dein Einstieg in die beste Bounty Hunter Schule ist doch die Sache wert, oder? <
Daraufhin grinse ich. Ob meine Eltern stolz wären weiß ich wirklich nicht, aber Sam's Begeisterung und sein Grinsen sind mir im Moment mehr als genug. Ich halte ihm ein Glas hin und lasse es von ihm füllen.
Eine chinesische Nudelbox, Rotwein, Kaminfeuer und Football. Also wenn das mal kein Zusammentreffen zweier Welten ist, dann weiß ich auch nicht. Der heutige Tag ist sowieso mit keinem Vorherigen zu vergleichen, denn wir haben uns viel mehr zu erzählen als sonst und ich bin endlich geistig und körperlich ausgelastet.
Wir verfolgen beide das Spiel, auch wenn es nicht mehr lange geht. Trotzdem ist es ja wohl klar, dass wir Minnesota die Daumen drücken müssen.
Auf dem Couchtisch steht noch Sam's Laptop, den ich einfach etwas zur Seite gestellt habe. Die ganze Zeit habe ich ihn nicht wirklich beachtet aber seit fünf Minuten muss ich immer wieder hinsehen. Sein USB-Stick steckt im Port und blinkt immer wieder auf.
>Nein! Was verzapfen die denn für einen Mist? < keucht Sam und sorgt dafür, dass sich mein Blick wieder zum Fernseher richtet. Minnesota kackt so richtig ab, würde mein Dad jetzt sagen. Ich stelle meine leere Nudelbox beiseite, ziehe die Beine an und schnappe mir das Weinglas. Eine Weile sehe ich mir das Trauerspiel noch an, aber irgendwie können wir beide bei dem Spiel gar nicht zusehen, weswegen Sam bereits freiwillig das Besteck in den Geschirrspüler, sowie die Verpackungen in den Müll geräumt hat und ich derweil die Wäsche aufhing.
Als ich zurück ins Wohnzimmer komme, wird gerade der Schlusslaut abgegeben und der Sieger steht fest – natürlich nicht Minnesota. Ich gieße mir den letzten Schluck Wein in den Mund und setze mich zu Sam.
>Schöner Mist. < flucht er. >Dann lass uns lieber etwas Sinnvolles tun und erzähl mir wann du geboren bist. <
>Am 21.09.1996<
>Und wo? <
>In Nashville, Tennessee. <
>Okay, so etwas wie heute darf nie wieder passieren. Offenbar müssen wir doch ein paar Dinge festlegen, wenn du dort ein paar Kontakte knüpfen willst. Also, du bist dort auf die Lockeland Elementary School gegangen und danach warst du auf der East Junior Highschool. Einen Uniabschluss hast du nicht, weil du nach vier Semestern dein Studium an der Vanderbild University abgebrochen hast. Und weshalb hast du abgebrochen? <
>Ich wollte keine Medizin studieren, so wie es sich meine Eltern für mich vorstellten. < leiere ich herunter.
>Genau. Danach hast du gelegentlich für ein knappes halbes Jahr gejobbt und bist nun auf dem Weg ein Bounty Hunter zu werden. Mit deinen Eltern hast du dich vollkommen zerstritten, weil sie mit deinem Werdegang nicht einverstanden waren. Dein Dad arbeitet für einen Automobilkonzern und deine Mum als Marketing-Leiterin bei einer Mediengruppe. Geschwister hast du nicht. <
>Was ist, wenn mich irgendjemand etwas zu medizinischen Dingen fragt, sobald er weiß, dass ich angeblich für zwei Jahre studiert haben soll? <
>Das halte ich für unwahrscheinlich, aber falls doch, dann sagst du eben, dass du es nicht weißt. Du hast die Uni nicht abgeschlossen und den gefragten Stoff nicht vermittelt bekommen oder von mir aus sag, dass du das eh nie kapiert hast. <
Daraufhin schürze ich die Lippen. Kim ist definitiv eine blöde Person, mit der ich mich noch anfreunden muss. >Alles andere wird nicht geändert. Wenn dich jemand nach deinem Lieblingsessen fragt, dann denke dir nichts aus, sondern antworte ganz normal. So, als wenn dich Megan fragen würde. Umso weniger wir erfinden, desto authentischer bist du. <
>Okay. < erwidere ich müde. Immerhin weiß ich ja, dass ich da durch muss. Mich hätte noch ein weitaus schlechterer Charakter treffen können.
Wieder fällt mein Blick auf seinen Laptop und ich mustere ihn nachdenklich. Dieser USB-Stick ist komplett vollgepackt mit Namen, Daten und Fakten über so viele Kriminelle. Mich würde interessieren, wie viele davon bereits durch Sam oder einen anderen seiner Kollegen abgehakt sind. Ich drehe den Stil meines Glases gedankenverloren zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her. Plötzlich schnipst Sam vor meinem Gesicht und ich schaue irritiert auf.
>Wo warst du denn gerade? < feixt er.
>Offensichtlich ziemlich vertieft. <
Er nimmt mir mein leeres Glas aus den Händen und schnappt sich seines auf dem Tisch, um es in die Küche zu bringen. Als er wieder zu mir kommt, schaltet er den Fernseher aus und setzt sich seitlich zu mir aufs Sofa, auf einem Bein sitzend.
>Über was grübelst du schon wieder so viel? < will er wissen. Meine Güte, merkt er denn alles?
>Du hast mir doch letztens deine Datenbank gezeigt. < wende ich vorsichtig ein.
>Und? <
>Bei Pimps´ Profil stand, dass er auf der Gehaltsliste von dem Kerl steht, der meinem Dad das Geld gab. Als ich nach ihm suchen wollte, da sagtest du, es wäre genug für mich gewesen aber ich würde sie gern sehen. <
Daraufhin presst er seine Lippen zusammen und setzt sich in eine aufrechte Position.
>Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist. Meistens kommt dann alles wieder hoch und ich finde, du schlägst dich heute ziemlich gut. Dass du gestern von Meg erfahren musstest, dass deine Familie beerdigt wurde, war nervenaufreibend genug. <
>Das war es, aber ich komme klar. Ich will nur sicher sein, dass ich nicht vergesse, wie sie aussehen. <
Sam überlegt kurz und seufzt, als wenn er nicht so ganz einverstanden damit wäre, aber schnappt sich dennoch seinen Laptop. Er tippt darauf herum und setzt sich dann enger neben mich.
>Ganz sicher? < fragt er noch einmal nach und sieht mich eindringlich an.
Ich nicke entschlossen. Dann stellt er mir den Laptop auf die Oberschenkel. Unten in der Menüleiste sind drei Dateien minimiert und eine Weitere ist vor meinen Augen geöffnet.
Ich lese den Namen von Mischa De Angelis. Er ist schon etwas in die Jahre gekommen, hat leichte Ansätze von grauen längeren Strähnen und eine leicht gebräunte Haut. Ansonsten ist er eher unscheinbar.
>Ist er Italiener? < frage ich.
>Na ja, ein halber. Er ist ein kleiner Möchtegern-Mafiaboss der seine Finger bei Erpressungen, Geldwäsche, Gewalt und Mord im Spiel hat. Seine Mafia-Hierarchie ist allerdings nicht gerade durchdacht, weswegen sie zu viele Fehler machen. Ich persönlich würde es eher als organisierte Kriminalität betiteln. <
>Mafia-Hierarchie? < frage ich ungläubig nach.
>Jeder Mafiaboss hat für gewöhnlich einen Berater und einen Unterboss. Dann gibt es sogenannten Kapitäne, Soldaten und ganz unten – am Ende der Nahrungskette, die Mitglieder. Dazu zählen Pimps und die anderen drei Kerle, die in deinem Haus waren. <
>Und der hier will einfach nur Geld haben, ohne sich die Hände schmutzig zu machen. < entgegne ich verächtlich und schaue auf den sogenannten Mafiaboss hinunter.
>Es geht immer nur um das Geld. Das, was er deinem Vater gegeben hat, wollte er natürlich auch mit Zinsen zurückhaben. Ihm war klar, dass dein Vater diesem Deal zustimmen würde, denn in seiner Lage hätte ihm eine Bank keinen Kredit mehr gewährt. <
Ich schüttle den Kopf, weil ich mich immer noch frage, wie er so etwas nur tun konnte. Den Italiener minimiere ich, da mich seine weiteren Taten nicht interessieren – ich wollte ihn nur vor Augen haben. Also rufe ich den Nächsten auf und das Bild erscheint fast über den gesamten Bildschirm.
Einen kurzen Augenblick läuft mir heißes Adrenalin durch den Körper. Denn nun sehe ich in ein hellhäutiges Gesicht, das ich leibhaftig gesehen habe. Ich lese den Namen Phillipe Dimech. Ich sehe die Tätowierung eines Totenschädels an seinem Hals, kinnlange braune Haare, eine Nase die ein bisschen krumm und etwas zu groß für das runde Gesicht ist.
>Er war es, der das Telefonkabel gezogen hat. < erkläre ich Sam.
>Der dich für eine Zehntelsekunde in seinen Fingern hatte? <
Ich nicke. Eine Weile starre ich auf das Bild und ich versuche ihn mir so gut es geht einzuprägen. In der Nacht als er in unserem Haus war, sah er genauso aus, mit genau diesem fiesen Blick und diesem leicht überheblichen Lächeln. Er war nass vom Regen draußen und zu allem bereit. Auch seine anderen Taten lese ich mir nicht durch, da mich nur seine Visage interessiert. Dann minimiere ich dieses Bild ebenfalls und öffne das Nächste. Ich spüre wie Sam mich von der Seite her mustert.
>Es geht mir gut. Sieh mich nicht so an. < murmle ich, ohne einen Seitenblick zu riskieren.
>Genau das finde ich ja gerade so verblüffend. <
Dann sehe ich doch zu ihm. Sein Blick ist nicht sorgenvoll, so wie ich es dachte, sondern ich erkenne einen leichten Anflug von Bewunderung und Stolz.
Ich wende mich wieder dem Laptop zu. Dieses Mal schaue ich erst auf das Bild bevor ich den Namen lese. Sam hat tatsächlich die Richtigen gefunden.
Die markanten Eigenschaften, wie das schlaffe Augenlid, die lange Nase, den Leberfleck auf der Nasenwurzel und die Glatze, habe ich mir in den kurzen Augenblicken wirklich gut gemerkt und konnte sie Dimitrij trotz Unsicherheit gut beschreiben. Es ist gruselig diesen Kerl so vor mir zu sehen. Und nun kenne ich endlich seinen Namen: Raphael McCurdy. Ihn sehe ich sogar noch länger an, als Dimech. Dann kann ich mich endlich losreißen. Einer ist immer noch übrig.
Als letztes sehe ich mir den Taliban an. Ich weiß nicht, ob er tatsächlich einer ist, aber für mich sah er so aus, als er vor mir stand. Dieser schwarze lange Bart, die kurzen Haare mit den Geheimratsecken, diese dunkle Haut, diese fast schwarzen und boshaften Augen. Sie sind alle hier in dieser Datenbank, aber er war es, der mich mit sich nehmen wollte. Lieber wäre ich dort freiwillig gestorben, als mich von diesem verdammten Kerl entführen zu lassen. Ich starre diesen Mann an, der meiner Familie das angetan hat. Er und der andere namens McCurdy hatten die blutigen Messer in ihren Händen. Sie waren es.
>Ich brauche dir den Blick eines Killers überhaupt nicht beizubringen. < teilt mir Sam monoton mit und mustert mich immer noch. >Du kannst ihn von ganz allein, wenn du diese Typen siehst. <
Erst dann merke ich was er meint. Ich habe unwillkürlich meine Kiefer aufeinander gepresst, meine Stirn in Falten gelegt und so sehr diesen Laptop angestarrt, dass ich erst wieder meine Augen durch mehrfaches Blinzeln befeuchten muss.
Ich stelle den Laptop auf dem Tisch ab und fahre mir durch die Haare.
>So ähnlich hast du geguckt, als ich erzählen musste, was passiert war. < wende ich ein.
>Ich habe eine blühende Fantasie und so wie du es Dimitrij erklärt hast, konnte ich mir ziemlich bildlich vorstellen, wie du um dein Leben rennen musstest. <
Dann wende ich mich wieder diesen verdammt dunklen Augen auf dem Bildschirm zu. Ich will noch wissen, wie er heißt, aber dann macht der Laptop ein paar klingelnde Geräusche und ein anderes Fenster öffnet sich vor meiner Nase.
>Wenn man vom Teufel spricht. Das ist Dimitrij. < kündigt Sam an, stöpselt den Laptop vom Kabel ab und verschwindet damit. Ich höre wie er das Gespräch – wahrscheinlich über das Darknet, annimmt und die Treppe nach oben läuft. Sicher geht es um gestern, weil ihm das, was mit meiner Familie passierte, entgangen ist.
Ich habe gesehen was ich sehen wollte und es ist schon ziemlich spät. Es ist wohl besser, wenn ich ins Bett gehe, damit ich morgen nicht so sehr durchhänge. Und wer weiß, wie lange Sam mit ihm spricht. Auf die Schnelle räume ich noch ein paar Sachen auf und schließe das Küchenfenster zu. Der Gestank der verbrannten Nuggets ist mittlerweile aus dem Haus. Für wenigstens fünfzehn Minuten verziehe ich mich noch mit meinen heutigen Mitschriften in mein Zimmer und lese mir nochmal alles genau durch. Auf keinen Fall will ich hinterherhängen oder schlecht abschneiden. Im Gegenteil, ich will mir selbst beweisen, dass ich das schaffen kann, auch wenn ich diesen Weg von selbst nicht eingeschlagen hätte.
Nach dem Lernen höre ich auf dem Weg zum Badezimmer, wie Sam die Treppe runterkommt.
>Schläfst du allein in deinem Bett oder brauchst du mich? < will er wissen. Ob ich ihn brauche? Auf jeden Fall!
>Nein schon gut. Ich schätze, das war gestern so ein Ausnahmezustand. <
>Ich will nur nicht, dass du Alpträume hast. Besonders jetzt nicht, nachdem du die Typen wieder gesehen hast. <
>Mach dir deswegen keine Gedanken – immerhin wollte ich es so und es geht mir gut. Die Alpträume kannst du sowieso nicht verhindern. Sie sind manchmal da und manchmal nicht, aber sie sind weniger schlimm geworden. <
>Wenn du mich aus dem Bett brüllst, dann bleibe ich bei dir und lasse mich nicht wieder wegschicken. <
Ich grinse ihn an und nicke zustimmend.
Sobald ich mich im Bad fertiggemacht habe, hüpfe ich endlich in das kuschlige Bett hinein. Es stimmte was ich Sam gesagt habe – es geht mir tatsächlich relativ gut. Ziemlich verrückt, wenn ich bedenke, wie bescheiden es mir gestern bei Dimitrij ging. Vielleicht sind diese Heulattacken so unberechenbar wie normal, aber im Moment fühle ich mich so, als könnte ich verhältnismäßig ruhig schlafen. An manchen Tagen scheine ich regelrecht eine tickende Zeitbombe zu sein und an anderen abgeklärt. Vielleicht liegt es auch an Sam's Stimmung – ist er gut gelaunt, dann bin ich es meist auch. Da ich morgen wieder um acht im Unterricht sitzen muss, packe ich noch eilig meinen Schreibblock zurück in den Rucksack, knipse das Licht aus und drehe mich auf die Seite.
Ich lasse mich mehr in Sam's Pick-up hineinfallen, als elegant einzusteigen. Mühevoll greife ich mit dem Arm nach hinten, um mich anzuschnallen.
>Oh Gott, ich werde morgen überall blau sein und Muskelkater haben. < klage ich.
>Davon kannst du ausgehen. Wie fandst du es? <
>Tja das ist auf jeden Fall was anderes als mein Studium, soviel ist sicher. Allerdings war es echt spannend und hat mit den anderen Schülern ziemlichen Spaß gemacht, aber es war auch ein bisschen unheimlich. <
>Unheimlich? <
>Ja. Die Vorstellung so nah an einem Kriminellen dran zu sein, ist irgendwie surreal. Und Henry redete so düster darüber. <
>Das ist etwas ganz anderes, wenn du das erste Mal Kontakt zu einem hattest. Du hast hier eine Grundausbildung und der Alltag wird dich erst formen. Wenn du in deinem ersten Monat gearbeitet hast, dann weißt du was ich meine. Du wirst mit der Zeit immer besser werden und dann wirst du dir die Finger danach lecken, an die Kerle heranzukommen, die die wirklich üblen Dinge tun. Die Kleinen interessieren dich dann überhaupt nicht mehr. <
>Du meinst, das trifft wohl eher auf dich zu. <
Er startet den Wagen, hält kurz inne und grinst dann zu mir.
>War das so offensichtlich? <
>Ziemlich. < kichere ich. >Aber das ist irgendwie auch so etwas Eigenartiges … Ich wollte nie etwas anderes, als mein eigenes Büro zu haben und plötzlich erlebe ich völlig unverhofft diesen Sinneswandel. <
>Manchmal ändert man seine Entscheidungen. Und wenn man das getan hat, ändert man sie wieder und wieder. Du kannst nicht wissen welchen Weg du in zwanzig Jahren einschlagen wirst aber ich hoffe, dass du nie einen davon bereuen wirst. <
Er fährt aus dem Parkhaus heraus, während die meisten anderen Autos bisher unbewegt bleiben.
Wenn ich so genau drüber nachdenke, habe ich meine Meinung selten geändert und hätte man meiner Familie nicht so etwas Schreckliches angetan, dann hätte ich auch jetzt nicht meine Entscheidungen abgeändert.
>Bereust du denn deinen Weg? < will ich wissen.
>Nein. Ich bin stolz auf das, was ich tue – auch wenn du es vielleicht für unmoralisch hältst. <
>Das tue ich gar nicht – nicht mehr jedenfalls. Zu dir passt es. < grinse ich.
Daraufhin wirft er mir einen skeptischen Seitenblick zu.
>Ein Killer zu sein passt zu mir? Sehe ich so furchteinflößend aus? <
>Wenn du diesen ganz speziellen Blick aufsetzt, dann ja. Diese kühlen, abgeklärten Züge passen wohl irgendwie dort hin. Vielleicht muss man das sein, wenn man so einen Job hat. <
>Soll ich dir den Blick beibringen? < fragt er amüsiert und ich lache allein bei der Vorstellung. Bei mir würde es wohl aussehen, als würde ich einen Schlaganfall bekommen. >Erzähl mir lieber, was du heute gelernt hast. < wendet er wieder ein.
>Bei Simon und Henry hatte ich Theorie. Beide Sachen waren relativ ähnlich und gingen um das unentdeckte Verhalten, wenn wir jemandem auf der Spur sind. Ich habe so viel mitgeschrieben, dass mir zwischenzeitlich die Hand wehtat. < daraufhin halte ich meinen Schreibblock etwas von mir weg, um mir meine Mitschriften anzusehen.
>Oh, bevor ich es vergesse … ich habe den hier für dich besorgt. Irgendwie musst du ja dein Zeug herumtragen. <
Er hebt einen Rucksack neben mir an, von dem ich dachte, es wäre seiner.
>Das ist super. Vielen Dank. < eilig packe ich meine neuen Klamotten dort hinein, sowie mein Schreibzeug.
>Und was hast du sonst noch gemacht? < will er wissen.
>Bei Lukaz hatten wir Selbstverteidigung. Dabei habe ich häufiger zusammengezuckt als ich abgewehrt habe, aber mein Partner wollte immer wieder, dass ich mit dem linken Bein zutrete … das war ziemlich grenzwertig. <
>Lass dir deine Verletzungen nicht anmerken. Die Krücken hast du beeindruckender Weise so schnell es ging in die Ecke geworfen und dein Bein recht schnell vollständig belastet. Du bist verdammt hart im Nehmen und das solltest du ausnutzen. Deine Schmerzgrenze ist erstaunlich hoch und aus genau diesem Grund habe ich dich schon in die Schule hineingesteckt. Bei mir langweilst du dich sonst nur. <
>Das mag ja sein, aber ich habe Angst etwas kaputtzumachen. <
>Das Einzige, das du kaputtmachst, ist deine Hemmschwelle. Du fandst die anderen Schüler neben dem Gebäude gestern fesselnd, genauso wie Lukaz´ Techniken und du willst gern wissen, wie weit du kommen und wie gut du werden kannst. Ich im Übrigen auch. <
>Wow. Wer von uns beiden hat nochmal ein paar Blöcke Psychologie gehabt? <
>Ich lese dich wie ein Buch Kleines. Deine Blicke verraten so viel von dir, dass du manchmal gar nichts sagen brauchst. <
Daraufhin grinse ich. Es stimmt schon, meistens liegt er ziemlich richtig mit seinen Vermutungen.
Wir sind bereits aus dem Waldstück heraus und kommen wieder auf die freie Landstraße, wo dicht dahinter hoffentlich diese ganzen Pferde stehen werden. Ich habe meinen ersten Tag an dieser Schule überlebt und es war nicht so schlimm wie ich dachte.
>Auf jeden Fall ist das Tempo, was sie einem dort aufbrummen, nicht gerade ohne. < werfe ich noch zusätzlich ein.
>Das muss es auch. Sie haben nicht gerade viel Zeit für euch. <
>Ist das denn wirklich realistisch, dass ich danach voll einsetzbar bin? Ich kann mir das überhaupt noch nicht vorstellen. <
>Auf einer FBI Academy ist man in 9 Monaten fertig und da lernen sie absolut alles.
Ermittlungen und Vernehmungen sind nicht eure Sache, das macht ihr in abgewandelter Form, da ihr bis zu eurem Einsatz bereits die meisten Informationen habt. Aber das Festnehmen, Schießen und Kämpfen musst du genauso gut können. Sei nicht so ein Grübler. Ich wette du hast dich besser geschlagen, als du es zugeben willst. <
>Na ja … Cataley hat uns zum Schluss Schießen lassen und ich fand, ich war eigentlich ganz gut, nachdem ich mich mal gefangen hatte. Ich musste die umherfliegenden echten Geschosse nur irgendwie ignorieren. < murmle ich etwas angespannt.
>Mit was hast du geschossen? <
>Mit einem einfachen Jagdgewehr. Ich musste nach jedem Schuss nachladen. <
>Und wie war sie drauf? <
>Wer? Cataley? < er nickt. >Irgendwie war sie etwas mürrisch aber sie hat nicht wirklich mit mir geredet. <
Daraufhin verzieht Sam den Mund. Bei Cataley bin ich mir noch nicht so sicher, was sie für ein Mensch ist und deswegen will ich nicht drüber reden.
>Was hast du denn so lange getrieben, während man mich vermöbelt hat? < setze ich erneut an.
>Ich war bloß eine gute halbe Stunde von dir entfernt. Das war so ähnlich wie mit David Pimps. Ich spioniere einem Spion hinterher, ohne dass er merkt, dass ich spioniere. Ich bin ganz gut vorangekommen. Der Kerl hat sich für eine ganze Woche ein Hotelzimmer gemietet. Ich werde schon noch näher an ihn herankommen. <
>Ist er jemand den du umbringen wirst? <
>Nein. Aber er kennt ein paar Leute, die auf meiner Liste stehen. Und deswegen ist er in Schwierigkeiten … in verdammt Großen sogar. <
Wollen wir hoffen, dass Sam es schafft den anderen Zielpersonen den Gar auszumachen, ehe seine Schwierigkeiten ausufern. Schließlich weiß ich aus eigener Erfahrung, dass der Zeitfaktor eine wichtige Rolle spielt.
Nach über einer Stunde kann ich nicht mehr sitzen und strecke meinen Rücken durch. Erst dann merke ich wie Sam meinen Körper mustert.
>Was ist denn los? < frage ich.
>Der Aufzug steht dir gut. Ich bin wirklich stolz auf dich, dass du das durchziehen willst. <
>Du weißt, dass ich das inzwischen aber nicht nur für dich tue, oder? <
>Ja und das finde ich sogar noch besser. < erwidert er grinsend.
>Ich frage mich nur was meine Eltern denken würden, wenn sie wüssten, was für eine Richtung ich gerade einschlage. <
>Keine Ahnung. Sie wären stolz nehme ich an. <
Ich zucke nur mit den Schultern. Meine Mum war ein totaler Waffengegner und hat es gehasst, wenn mein Dad die Schrotflinte herausholte. Ich glaube nicht, dass sie stolz wäre aber ich kann sie schlecht danach fragen.
>Mich hat heute übrigens eine Anwärterin gefragt, wo ich herkomme. Da habe ich ganz schön Schweißausbrüche bekommen. Ich musste erstmal überlegen, welche Städte in Tennessee sind. <
Daraufhin starrt mich Sam entgeistert an und keucht:
>Und was hast du gesagt? <
>Nashville. Wieso? <
>Hast du eigentlich jemals auf deinen Pass gesehen, außer auf den Namen? <
>Ehrlich gesagt nein. Der Deckname hat mich so abgeschreckt, dass ich nichts anderes sehen wollte. <
Sam lässt genervt den Kopf gegen die Kopfstütze prallen.
>Oh Mann Kleines. Das müssen wir heute Abend aber echt noch üben. Du hast Glück, dass dort tatsächlich Nashville steht. Dein Geburtsdatum ist gleichgeblieben. <
Ich schlucke lautstark. Daran hatte ich ja gar nicht gedacht. Fast hätte ich die ganze Tarnung zunichtegemacht. Sophia, Dimitrij und Sam haben so viel Arbeit in meinen Zeugenschutz gesteckt, dass ich wirklich etwas aufgeschlossener gegenüber meiner falschen Identität sein sollte. Müde sehe ich aus dem Fenster und verfolge die Sonne, die so wirkt, als würde sie während der Fahrt neben uns hergleiten. Ich fühle mich als wäre eine Verbindung zu meiner Familie gekappt worden. Dieser Name und dieser Weg des Bounty Hunters sind etwas, dass mich irgendwie von ihnen entfernt. Letztendlich versuche ich den Gedanken an sie lieber zu verdrängen. Nicht dass ich nicht an sie denken möchte – das ginge auch überhaupt nicht, aber ich will mich nicht wieder so schlecht und allein fühlen. Ich hätte es niemals für möglich gehalten, dass man so sehr trauern kann, dass einen das beinahe auffrisst. Noch vor kurzem konnte ich an nichts anderes denken und fing schon an zu weinen, wenn ich nur eine bestimmte Situation von früher im Kopf hatte. Das ist zwar inzwischen etwas besser, aber ich weiß, ich habe es nicht im Griff und fürchte mich vor dem Moment, in dem ich einfach wieder damit beginne, heillos loszuschluchzen.
>Du bist plötzlich so ruhig. < wendet Sam ein.
>Ich bin k.o., das ist alles. <
Nach insgesamt 1 ½ Stunden sind wir endlich wieder zurück und ich bin so erledigt, dass ich am liebsten gleich ins Bett gehen würde. Die Klamotten, die ich bekommen habe, wasche ich lieber nochmal durch und stecke sie erstmal mit der restlichen Schmutzwäsche in die Waschmaschine. Dann suche ich Sam und finde ihn in seinem Wohnzimmer. Er sieht genauso müde aus wie ich, muss sich aber offenbar wieder an seinen Laptop setzen. Ich glaube so etwas wie einen freien Tag hat er selten. Im Hintergrund läuft gerade ein Footballspiel der Carolina Pathers gegen die Minnesota Vikings.
>Wenn das okay ist, würde ich erst gern duschen gehen und dann was kochen. Ich habe das Gefühl, drei Tage lang kein Wasser am Körper gehabt zu haben. <
>Lass dir ruhig Zeit. Ich kann auch etwas machen. < wendet er ein und sieht kurz von seinem Laptop hoch. Daraufhin schaue ich etwas skeptisch. >Jetzt guck nicht so. Inzwischen habe ich deinetwegen doch einen Gewürztempel. Irgendetwas bekomme ich schon hin. Also lass dir Zeit. <
>Okay. < murmle ich misstrauisch mit spitzem Mund und gehe ganz schleunig wieder raus. Im Badezimmer schließe ich sofort die Tür hinter mir zu. Nachdem was gestern Morgen in der Dusche passiert ist, bin ich nicht scharf darauf, dass sich das wiederholt. Na ja … zumindest nicht darauf, dass er mich einfach wieder allein zurücklässt.
So wie er sagte, lasse ich mir alle Zeit der Welt. Unter dem Wasser fühle ich mich gut und erschöpft im selben Moment. Ich bin so froh, endlich wieder etwas machen zu können. Dieses ewige Herumsitzen und in den Tag hineinleben ist einfach nicht mein Ding, trotz dem was passiert ist. Wahrscheinlich brauche ich gerade deswegen die Ablenkung. Stille und Einsamkeit sind die Kombination, die es schlimmer machen und mich erst recht in meinen Kummer zurückwerfen.
Diese ganze Aktion und die vielen sozialen Kontakte an der Schule kommen mir da gerade recht. Allerdings etwas Vergleichbares wie heute, habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gemacht.
Selbst wenn ich versuche meine Muskeln leicht zu kneten, tun sie weh – aber auf eine merkwürdige gute Weise. Auch wenn die Wärme hilft, will ich Sam nicht allzu lang allein in der Küche lassen. Das mit dem Frühstück bekommt er ja noch ganz gut hin, aber alles andere ist eher nicht sein Ding. Ich beeile mich mit dem Abtrocknen und föhne mir eilig die Haare. In ein Handtuch gewickelt, tapse ich zu meinem Zimmer und rieche auf der kurzen Strecke durch den Flur bereits irgendetwas Seltsames.
„Oh Gott Sam was hast du getan?“, denke ich bereits verschwörerisch. Ich nehme mir ein paar saubere Klamotten, ziehe mich an und will mir das Übel ansehen. Sobald ich um die Ecke komme, steht er fragend mit einer Packung in den Händen da und schaut ratlos in die Pfanne.
Ich riskiere einen Blick hinein und muss mich wirklich anstrengen, nicht laut loszulachen. Sollen das etwa Chicken Nuggets sein? Mit einer Gabel steche ich hinein, aber komme nicht einmal durch das Fleisch.
>Das ist verbrannt und gefroren zur selben Zeit. < wende ich ernst ein und muss meine Mundwinkel mit aller Macht unten halten.
>Hier steht, man soll sie alle in die Pfanne hauen und wenden, wenn eine Seite braun ist. Das habe ich doch getan. < meckert er. >Ach egal. Ich habe gerade schnell was vom Chinesen geholt, das ist zumindest essbar. <
Er deutet auf den Küchentisch, wo eine weiße Tüte steht und von wo zumindest ein angenehmer Duft hervorkommt. Ich nehme ihm die Papierschachtel der Nuggets aus den Händen, schnappe mir die Pfanne und haue den Inhalt in den Müll.
>Du kannst das tiefgekühlte Zeug nicht ins heiße Öl werfen. Die Panade verbrennt dir, bevor der innere Kern überhaupt aufgetaut ist. <
>Siehst du! Deswegen bin ich ein Freund von Dosenravioli – das muss nur noch in die Mikrowelle. <
>Wolltest du mir nicht gestern erst weismachen, dass du sehr eigen bist, was Essen angeht? < feixe ich und gehe zum Besteckkasten, um alles herauszuholen.
>Wenn ich essen gehe, dann stimmt das auch. Aber selbst kochen … na ja du siehst es ja. Kaffeekochen, ein Reh auf den Grill werfen und Fisch räuchern ist alles, was ich kann. <
>Hey unterschlage nicht deinen Meerrettichdip Der ist einmalig. <
Er schüttelt grinsend den Kopf und öffnet derweil den Knoten der Tüte. Er holt zwei große Nudelboxen heraus und legt dann stirnrunzelnd zwei golden verpackte Werbeartikel auf den Tisch.
>Oh cool, Glückskekse. < juble ich.
>Jetzt sag mir nicht, dass du an sowas glaubst. <
>Wieso denn nicht? Das ist doch lustig. <
Ich fische zu den beiden winzigen Tütchen und drücke ihm eines in die Hand. Wie ein kleines Kind an Weihnachten mache ich die Verpackung auf, breche den Keks durch und lese den Zettel vor.
>Wende dein Gesicht der Sonne zu, dann fallen die Schatten hinter dich. <
>Oh ja ganz tolle Weisheit. Das hätte ich dir auch sagen können, dazu brauchst du keinen Spruch im Keks. < erwidert Sam ausdruckslos.
>Jetzt sei nicht so ein Miesmacher. Was steht in deinem? <
Er rollt mit den Augen und knackt den Keks in einer Hand auf. Aus den kaputten Teilen fischt er den Zettel und liest leise für sich.
Erst schaut er unbeeindruckt aber dann wird seine Unterlippe schmal und seine Augen groß, bevor er mir einen flüchtigen Blick zuwirft.
>Was ist? < will ich wissen.
>Da steht: „Hilfe, ich werde in einer Keksfabrik gefangen gehalten.“ <
>Sehr witzig. Gibt schon her. < erwidere ich und halte meine Hand auf.
Er zieht seine Hand weg, damit ich den Zettel nicht in die Finger bekomme.
>Da steht, heute ist mein Glückstag und ich soll Lotto spielen. <
>Ich bezweifle, dass du das nötig hast. < werfe ich überzeugt ein.
Er grinst, zerknüllt den Zettel und wirft ihn in den Mülleimer. Mit den zwei Nudelboxen und den Gabeln – die er mir aus der Hand nimmt, läuft er in Richtung des Wohnzimmers.
Statt ihm sofort zu folgen, greife ich in den Mülleimer rein und falte den Zettel wieder auf, den er weggeworfen hat. So viel Theater nur wegen eines Spruches, aber dann lese ich:
„Manchmal steht das Glück direkt vor uns. Wir müssen nur unsere Augen öffnen.“
Hmm okay, vielleicht sind Glückskekse ja wirklich Unsinn aber zumindest sind sie lecker. Ich folge ihm ins Wohnzimmer und sehe, wie er gerade eine Flasche Wein öffnet, worauf ich ihn irritiert ansehe.
>Ich hatte heute Morgen einen Kater. Gibt es etwas zu feiern, dass sich das wiederholt? < frage ich.
>Ich finde schon. Dein Einstieg in die beste Bounty Hunter Schule ist doch die Sache wert, oder? <
Daraufhin grinse ich. Ob meine Eltern stolz wären weiß ich wirklich nicht, aber Sam's Begeisterung und sein Grinsen sind mir im Moment mehr als genug. Ich halte ihm ein Glas hin und lasse es von ihm füllen.
Eine chinesische Nudelbox, Rotwein, Kaminfeuer und Football. Also wenn das mal kein Zusammentreffen zweier Welten ist, dann weiß ich auch nicht. Der heutige Tag ist sowieso mit keinem Vorherigen zu vergleichen, denn wir haben uns viel mehr zu erzählen als sonst und ich bin endlich geistig und körperlich ausgelastet.
Wir verfolgen beide das Spiel, auch wenn es nicht mehr lange geht. Trotzdem ist es ja wohl klar, dass wir Minnesota die Daumen drücken müssen.
Auf dem Couchtisch steht noch Sam's Laptop, den ich einfach etwas zur Seite gestellt habe. Die ganze Zeit habe ich ihn nicht wirklich beachtet aber seit fünf Minuten muss ich immer wieder hinsehen. Sein USB-Stick steckt im Port und blinkt immer wieder auf.
>Nein! Was verzapfen die denn für einen Mist? < keucht Sam und sorgt dafür, dass sich mein Blick wieder zum Fernseher richtet. Minnesota kackt so richtig ab, würde mein Dad jetzt sagen. Ich stelle meine leere Nudelbox beiseite, ziehe die Beine an und schnappe mir das Weinglas. Eine Weile sehe ich mir das Trauerspiel noch an, aber irgendwie können wir beide bei dem Spiel gar nicht zusehen, weswegen Sam bereits freiwillig das Besteck in den Geschirrspüler, sowie die Verpackungen in den Müll geräumt hat und ich derweil die Wäsche aufhing.
Als ich zurück ins Wohnzimmer komme, wird gerade der Schlusslaut abgegeben und der Sieger steht fest – natürlich nicht Minnesota. Ich gieße mir den letzten Schluck Wein in den Mund und setze mich zu Sam.
>Schöner Mist. < flucht er. >Dann lass uns lieber etwas Sinnvolles tun und erzähl mir wann du geboren bist. <
>Am 21.09.1996<
>Und wo? <
>In Nashville, Tennessee. <
>Okay, so etwas wie heute darf nie wieder passieren. Offenbar müssen wir doch ein paar Dinge festlegen, wenn du dort ein paar Kontakte knüpfen willst. Also, du bist dort auf die Lockeland Elementary School gegangen und danach warst du auf der East Junior Highschool. Einen Uniabschluss hast du nicht, weil du nach vier Semestern dein Studium an der Vanderbild University abgebrochen hast. Und weshalb hast du abgebrochen? <
>Ich wollte keine Medizin studieren, so wie es sich meine Eltern für mich vorstellten. < leiere ich herunter.
>Genau. Danach hast du gelegentlich für ein knappes halbes Jahr gejobbt und bist nun auf dem Weg ein Bounty Hunter zu werden. Mit deinen Eltern hast du dich vollkommen zerstritten, weil sie mit deinem Werdegang nicht einverstanden waren. Dein Dad arbeitet für einen Automobilkonzern und deine Mum als Marketing-Leiterin bei einer Mediengruppe. Geschwister hast du nicht. <
>Was ist, wenn mich irgendjemand etwas zu medizinischen Dingen fragt, sobald er weiß, dass ich angeblich für zwei Jahre studiert haben soll? <
>Das halte ich für unwahrscheinlich, aber falls doch, dann sagst du eben, dass du es nicht weißt. Du hast die Uni nicht abgeschlossen und den gefragten Stoff nicht vermittelt bekommen oder von mir aus sag, dass du das eh nie kapiert hast. <
Daraufhin schürze ich die Lippen. Kim ist definitiv eine blöde Person, mit der ich mich noch anfreunden muss. >Alles andere wird nicht geändert. Wenn dich jemand nach deinem Lieblingsessen fragt, dann denke dir nichts aus, sondern antworte ganz normal. So, als wenn dich Megan fragen würde. Umso weniger wir erfinden, desto authentischer bist du. <
>Okay. < erwidere ich müde. Immerhin weiß ich ja, dass ich da durch muss. Mich hätte noch ein weitaus schlechterer Charakter treffen können.
Wieder fällt mein Blick auf seinen Laptop und ich mustere ihn nachdenklich. Dieser USB-Stick ist komplett vollgepackt mit Namen, Daten und Fakten über so viele Kriminelle. Mich würde interessieren, wie viele davon bereits durch Sam oder einen anderen seiner Kollegen abgehakt sind. Ich drehe den Stil meines Glases gedankenverloren zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her. Plötzlich schnipst Sam vor meinem Gesicht und ich schaue irritiert auf.
>Wo warst du denn gerade? < feixt er.
>Offensichtlich ziemlich vertieft. <
Er nimmt mir mein leeres Glas aus den Händen und schnappt sich seines auf dem Tisch, um es in die Küche zu bringen. Als er wieder zu mir kommt, schaltet er den Fernseher aus und setzt sich seitlich zu mir aufs Sofa, auf einem Bein sitzend.
>Über was grübelst du schon wieder so viel? < will er wissen. Meine Güte, merkt er denn alles?
>Du hast mir doch letztens deine Datenbank gezeigt. < wende ich vorsichtig ein.
>Und? <
>Bei Pimps´ Profil stand, dass er auf der Gehaltsliste von dem Kerl steht, der meinem Dad das Geld gab. Als ich nach ihm suchen wollte, da sagtest du, es wäre genug für mich gewesen aber ich würde sie gern sehen. <
Daraufhin presst er seine Lippen zusammen und setzt sich in eine aufrechte Position.
>Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist. Meistens kommt dann alles wieder hoch und ich finde, du schlägst dich heute ziemlich gut. Dass du gestern von Meg erfahren musstest, dass deine Familie beerdigt wurde, war nervenaufreibend genug. <
>Das war es, aber ich komme klar. Ich will nur sicher sein, dass ich nicht vergesse, wie sie aussehen. <
Sam überlegt kurz und seufzt, als wenn er nicht so ganz einverstanden damit wäre, aber schnappt sich dennoch seinen Laptop. Er tippt darauf herum und setzt sich dann enger neben mich.
>Ganz sicher? < fragt er noch einmal nach und sieht mich eindringlich an.
Ich nicke entschlossen. Dann stellt er mir den Laptop auf die Oberschenkel. Unten in der Menüleiste sind drei Dateien minimiert und eine Weitere ist vor meinen Augen geöffnet.
Ich lese den Namen von Mischa De Angelis. Er ist schon etwas in die Jahre gekommen, hat leichte Ansätze von grauen längeren Strähnen und eine leicht gebräunte Haut. Ansonsten ist er eher unscheinbar.
>Ist er Italiener? < frage ich.
>Na ja, ein halber. Er ist ein kleiner Möchtegern-Mafiaboss der seine Finger bei Erpressungen, Geldwäsche, Gewalt und Mord im Spiel hat. Seine Mafia-Hierarchie ist allerdings nicht gerade durchdacht, weswegen sie zu viele Fehler machen. Ich persönlich würde es eher als organisierte Kriminalität betiteln. <
>Mafia-Hierarchie? < frage ich ungläubig nach.
>Jeder Mafiaboss hat für gewöhnlich einen Berater und einen Unterboss. Dann gibt es sogenannten Kapitäne, Soldaten und ganz unten – am Ende der Nahrungskette, die Mitglieder. Dazu zählen Pimps und die anderen drei Kerle, die in deinem Haus waren. <
>Und der hier will einfach nur Geld haben, ohne sich die Hände schmutzig zu machen. < entgegne ich verächtlich und schaue auf den sogenannten Mafiaboss hinunter.
>Es geht immer nur um das Geld. Das, was er deinem Vater gegeben hat, wollte er natürlich auch mit Zinsen zurückhaben. Ihm war klar, dass dein Vater diesem Deal zustimmen würde, denn in seiner Lage hätte ihm eine Bank keinen Kredit mehr gewährt. <
Ich schüttle den Kopf, weil ich mich immer noch frage, wie er so etwas nur tun konnte. Den Italiener minimiere ich, da mich seine weiteren Taten nicht interessieren – ich wollte ihn nur vor Augen haben. Also rufe ich den Nächsten auf und das Bild erscheint fast über den gesamten Bildschirm.
Einen kurzen Augenblick läuft mir heißes Adrenalin durch den Körper. Denn nun sehe ich in ein hellhäutiges Gesicht, das ich leibhaftig gesehen habe. Ich lese den Namen Phillipe Dimech. Ich sehe die Tätowierung eines Totenschädels an seinem Hals, kinnlange braune Haare, eine Nase die ein bisschen krumm und etwas zu groß für das runde Gesicht ist.
>Er war es, der das Telefonkabel gezogen hat. < erkläre ich Sam.
>Der dich für eine Zehntelsekunde in seinen Fingern hatte? <
Ich nicke. Eine Weile starre ich auf das Bild und ich versuche ihn mir so gut es geht einzuprägen. In der Nacht als er in unserem Haus war, sah er genauso aus, mit genau diesem fiesen Blick und diesem leicht überheblichen Lächeln. Er war nass vom Regen draußen und zu allem bereit. Auch seine anderen Taten lese ich mir nicht durch, da mich nur seine Visage interessiert. Dann minimiere ich dieses Bild ebenfalls und öffne das Nächste. Ich spüre wie Sam mich von der Seite her mustert.
>Es geht mir gut. Sieh mich nicht so an. < murmle ich, ohne einen Seitenblick zu riskieren.
>Genau das finde ich ja gerade so verblüffend. <
Dann sehe ich doch zu ihm. Sein Blick ist nicht sorgenvoll, so wie ich es dachte, sondern ich erkenne einen leichten Anflug von Bewunderung und Stolz.
Ich wende mich wieder dem Laptop zu. Dieses Mal schaue ich erst auf das Bild bevor ich den Namen lese. Sam hat tatsächlich die Richtigen gefunden.
Die markanten Eigenschaften, wie das schlaffe Augenlid, die lange Nase, den Leberfleck auf der Nasenwurzel und die Glatze, habe ich mir in den kurzen Augenblicken wirklich gut gemerkt und konnte sie Dimitrij trotz Unsicherheit gut beschreiben. Es ist gruselig diesen Kerl so vor mir zu sehen. Und nun kenne ich endlich seinen Namen: Raphael McCurdy. Ihn sehe ich sogar noch länger an, als Dimech. Dann kann ich mich endlich losreißen. Einer ist immer noch übrig.
Als letztes sehe ich mir den Taliban an. Ich weiß nicht, ob er tatsächlich einer ist, aber für mich sah er so aus, als er vor mir stand. Dieser schwarze lange Bart, die kurzen Haare mit den Geheimratsecken, diese dunkle Haut, diese fast schwarzen und boshaften Augen. Sie sind alle hier in dieser Datenbank, aber er war es, der mich mit sich nehmen wollte. Lieber wäre ich dort freiwillig gestorben, als mich von diesem verdammten Kerl entführen zu lassen. Ich starre diesen Mann an, der meiner Familie das angetan hat. Er und der andere namens McCurdy hatten die blutigen Messer in ihren Händen. Sie waren es.
>Ich brauche dir den Blick eines Killers überhaupt nicht beizubringen. < teilt mir Sam monoton mit und mustert mich immer noch. >Du kannst ihn von ganz allein, wenn du diese Typen siehst. <
Erst dann merke ich was er meint. Ich habe unwillkürlich meine Kiefer aufeinander gepresst, meine Stirn in Falten gelegt und so sehr diesen Laptop angestarrt, dass ich erst wieder meine Augen durch mehrfaches Blinzeln befeuchten muss.
Ich stelle den Laptop auf dem Tisch ab und fahre mir durch die Haare.
>So ähnlich hast du geguckt, als ich erzählen musste, was passiert war. < wende ich ein.
>Ich habe eine blühende Fantasie und so wie du es Dimitrij erklärt hast, konnte ich mir ziemlich bildlich vorstellen, wie du um dein Leben rennen musstest. <
Dann wende ich mich wieder diesen verdammt dunklen Augen auf dem Bildschirm zu. Ich will noch wissen, wie er heißt, aber dann macht der Laptop ein paar klingelnde Geräusche und ein anderes Fenster öffnet sich vor meiner Nase.
>Wenn man vom Teufel spricht. Das ist Dimitrij. < kündigt Sam an, stöpselt den Laptop vom Kabel ab und verschwindet damit. Ich höre wie er das Gespräch – wahrscheinlich über das Darknet, annimmt und die Treppe nach oben läuft. Sicher geht es um gestern, weil ihm das, was mit meiner Familie passierte, entgangen ist.
Ich habe gesehen was ich sehen wollte und es ist schon ziemlich spät. Es ist wohl besser, wenn ich ins Bett gehe, damit ich morgen nicht so sehr durchhänge. Und wer weiß, wie lange Sam mit ihm spricht. Auf die Schnelle räume ich noch ein paar Sachen auf und schließe das Küchenfenster zu. Der Gestank der verbrannten Nuggets ist mittlerweile aus dem Haus. Für wenigstens fünfzehn Minuten verziehe ich mich noch mit meinen heutigen Mitschriften in mein Zimmer und lese mir nochmal alles genau durch. Auf keinen Fall will ich hinterherhängen oder schlecht abschneiden. Im Gegenteil, ich will mir selbst beweisen, dass ich das schaffen kann, auch wenn ich diesen Weg von selbst nicht eingeschlagen hätte.
Nach dem Lernen höre ich auf dem Weg zum Badezimmer, wie Sam die Treppe runterkommt.
>Schläfst du allein in deinem Bett oder brauchst du mich? < will er wissen. Ob ich ihn brauche? Auf jeden Fall!
>Nein schon gut. Ich schätze, das war gestern so ein Ausnahmezustand. <
>Ich will nur nicht, dass du Alpträume hast. Besonders jetzt nicht, nachdem du die Typen wieder gesehen hast. <
>Mach dir deswegen keine Gedanken – immerhin wollte ich es so und es geht mir gut. Die Alpträume kannst du sowieso nicht verhindern. Sie sind manchmal da und manchmal nicht, aber sie sind weniger schlimm geworden. <
>Wenn du mich aus dem Bett brüllst, dann bleibe ich bei dir und lasse mich nicht wieder wegschicken. <
Ich grinse ihn an und nicke zustimmend.
Sobald ich mich im Bad fertiggemacht habe, hüpfe ich endlich in das kuschlige Bett hinein. Es stimmte was ich Sam gesagt habe – es geht mir tatsächlich relativ gut. Ziemlich verrückt, wenn ich bedenke, wie bescheiden es mir gestern bei Dimitrij ging. Vielleicht sind diese Heulattacken so unberechenbar wie normal, aber im Moment fühle ich mich so, als könnte ich verhältnismäßig ruhig schlafen. An manchen Tagen scheine ich regelrecht eine tickende Zeitbombe zu sein und an anderen abgeklärt. Vielleicht liegt es auch an Sam's Stimmung – ist er gut gelaunt, dann bin ich es meist auch. Da ich morgen wieder um acht im Unterricht sitzen muss, packe ich noch eilig meinen Schreibblock zurück in den Rucksack, knipse das Licht aus und drehe mich auf die Seite.