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Fingerabdrücke bleiben

von Lynnix
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Krimi / P16 / Gen
23.02.2018
25.11.2021
129
578.228
7
Alle Kapitel
102 Reviews
Dieses Kapitel
1 Review
 
16.11.2018 5.211
 
Teil 2

- Narben verblassen -
     

Kapitel 01 - Zurück auf der Schulbank

In den vergangenen Wochen kam ich mir eher so vor, als hätte ich als Außenstehende das Leben einer anderen beobachtet. Ich glaube immer noch, dass all das nicht die Realität sein kann. Noch immer hoffe ich einfach alles geträumt zu haben, aufzuwachen und mein Leben so zu führen, wie es vorher war.
In diesem Traum habe ich geglaubt, meine Familie und beinahe mein Leben verloren haben. Dort spürte ich Schmerzen, die ich nicht einmal meinem schlimmsten Feind wünsche und lernte einen Mann kennen, der mir das Gefühl von Sicherheit gab. Er rettete mir das Leben und war von dort an mein Beschützer. Ich erhielt in diesem Traum eine Menge Hilfe, einen neuen Namen und eine neue Aufgabe.
Klingt das real?

              Sam's Smartphone spielt am nächsten Morgen „nothing else matters“ und ich wache mit einem Brummschädel auf. Es ist also wirklich passiert und nicht die Spur eines Traumes gewesen.
Ich neige meinen Kopf nach oben und erschrecke mich bei seiner Nähe. Mein Kopf lag offenbar die ganze Nacht auf seiner Brust – das finde ich noch okay. Aber mein Bein und mein Arm liegen über ihn drüber. Seine Hand ist ebenfalls um meinen Körper geschlungen und befindet sich fast an meinem Hintern.
>Entschuldige. < beteuert er sofort und nimmt seine Hand vor mir.
Er greift zum Handy und stellt den Wecker aus. Ich rolle mich so schnell ich kann von ihm runter und befühle meinen Kopf.
>Oh Mann. Miranda hätte mir lieber nur Wasser geben sollen. <
Ich erinnere mich an die gestrige schreckliche Nachricht von Megan. Sie sagte mir, dass meine Familie nun unter der Erde läge. Diese Tatsache finde ich schon furchtbar genug. Noch schlimmer ist hingegen, dass Sam die Beweise ausgehen, da sie alle eingeäschert wurden. Keine Leichen bedeuten auch keine Spuren.
>Ich habe sicher noch irgendwo Kopfschmerztabletten herumzuliegen. < wendet er ein und holt mich damit glücklicherweise aus meinen trübsinnigen Gedanken heraus.
Die Decke ziehe ich mir bis zur Brust hoch und setze mich ein Stück auf. Keine Ahnung weshalb ich mich gerade so zierlich habe, immerhin kennt Sam meinen Körper schon auf ganz andere Weise.
Er schließt noch mal die Augen und scheint keinerlei Muße zu haben aufzustehen. Ich ehrlich gesagt auch nicht, bei dem Anblick vor mir. Müde lasse ich mich nochmal auf die Seite fallen und lege meinen Kopf wieder auf ihm ab.
>Bist du wirklich sicher, dass du das jetzt jeden Tag willst? Du bist nicht gerade der Frühaufsteher. <
>Das halte ich schon mal aus. < erwidert er und legt den Arm wieder um mich. >Hast du wenigstens durchgeschlafen? <
>Ich schätze schon. Das Letzte, an das ich mich erinnern kann, ist, dass du deinen Wecker gestellt hast. Ich glaube, danach wirkte das Zeug, das du mir gespritzt hast, ziemlich gut. <
>Das hätte eigentlich schon viel früher wirken müssen. Ich habe es dir schließlich direkt in deine Vene injiziert. Vielleicht lag es auch am Alkohol. < wirft er stirnrunzelnd ein.
>Nein, ich habe es eigentlich sofort gemerkt. Ich habe mich nur so lange dagegen gewehrt, bis du wieder hier warst. <
Er seufzt und streicht eine Strähne aus meinem Gesicht. Automatisch sehe ich zu ihm hoch. Was tun wir hier eigentlich und warum sind wir so zueinander? Es ist irgendwie nichts Halbes und nichts Ganzes. Ich kann Sam niemals haben, das weiß ich doch. Macht es das was wir hier tun, dann nicht noch seltsamer und noch viel widersprüchlicher?
>Na los, hoch mit dir! Sonst kommst du gleich am ersten Tag zu spät. Und glaub mir, diese blöden Rituale zur Strafe, die willst du nicht mitmachen. < fordert er und setzt sich ein Stück im Bett auf.
>Die gab es am College auch, das ist also nichts Neues für mich. < gähne ich und richte mich ebenfalls wieder auf. Ich habe nur Unterwäsche an. Soll ich jetzt so vor ihm herumspringen? Einer von uns beiden muss aber nun mal zuerst raus. Ach was soll's, denke ich. Einen Grund mich zu verstecken habe ich nicht und er hat mich sowieso schon gesehen. Außerdem bin ich keine fünfzehn mehr, wo mir alles peinlich ist. Also werfe ich die Decke zur Seite und stehe auf.
>Was soll ich da überhaupt anziehen? < will ich wissen und werfe die paar Klamotten, die ich besitze, von links nach rechts.
>Ganz normale Freizeitkleidung. Deine Trainingssachen werden dir ab heute gestellt. <
Schnell schnappe ich mir ein paar frische Sachen und verschwinde damit aus dem Zimmer. Als ich allerdings am Türrahmen vorbeihusche, sehe ich aus dem Augenwinkel, wie Sam den Hals in meine Richtung lang macht. Grinsend verschwinde ich im Badezimmer und gehe unter die Dusche. Ich mache es kurz und will wirklich nicht, dass wir meinetwegen zu spät kommen.
Gerade fällt mir ein, dass ich ja immer noch die Handschuhe mit den falschen Fingerabdrücken von gestern trage. Ich sehe sie mir an und sie wirken immer noch wie eine zweite Haut. Ich sehe keine Stelle, die sich abgelöst hat oder rissig ist. Genial.
              Nach der Dusche mache ich mich eilig fertig und versuche mich wieder ähnlich wie gestern zu schminken. Als ich den Concealer unter meinen Augenringen verteile, brennt es etwas, weil die Haut so wund von dem ganzen Geheule ist, aber zumindest geht es mir heute besser als gestern. Mir war doch vorher klar, dass das kein leichter Weg wird, aber dass Sam gestern so hilflos und panisch wirkte, hat mich wirklich erschreckt. Er muss mein Fels in der Brandung sein und darf nicht einknicken – nicht er.
Ich wuschle den Pony etwas auf und binde mir die Haare zu einem Pferdeschwanz nach oben. Sam scheint oben in seinem Bad zu sein, also mache ich mich schon mal ans Frühstück, damit wir danach gleich losfahren können. Mir tut es ziemlich Leid, dass er das auf sich nehmen muss, aber wenn er für die Zeit seine Aufträge umstellen kann und in der näheren Umgebung aktiv ist, dann ist das okay für mich. Ich will nur nicht, dass er sich diese Mühe umsonst macht und meinen Chauffeur spielt.

Später im Ausbildungscenter
In dem Parkhaus angekommen, steigt mir langsam wieder die Nervosität zu Kopf. Auch wenn ich gestern einen winzigen Einblick bekam, weiß ich trotzdem noch nicht so richtig was mich erwartet.
Ich springe aus dem Wagen und sehe, wie bereits zwei Männer zum Fahrstuhl laufen und sich lachend unterhalten. So wie die Leute die ich gestern sah, sind sie unterschiedlich alt. Offensichtlich entscheiden sich viele für diesen Weg, wenn sie bereits etwas älter sind. Sam verriegelt seinen Pick-up und läuft schließlich vor mir her. Ich sehe mich genauer um. Auch hinter mir läuft eine kleine Gruppe bestehend aus drei jungen Männern und ein weiterer – etwa in Sam's Alter, steigt soeben aus einem Chevrolet aus.
>Ich sehe gar keine Frauen. < flüstere ich.
>Na ja das liegt daran, dass der Männeranteil unter Bounty Huntern sehr stark überwiegt. Eine Frau muss sich hier ganz schön behaupten aber da mache ich mir bei dir keine Sorgen. <
>Na toll, das sagst du mir jetzt? <
Er lacht und breitet seinen Arm aus. Sobald ich ein Stück vor ihm bin, legt er seine Hand auf meine Wirbelsäule und schiebt mich vorwärts.
>Sei kein Angsthase und lass es einfach auf dich zukommen. <
Ich schlucke lautstark als wir den gläsernen Fahrstuhl betreten. Die Leute, die bereits vor uns drin waren, haben auf uns gewartet und einen Fuß vor den Sensor gestellt, damit sich die Türen nicht schließen.
>Welche Etage? < fragt mich ein junger Mann mit einer totalen Lockenmähne und einer Brille mit breitem Rahmen. Er sieht irgendwie lustig aus.
>Erstes Obergeschoss. < antwortet Sam für mich, da ich ja noch keine Ahnung habe, wohin ich muss.
>Ah Anfänger Stufe eins? < fragt er mich erwartungsvoll und mustert mich.
Ich nicke. >Cool, dann bin ich ja nicht völlig allein. Ich starte auch heute. Wie heißt du? Ich bin Cruisi – das kommt von „cruisen“ verstehst du? Ich stehe auf Autos und so Zeug. <
Sam neben mir gluckst und auch ich grinse bei diesem Kerl. Diese Sätze hat er in drei Sekunden heruntergeplappert.
>Ich bin Kim. < erwidere ich und reiche ihm meine Hand.
>Und du? Fängst du auch an? < fragt er Sam. Dieser zieht belustigt einen Mundwinkel hoch und schüttelt den Kopf.
>Ich bringe sie nur her und will nicht, dass sie sich gleich am ersten Tag verläuft. Ab jetzt ist sie wohl dein Problem. <
>Hey! < protestiere ich und der ganze Fahrstuhl lacht schallend. Na danke auch. Sam stößt mich allerdings belustigt mit seiner Schulter an und grinst. Der Fahrstuhl pingt und öffnet die Türen.
Sam schiebt mich wieder vorwärts und führt mich einen Flur lang.
>Was glaubst du erwartet uns heute? < fragt dieser Cruisi eifrig hinter uns. >Denkst du sie lassen uns schon schießen und so Zeug? Und glaubst du wir lernen, wie wir Verfolgungsfahrten machen? Oh und was doch auch super wäre, ist, wenn …<
>Erst mal lernt ihr die Klappe zu halten. < unterbricht ihn Sam. >Vor allem ruhiger zu sprechen, nicht sofort alles preiszugeben und nicht so hektisch zu sein sind wichtigere Dinge als man glaubt. Alles andere verrät euch nämlich. <
Damit bringt er den Lockenkopf zum Schweigen. Ich würde ihm ja am liebsten sagen, er soll es nicht persönlich nehmen aber genaugenommen weiß ich, dass Sam Quasselstrippen wie ihn nicht leiden kann – also eigentlich ist es dann wohl doch persönlich. Und genaugenommen bin ich auch eine, die zu viel redet.
>Das Ganze geht von Montag bis Freitag und an den Wochenenden hast du frei. Das heißt, die Woche ist schon mal kurz für dich. Die Ausbildungsstufe eins ist immer in der ersten Etage. Stufe zwei und drei sind eins höher, im zweiten Obergeschoss. Ihr teilt euch lediglich den Trainingsraum im zweiten Untergeschoss unter dem Parkhaus. < erklärt mir Sam. Ein Glück, dass es nur heute und morgen ist. So kann ich mich erstmal von den Eindrücken erholen.
>Da muss ich nachher noch hin. Da unten sollen die Unterkünfte sein. < wirft Cruisi bei unserem Gespräch ein und bestaunt grinsend die Bilder an den Wänden im Flur. Sam rollt hingegen mit den Augen.
Eine Tür steht weit nach außen offen, an der sich ein Zettel befindet. Sam bleibt davor stehen und überfliegt ihn. Ich lese diverse Namen und erkenne schließlich auch Kimberly Grant.
In dem Raum sitzen einige auf den Tischen und unterhalten sich. Sobald wir eintreten, drehen sich ihre Köpfe zu uns. Nervös streiche ich eine losgelöste Haarsträhne nach hinten, als sie uns Neulinge mustern. Ich erkenne unter ihnen allerdings sofort Lukaz. Also haben wir gleich irgendein Fach mit ihm? Das fände ich wirklich cool.
Die nächsten Personen, die mir sofort auffallen, sind zwei Frauen. Oh Gott sei Dank bin ich nicht die Einzige.
>Sobald neue Schüler dazukommen, stehen immer alle drei Haupttrainer parat. < sagt Sam leise zu mir. >Lukaz kennst du ja bereits. Er ist ein fairer Typ und hat eine Menge drauf. Das daneben ist Simon. Und du hast auch eine Trainerin. <
Kaum hat er das gesagt, dreht sich eine rassige Brünette mit langen Haaren um, von der ich dachte, sie sei eine Leidensgenossin, aber weit gefehlt.
Ihr Blick bleibt plötzlich bei Sam hängen. Bis eben schaute sie noch relativ teilnahmslos, aber jetzt strahlt sie plötzlich und kommt mit einem Hüftschwung zu uns herüber stolziert, als wäre sie auf einem Catwalk. Dieser Gang gehört verboten. Sam nimmt seine Hände aus den Hosentaschen und läuft ein Stück auf sie zu.
>Wow Sam, der neue Look steht dir fantastisch. < kichert sie überschwänglich und breitet ihre Arme nach ihm aus. >Wir haben uns ja schon länger nicht gesehen. Hast du mich etwa vermisst? < schnurrt sie. Ich kann es Sam ansehen, dass er diese Umarmung hinnimmt und mehr oder weniger erduldet. Es ist anders als bei Sophia. Da ist es eher Spaß aber sehe ich da gerade Abneigung? Und das gegenüber einer so attraktiven Frau?
>Hey. Ich bin hier, weil ich jemanden hergebracht habe, der eure Ausbildung benötigt. Ihr seid nun mal die Besten. < erwidert er kühl und geht auf den Rest ihrer Frage überhaupt nicht ein.
>Bist du neuerdings Vermittler? Wer ist er denn? < kichert sie wieder und lässt ihre Hand auf seiner Schulter liegen. Sam dreht sich, sodass sie herunterfällt und gibt den Blick auf mich frei.
>Das hier ist Kim. Ich werde sie täglich zu euch bringen. <
Ich schenke dieser Frau ein Lächeln. Aber das, was sie bis eben noch für Sam übrig hatte, ist für mich der Blick des Entsetzens. Sie schaut erst mich an, dann Sam, dann wieder mich.
>Weshalb? < keucht sie entgeistert.
>Weil ich sie nicht hier bei den anderen schlafen lassen will, wenn es nicht unbedingt sein muss. Das ist ja immerhin keine Pflicht wie wir beide wissen. <
>Wo lebst du denn sonst Kim? Es ist kein Problem dir ein Zimmer zu beschaffen. Schließlich müsste Sam jeden Tag diesen Weg auf sich nehmen. < erwidert sie steif und hat offensichtlich gerade den Versuch unternommen, ungezwungen zu klingen.
>Na ja – so etwas Ähnliches sagte ich ihm auch schon. Ich lebe im Moment bei Sam. <
Wenn ich vorher dachte, ihr Blick wäre ihr entglitten, dann ist der Jetzige noch eine Steigerung. Dann schaut sie erneut mit leicht geöffnetem Mund zu Sam.
>Na schön. < trällert sie und grinst auf eine Weise, die ganz eindeutig kein echtes Lächeln ist. Ich glaube, ich will hier ganz schnell wieder weg. Sie dreht sich hastig um, schüttelt mir ihre langen Haare ins Gesicht und kehrt zurück zu den anderen Trainern.
>Du wirst dich noch an sie gewöhnen. < nuschelt mir Sam optimistisch zu. >Überlege immer was du in ihrer Gegenwart sagst und erwähne mich am besten nicht, wenn es nicht sein muss. Sie ist diejenige die den Aufstieg der Stufen bestimmt, also versuch sie nicht zu reizen. <
>Na toll. < flüstere ich.
>Mach dir keine Sorgen. Das wird schon. <
Laut schmatzend stellt sich plötzlich Cruisi neben uns und kaut auf einem Apfel herum. Irgendwie guckt er etwas verpeilt und scheint unsere Unterhaltung gar nicht mitbekommen zu haben. Sam seufzt und würde sich wohl am liebsten die Hand vor den Kopf schlagen.
>Also dann Kleines. Wir sehen uns später. <
Er streicht mit seiner Hand über meine Haare und verlässt den Raum. Hätte er nicht wenigstens noch fünf Minuten bleiben können?
Unsicher verschränke ich meine Arme vor der Brust und gehe weiter in den Raum hinein. Die rassige Brünette sieht auf ihre Uhr und klatscht ein paar Mal in ihre Hände. Da hier niemand eilig zu seinem Platz rennt, um sich brav hinzusetzen, bleibe ich ebenfalls einfach stehen.
>Guten Morgen. Beginnen wir damit, dass wir heute wieder drei Neulinge dabeihaben. Falls ihr keine Vorkenntnisse habt, dann bleibt ihr in dieser Stufe bis ihr besser werdet und aufsteigen könnt. Eure Fähigkeiten teste ich heute Nachmittag noch zur Genüge. Der Schwierigkeitsgrad wird pro Stufe immer weiter erhöht und ihr werdet von uns bewertet. Ich bin Cataley, eine eurer Trainer. Das sind Simon und Lukaz. < stellt sie die anderen beiden vor. Der russische Trainer, den ich gestern kennenlernte, zwinkert mir aufmunternd zu und ich grinse.
Cataley ist ein ungewöhnlicher Name. Ist das nicht eine Orchidee? Schön wie eine ist sie ja – groß, sportliche Figur, gebräunte Haut, perfekte und makellose Gesichtszüge, kein Fältchen oder Speckröllchen, lange und glänzende braune Haare. Allerdings habe ich die erste Begegnung nicht unbedingt als schön empfunden.
>Nach meiner Liste sind ab heute Julien Radcliff, Ruby Portman und Kimberly Grant dabei. Hebt die Hand, wenn ihr anwesend seid. <
Wir drei machen uns kurz bemerkbar, wobei das überhaupt nicht nötig wäre. Denn wir stechen heraus, weil wir im Gegensatz zu den anderen, noch unsere Freizeitkleidung tragen. Bei mir bleibt der Blick der Trainerin erneut hängen und irgendwie habe ich ein blödes Gefühl, das ich mir im Moment noch nicht erklären kann. >Ihr drei bekommt eure Stundenpläne ausgehändigt. Wenn ihr eine Stufe aufrückt, dann erhaltet ihr einen neuen. Eure Handys könnt ihr gleich abgeben. Sonstige Abhörgeräte sind nicht erlaubt. < erklärt sie und richtet ihren Blick nun auch zu den anderen beiden neuen. Daraufhin schnappt sich Simon – der andere Trainer, einen kleinen Heftordner und sowas wie einen Scanner, den ich schon mal am Flughafen gesehen habe. Werden wir jetzt etwa ernsthaft durchleuchtet? Er kramt etwas aus dem Ordner hervor, um uns schließlich den Plan zu geben. Optisch erinnert er mich mit seiner sehr dunklen Hautfarbe und den kaum vorhandenen, sehr kurz rasierten Haaren an diesen Schauspieler. Sein Name liegt mir auf der Zunge – ah ja, Omar Sy. Er hat eine ziemliche Ähnlichkeit mit ihm.
Während unsere Trainerin weiterredet, schaue ich auf den Plan. Der Lockenkopf neben mir wird bereits von Simons Gerät verpfiffen und er muss sein Handy und einen USB-Stick aus seiner Tasche abgeben. Bei mir bleibt das Gerät hingegen stumm.
>Natürlich werdet ihr hier nicht ausgebildet wie ein Cop. < erklärt Cataley kühl. >Das sollte wohl klar sein und dafür ist die Zeit zu kurz. Für uns Hunter gelten sowieso ganz andere Regeln, die ihr noch kennenlernen werdet. Auf die Theorie wird nicht ganz so viel wert gelegt, sondern eher auf die praktischen Dinge. Jeden Morgen seid ihr um acht Uhr – je nach Unterrichtsfach, entweder hier oder im Trainingsraum im 2. Untergeschoss. <
Die Fächer, die ich überfliege, klingen dennoch wahnsinnig interessant. Ich habe Strafprozessrecht und Kriminalistik bei Henry. Von ihm lerne ich also die Theorie – um ehrlich zu sein habe ich mich schon gefragt was er mir beibringen soll. Ich finde es großartig, dass er arbeitet, aber ich konnte mir nichts darunter vorstellen. Dann wäre da noch die Selbstverteidigung bei Lukaz, die ich gestern minimal angerissen habe. Verhaltens- und Handlungstraining habe ich bei Simon und Einsatzlehre plus Schießen bei Cataley. Soweit so gut.
Als sie schließlich mit ihrer kurzen Rede fertig ist, schlägt sie ihre Liste mit den Namen der Neulinge zusammen und stolziert an uns vorbei. Kurz darauf folgt ihr auch Lukaz und geht offenbar zu seiner Stufe, um zu unterrichten.
Die anderen setzen sich bereits auf ihre Plätze und Cruisi und ich starren uns an. Die Neuen halten eben immer erstmal zusammen. Mit einem einzigen ausgetauschten Blick setzen wir uns nebeneinander. Kurz darauf kommt auch die einzige andere Frau zu mir rüber.
>Hi. Macht es dir was aus? < fragt sie flüsternd und zeigt auf den leeren Platz.
>Nein gar nicht. < erwidere ich und rücke noch etwas zur Seite.
>Kimberly war dein Name, oder? <
>Genau. Und du bist Ruby? < will ich mich vergewissern.
Sie nickt grinsend.
>Und deinen Namen habe ich leider nicht abgespeichert. < flüstert sie zu dem Lockenkopf. >Ich glaube Julian oder Julien. <
>Sag einfach Cruisi – so nennen mich meine Freunde. <
Diese Ruby wirft mir einen verständnislosen Blick zu und ich zucke mit den Achseln. Dann räuspert sich unser erster Trainer vorn und verschränkt die Arme hinter dem Rücken.
>Willkommen neue Anwärter. Ich stelle mich lieber nochmal persönlich vor. Also ich bin Simon und mache mit euch Verhaltens- und Handlungstraining. Die meisten aus der Stufe sind schon drei oder vier Tage länger dabei. Versucht einfach zu folgen so gut es geht. < erklärt er uns dreien. Haben wir nicht eigentlich einen erheblichen Nachteil, wenn wir mittendrin anfangen und Stufe eins nur so kurzweilig ist? Andererseits scheint hier ein reger Wechsel zu sein und wenn es stimmt was Sam sagt, dann scheint es in den gesamten Staaten nur drei Schulen zu geben, die Kopfgeldjäger ausbilden. Die beiden in Arizona und Kalifornien sind bekannt. Diese auf der ich bin, scheint für Normalsterbliche überhaupt nicht zu existieren. Warum eigentlich? Auf jeden Fall scheint es gewollt zu sein, dass das Land möglichst viel gute Bounty Hunter bekommt. Simon stellt einen Beamer und einen Laptop an.
Die sich darauf befindende Power-Point-Datei projiziert er gegen die weiße Wand vor uns. Er beginnt tatsächlich mittendrin und erklärt uns, dass wir mit den möglichen Verdächtigen erst einmal in ein lockeres Geplänkel kommen sollen. Unsere Jobs machen wir in Zivil, weshalb wir eher an die Täter herankommen, als die Polizei in Uniform. Unsere Aufgabe ist es, uns erst einmal zu hundert Prozent sicher zu sein, ob wir den Richtigen haben.
Das bekommen wir über nähere Angehörige, Freunde oder Nachbarn heraus. Erst dann mischen wir uns unter das Volk und schlagen zu. Wenn sich jemand von uns zum Beispiel als alten Schulfreund oder Paketboten ausgibt, dann sind wir sofort im Gespräch mit dem Täter – so einfach. Die gefälschten Identitäten zu benutzen, ist unter Bounty Huntern sogar legal. So wie bei Sam sonst auch, sauge ich sämtliche Information auf und bin so glücklich, dass mein Gehirn wieder etwas zu tun hat. Auf unseren Plätzen liegt ein Block mit Stiften. Wie in meinen früheren Kursen versuche ich so viel wie möglich mitzuschreiben. Ich werde das Observieren lernen, die Kampftechniken und die Rechtslehre.
Irgendwie finde ich das von Minute zu Minute cooler und muss in mich hineingrinsen. Wenn Megan sehen könnte was ich hier tue, würde sie ausflippen.
>Ihr werdet häufig auf Respektlosigkeit und Ignoranz treffen. < erklärt uns unser Trainer. >Davon dürft ihr euch nicht beirren lassen – vor allem die Frauen unter euch nicht. Ihr müsst euch durchsetzen und sie in die Knie zwingen. Nur so kommt ihr zu eurem Ziel und letztendlich auch an die Geldprämie. Je gefährlicher die Zielperson ist, desto höher die Summe die ihr für den Täter einkassiert. <
Ich schätze, wenn ich diese Lizenz tatsächlich bekommen sollte, dann fange ich wohl lieber erst mal mit den harmloseren Typen an. In meinem Kopf kann ich mir zwar immer noch nicht vorstellen, dass ausgerechnet ich solche Fieslinge schnappen soll, aber irgendwie ist die Vorstellung fantastisch. Noch besser ist die Vorstellung, nicht mehr so schwach und machtlos zu sein.

              Unser erster Block ist nach neunzig Minuten vorbei und ich finde es unfassbar, wie gut ich in die Thematik hineingekommen bin, obwohl ich zuvor keine Ahnung davon hatte. Offenbar ist es tatsächlich gar nicht so schlimm wie ich dachte, mittendrin zu beginnen. Das war damals bei meiner Fahrschule eigentlich nicht anders und ich habe es auch beim ersten Mal geschafft. Simon verabschiedet sich von uns und verlässt den Raum. Als nächstes Fach haben wir Kriminalistik bei Henry. Ich glaube, dass dieses Gebiet echt spannend wird. Die Pausenzeit beträgt fünfzehn Minuten und etwa die Hälfte der Stufe-eins-Schüler verschwindet aus dem Raum – wahrscheinlich um zu rauchen.
>Wo kommst du eigentlich her Kimberly? < will Ruby neben mir wissen.
>Kim reicht vollkommen. Ich hasse diesen Namen. < murmle ich. >Ich komme aus Tennessee. <
>Echt? Woher genau? Ich habe da Freunde. <
Oh Mist. Komm schon Gehirn, denk nach. Irgendeine Stadt in Tennessee.
>N… Nashville. < stottere ich eilig heraus. Das ist doch die Hauptstadt, oder? Oh Mann, meine grauen Zellen sind ja vollkommen eingerostet.
>Irre! Da wohnen meine Freunde auch. Wie findest du die Honky-Tonk-Bars? <
>Also ich komme aus Nevada. < plappert Cruisi dazwischen und dafür bin ich ihm so wahnsinnig dankbar. >Hat mich ganz schön viel Flugzeit gekostet, aber diese Schule soll es ja wert sein. Ich habe gehört, dass die ausgesuchten Schüler aus allen Staaten der USA herkommen, nur um hier ausgebildet zu werden – vorausgesetzt sie haben ihre Kontakte. <
Ich atme erleichtert auf, als er einfach weiter drauflos schwatzt und ohne Punkt und Komma weiterredet. Fürs Erste bin ich raus aus der Nummer und ich höre ihm bloß gespannt dabei zu. Er hat von den Bounty Huntern definitiv mehr Ahnung, auch wenn es mir zuvor so schien, als wäre er geistig gar nicht anwesend.
Mein Blick hebt sich, als ich ein summendes Geräusch aus dem Flur höre. Ich drehe mich um und kurz darauf fährt Henrys Rollstuhl durch den schmalen Durchgang der Tische hindurch und dreht vorn neben dem Beamer einen kleinen Kreis, damit er zu uns sieht.
>Was glaubst du, was ihm passiert ist? < fragt mich Ruby flüsternd und nickt zu seinem Rollstuhl.
>Keine Ahnung. Vielleicht ist etwas bei einem früheren Job schiefgegangen. < mutmaße ich.
Sam erzählte mir, dass Henry und Lukaz von mir wissen und ebenfalls an meinem Fall dran sind. Es ist nicht abwegig, dass Henry mal das Gleiche tat wie Sam.
Ich beobachte ihn, wie er einen jungen Kerl in der ersten Reihe darum bittet, seinen Laptop mit dem Beamer zu verkabeln. Ich weiß leider noch kaum einen Namen von den anderen, aber er setzt sich wieder mit einer kleinen Fernbedienung und macht noch ein paar Einstellungen für unseren Dozenten. Dieser schielt kurz herunter auf seine Uhr und sagt dann, als alle anderen Anwärter wieder zusammen im Raum sitzen:
>Erst einmal ein herzliches Willkommen an unsere drei Neuen und guten Morgen an die anderen. Bei der Kriminalistik, die ihr lernt, geht es nicht darum einen Tatort zu untersuchen, Fingerabdrücken zu nehmen oder andere Spuren aufzunehmen. Ihr seid weder Polizisten noch Detektive. Bei mir lernt ihr zu denken, wie es ein Täter tut. Verbrechen gibt es, seitdem es Menschen gibt und es wird nie aufhören. Ihr kämpft für die Leute, die es nicht für sich selbst tun können. Ihr zieht die aus dem Verkehr, an die die Polizei nicht herankommt. Mit viel Glück sitzen sie ein und kommen nie wieder dorthin, wo das Gras grün ist. < erklärt er uns dreien in der hinteren Reihe.
Diese Einleitung löst irgendwie ein Kribbeln in der Magengegend aus – ein gutes.
Auf Henrys Nicken hin betätigt der Anwärter in der ersten Reihe die Fernbedienung und gibt damit eine Auflistung der heutigen Themen frei. Es geht um das Beschatten der Zielperson, die wir im Blick haben. Unser Dozent steuert seinen Rollstuhl über sein Kinn etwas weiter nach rechts, dass er die Sicht auf die angestrahlte Wand besser freigibt und erklärt:
>Das planmäßige Beobachten von Personen, Objekten, Gegenständen oder Vorgängen gehört zu den wichtigsten Dingen. Rennt nicht einfach drauflos, sondern seht euch die Situation an. Manchmal ergibt sich daraus noch viel mehr und ihr könnt die Situation als stiller Beobachter besser analysieren, als das, was euch eure Auftraggeber vor die Nase halten. Manchmal müsst ihr euch selbst die Ermittlungshinweise beschaffen. Natürlich wollt ihr an die Zielperson herankommen aber es könnte gefährlich für euch werden, wenn ihr das Umfeld nicht ebenfalls im Blick habt. Vielleicht gibt es Komplizen, die euch bemerken und das könnte zum Problem werden. Beobachtet eure Umgebung – das heißt Parkmöglichkeiten, Baustellen, Anfahrtswege, Anzahl der Ausgänge – falls ihr in einer Lokalität seid und so weiter. Ebenso wichtig ist es, die Zielperson bei gewissen Aktivitäten zu beobachten. Seht ihr Gegenstände die übergeben werden – Waffen, Geld oder Drogen? Ihr müsst wissen, woran ihr seid. Denn nichts ist wichtiger, als die richtige Vorbereitung. Je mehr man im Vorfeld abklärt, desto weniger Überraschungen können einem passieren. Manchmal dauert es Wochen oder Monate bis ihr überhaupt einen Hinweis habt, wo die Zielperson ist. Manchmal müsst ihr auch mit dem Auftraggeber Kontakt aufnehmen. Ihr braucht so viele Informationen wie möglich. <
Das ist mir nicht neu. Sam tut es jeden Abend und auch jetzt in diesem Moment während ich die Schulbank drücke, fährt er auch irgendwo herum und sucht nach mehr Hinweisen für seine kommenden Aufträge. Ich schreibe trotzdem so schnell mit, dass mir allmählich mein Handgelenk wehtut. Offensichtlich scheine ich so ziemlich die Einzige zu sein, die das tut, aber das bringt mich nicht aus der Ruhe.
>Das Umfeld, in dem sich die Zielperson befindet, ist auch sehr interessant. Darunter verstehen sich Wohnraum, Büros, sonstige Aufenthaltsorte. Wo befinden sich eventuelle Komplizen oder gibt es vielleicht sogar eine Funkverbindung? All das müsst ihr abklären. Jeder Job und jeder Ort sind anders. Ihr müsst euch in dem Milieu auskennen, in dem ihr euch bewegt. Nun eine Frage an euch alle. Was glaubt ihr, wo die meisten illegalen Dinge passieren und wo sie ihren Ursprung haben? Wo treffen sich all die dubiosen Typen, wo sich das meiste abspielt? < fragt Henry in die Runde. Ein paar sehen plötzlich beschäftigt auf ihre Mitschriften oder ihren Banknachbarn an. Ich bin gerade mal seit acht Uhr dabei und habe noch nicht wirklich Ahnung von diesen Dingen, aber mehr als mich bis auf die Knochen zu blamieren kann mir nicht passieren, also hebe ich die Hand, sowie nach und nach auch ein paar wenige andere. Mein Dozent sieht zu mir, grinst und nickt.
>Ich denke es passiert besonders in den sozialen Brennpunkten. < sage ich. >Dort wo die Lebensbedingungen und Entwicklungschancen eher schlecht sind. <
>Weshalb glaubst du, dass sich dort Kriminalität entwickelt? < fragt Henry interessiert.
>Sie wollen raus aus diesem Ghetto und Geld verdient sich schneller und leichter, wenn es illegal verdient ist. Wahrscheinlich kommt es dort schon in der Nachbarschaft zu Gewalt und Kriminalität. Und da wo so etwas herrscht, dort wird sie auch an die Kinder weitergegeben. <
Henry nickt zufrieden und erklärt dann wieder für alle:
>Aber das ist nur eine Sache. Es ist wahr, dass es in Gebieten wie Detroit zu deutlich mehr Angriffen kommt, als in einer Stadt wie New York. Um mal eine Zahl zu nennen, ist dort die Mordrate zehnmal höher, als in den restlichen Teilen des Landes. Laut Statistik kommt es dort pro Tag zu einem Mord. Aber reden wir nicht über Mord, sondern über Entführungen, illegalem Menschenhandel, Sexualkriminalität, Geldwäsche und Drogenkartelle. Reden wir von Orten, wo sich so etwas abspielt. Also was glaubt ihr? < Weil es kein anderer tut, hebe ich nochmal meine Hand. Als er mich sieht, nickt er erneut.
>Ich dachte immer so etwas passiert in irgendwelchen privaten Kellern oder verlassenen Gebäuden. <
>Das ist nicht falsch aber darauf will ich nicht hinaus. < er schaut sich um, aber da sich niemand sonst meldet, sagt er: >Die Rede ist von Spielhallen, Stripclubs, lauten Discotheken mit speziellen VIP-Räumen oder Bordellen. Und speziell dort kommen häufig die weiblichen Bounty Hunter zum Einsatz. Man kann sie dort perfekt einschleusen, aber ich denke ich muss nicht extra erwähnen, dass es sehr unratsam ist, dort ohne Rückendeckung hineinzugehen. Euer Job ist gefährlich – keine Frage, aber manchmal grenzt es an Wahnsinn gewisse Aufträge zu machen. Ihr müsst es immer noch für euch verantworten können. Das Letzte, was wir wollen, ist ein toter Hunter. Hier geht es um das Sehen, ohne von den Zielpersonen gesehen zu werden. Es geht um das Untertauchen und unsichtbar bleiben. <
Uff, das muss ich erst mal sacken lassen. Ich glaube, da würde mich niemand reinbekommen. Das wäre doch wirklich der reinste Wahnsinn sich in so eine Atmosphäre hineinzuwagen und zu riskieren, dabei draufzugehen, wenn man entdeckt wird. Die ganze restliche Stunde redet er darüber. Mein Gehirn befindet sich in einem ganz seltsamen Zustand. Meine rechte Hirnhälfte schreit die ganze Zeit wie spannend und aufregend das ist, während meine linke Hälfte sagt, dass das viel zu gefährlich ist.
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