Fingerabdrücke bleiben
von Lynnix
Kurzbeschreibung
Nayeli genießt ihre letzte Woche als Studentin und lebt mit ihrer indianisch stämmigen Familie in einem alten Haus neben den Klippen des Superior Lakes. Sie kann es kaum erwarten ihren künftigen Job anzutreten, mit dem ihr eine aussichtsreiche Zukunft bevorsteht. Trotz Strapazen empfindet sie ihr Leben als perfekt aber was sie bis zu dem Zeitpunkt noch nicht weiß ist, dass ihr Vater eine große Last mit sich herumschleppt, dessen Folgen ihr den Boden unter den Füßen wegreißen werden. Die junge Frau lernt jemanden kennen, von dem sie noch nicht weiß, ob er Freund oder Feind ist. Plötzlich ist sie auf fremde Hilfe angewiesen, muss hinter Masken sehen, verstehen wie korrupt das Land ist, in dem sie lebt und auf schmerzhafte Weise Stück für Stück erfahren, wie tief ihr Vater in die Ereignisse verstrickt war. Sie muss Entscheidungen treffen, von denen sie glaubte, so etwas niemals tun zu müssen. Aber wie weit muss sie gehen um Schmerzen und Verlust zu überwinden?
GeschichteDrama, Krimi / P16 / Gen
23.02.2018
25.11.2021
129
578.228
7
Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
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02.11.2018
6.020
Kapitel 37 – Schlechte Nachrichten
Nach dieser Probestunde schließt Lukaz die Turnhalle ab und setzt sich zu uns in den Pick-up. Wir fahren etwa einen Kilometer durch das Waldstück, als endlich nach und nach diese sagenumwobene Schule zum Vorschein kommt.
Um ehrlich zu sein habe ich sie mir spektakulärer und größer vorgestellt. Davon mal abgesehen nicht so baufällig. Lukaz fängt meinen irritierten Blick auf und erklärt:
>Umso unscheinbarer, desto besser. Das ist Absicht, dass sie so heruntergekommen aussieht. Wenn du sie von innen siehst, wird es dich flashen. <
>Unscheinbar ist die eine Sache aber hier sieht es verlassen aus. Ich kann nicht ein einziges Auto sehen. < wende ich ein.
>Sesam öffne dich. < lacht Sam und fährt seitlich an das Gebäude heran. Ich sehe ein Tor zu einer Garage, mit einem steinernen Poller seitlich. Na schön und gut, dann ist hier vielleicht Platz für die Wagen der Trainer aber wo ist der Rest? Lukaz zückt ein Handy aus der Hosentasche und öffnet offensichtlich eine App. Genau kann ich nicht sehen was er da tut aber das Tor geht auf. Ob es wirklich im Zusammenhang mit dem Handy ist, kann ich nicht sagen. Aber sobald das Tor oben ist, kann ich hinein – oder besser gesagt hinuntersehen.
Sam fährt in ein Parkhaus und hier stehen die dutzenden Wagen, die ich eigentlich draußen vermutet hatte. Er fährt weit nach vorne und parkt dann lässig ein. Lukaz steigt als erster aus, steckt sich eine Zigarette in den Mund und läuft bereits durch eine Metalltür, die neben einem Fahrstuhl ist. Ich sehe umher und höre jeden Schritt von Sam, der von den Betonwänden widerhallt.
>Jetzt da du dich entschieden hast, sollten wir alles Weitere besprechen. < er läuft an mir vorbei in Richtung des Liftes.
>Sam warte mal kurz! Du sagtest, dieser Selbstverteidigungskurs wäre mit Kosten verbunden. Was zur Hölle wollen die hier für eine Summe haben, wenn ich auf eine Schule gehe? <
>Mach dir darüber mal keine Gedanken. <
>Hör auf das immer so abzutun und sag es mir einfach. <
Er stöhnt auf und bleibt stehen.
>Also gut. Ich kümmere mich natürlich darum, auch wenn es für dich billiger wird, weil sie mich hier kennen. Aber falls es dich beruhigt … sobald du fertig bist, kannst du es mir gern zurückzahlen. Wenn du dich damit besser fühlst, dann zahl mir halt alles zurück, was ich dir gegeben habe. Gute Kopfgelder sind nicht gerade knapp bei Kasse. Aber ich habe daran ehrlich gesagt kein Interesse, also nimm es einfach an Kleines. <
>Du hast von Anfang an gewusst, dass ich „ja“ sagen würde, wenn ich in diesen Kurs reingehe, oder? <
>Gewusst nicht aber gehofft. Ich kann es mir selbst nicht so genau erklären aber ich sehe dich darin, auch wenn du sehr viel lernen musst. Genauso wie Sophia, Dimitrij und jetzt auch noch Lukaz dieser Meinung sind. Du hast so eine gewisse Neugier, die befriedigt werden will. In dir steckt mehr als eine Sekretärin. <
>PR-Agentin. < korrigiere ich zähneknirschend.
>Von mir aus … <
Irgendwie habe ich aber dennoch etwas Muffensausen. Schließlich folge ich Sam zu einem gläsernen Fahrstuhl. Die Türen öffnen sich, indem mein Begleiter seinen Finger vor einem Sensor wischt. Sobald wir uns im Inneren befinden, sagt Sam klar und deutlich:
>Zweites Obergeschoss. <
Als er sich in Bewegung setzt und ich den gläsernen Boden sehen kann, ist das schon sehr befremdlich, als das Loch unter uns noch größer wird als ohnehin schon.
>Da ist unter uns noch mehr, oder? < frage ich und wende meinen Blick schnell von meinen Füßen ab. Irgendwie dreht sich mir der Magen um, weil ich ins Leere sehe. >Ja. Ganz unten sind die Zimmer der Schüler, die nicht täglich herfahren können und der große Trainingsraum. Du hast ab morgen vier Trainer. Der eine davon ist Lukaz und dann wären da noch Simon und Cataley – sie ist diejenige die entscheidet, ob die Schüler eine Stufe weiter rücken. Du fängst bei der ersten Stufe an. Und dann ist da noch Henry – ich hatte ihn vorhin kurz erwähnt. <
Ich nicke und sehe nach vorn, wo es plötzlich Taghell wird. Wir fahren mit dem Lift gerade in eine Art Eingangshalle nach oben, die modern mit ein paar Sitzbänken, Bildern und Pflanzen dekoriert ist, aber wir fahren noch weiter hoch. Von hier aus kann ich nach oben in die weiteren Etagen schauen, da es keine Zwischendecke in diesem Teil des Gebäudes gibt. Alles ist hell und offen und sieht ganz und gar nicht mehr heruntergekommen aus. Dort wo die Gänge der höheren Etagen beginnen, ist ein Schutzgitter angebracht, damit man nicht in die Tiefe stürzt.
Wir befinden uns auf dem Weg ins zweite Obergeschoss und höher scheint es bei der Auswahl an Fahrstuhlknöpfen – und das was ich aus dem gläsernen Lift sehen kann, nicht zu geben.
>Du hast den Knopf doch gar nicht gedrückt, oder? < fällt mir gerade auf, als ich sehe, dass das 2. Obergeschoss rot umrandet ist.
>Nein aber es funktioniert auch über Knopfdruck. Hier gibt es überall eine Sprachsteuerung. Das ist sowas wie „Siri“, „Alexa“ oder „OK Google“ aber viel schwerer zu manipulieren und von außen abhörsicher. < Alles in allem wirkt es hier sehr modern. Der Schein von außen trügt tatsächlich und keiner würde annehmen, dass hier Kopfgeldjäger ausgebildet werden. Wenn es noch die Untergeschosse mit den Zimmern der Schüler gibt, dann ist es kein Wunder, dass das Gebäude von außen nicht besonders groß wirkt. >Henry braucht diese Steuerung um sich hier frei bewegen zu können. Er ist der Leiter des Ganzen und unterrichtet ebenfalls. Wir sind gleich mit ihm verabredet. Eines solltest du noch wissen, Kleines. Er und Lukaz sind die Einzigen die wissen, wer du wirklich bist. Du bist hier trotzdem Kimberly, mit jeder einzelnen Faser und das wissen sie. Hier wirst du niemals deinen wahren Namen benutzen oder zu hören bekommen. Du weißt, ich vertraue niemandem aber ich muss zwangsweise Leute mit ins Boot holen. Allein ist die Sache zu groß für mich geworden, verstehst du? <
>Ja. Das sagtest du alles schon. <
>Okay, ich wollte nur sicher gehen, dass du es verinnerlicht hast – dann komm mit. Er ist schon ganz gespannt dich zu treffen. <
Oje. Ich kann das einfach nicht leiden, wenn Sam's Leute bereits mehr über mich wissen, als ich über sie. Außerdem was hätte er getan, wenn ich den Selbsthilfekurs für gut und völlig ausreichend befunden hätte? Offenbar wussten mindestens zwei Menschen, dass ich hier anfangen werde, noch ehe ich es wusste.
Der Fahrstuhl pingt und geht schließlich auf. Sam führt mich durch einen Flur zu einer Bürotür in der zweiten Etage und klopft einmal an.
Kurz nach dem Klopfen kann ich eine dumpfe Stimme wahrnehmen und Sam öffnet die Tür.
Im ersten Moment als ich in den Raum hineinsehe bin ich geschockt. Nicht nur ein kleines bisschen, sondern ziemlich arg. Da sitzt ein Mann im Rollstuhl seitlich am Fenster und schaut nach draußen. Er neigt den Kopf etwas zu mir aber muss weitaus mehr seine Augen zu mir drehen, da er offensichtlich seinen Kopf nicht so weit bewegen kann. Ich werfe Sam einen Blick zu und frage mich, wer dieser arme Kerl ist. Ich dachte wir treffen hier auf den Schulleiter.
>Kim, ich würde dir gern den Leiter vorstellen. Er hat die Schule gegründet. <
Der Mann lächelt und neigt sein Kinn leicht nach vorn. Aus seiner Kopfstütze kommen links und rechts „Fühler“ – so sieht es jedenfalls aus. Mit seinem Kinn scheint er auf den Linken einen Druck zu geben und steuert seinen Elektrorollstuhl zu uns.
>S…sie sind Henry? < frage ich und versuche meine Fassung zu bewahren. Der Mann ist ganz offensichtlich komplett gelähmt. Jetzt verstehe ich auch das mit der Sprachsteuerung – schließlich kann er ja schlecht irgendwelche Knöpfe drücken. Aber wie soll der mich unterrichten? Er kommt vor mir zum Stillstand und grinst.
>Der bin ich. Freut mich dich hier zu sehen und noch mehr freut es mich, wegen deines Entschlusses. <
Meine Hand schnellt nach vorn, weil ich seine aus einem Reflex heraus schütteln will, aber dann fällt mir ja wieder ein, wie dämlich das ist. Ich kann es gerade noch kaschieren und mir mit der Hand die Haare nach hinten streichen. Sam hingegen gluckst über meine Unbeholfenheit.
>Ein Knicks wäre auch okay. < gibt dieser Henry lässig von sich.
Daraufhin lacht Sam allerdings noch mehr, weil ich total überfordert bin und gibt sich gar nicht erst die Mühe taktvoll zu sein. Am liebsten würde ich ihm meinen Ellenbogen in die Rippen hauen.
>Am besten nenne ich dich von Anfang an Kimberly, dann können uns keine Peinlichkeiten passieren. < sagt er an mich gewandt. Ich hasse diesen Namen aber selbstverständlich nicke ich.
>Ich hoffe nur, dass dieser Name hier sicher ist. <
>Keine Sorge. Lukaz ist verschwiegen, ebenso wie ich. Und Sam wird sicherlich aufpassen wie ein Schießhund. <
Ich sehe zu meinem Begleiter, der einen Mundwinkel hochzieht. Das sieht immer so schelmisch und süß aus, wenn er das macht.
„Hach verdammt, reiß dich mal zusammen Nayeli!“ ermahne ich mich selbst. Ich bin schließlich immer noch sauer auf ihn, wegen seiner Aktion unter der Dusche. Henry drückt erneut sein Kinn gegen das schmale Konstrukt vor ihm und dreht seinen Rollstuhl, um zu einem Schreibtisch zu fahren.
>Setzt euch bitte. < Sam und ich nehmen vor ihm Platz. Bis auf ein bisschen Gestotter, habe ich noch nichts Intelligentes von mir gegeben. >Sam hat bereits alles für dich fertiggemacht. Ich brauche lediglich noch deine Unterschrift und deinen Fingerabdruck – so kommst du allein durch das Tor. Deine Ausbildung beginnt ab morgen. Du kommst in eine Stufe von Anfängern, die je nach Besserung ihrer Leistung in die nächsthöhere aufrücken. Dafür werden immer wieder neue Leute für die erste Stufe nachkommen. Es gibt also keinen Starttermin wo alle gemeinsam beginnen. Du musst ab morgen sofort voll dabei sein. <
>Was ist, wenn ich zu lange brauche? < frage ich besorgt. Immerhin zahlt Sam das Ganze, auch wenn ich es ihm mit Zinsen zurückzahlen werde. Plötzlich merke ich, dass ich eigentlich den gleichen Fehler mache, wie mein Dad. Häufe ich nicht gerade Schulden damit an? Aber andererseits bin ich diejenige, die drauf besteht es zurückzuzahlen und nicht Sam.
>Wenn du merkst, dass du an einem Punkt angekommen bist, an dem du nicht weiterkommst und wenn du nicht mit vollem Herzen dabei bist, dann steht es dir frei zu gehen. Allerdings muss ich dich darauf hinweisen, dass du dieser Schule gegenüber eine Verschwiegenheitspflicht hast. Die Leute die herkommen, kommen nur durch Kontakte zu uns. Man wird nicht einfach mal so über Nacht ein Bounty Hunter an dieser Schule. <
>So meinte ich das nicht. < setze ich vorsichtig an. >Was ist, wenn ich es will aber zu schlecht bin? <
Daraufhin lächelt dieser Henry warm.
>Die, die es wollten, haben es alle geschafft. Du wärst nicht hier, wenn Sam nicht bereits seine Hand für dich ins Feuer gelegt hätte. <
Mein Seitenblick fällt auf ihn und er erwidert diesen. Meine Wut von heute Morgen verfliegt gegen meinen Willen immer mehr. Er tut so verdammt viel für mich.
Das Asyl bei ihm, die Ausstaffierung, das Treffen mit Meg, dass er mir endlich die Wahrheit über sich gesagt hat, das ständige mentale Aufbauen seinerseits – einfach alles.
Lukaz kommt, ohne anzuklopfen herein und läuft sofort neben Henry, wo er aus einer Schublade des Schreibtisches etwas herauszieht. Für den Moment ersetzt er die Arme und Beine des Schulleiters und legt mir ein Formular vor die Nase.
>Was ist das? < frage ich und überfliege die Überschrift mit gerunzelter Stirn.
>Das ist die Verschwiegenheitsklausel. < berichtet Henry. >Bei Schülern sind im Unterricht keine Handys, Tonbänder oder Kameras erlaubt. Jeden Morgen bevor du den Unterricht beginnst, wirst du danach abgesucht. Sämtliche Technik wird dir abgenommen und später wieder ausgehändigt. <
>Ich besitze ohnehin nichts davon. < erwidere ich und lese eilig das Dokument durch. Es sieht alles ziemlich amtlich aus. Zu meiner Verblüffung stelle ich meinem Kopf gar nicht mehr so viele Fragen. Sam erzählte mir so viel über diese ganzen Abhörgeschichten und dieser Topsecret-Dinge, dass ich das eigentlich gar nicht mehr merkwürdig finde. Allerdings lese ich dieses Schriftstück zur Sicherheit nochmal durch und versuche irgendetwas zu finden, das nicht koscher ist. Eine wirkliche Absicherung ist das sowieso nicht für diese Schule. Auch wenn ich nicht darüber reden darf, könnten sie eh nichts dagegen tun, wenn ich es täte. Öffentlich gemacht, ist öffentlich gemacht. Aber ich nehme an, dass sie alles verschwinden lassen könnten, so wie Sam mich von der Bildfläche verschwinden ließ und es auch täglich mit seinen fertigen Aufträgen macht. Endlich bekommt mein Gehirn mal Stoff und liest Paragraphen oder Beamtensprache. Da mich nun allerdings gleich drei Augenpaare intensiv beobachten, höre ich schlagartig auf, räuspere mich und richte mich gerade auf. Henry grinst und erklärt:
>Ich finde es gut, dass du vorsichtig bist. Das ist hier eine wichtige Eigenschaft. <
Lukaz legt mir einen Kugelschreiber vor die Nase und ich greife danach. Ohne zu zögern, schwinge ich den Bogen und lese die falsche Unterschrift von Kimberly.
Dann zieht er es mir wieder weg und legt einen winzigen Bildschirm mit einem Kabel zum Computer vor mich. Das Ding kenne ich bereits von der Bundesdruckerei, in der mein falscher Pass gemacht wurde. Ich weiß sofort was ich tun muss und lege jeden einzelnen meiner Finger darauf, um die falschen Fingerabdrücke einlesen zu lassen.
>Willkommen Anwärterin. < zwinkert mir mein russischer zukünftiger Ausbilder zu. Ich grinse zögernd. Ob ich wirklich das Richtige mache? Immerhin tue ich endlich wieder etwas und sitze nicht einfach nichts tuend bei Sam herum. Ich bin immer noch Nayeli Misra und falls ich das eines Tages wieder sein kann, dann sollen sich die PR-Agenturen schon mal eine gute Kaffeemaschine anschaffen. Irgendwann bin ich wieder da und wenn es Jahre dauert.
Sobald die Formalitäten geklärt sind, können Sam und ich gehen. Die komplette Anmeldung hat er bereits in der einen Stunde für mich gemacht, als ich das Gackern der anderen Frauen aushalten musste. Allerdings bin ich nervös wegen morgen. Ich komme bestimmt als einzige Neue mittendrin in die erste Stufe hinein, während die anderen sicher schon ein paar Tage Vorsprung haben. Das ist so, als würde man mitten im Semester das College wechseln.
Zurück im Parkhaus
>Was hältst du davon, wenn wir irgendwo in einem Schnellimbiss halten? Ich habe echt Hunger. < schlägt Sam vor.
>Klingt gut. < lächle ich ihm zu und steige in seinen Wagen ein. Einfach so und ohne überhaupt so schnell zu verstehen, wie das passieren konnte, fahre ich innerhalb von wenigen Minuten von diesem Gelände runter und bin plötzlich Anwärterin als Kopfgeldjägerin. Die letzten Wochen gingen an mir vorbei wie ein Daumenkino.
Ich war Studentin, beinahe PR-Agentin, Opfer, Täter, tot geglaubt, Kimberly Grant und jetzt schließlich auf dem Weg ein Bounty Hunter zu werden.
>Ich bin wirklich stolz darauf, dass du das durchziehen willst Kleines. < teilt mir Sam mit, als er gerade wieder den Trampelpfad auf sich nimmt.
>Ach ja? Ich dachte, das war gar nicht so überraschend für dich. <
So gut kenne ich dich nicht aber mir war nach allem was ich bisher von dir weiß, klar, dass du erst dann für etwas zu begeistern bist, wenn du es siehst. Du wolltest partout nicht zu dieser Gruppe Hausfrauen gehören, sondern zu den Leuten, die vor dem Eingang geraucht haben. Das habe ich schon an deinem Blick gesehen. <
Ich gluckse. „Zu ihnen gehören“ klingt gut, auch wenn ich mich selbst noch nicht vor meinem inneren Auge sehen kann, wie ich Verbrecher ausliefere. Sam hat jedoch wie so oft recht – irgendwie hat es meine Begeisterung geweckt. Außerdem kann ich etwas tun, anstatt die Hände in den Schoß zu legen, so wie es mein Vater tat.
Hinzu kommt, dass er mich inzwischen davon überzeugt hat, dass es tatsächlich nicht nur schwarz oder weiß im Leben gibt. Auch wenn seine Berufswahl nicht gerade gewöhnlich ist, hat sie trotzdem ihre Berechtigung und das, obwohl ich ihn zuerst deswegen verurteilt habe.
Nach etwa fünfzehn Minuten befinden wir uns in einem größeren Örtchen, in dem Sam nach irgendeinem Schnellrestaurant sucht. Wir fahren an ein paar vorbei aber die scheinen gut besucht zu sein. Wie ich ihn inzwischen kenne, ist eine überfüllte Atmosphäre nicht sein Ding. Er will lieber dort sein, wo es übersichtlich ist und wo er auf alles einen Blick hat.
Jedes Mal, wenn ich denke, dass es da echt gut aussieht, fährt er wieder daran vorbei und allmählich ziehe ich eine Schnute.
>Sam jetzt entscheide dich endlich! < jammere ich und lehne meinen Kopf gegen die Scheibe.
>Ist ja gut. Ich bin eben wählerisch. <
>Seit wann? < feixe ich. Er biegt letztlich bei einem Parkplatz ab und ich habe die Hoffnung, endlich aussteigen zu können.
>Eigentlich schon immer. Bei Essen bin ich echt eigen. <
>Das muss bisher aber an mir vorbeigegangen sein. Du isst alles, was ich dir vorsetze. <
Er grinst und nickt.
>Das, was du kochst, ist ja auch genial. Selbst wenn es nur dein „Kühlschrank-aufräumen“ ist. <
Seine funkelnden Augen dabei finde ich zum Schreien komisch. Da passt Mums alter Spruch: „Willst du in das Herz eines Mannes, dann koche ihm etwas.“
Sam stellt den Motor auf dem Parkgelände aus, wo gleich mehrere Lokale zur Auswahl stehen. Automatisch greife ich zum Türhebel.
>Nein, warte noch kurz. < bitte er mich.
Wahrscheinlich will er erst wieder sein Umfeld abchecken, also lehne ich mich wieder seufzend an. Doch dann streckt er mir ein Handy entgegen und ich sehe ihn fragend an.
>Ich finde du hast dir das wirklich verdient, Kleines. <
>Wie jetzt? Ich darf Megan anrufen? <
>Ja. Ich lasse dich dieses Mal allein mit ihr. Aber versprich mir eines: du darfst ihr auf keinen Fall erzählen, dass du an dieser Schule bist, kein Wort von Kim Grant am Telefon und… ach weißt du was? - nenne am besten so wenig Details wie möglich. Und achte unbedingt auf Hintergrundgeräusche. Sobald du etwas hörst…<
>…drücke ich sie sofort weg, stelle das Handy aus und vernichte die SIM-Karte. Ich weiß. < funke ich dazwischen. Daraufhin grinst er und steigt aus dem Wagen aus. >Und wo willst du hin? <
>Ich schaue mich hier mal um – ich habe echt Kohldampf. Komm einfach nach, wenn du fertig bist, aber versuche es auf zehn Minuten zu beschränken, falls nichts dazwischenkommt. So viel Geld ist auf diesen Dingern eh nicht drauf. <
Er legt mir den Schlüssel auf den Sitz und knallt die Tür zu.
Ich lächle ihm hinterher. Endlich kann ich wieder mit Megan sprechen und hoffe nur, dass sie rangeht. Eilig tippe ich ihre Nummer ein und drücke auf den Hörer.
>Bitte geh ran. < murmle ich und kaue an meinem Fingernagel herum.
Es läutet ein paar Mal und schließlich wird abgenommen.
>Hallo? < höre ich sie erwartungsvoll.
>Oh Gott sei Dank nimmst du ab. Ich bin es. <
>Ach hiii Nicole! < ruft sie etwas laut und übertrieben hinein. Mist, sie ist also nicht allein. >Bleib dran! Hey Jungs, ich gehe mal kurz aufs Klo – das hier wird ein Frauengespräch. < teilt sie irgendwem im Hintergrund mit.
Irgendjemand fragt noch etwas aber das verstehe ich nicht. Es dauert einen Moment, bis ich sie wieder an meinem Ohr habe. In der Zeit versuche ich mögliche Nebengeräusche wahrzunehmen. Bis auf das Zuknallen ihrer Badezimmertür ist nichts zu hören.
>Verdammt, wo warst du so lange? < meckert sie. >Ich habe ewig darauf gewartet, dass du dich meldest. <
>Das weiß ich und glaub mir, ich habe jeden Tag daran gedacht. Das machte mich ganz mürbe aber es ging einfach nicht. <
>Sam hat dich nicht gelassen, stimmt’s? <
>Ja aber jetzt lässt er mich und wir sind allein. Er ist vor einer Minute gegangen. <
>Ich habe mir totale Sorgen gemacht. Es war so schrecklich dich mit ihm fahren zu lassen und dann höre ich nichts mehr von dir. Er sagte doch, er will Informationen von mir haben. Wie will er sie kriegen, wenn ich nicht mit euch sprechen kann? <
Sam schlug ihr das zwar tatsächlich vor aber zu mir meinte er, dass er es nur angeboten hat, damit Megan beruhigt ist und glaubt, etwas tun zu können. Das erkläre ich ihr aber lieber nicht und versuche stattdessen belanglos zu klingen:
>Er kam scheinbar ganz gut selbst voran und brauchte die Infos nicht. <
>Oh Mann, das ist echt nervenaufreibend. Da fühlt man sich total nutzlos und machtlos. Ich will dir unbedingt helfen aber ich weiß einfach nicht wie. <
>Ich kann nicht so lange reden. Lass uns über etwas anderes sprechen und sag mir lieber, wie es dir geht. < bitte ich sie melancholisch.
>Jetzt wo ich dich höre, besser. Gestern ging es mir ziemlich beschissen, um ehrlich zu sein. Jordan und Sasha sind gerade bei mir. Im Moment sind wir ziemlich viel zusammen, weil … na ja. < druckst sie herum.
>Weil was? <
>Kipp jetzt nicht um, aber gestern war die Beisetzung deiner Familie und genaugenommen ja auch von dir. Am schlimmsten waren die Leute, die mir andauernd ihr Beileid aussprachen, weil sie wissen, dass du wie eine Schwester für mich warst. < das bringt mich schlagartig zum Schweigen. An so etwas hatte ich gar nicht mehr gedacht. >Dein Onkel aus Alabama hatte sich darum gekümmert und es war sehr schön. Er hat euch ein Familiengrab auf einer grünen Wiese verschafft. Vier Männer trugen die Urnen und es war sehr respektvoll. < setzt sie an aber ihre Stimme zittert. Kurz darauf höre ich sie schluchzen. Zu meinem Onkel habe ich seit bestimmt 10 Jahren keinen Kontakt mehr gehabt. Ich hatte immer das Gefühl, dass wir nicht wichtig für ihn seien. Er kannte nicht einmal Iye. >Du kannst dir nicht vorstellen wie viele Menschen da waren und wie schwer es mir fiel, den Mund zu halten. Da waren unsere Dozenten, so viele Kommilitonen, Noah aus der Buchhandlung und sogar Mister Greenfield mit Misses Blair. < sie atmet heftiger aus und braucht einen Moment um sich zu fangen. >Oh Mann Nayeli, du wurdest so sehr geliebt und ich durfte nichts sagen. <
Ich wollte wirklich unbedingt Megans Stimme hören, aber dass sie mir ausgerechnet so etwas erzählt, hätte ich nicht erwartet. Vor allem hätte ich nicht gedacht, dass sich ausgerechnet mein Onkel darum kümmern würde. Hat er jetzt mit allem allein zu tun? Hat er jetzt die Schulden meines Vaters am Hals?
>Yeli? <
>Ja… ja ich bin noch dran. Ich … weiß nur nicht was ich sagen soll. <
>Ich dachte, es wäre gut für dich das zu wissen. <
>Hmm. < summe ich lediglich, aber bin zu geplättet, um mehr zu erwidern.
>Und wie ist es mit Sam – ist er nett zu dir? Geht's dir gut bei ihm? <
>Es geht mir ganz okay. < sage ich leise. Die Nachricht sitzt mir noch zu quer und ich kann kaum auf ihre Frage antworten.
>Sicher? Bist du wirklich okay? Du weißt ich merke es, wenn du mich anlügst. < schnieft sie.
>Ja … ich stehe nur etwas neben mir. Dass es so schnell ging, hätte ich nicht gedacht. <
>Tut mir leid, dass du es so erfahren musstest. <
>Schon okay. Ich bin froh, dass du es mir gesagt hast. < hauche ich.
>Und jetzt sag mir die Wahrheit. Ist seit unserem Treffen alles okay? <
>Ja, mach dir da keine Sorgen. Mein Bein tut manchmal etwas weh aber das wird schon. Sam und ich kabbeln uns zeitweise etwas aber ich bin wirklich froh ihn zu haben und eigentlich ist es halb so wild. <
>Fasst er dich an? < fragt sie mit kaltem Unterton.
>Meg! Da musst du wirklich keine Bedenken haben. Er tut mir nichts. <
>Ich finde es einfach so merkwürdig. Ihr kennt euch überhaupt nicht, er lässt dich bei sich wohnen, will kein Geld von dir und solche Dinge. Zwingt er dich wirklich zu nichts? <
Ich lächle in den Hörer.
>Er tut mir wirklich nichts an, das kannst du mir glauben. Im Gegenteil, er ist so ein guter Kerl. Ich glaube manchmal bringe ich ihn ganz schön auf die Palme aber er tut so viel für mich. Was er macht, scheint absolut uneigennützig zu sein. Okay, ich denke schon, dass er dabei ein paar Vorteile beim Kochen nicht schlecht findet, aber ich hätte niemals gedacht, dass ich jemandem begegnen würde, der einen so guten Kern hat. < schwärme ich und spüre wie meine Wut auf ihn nun gänzlich dahin ist.
>Ach du Scheiße! < japst sie und sagt schrill: >Du liebst ihn! <
>Was? Nein das tue ich nicht! < wende ich eilig ab und pruste los. Jetzt übertreibt sie aber völlig. Und damit meine ich nicht Megans sonstiges Übertreiben. Das hier hat eine ganze andere Größenordnung angenommen.
>Ach erzähl mir nichts. Du verteidigst ihn und bewunderst ihn regelrecht. Denk nicht, dass ich dich dafür verurteile. Vielleicht ist sowas nur eine Frage der Zeit, wenn man so in der Klemme steckt wie du, aber das geht nicht. Du bist zu abhängig von ihm und das geht dir schon genug gegen den Strich. In ihn verliebt zu sein, heißt … <
>Hör auf damit! Ich habe ihn gern und das ist alles. <
>Bist du dir da sicher? Ich meine, du brauchst bei diesen Dingen immer etwas länger. Wenn es für jeden anderen schon klar war, dann kamst du einen Monat später drauf. < nuschelt sie vorsichtig.
>Ich liebe ihn nicht! < zische ich beleidigt. >Glaubst du ich wüsste nicht, dass er mich allein lassen wird, sobald das alles ein Ende mit meiner Verfolgung hat? <
>Das verstehe ich jetzt nicht. <
>Er sagt, dass sich unsere Wege trennen, sobald er mich rausgeboxt hat. Wie verrückt wäre es, sich da in ihn zu verlieben, wenn ich weiß, dass er mich nicht mehr sehen will? <
>Ziemlich. Aber wieso will er dich dann eigentlich nicht mehr sehen? <
>Er wird schon seine Gründe haben. Ich denke es liegt an seinem Job, der zu gefährlich ist und er will lieber allein sein. <
>Hat er dir das so gesagt? <
>So ähnlich. <
>Und hast du rausgefunden was er wirklich macht? <
>FBI. Das was ich dachte. < lüge ich. Normalerweise lüge ich meine beste Freundin niemals an aber das hier ist nun mal ein Ausnahmezustand. Ich höre sie erleichtert aufatmen.
>Na das ist doch immerhin was. Dann war es wohl Schicksal, dass du ihm begegnet bist. <
>Erst bist du völlig abgeschreckt von ihm und dann ist er plötzlich mein Schicksal? < feixe ich. Kann sie sich mal entscheiden?
>Naja besser, als wenn du bei einem Irren gelandet wärst oder dem nächsten Mörder. < mein Herz macht einen fiesen Aussetzer… na, wenn sie wüsste. >Dir muss doch die Decke auf den Kopf fallen, oder? Ich meine dein Gehirn muss doch Amok laufen. <
Ich lache – meine beste Freundin kennt mich eben.
>Das ist wahr aber immerhin sorgt Sam dafür, dass ich was zu lesen habe. Hör zu Megan, ich würde liebend gern noch weiter mit dir reden aber ich kann das nicht so lange ausreizen. <
Die ganze Zeit achte ich weiterhin auf Hintergrundgeräusche aber ich kann nichts feststellen. Ich hoffe nur, dass wir wirklich nicht abgehört wurden, denn gegen das, was Sam mir sagte, habe ich definitiv zu viel über Details geredet. Aber es ist auch unglaublich schwer diese Dinge zu umgehen.
>Und wann meldest du dich wieder? < fragt meine Freundin betrübt, so als kenne sie meine Antwort bereits.
>Das weiß ich nicht. <
>Mann Yeli, das ist echt zum Verrücktwerden. <
>Tut mir leid. Ich werde es einfach immer wieder mal versuchen, sobald ich die Möglichkeit habe, ich verspreche es dir. <
>Kann ich dich denn wirklich nicht erreichen? Gib mir doch die Nummer, mit der du jetzt anrufst. Ich kann sie auf dem Display leider nicht sehen. <
>Das geht nicht. < erwidere ich trübsinnig.
Meg seufzt.
>Okay. Dann melde dich eben, sobald du kannst. Ich hoffe, dass wir uns irgendwann wiedersehen können. Du fehlst mir so schrecklich. Und den Jungs auch – sie reden andauernd von dir. Irgendwie ist nichts mehr wie vorher. Vor allem Jordan ist völlig neben der Spur, denn er denkt ja du seist tot. Er redet kaum und trägt dutzende Fotos von dir bei sich. <
Ich seufze ebenfalls und will das Thema nicht vertiefen.
>Du fehlst mir auch – ich muss jetzt auflegen. <
>Pass auf dich auf. <
>Mach ich. Ich hab dich lieb. <
Schon drücke ich sie weg, ehe wir uns noch mehr festquatschen können. Ich hätte am liebsten mit jedem in Megans Haus geredet.
Ich stelle das Handy komplett aus und bleibe noch einen Moment sitzen, weil mir so schwer ums Herz ist. Oh Mann, das muss ich erstmal verdauen und ich kaue verheult an meinen Nägeln herum. Das geht mir dermaßen an die Nieren, dass ich gar nicht aufstehen will – allerdings wird es hier im Auto immer heißer und deswegen muss ich die Flucht ergreifen. Schließlich raffe ich mich auf und schnappe mir den Autoschlüssel von Sam‘s Sitz, knalle die Tür zu und verriegle den Wagen. Ich habe ehrlich gesagt gar nicht verfolgt, in welches Lokal Sam hineingegangen ist aber wie ich ihn kenne, sitzt er irgendwo am Fenster und hatte die ganze Zeit die Sicht auf mich. Sobald ich näher an die Gebäude herankomme, überfliege ich die Seitenfenster und kann ihn bereits erkennen.
Ich versuche Sam durch die Glasscheibe des Lokals anzulächeln aber meine Gesichtsmuskeln sind wie eingefroren.
Diese Information von Megan, dass meine Familie unter der Erde ist, wiegt tonnenschwer. Ich wende meinen Blick ab und versuche ein Pokerface aufzusetzen, noch ehe ich bei ihm bin. Aber das misslingt mir vollkommen, weil meine Wangenmuskulatur krampft als würde ich das Weinen zurückhalten. Ein paar Mal durchatmen hilft meistens. Ich schiebe die Lokaltür auf und werde bereits von einem Mitarbeiter gefragt, ob ich einen Tisch für mich allein will. Dabei winke ich ab, gehe schnurstracks auf Sam zu und lasse mich schwerfällig fallen.
>Der Blick gefällt mir nicht und du hast geweint. < stellt er sofort fest. Da habe ich ja völlig versagt. >Du hast Megan erreicht, ich habe dich reden sehen … du hast doch mit ihr geredet, oder? < bei seinem letzten Satz liegt eine unterschwellige Panik in seiner Stimmfarbe.
>Ja, keine Sorge. Es war nur Meg und es gab keine Zwischenfälle, falls du das denkst. <
>Warum schaust du dann so, als hättest du einen Geist gesehen? Oder tut dir dein Bein wieder weh? <
>Mir geht’s gut. < wende ich brüchig ein und versuche mein Gesicht zu glätten. Aber keine Chance. Ich schlage mir die Hände vors Gesicht und ziehe scharf die Luft ein, um mich zu beruhigen. >Nein das war gelogen, es geht mir nicht gut. <
>Sag mir was los ist, Kleines. <
Wenn ich es nicht Sam sagen kann, wem dann?
>Es hat mich eben aus der Bahn geworfen, als Meg mir sagte, dass gestern die Beisetzung war. <
Sam reißt die Augen auf und starrt mich an.
>Was? Nein! Sie haben deine …< er sieht sich um, neigt sich zu mir rüber und flüstert: >Sie haben deine Familie beerdigt? Bist du sicher? <
Sein Verhalten irritiert mich. Dass ich darüber erschrocken bin, ergibt Sinn aber er kannte meine Familie nicht.
>Ja Megan sagte mir, wie viele Leute da waren. Die Urnen wurden von vier Männern getragen und ich habe mich ehrlich gesagt gefragt, ob die vierte davon leer war oder einfach nur Staub enthalten hat. <
Sam starrt mich immer noch mit leicht geöffnetem Mund an. Dann streicht er sich die Hand übers Gesicht und lehnt sich an den Stuhl an. Der Kellner kommt, um Sam sein Essen zu bringen und schließlich auch mir. Verwundert sehe ich zu dem Mann, der mir Lasagne hinstellt.
>Ich war so frei, dir auch gleich etwas zu bestellen. < wendet Sam kurz ein und nickt dem Kellner dankend zu, damit er schnell wieder verschwindet.
>Weshalb bist ausgerechnet du so schockiert? < frage ich als er gegangen ist, weil mein Begleiter sofort so eigenartig ist.
>Das muss warten bis wir wieder im Auto sind. Also hau rein. <
Sowas braucht er mir nicht zweimal zu sagen. Normalerweise schätze ich es, mein Essen in Ruhe zu genießen aber selbst Sam scheint sich zu beeilen. Was zum Teufel ist denn los? Schließlich kann ihm das doch egal sein. Ich bin diejenige, die nicht dabei sein konnte. Wie auch? Immerhin war ich ja angeblich in einer der Urnen. Die ganze Zeit kämpfe ich heftig gegen die Tränen an. Das ist eine Tatsache, die fast noch mehr wehtut, als im Moment nicht nach Hause zurückkehren zu können. Aber andererseits hätte ich es überhaupt nicht erfahren, wenn ich Meg nicht anrufen hätte.
Sam und ich sind beinahe gleichzeitig fertig und er macht sich gar nicht die Mühe den Kellner zu rufen, sondern wirft noch kauend das Geld auf den Tisch, nimmt mich bei der Hand und zieht mich hinter sich her.
So einem schnellen Schritt muss man erstmal hinterherkommen ohne zu fallen. Er öffnet den Pick-up und macht mir nicht wie sonst die Tür auf, sondern steigt gleich ein. Er wirkt abgehetzt und irgendwie planlos – so kenne ich ihn nicht und das beunruhigt mich.
>Sam, was ist denn los? < frage ich, sobald ich neben ihm Platz genommen habe. Den Gurt habe ich noch nicht einmal zum Einrasten gebracht, da gibt er bereits Gas und mein Körper wird keuchend in den Sitz gepresst. Er antwortet mir nicht und wählt stattdessen eine Nummer im Handy. Über seine Freisprechanlage höre ich es läuten.
>Lebedew. < ertönt aus dem Lautsprecher. Wieso ruft er Dimitrij an?
>Hier ist Sam. Mittwochs ist doch dein Homeoffice-Tag, oder? <
>Ja, wieso? <
>Wir haben ein Problem und ich brauche dich. Es geht um Kim. Sie hört gerade mit. <
>Alles klar, wann kannst du hier sein? <
>Wenn ich mich beeile, dann frühestens in einer Stunde. < erwidert Sam zähneknirschend und überholt einen anderen Chevrolet, der sich genau ans Tempolimit hält. Ich verstehe die Welt nicht mehr. Sam gibt sich zwar sehr große Mühe nicht panisch zu wirken, aber dennoch merke ich es ihm an und vor allem sehe ich seine angespannte Körperspannung, seine verbissene Kiefermuskulatur und den starren Blick.
>In Ordnung. < erwidert der Russe knapp und legt auf.
>Sam? < setze ich vorsichtig an. Er schaut seitlich zu mir und macht mir Angst.
>Ich regle das. Mach dir keine Sorgen. <
>Was willst du regeln? Was für ein Problem gibt es denn überhaupt? <
>Tu mir einen Gefallen und mach dich auf deinem Sitz kleiner, leg den Kopf an die Scheibe und leg deine Haare vors Gesicht. Wenn wir geblitzt werden, dann will ich nicht, dass du auf dem Bild zu erkennen bist. <
Wenn er so drauf ist wie jetzt, dann weiß ich, dass mit ihm nicht zu reden ist. Ich tue was er sagt und versuche das starke Herzklopfen zu ignorieren, was mich vollkommen verrückt macht. Meine oberen Schneidezähne versenken sich in meiner Unterlippe, damit ich nicht schluchze. Um ehrlich zu sein bin ich froh, dass meine Haare mein Gesicht verdecken. Durch Megans Nachricht laufen mir die stummen Tränen durch meine zusammengekniffenen Augen runter und ich kann nichts dagegen tun.
Nach dieser Probestunde schließt Lukaz die Turnhalle ab und setzt sich zu uns in den Pick-up. Wir fahren etwa einen Kilometer durch das Waldstück, als endlich nach und nach diese sagenumwobene Schule zum Vorschein kommt.
Um ehrlich zu sein habe ich sie mir spektakulärer und größer vorgestellt. Davon mal abgesehen nicht so baufällig. Lukaz fängt meinen irritierten Blick auf und erklärt:
>Umso unscheinbarer, desto besser. Das ist Absicht, dass sie so heruntergekommen aussieht. Wenn du sie von innen siehst, wird es dich flashen. <
>Unscheinbar ist die eine Sache aber hier sieht es verlassen aus. Ich kann nicht ein einziges Auto sehen. < wende ich ein.
>Sesam öffne dich. < lacht Sam und fährt seitlich an das Gebäude heran. Ich sehe ein Tor zu einer Garage, mit einem steinernen Poller seitlich. Na schön und gut, dann ist hier vielleicht Platz für die Wagen der Trainer aber wo ist der Rest? Lukaz zückt ein Handy aus der Hosentasche und öffnet offensichtlich eine App. Genau kann ich nicht sehen was er da tut aber das Tor geht auf. Ob es wirklich im Zusammenhang mit dem Handy ist, kann ich nicht sagen. Aber sobald das Tor oben ist, kann ich hinein – oder besser gesagt hinuntersehen.
Sam fährt in ein Parkhaus und hier stehen die dutzenden Wagen, die ich eigentlich draußen vermutet hatte. Er fährt weit nach vorne und parkt dann lässig ein. Lukaz steigt als erster aus, steckt sich eine Zigarette in den Mund und läuft bereits durch eine Metalltür, die neben einem Fahrstuhl ist. Ich sehe umher und höre jeden Schritt von Sam, der von den Betonwänden widerhallt.
>Jetzt da du dich entschieden hast, sollten wir alles Weitere besprechen. < er läuft an mir vorbei in Richtung des Liftes.
>Sam warte mal kurz! Du sagtest, dieser Selbstverteidigungskurs wäre mit Kosten verbunden. Was zur Hölle wollen die hier für eine Summe haben, wenn ich auf eine Schule gehe? <
>Mach dir darüber mal keine Gedanken. <
>Hör auf das immer so abzutun und sag es mir einfach. <
Er stöhnt auf und bleibt stehen.
>Also gut. Ich kümmere mich natürlich darum, auch wenn es für dich billiger wird, weil sie mich hier kennen. Aber falls es dich beruhigt … sobald du fertig bist, kannst du es mir gern zurückzahlen. Wenn du dich damit besser fühlst, dann zahl mir halt alles zurück, was ich dir gegeben habe. Gute Kopfgelder sind nicht gerade knapp bei Kasse. Aber ich habe daran ehrlich gesagt kein Interesse, also nimm es einfach an Kleines. <
>Du hast von Anfang an gewusst, dass ich „ja“ sagen würde, wenn ich in diesen Kurs reingehe, oder? <
>Gewusst nicht aber gehofft. Ich kann es mir selbst nicht so genau erklären aber ich sehe dich darin, auch wenn du sehr viel lernen musst. Genauso wie Sophia, Dimitrij und jetzt auch noch Lukaz dieser Meinung sind. Du hast so eine gewisse Neugier, die befriedigt werden will. In dir steckt mehr als eine Sekretärin. <
>PR-Agentin. < korrigiere ich zähneknirschend.
>Von mir aus … <
Irgendwie habe ich aber dennoch etwas Muffensausen. Schließlich folge ich Sam zu einem gläsernen Fahrstuhl. Die Türen öffnen sich, indem mein Begleiter seinen Finger vor einem Sensor wischt. Sobald wir uns im Inneren befinden, sagt Sam klar und deutlich:
>Zweites Obergeschoss. <
Als er sich in Bewegung setzt und ich den gläsernen Boden sehen kann, ist das schon sehr befremdlich, als das Loch unter uns noch größer wird als ohnehin schon.
>Da ist unter uns noch mehr, oder? < frage ich und wende meinen Blick schnell von meinen Füßen ab. Irgendwie dreht sich mir der Magen um, weil ich ins Leere sehe. >Ja. Ganz unten sind die Zimmer der Schüler, die nicht täglich herfahren können und der große Trainingsraum. Du hast ab morgen vier Trainer. Der eine davon ist Lukaz und dann wären da noch Simon und Cataley – sie ist diejenige die entscheidet, ob die Schüler eine Stufe weiter rücken. Du fängst bei der ersten Stufe an. Und dann ist da noch Henry – ich hatte ihn vorhin kurz erwähnt. <
Ich nicke und sehe nach vorn, wo es plötzlich Taghell wird. Wir fahren mit dem Lift gerade in eine Art Eingangshalle nach oben, die modern mit ein paar Sitzbänken, Bildern und Pflanzen dekoriert ist, aber wir fahren noch weiter hoch. Von hier aus kann ich nach oben in die weiteren Etagen schauen, da es keine Zwischendecke in diesem Teil des Gebäudes gibt. Alles ist hell und offen und sieht ganz und gar nicht mehr heruntergekommen aus. Dort wo die Gänge der höheren Etagen beginnen, ist ein Schutzgitter angebracht, damit man nicht in die Tiefe stürzt.
Wir befinden uns auf dem Weg ins zweite Obergeschoss und höher scheint es bei der Auswahl an Fahrstuhlknöpfen – und das was ich aus dem gläsernen Lift sehen kann, nicht zu geben.
>Du hast den Knopf doch gar nicht gedrückt, oder? < fällt mir gerade auf, als ich sehe, dass das 2. Obergeschoss rot umrandet ist.
>Nein aber es funktioniert auch über Knopfdruck. Hier gibt es überall eine Sprachsteuerung. Das ist sowas wie „Siri“, „Alexa“ oder „OK Google“ aber viel schwerer zu manipulieren und von außen abhörsicher. < Alles in allem wirkt es hier sehr modern. Der Schein von außen trügt tatsächlich und keiner würde annehmen, dass hier Kopfgeldjäger ausgebildet werden. Wenn es noch die Untergeschosse mit den Zimmern der Schüler gibt, dann ist es kein Wunder, dass das Gebäude von außen nicht besonders groß wirkt. >Henry braucht diese Steuerung um sich hier frei bewegen zu können. Er ist der Leiter des Ganzen und unterrichtet ebenfalls. Wir sind gleich mit ihm verabredet. Eines solltest du noch wissen, Kleines. Er und Lukaz sind die Einzigen die wissen, wer du wirklich bist. Du bist hier trotzdem Kimberly, mit jeder einzelnen Faser und das wissen sie. Hier wirst du niemals deinen wahren Namen benutzen oder zu hören bekommen. Du weißt, ich vertraue niemandem aber ich muss zwangsweise Leute mit ins Boot holen. Allein ist die Sache zu groß für mich geworden, verstehst du? <
>Ja. Das sagtest du alles schon. <
>Okay, ich wollte nur sicher gehen, dass du es verinnerlicht hast – dann komm mit. Er ist schon ganz gespannt dich zu treffen. <
Oje. Ich kann das einfach nicht leiden, wenn Sam's Leute bereits mehr über mich wissen, als ich über sie. Außerdem was hätte er getan, wenn ich den Selbsthilfekurs für gut und völlig ausreichend befunden hätte? Offenbar wussten mindestens zwei Menschen, dass ich hier anfangen werde, noch ehe ich es wusste.
Der Fahrstuhl pingt und geht schließlich auf. Sam führt mich durch einen Flur zu einer Bürotür in der zweiten Etage und klopft einmal an.
Kurz nach dem Klopfen kann ich eine dumpfe Stimme wahrnehmen und Sam öffnet die Tür.
Im ersten Moment als ich in den Raum hineinsehe bin ich geschockt. Nicht nur ein kleines bisschen, sondern ziemlich arg. Da sitzt ein Mann im Rollstuhl seitlich am Fenster und schaut nach draußen. Er neigt den Kopf etwas zu mir aber muss weitaus mehr seine Augen zu mir drehen, da er offensichtlich seinen Kopf nicht so weit bewegen kann. Ich werfe Sam einen Blick zu und frage mich, wer dieser arme Kerl ist. Ich dachte wir treffen hier auf den Schulleiter.
>Kim, ich würde dir gern den Leiter vorstellen. Er hat die Schule gegründet. <
Der Mann lächelt und neigt sein Kinn leicht nach vorn. Aus seiner Kopfstütze kommen links und rechts „Fühler“ – so sieht es jedenfalls aus. Mit seinem Kinn scheint er auf den Linken einen Druck zu geben und steuert seinen Elektrorollstuhl zu uns.
>S…sie sind Henry? < frage ich und versuche meine Fassung zu bewahren. Der Mann ist ganz offensichtlich komplett gelähmt. Jetzt verstehe ich auch das mit der Sprachsteuerung – schließlich kann er ja schlecht irgendwelche Knöpfe drücken. Aber wie soll der mich unterrichten? Er kommt vor mir zum Stillstand und grinst.
>Der bin ich. Freut mich dich hier zu sehen und noch mehr freut es mich, wegen deines Entschlusses. <
Meine Hand schnellt nach vorn, weil ich seine aus einem Reflex heraus schütteln will, aber dann fällt mir ja wieder ein, wie dämlich das ist. Ich kann es gerade noch kaschieren und mir mit der Hand die Haare nach hinten streichen. Sam hingegen gluckst über meine Unbeholfenheit.
>Ein Knicks wäre auch okay. < gibt dieser Henry lässig von sich.
Daraufhin lacht Sam allerdings noch mehr, weil ich total überfordert bin und gibt sich gar nicht erst die Mühe taktvoll zu sein. Am liebsten würde ich ihm meinen Ellenbogen in die Rippen hauen.
>Am besten nenne ich dich von Anfang an Kimberly, dann können uns keine Peinlichkeiten passieren. < sagt er an mich gewandt. Ich hasse diesen Namen aber selbstverständlich nicke ich.
>Ich hoffe nur, dass dieser Name hier sicher ist. <
>Keine Sorge. Lukaz ist verschwiegen, ebenso wie ich. Und Sam wird sicherlich aufpassen wie ein Schießhund. <
Ich sehe zu meinem Begleiter, der einen Mundwinkel hochzieht. Das sieht immer so schelmisch und süß aus, wenn er das macht.
„Hach verdammt, reiß dich mal zusammen Nayeli!“ ermahne ich mich selbst. Ich bin schließlich immer noch sauer auf ihn, wegen seiner Aktion unter der Dusche. Henry drückt erneut sein Kinn gegen das schmale Konstrukt vor ihm und dreht seinen Rollstuhl, um zu einem Schreibtisch zu fahren.
>Setzt euch bitte. < Sam und ich nehmen vor ihm Platz. Bis auf ein bisschen Gestotter, habe ich noch nichts Intelligentes von mir gegeben. >Sam hat bereits alles für dich fertiggemacht. Ich brauche lediglich noch deine Unterschrift und deinen Fingerabdruck – so kommst du allein durch das Tor. Deine Ausbildung beginnt ab morgen. Du kommst in eine Stufe von Anfängern, die je nach Besserung ihrer Leistung in die nächsthöhere aufrücken. Dafür werden immer wieder neue Leute für die erste Stufe nachkommen. Es gibt also keinen Starttermin wo alle gemeinsam beginnen. Du musst ab morgen sofort voll dabei sein. <
>Was ist, wenn ich zu lange brauche? < frage ich besorgt. Immerhin zahlt Sam das Ganze, auch wenn ich es ihm mit Zinsen zurückzahlen werde. Plötzlich merke ich, dass ich eigentlich den gleichen Fehler mache, wie mein Dad. Häufe ich nicht gerade Schulden damit an? Aber andererseits bin ich diejenige, die drauf besteht es zurückzuzahlen und nicht Sam.
>Wenn du merkst, dass du an einem Punkt angekommen bist, an dem du nicht weiterkommst und wenn du nicht mit vollem Herzen dabei bist, dann steht es dir frei zu gehen. Allerdings muss ich dich darauf hinweisen, dass du dieser Schule gegenüber eine Verschwiegenheitspflicht hast. Die Leute die herkommen, kommen nur durch Kontakte zu uns. Man wird nicht einfach mal so über Nacht ein Bounty Hunter an dieser Schule. <
>So meinte ich das nicht. < setze ich vorsichtig an. >Was ist, wenn ich es will aber zu schlecht bin? <
Daraufhin lächelt dieser Henry warm.
>Die, die es wollten, haben es alle geschafft. Du wärst nicht hier, wenn Sam nicht bereits seine Hand für dich ins Feuer gelegt hätte. <
Mein Seitenblick fällt auf ihn und er erwidert diesen. Meine Wut von heute Morgen verfliegt gegen meinen Willen immer mehr. Er tut so verdammt viel für mich.
Das Asyl bei ihm, die Ausstaffierung, das Treffen mit Meg, dass er mir endlich die Wahrheit über sich gesagt hat, das ständige mentale Aufbauen seinerseits – einfach alles.
Lukaz kommt, ohne anzuklopfen herein und läuft sofort neben Henry, wo er aus einer Schublade des Schreibtisches etwas herauszieht. Für den Moment ersetzt er die Arme und Beine des Schulleiters und legt mir ein Formular vor die Nase.
>Was ist das? < frage ich und überfliege die Überschrift mit gerunzelter Stirn.
>Das ist die Verschwiegenheitsklausel. < berichtet Henry. >Bei Schülern sind im Unterricht keine Handys, Tonbänder oder Kameras erlaubt. Jeden Morgen bevor du den Unterricht beginnst, wirst du danach abgesucht. Sämtliche Technik wird dir abgenommen und später wieder ausgehändigt. <
>Ich besitze ohnehin nichts davon. < erwidere ich und lese eilig das Dokument durch. Es sieht alles ziemlich amtlich aus. Zu meiner Verblüffung stelle ich meinem Kopf gar nicht mehr so viele Fragen. Sam erzählte mir so viel über diese ganzen Abhörgeschichten und dieser Topsecret-Dinge, dass ich das eigentlich gar nicht mehr merkwürdig finde. Allerdings lese ich dieses Schriftstück zur Sicherheit nochmal durch und versuche irgendetwas zu finden, das nicht koscher ist. Eine wirkliche Absicherung ist das sowieso nicht für diese Schule. Auch wenn ich nicht darüber reden darf, könnten sie eh nichts dagegen tun, wenn ich es täte. Öffentlich gemacht, ist öffentlich gemacht. Aber ich nehme an, dass sie alles verschwinden lassen könnten, so wie Sam mich von der Bildfläche verschwinden ließ und es auch täglich mit seinen fertigen Aufträgen macht. Endlich bekommt mein Gehirn mal Stoff und liest Paragraphen oder Beamtensprache. Da mich nun allerdings gleich drei Augenpaare intensiv beobachten, höre ich schlagartig auf, räuspere mich und richte mich gerade auf. Henry grinst und erklärt:
>Ich finde es gut, dass du vorsichtig bist. Das ist hier eine wichtige Eigenschaft. <
Lukaz legt mir einen Kugelschreiber vor die Nase und ich greife danach. Ohne zu zögern, schwinge ich den Bogen und lese die falsche Unterschrift von Kimberly.
Dann zieht er es mir wieder weg und legt einen winzigen Bildschirm mit einem Kabel zum Computer vor mich. Das Ding kenne ich bereits von der Bundesdruckerei, in der mein falscher Pass gemacht wurde. Ich weiß sofort was ich tun muss und lege jeden einzelnen meiner Finger darauf, um die falschen Fingerabdrücke einlesen zu lassen.
>Willkommen Anwärterin. < zwinkert mir mein russischer zukünftiger Ausbilder zu. Ich grinse zögernd. Ob ich wirklich das Richtige mache? Immerhin tue ich endlich wieder etwas und sitze nicht einfach nichts tuend bei Sam herum. Ich bin immer noch Nayeli Misra und falls ich das eines Tages wieder sein kann, dann sollen sich die PR-Agenturen schon mal eine gute Kaffeemaschine anschaffen. Irgendwann bin ich wieder da und wenn es Jahre dauert.
Sobald die Formalitäten geklärt sind, können Sam und ich gehen. Die komplette Anmeldung hat er bereits in der einen Stunde für mich gemacht, als ich das Gackern der anderen Frauen aushalten musste. Allerdings bin ich nervös wegen morgen. Ich komme bestimmt als einzige Neue mittendrin in die erste Stufe hinein, während die anderen sicher schon ein paar Tage Vorsprung haben. Das ist so, als würde man mitten im Semester das College wechseln.
Zurück im Parkhaus
>Was hältst du davon, wenn wir irgendwo in einem Schnellimbiss halten? Ich habe echt Hunger. < schlägt Sam vor.
>Klingt gut. < lächle ich ihm zu und steige in seinen Wagen ein. Einfach so und ohne überhaupt so schnell zu verstehen, wie das passieren konnte, fahre ich innerhalb von wenigen Minuten von diesem Gelände runter und bin plötzlich Anwärterin als Kopfgeldjägerin. Die letzten Wochen gingen an mir vorbei wie ein Daumenkino.
Ich war Studentin, beinahe PR-Agentin, Opfer, Täter, tot geglaubt, Kimberly Grant und jetzt schließlich auf dem Weg ein Bounty Hunter zu werden.
>Ich bin wirklich stolz darauf, dass du das durchziehen willst Kleines. < teilt mir Sam mit, als er gerade wieder den Trampelpfad auf sich nimmt.
>Ach ja? Ich dachte, das war gar nicht so überraschend für dich. <
So gut kenne ich dich nicht aber mir war nach allem was ich bisher von dir weiß, klar, dass du erst dann für etwas zu begeistern bist, wenn du es siehst. Du wolltest partout nicht zu dieser Gruppe Hausfrauen gehören, sondern zu den Leuten, die vor dem Eingang geraucht haben. Das habe ich schon an deinem Blick gesehen. <
Ich gluckse. „Zu ihnen gehören“ klingt gut, auch wenn ich mich selbst noch nicht vor meinem inneren Auge sehen kann, wie ich Verbrecher ausliefere. Sam hat jedoch wie so oft recht – irgendwie hat es meine Begeisterung geweckt. Außerdem kann ich etwas tun, anstatt die Hände in den Schoß zu legen, so wie es mein Vater tat.
Hinzu kommt, dass er mich inzwischen davon überzeugt hat, dass es tatsächlich nicht nur schwarz oder weiß im Leben gibt. Auch wenn seine Berufswahl nicht gerade gewöhnlich ist, hat sie trotzdem ihre Berechtigung und das, obwohl ich ihn zuerst deswegen verurteilt habe.
Nach etwa fünfzehn Minuten befinden wir uns in einem größeren Örtchen, in dem Sam nach irgendeinem Schnellrestaurant sucht. Wir fahren an ein paar vorbei aber die scheinen gut besucht zu sein. Wie ich ihn inzwischen kenne, ist eine überfüllte Atmosphäre nicht sein Ding. Er will lieber dort sein, wo es übersichtlich ist und wo er auf alles einen Blick hat.
Jedes Mal, wenn ich denke, dass es da echt gut aussieht, fährt er wieder daran vorbei und allmählich ziehe ich eine Schnute.
>Sam jetzt entscheide dich endlich! < jammere ich und lehne meinen Kopf gegen die Scheibe.
>Ist ja gut. Ich bin eben wählerisch. <
>Seit wann? < feixe ich. Er biegt letztlich bei einem Parkplatz ab und ich habe die Hoffnung, endlich aussteigen zu können.
>Eigentlich schon immer. Bei Essen bin ich echt eigen. <
>Das muss bisher aber an mir vorbeigegangen sein. Du isst alles, was ich dir vorsetze. <
Er grinst und nickt.
>Das, was du kochst, ist ja auch genial. Selbst wenn es nur dein „Kühlschrank-aufräumen“ ist. <
Seine funkelnden Augen dabei finde ich zum Schreien komisch. Da passt Mums alter Spruch: „Willst du in das Herz eines Mannes, dann koche ihm etwas.“
Sam stellt den Motor auf dem Parkgelände aus, wo gleich mehrere Lokale zur Auswahl stehen. Automatisch greife ich zum Türhebel.
>Nein, warte noch kurz. < bitte er mich.
Wahrscheinlich will er erst wieder sein Umfeld abchecken, also lehne ich mich wieder seufzend an. Doch dann streckt er mir ein Handy entgegen und ich sehe ihn fragend an.
>Ich finde du hast dir das wirklich verdient, Kleines. <
>Wie jetzt? Ich darf Megan anrufen? <
>Ja. Ich lasse dich dieses Mal allein mit ihr. Aber versprich mir eines: du darfst ihr auf keinen Fall erzählen, dass du an dieser Schule bist, kein Wort von Kim Grant am Telefon und… ach weißt du was? - nenne am besten so wenig Details wie möglich. Und achte unbedingt auf Hintergrundgeräusche. Sobald du etwas hörst…<
>…drücke ich sie sofort weg, stelle das Handy aus und vernichte die SIM-Karte. Ich weiß. < funke ich dazwischen. Daraufhin grinst er und steigt aus dem Wagen aus. >Und wo willst du hin? <
>Ich schaue mich hier mal um – ich habe echt Kohldampf. Komm einfach nach, wenn du fertig bist, aber versuche es auf zehn Minuten zu beschränken, falls nichts dazwischenkommt. So viel Geld ist auf diesen Dingern eh nicht drauf. <
Er legt mir den Schlüssel auf den Sitz und knallt die Tür zu.
Ich lächle ihm hinterher. Endlich kann ich wieder mit Megan sprechen und hoffe nur, dass sie rangeht. Eilig tippe ich ihre Nummer ein und drücke auf den Hörer.
>Bitte geh ran. < murmle ich und kaue an meinem Fingernagel herum.
Es läutet ein paar Mal und schließlich wird abgenommen.
>Hallo? < höre ich sie erwartungsvoll.
>Oh Gott sei Dank nimmst du ab. Ich bin es. <
>Ach hiii Nicole! < ruft sie etwas laut und übertrieben hinein. Mist, sie ist also nicht allein. >Bleib dran! Hey Jungs, ich gehe mal kurz aufs Klo – das hier wird ein Frauengespräch. < teilt sie irgendwem im Hintergrund mit.
Irgendjemand fragt noch etwas aber das verstehe ich nicht. Es dauert einen Moment, bis ich sie wieder an meinem Ohr habe. In der Zeit versuche ich mögliche Nebengeräusche wahrzunehmen. Bis auf das Zuknallen ihrer Badezimmertür ist nichts zu hören.
>Verdammt, wo warst du so lange? < meckert sie. >Ich habe ewig darauf gewartet, dass du dich meldest. <
>Das weiß ich und glaub mir, ich habe jeden Tag daran gedacht. Das machte mich ganz mürbe aber es ging einfach nicht. <
>Sam hat dich nicht gelassen, stimmt’s? <
>Ja aber jetzt lässt er mich und wir sind allein. Er ist vor einer Minute gegangen. <
>Ich habe mir totale Sorgen gemacht. Es war so schrecklich dich mit ihm fahren zu lassen und dann höre ich nichts mehr von dir. Er sagte doch, er will Informationen von mir haben. Wie will er sie kriegen, wenn ich nicht mit euch sprechen kann? <
Sam schlug ihr das zwar tatsächlich vor aber zu mir meinte er, dass er es nur angeboten hat, damit Megan beruhigt ist und glaubt, etwas tun zu können. Das erkläre ich ihr aber lieber nicht und versuche stattdessen belanglos zu klingen:
>Er kam scheinbar ganz gut selbst voran und brauchte die Infos nicht. <
>Oh Mann, das ist echt nervenaufreibend. Da fühlt man sich total nutzlos und machtlos. Ich will dir unbedingt helfen aber ich weiß einfach nicht wie. <
>Ich kann nicht so lange reden. Lass uns über etwas anderes sprechen und sag mir lieber, wie es dir geht. < bitte ich sie melancholisch.
>Jetzt wo ich dich höre, besser. Gestern ging es mir ziemlich beschissen, um ehrlich zu sein. Jordan und Sasha sind gerade bei mir. Im Moment sind wir ziemlich viel zusammen, weil … na ja. < druckst sie herum.
>Weil was? <
>Kipp jetzt nicht um, aber gestern war die Beisetzung deiner Familie und genaugenommen ja auch von dir. Am schlimmsten waren die Leute, die mir andauernd ihr Beileid aussprachen, weil sie wissen, dass du wie eine Schwester für mich warst. < das bringt mich schlagartig zum Schweigen. An so etwas hatte ich gar nicht mehr gedacht. >Dein Onkel aus Alabama hatte sich darum gekümmert und es war sehr schön. Er hat euch ein Familiengrab auf einer grünen Wiese verschafft. Vier Männer trugen die Urnen und es war sehr respektvoll. < setzt sie an aber ihre Stimme zittert. Kurz darauf höre ich sie schluchzen. Zu meinem Onkel habe ich seit bestimmt 10 Jahren keinen Kontakt mehr gehabt. Ich hatte immer das Gefühl, dass wir nicht wichtig für ihn seien. Er kannte nicht einmal Iye. >Du kannst dir nicht vorstellen wie viele Menschen da waren und wie schwer es mir fiel, den Mund zu halten. Da waren unsere Dozenten, so viele Kommilitonen, Noah aus der Buchhandlung und sogar Mister Greenfield mit Misses Blair. < sie atmet heftiger aus und braucht einen Moment um sich zu fangen. >Oh Mann Nayeli, du wurdest so sehr geliebt und ich durfte nichts sagen. <
Ich wollte wirklich unbedingt Megans Stimme hören, aber dass sie mir ausgerechnet so etwas erzählt, hätte ich nicht erwartet. Vor allem hätte ich nicht gedacht, dass sich ausgerechnet mein Onkel darum kümmern würde. Hat er jetzt mit allem allein zu tun? Hat er jetzt die Schulden meines Vaters am Hals?
>Yeli? <
>Ja… ja ich bin noch dran. Ich … weiß nur nicht was ich sagen soll. <
>Ich dachte, es wäre gut für dich das zu wissen. <
>Hmm. < summe ich lediglich, aber bin zu geplättet, um mehr zu erwidern.
>Und wie ist es mit Sam – ist er nett zu dir? Geht's dir gut bei ihm? <
>Es geht mir ganz okay. < sage ich leise. Die Nachricht sitzt mir noch zu quer und ich kann kaum auf ihre Frage antworten.
>Sicher? Bist du wirklich okay? Du weißt ich merke es, wenn du mich anlügst. < schnieft sie.
>Ja … ich stehe nur etwas neben mir. Dass es so schnell ging, hätte ich nicht gedacht. <
>Tut mir leid, dass du es so erfahren musstest. <
>Schon okay. Ich bin froh, dass du es mir gesagt hast. < hauche ich.
>Und jetzt sag mir die Wahrheit. Ist seit unserem Treffen alles okay? <
>Ja, mach dir da keine Sorgen. Mein Bein tut manchmal etwas weh aber das wird schon. Sam und ich kabbeln uns zeitweise etwas aber ich bin wirklich froh ihn zu haben und eigentlich ist es halb so wild. <
>Fasst er dich an? < fragt sie mit kaltem Unterton.
>Meg! Da musst du wirklich keine Bedenken haben. Er tut mir nichts. <
>Ich finde es einfach so merkwürdig. Ihr kennt euch überhaupt nicht, er lässt dich bei sich wohnen, will kein Geld von dir und solche Dinge. Zwingt er dich wirklich zu nichts? <
Ich lächle in den Hörer.
>Er tut mir wirklich nichts an, das kannst du mir glauben. Im Gegenteil, er ist so ein guter Kerl. Ich glaube manchmal bringe ich ihn ganz schön auf die Palme aber er tut so viel für mich. Was er macht, scheint absolut uneigennützig zu sein. Okay, ich denke schon, dass er dabei ein paar Vorteile beim Kochen nicht schlecht findet, aber ich hätte niemals gedacht, dass ich jemandem begegnen würde, der einen so guten Kern hat. < schwärme ich und spüre wie meine Wut auf ihn nun gänzlich dahin ist.
>Ach du Scheiße! < japst sie und sagt schrill: >Du liebst ihn! <
>Was? Nein das tue ich nicht! < wende ich eilig ab und pruste los. Jetzt übertreibt sie aber völlig. Und damit meine ich nicht Megans sonstiges Übertreiben. Das hier hat eine ganze andere Größenordnung angenommen.
>Ach erzähl mir nichts. Du verteidigst ihn und bewunderst ihn regelrecht. Denk nicht, dass ich dich dafür verurteile. Vielleicht ist sowas nur eine Frage der Zeit, wenn man so in der Klemme steckt wie du, aber das geht nicht. Du bist zu abhängig von ihm und das geht dir schon genug gegen den Strich. In ihn verliebt zu sein, heißt … <
>Hör auf damit! Ich habe ihn gern und das ist alles. <
>Bist du dir da sicher? Ich meine, du brauchst bei diesen Dingen immer etwas länger. Wenn es für jeden anderen schon klar war, dann kamst du einen Monat später drauf. < nuschelt sie vorsichtig.
>Ich liebe ihn nicht! < zische ich beleidigt. >Glaubst du ich wüsste nicht, dass er mich allein lassen wird, sobald das alles ein Ende mit meiner Verfolgung hat? <
>Das verstehe ich jetzt nicht. <
>Er sagt, dass sich unsere Wege trennen, sobald er mich rausgeboxt hat. Wie verrückt wäre es, sich da in ihn zu verlieben, wenn ich weiß, dass er mich nicht mehr sehen will? <
>Ziemlich. Aber wieso will er dich dann eigentlich nicht mehr sehen? <
>Er wird schon seine Gründe haben. Ich denke es liegt an seinem Job, der zu gefährlich ist und er will lieber allein sein. <
>Hat er dir das so gesagt? <
>So ähnlich. <
>Und hast du rausgefunden was er wirklich macht? <
>FBI. Das was ich dachte. < lüge ich. Normalerweise lüge ich meine beste Freundin niemals an aber das hier ist nun mal ein Ausnahmezustand. Ich höre sie erleichtert aufatmen.
>Na das ist doch immerhin was. Dann war es wohl Schicksal, dass du ihm begegnet bist. <
>Erst bist du völlig abgeschreckt von ihm und dann ist er plötzlich mein Schicksal? < feixe ich. Kann sie sich mal entscheiden?
>Naja besser, als wenn du bei einem Irren gelandet wärst oder dem nächsten Mörder. < mein Herz macht einen fiesen Aussetzer… na, wenn sie wüsste. >Dir muss doch die Decke auf den Kopf fallen, oder? Ich meine dein Gehirn muss doch Amok laufen. <
Ich lache – meine beste Freundin kennt mich eben.
>Das ist wahr aber immerhin sorgt Sam dafür, dass ich was zu lesen habe. Hör zu Megan, ich würde liebend gern noch weiter mit dir reden aber ich kann das nicht so lange ausreizen. <
Die ganze Zeit achte ich weiterhin auf Hintergrundgeräusche aber ich kann nichts feststellen. Ich hoffe nur, dass wir wirklich nicht abgehört wurden, denn gegen das, was Sam mir sagte, habe ich definitiv zu viel über Details geredet. Aber es ist auch unglaublich schwer diese Dinge zu umgehen.
>Und wann meldest du dich wieder? < fragt meine Freundin betrübt, so als kenne sie meine Antwort bereits.
>Das weiß ich nicht. <
>Mann Yeli, das ist echt zum Verrücktwerden. <
>Tut mir leid. Ich werde es einfach immer wieder mal versuchen, sobald ich die Möglichkeit habe, ich verspreche es dir. <
>Kann ich dich denn wirklich nicht erreichen? Gib mir doch die Nummer, mit der du jetzt anrufst. Ich kann sie auf dem Display leider nicht sehen. <
>Das geht nicht. < erwidere ich trübsinnig.
Meg seufzt.
>Okay. Dann melde dich eben, sobald du kannst. Ich hoffe, dass wir uns irgendwann wiedersehen können. Du fehlst mir so schrecklich. Und den Jungs auch – sie reden andauernd von dir. Irgendwie ist nichts mehr wie vorher. Vor allem Jordan ist völlig neben der Spur, denn er denkt ja du seist tot. Er redet kaum und trägt dutzende Fotos von dir bei sich. <
Ich seufze ebenfalls und will das Thema nicht vertiefen.
>Du fehlst mir auch – ich muss jetzt auflegen. <
>Pass auf dich auf. <
>Mach ich. Ich hab dich lieb. <
Schon drücke ich sie weg, ehe wir uns noch mehr festquatschen können. Ich hätte am liebsten mit jedem in Megans Haus geredet.
Ich stelle das Handy komplett aus und bleibe noch einen Moment sitzen, weil mir so schwer ums Herz ist. Oh Mann, das muss ich erstmal verdauen und ich kaue verheult an meinen Nägeln herum. Das geht mir dermaßen an die Nieren, dass ich gar nicht aufstehen will – allerdings wird es hier im Auto immer heißer und deswegen muss ich die Flucht ergreifen. Schließlich raffe ich mich auf und schnappe mir den Autoschlüssel von Sam‘s Sitz, knalle die Tür zu und verriegle den Wagen. Ich habe ehrlich gesagt gar nicht verfolgt, in welches Lokal Sam hineingegangen ist aber wie ich ihn kenne, sitzt er irgendwo am Fenster und hatte die ganze Zeit die Sicht auf mich. Sobald ich näher an die Gebäude herankomme, überfliege ich die Seitenfenster und kann ihn bereits erkennen.
Ich versuche Sam durch die Glasscheibe des Lokals anzulächeln aber meine Gesichtsmuskeln sind wie eingefroren.
Diese Information von Megan, dass meine Familie unter der Erde ist, wiegt tonnenschwer. Ich wende meinen Blick ab und versuche ein Pokerface aufzusetzen, noch ehe ich bei ihm bin. Aber das misslingt mir vollkommen, weil meine Wangenmuskulatur krampft als würde ich das Weinen zurückhalten. Ein paar Mal durchatmen hilft meistens. Ich schiebe die Lokaltür auf und werde bereits von einem Mitarbeiter gefragt, ob ich einen Tisch für mich allein will. Dabei winke ich ab, gehe schnurstracks auf Sam zu und lasse mich schwerfällig fallen.
>Der Blick gefällt mir nicht und du hast geweint. < stellt er sofort fest. Da habe ich ja völlig versagt. >Du hast Megan erreicht, ich habe dich reden sehen … du hast doch mit ihr geredet, oder? < bei seinem letzten Satz liegt eine unterschwellige Panik in seiner Stimmfarbe.
>Ja, keine Sorge. Es war nur Meg und es gab keine Zwischenfälle, falls du das denkst. <
>Warum schaust du dann so, als hättest du einen Geist gesehen? Oder tut dir dein Bein wieder weh? <
>Mir geht’s gut. < wende ich brüchig ein und versuche mein Gesicht zu glätten. Aber keine Chance. Ich schlage mir die Hände vors Gesicht und ziehe scharf die Luft ein, um mich zu beruhigen. >Nein das war gelogen, es geht mir nicht gut. <
>Sag mir was los ist, Kleines. <
Wenn ich es nicht Sam sagen kann, wem dann?
>Es hat mich eben aus der Bahn geworfen, als Meg mir sagte, dass gestern die Beisetzung war. <
Sam reißt die Augen auf und starrt mich an.
>Was? Nein! Sie haben deine …< er sieht sich um, neigt sich zu mir rüber und flüstert: >Sie haben deine Familie beerdigt? Bist du sicher? <
Sein Verhalten irritiert mich. Dass ich darüber erschrocken bin, ergibt Sinn aber er kannte meine Familie nicht.
>Ja Megan sagte mir, wie viele Leute da waren. Die Urnen wurden von vier Männern getragen und ich habe mich ehrlich gesagt gefragt, ob die vierte davon leer war oder einfach nur Staub enthalten hat. <
Sam starrt mich immer noch mit leicht geöffnetem Mund an. Dann streicht er sich die Hand übers Gesicht und lehnt sich an den Stuhl an. Der Kellner kommt, um Sam sein Essen zu bringen und schließlich auch mir. Verwundert sehe ich zu dem Mann, der mir Lasagne hinstellt.
>Ich war so frei, dir auch gleich etwas zu bestellen. < wendet Sam kurz ein und nickt dem Kellner dankend zu, damit er schnell wieder verschwindet.
>Weshalb bist ausgerechnet du so schockiert? < frage ich als er gegangen ist, weil mein Begleiter sofort so eigenartig ist.
>Das muss warten bis wir wieder im Auto sind. Also hau rein. <
Sowas braucht er mir nicht zweimal zu sagen. Normalerweise schätze ich es, mein Essen in Ruhe zu genießen aber selbst Sam scheint sich zu beeilen. Was zum Teufel ist denn los? Schließlich kann ihm das doch egal sein. Ich bin diejenige, die nicht dabei sein konnte. Wie auch? Immerhin war ich ja angeblich in einer der Urnen. Die ganze Zeit kämpfe ich heftig gegen die Tränen an. Das ist eine Tatsache, die fast noch mehr wehtut, als im Moment nicht nach Hause zurückkehren zu können. Aber andererseits hätte ich es überhaupt nicht erfahren, wenn ich Meg nicht anrufen hätte.
Sam und ich sind beinahe gleichzeitig fertig und er macht sich gar nicht die Mühe den Kellner zu rufen, sondern wirft noch kauend das Geld auf den Tisch, nimmt mich bei der Hand und zieht mich hinter sich her.
So einem schnellen Schritt muss man erstmal hinterherkommen ohne zu fallen. Er öffnet den Pick-up und macht mir nicht wie sonst die Tür auf, sondern steigt gleich ein. Er wirkt abgehetzt und irgendwie planlos – so kenne ich ihn nicht und das beunruhigt mich.
>Sam, was ist denn los? < frage ich, sobald ich neben ihm Platz genommen habe. Den Gurt habe ich noch nicht einmal zum Einrasten gebracht, da gibt er bereits Gas und mein Körper wird keuchend in den Sitz gepresst. Er antwortet mir nicht und wählt stattdessen eine Nummer im Handy. Über seine Freisprechanlage höre ich es läuten.
>Lebedew. < ertönt aus dem Lautsprecher. Wieso ruft er Dimitrij an?
>Hier ist Sam. Mittwochs ist doch dein Homeoffice-Tag, oder? <
>Ja, wieso? <
>Wir haben ein Problem und ich brauche dich. Es geht um Kim. Sie hört gerade mit. <
>Alles klar, wann kannst du hier sein? <
>Wenn ich mich beeile, dann frühestens in einer Stunde. < erwidert Sam zähneknirschend und überholt einen anderen Chevrolet, der sich genau ans Tempolimit hält. Ich verstehe die Welt nicht mehr. Sam gibt sich zwar sehr große Mühe nicht panisch zu wirken, aber dennoch merke ich es ihm an und vor allem sehe ich seine angespannte Körperspannung, seine verbissene Kiefermuskulatur und den starren Blick.
>In Ordnung. < erwidert der Russe knapp und legt auf.
>Sam? < setze ich vorsichtig an. Er schaut seitlich zu mir und macht mir Angst.
>Ich regle das. Mach dir keine Sorgen. <
>Was willst du regeln? Was für ein Problem gibt es denn überhaupt? <
>Tu mir einen Gefallen und mach dich auf deinem Sitz kleiner, leg den Kopf an die Scheibe und leg deine Haare vors Gesicht. Wenn wir geblitzt werden, dann will ich nicht, dass du auf dem Bild zu erkennen bist. <
Wenn er so drauf ist wie jetzt, dann weiß ich, dass mit ihm nicht zu reden ist. Ich tue was er sagt und versuche das starke Herzklopfen zu ignorieren, was mich vollkommen verrückt macht. Meine oberen Schneidezähne versenken sich in meiner Unterlippe, damit ich nicht schluchze. Um ehrlich zu sein bin ich froh, dass meine Haare mein Gesicht verdecken. Durch Megans Nachricht laufen mir die stummen Tränen durch meine zusammengekniffenen Augen runter und ich kann nichts dagegen tun.