Fingerabdrücke bleiben
von Lynnix
Kurzbeschreibung
Nayeli genießt ihre letzte Woche als Studentin und lebt mit ihrer indianisch stämmigen Familie in einem alten Haus neben den Klippen des Superior Lakes. Sie kann es kaum erwarten ihren künftigen Job anzutreten, mit dem ihr eine aussichtsreiche Zukunft bevorsteht. Trotz Strapazen empfindet sie ihr Leben als perfekt aber was sie bis zu dem Zeitpunkt noch nicht weiß ist, dass ihr Vater eine große Last mit sich herumschleppt, dessen Folgen ihr den Boden unter den Füßen wegreißen werden. Die junge Frau lernt jemanden kennen, von dem sie noch nicht weiß, ob er Freund oder Feind ist. Plötzlich ist sie auf fremde Hilfe angewiesen, muss hinter Masken sehen, verstehen wie korrupt das Land ist, in dem sie lebt und auf schmerzhafte Weise Stück für Stück erfahren, wie tief ihr Vater in die Ereignisse verstrickt war. Sie muss Entscheidungen treffen, von denen sie glaubte, so etwas niemals tun zu müssen. Aber wie weit muss sie gehen um Schmerzen und Verlust zu überwinden?
GeschichteDrama, Krimi / P16 / Gen
23.02.2018
25.11.2021
129
578.228
7
Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
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19.10.2018
3.344
Kapitel 35 – Minnesotas Anmut
Schweigend decke ich den Tisch, während Sam Frühstück macht. Um mich etwas zu beruhigen, gieße ich mir Kaffee ein und nehme erstmal einen großen Schluck davon. Mit anderen Worten wollte Sam mir wohl deutlich machen, dass ich gar nicht das Problem bin oder habe ich das falsch interpretiert? Ich sollte das wohl einfach vergessen und weit, weit in eine Schublade hineinpacken. Das ist überhaupt das erste Mal, dass ich einen Korb erhalten habe. Vielleicht komme ich mir deswegen so dämlich vor. Ich hoffe mal, dass es nur das ist. Sam weckt mich aus meinen Gedanken, indem er mir Rührei von der Pfanne auf den Teller schaufelt.
>Übrigens habe ich gestern Nacht Dimitrij getroffen. Er hat mir das hier für dich gegeben. < er läuft kurz in den Flur und wirft mir dann eine transparente Plastiktüte zu, die ebenfalls gefüllt ist mit irgendetwas Transparentem. >Das sind deine Handschuhe. Ich zeige dir nach dem Frühstück wie das funktioniert und wenn du dann so weit bist, fahre ich mit dir zur Schule. Ich konnte da etwas organisieren. Alle paar Wochen werden wieder neue Ziviltrainingsstunden zur Selbstverteidigung geöffnet. Du hast mir versprochen es zu versuchen. <
>So schnell schon? < erwidere ich verwundert und hatte das schon wieder vollkommen vergessen. Allerdings bin ich gerade froh über das ablenkende Thema.
>Natürlich. Wie lange willst du damit warten? <
>Keine Ahnung … aber ich dachte nicht, dass es schon so bald ist. <
>Willst du einen Rückzieher machen? < fragt er und sein Unterton gefällt mir dabei nicht. Es klingt so, als wenn er es erwartet hätte.
>Nein, ich mache das. <
Dann verzieht er sein Gesicht zu einem Grinsen und greift hinter sich auf die Arbeitsplatte. Er setzt sich mir gegenüber und legt mir dann etwas auf den Tisch, das ich sofort als einen Führerschein erkenne. Bild und Name sind darauf identisch, so wie in dem falschen Pass.
Ich schaue ihn mir länger als nötig an, nur um Sam nicht ansehen zu müssen. Wegen dieses „Vorfalls“, der mich in Grund und Boden versinken lässt, will ich ihm im Moment weder zuhören, noch antworten. Eigentlich bin ich kein schlechter Verlierer aber das war schon ziemlich schäbig. Wenn das sein 1 : 0 ist, dann soll er sich daran erfreuen. Ich jedenfalls bin stinksauer, dass er mich so auflaufen ließ.
>Was ist los? Du isst ja kaum etwas. < sagt er und nickt zu meinem Teller herüber.
>Nichts, ich habe nur keinen besonders großen Hunger. < in genau diesem Moment muss mein Magen natürlich am lautesten knurren.
Sam feixt, steht auf und macht mir noch die Reste des Rühreis aus der Pfanne auf den Teller.
>Wenn du „nichts“ sagst, dann ist immer etwas. Ich habe doch schon gesagt, dass es mir leidtut. Keine Ahnung wieso ich das getan habe. <
>Du hast mich in so einer blöden und gefügigen Lage gesehen, dass ich dir nicht mal in die Augen sehen kann. <
>Oh ja, aber ich kann dir in die Augen sehen und du kannst mir glauben, das war der schönste Anblick seit einer ganzen Weile für mich. <
Gegen meinen Willen muss ich nun grinsen und bewerfe ihn – vor lauter Wut auf mich selbst, weil ich meinem bösen Blick nicht standgehalten habe, mit der Plastiktüte in der sich meine Schlangenhaut befindet. Sam lacht hingegen auf und fängt sie lässig.
>Na komm schon, iss auf und dann fahren wir los. Es gibt jemanden, den ich dir vorstellen muss. <
Zugegeben, Sam's Art am Tisch hat mich wieder etwas beschwichtigt. Allerdings ist seine tolle Männerweisheit ja total für die Tonne gewesen. Von wegen: „Wenn eine Frau anstrengend wird, gib ihr einen Orgasmus.“
Schön und gut. Aber wenn sie danach auf den Typen stinksauer ist, weil er ein Blödmann ist, dann hat der Orgasmus seine Wirkung verfehlt.
Im Moment stehe ich im unteren Bad und versuche mich annähernd so zu schminken, wie Sophia es mir gezeigt hat. So wie bei ihr wird es sicher nicht werden aber ich kriege das ganz gut hin, wie ich finde. Ich biege mir den Nasenring etwas zurecht und wuschele noch mal durch meinen Pony. Die Sache von heute Morgen sollte ich nicht allzu nah an mich herankommen lassen. Ich benötige meinen Kopf jetzt für dieses blöde Selbstverteidigungsprogramm, da ich es Sam nun mal versprochen habe. Und wer weiß, für was ich es mal brauchen werde.
Seufzend komme ich raus auf den Flur und bin zugegebenermaßen etwas nervös. Ich weiß nicht was auf mich zukommt und ich will mich nicht wie ein Idiot anstellen.
>Na damit können wir doch arbeiten. < sagt er grinsend als er mich sieht. Ich stehe fast vor ihm, da hebt er seine Hand zu mir. Er hält allerdings an meinem Ohr inne, räuspert sich kurz und dreht mir den Rücken zu. Was sollte das denn? Es kommt mir schon beinahe normal vor, dass er mir Haarsträhnen nach hinten streicht oder damit herumspielt. Selbst wenn er mein Kinn anhebt oder mir mit dem Daumen über die Wange fährt, ist das nichts Ungewöhnliches.
Stattdessen steht er immer noch von mir weggedreht und knistert mit etwas herum.
Als er sich wieder zu mir dreht, hält er mir ein Paar meiner maßangefertigten Handschuhe mit meinen falschen Fingerabdrücken hin.
>Ach ja … Kimberly. < murre ich nur und rümpfe die Nase.
>Hast du deinen Pass eingesteckt? <
>Nein, wozu? < frage ich aufgeschreckt. Bisher musste ich den noch nirgendwo zeigen. Die Handschuhe nehme ich ihm aus der Hand und merke, wie fest sich diese Dinger anfühlen. Die bekomme ich doch niemals angezogen.
>Ich muss dich da anmelden. Die wollen einen Ausweis sehen und ohne kommst du nicht rein. <
>Hältst du das wirklich für eine gute Idee? <
>Absolut. Es ist doch auch nur einmal die Woche. Das schaffst du schon. <
Hinter ihm liegt ein Föhn auf der Küchenarbeitsplatte und er steckt den Stecker in die Dose. Für einen Moment lässt er ihn heißlaufen und nimmt dann den rechten meiner Handschuhe weg. Den Föhn steckt er in die Handschuhöffnung und wartet einen Moment. Sekündlich kann ich dabei zusehen, wie das transparente Material immer milchiger wird. Sam wirft mir den fertig erhitzten zu und nimmt sich dann den anderen aus meiner Hand. Ich bin beeindruckt wie leicht das geht. So wie Sophia es mir gesagt hat, ist das Material jetzt ganz weich und elastisch geworden. Ich zupfe ein paar Mal hin und her bis er richtig sitzt, da reicht mir Sam auch schon den Zweiten und stellt den Föhn wieder aus.
>Das ist ja irre. < murmle ich.
>Die sind ziemlich robust und können mehrere Tage am Stück getragen werden. Dimitrij hat gute 100 Paar davon gemacht. Die sollten also eine Weile reichen. Kontrolliere sie immer auf Löcher oder sonstige kaputte Stellen, wenn du sie wiederverwendest. <
Ich wedle mit meinen Händen etwas in der Luft herum und versuche das Material runterzukühlen. Ein paar Minuten später, hat sich die Farbe von weiß, wieder in transparent verwandelt und die Substanz sitzt an mir wie eine zweite Haut. Man sieht wieder keinen Unterschied zu vorher. Es fühlt sich angenehm an und ich habe meine volle Beweglichkeit, ohne dass irgendwo Risse entstehen.
>Wenn du so weit bist, dann sollten wir los. Wir fahren eine Weile. <
>Wo müssen wir denn hin? <
>Etwa 60 Meilen nordwestlich. <
Ich reiße die Augen auf. Jedes Mal muss man einen wirklich langen Weg auf sich nehmen, wenn man aus dieser Wildnis heraus muss. Der nördliche Teil von Minnesota besteht im Grunde genommen nur aus Wald und Nationalparks. Da wo mich Sam und Sophia bisher hingeschleppt haben, waren die Orte kaum anders.
In seinem Gästezimmer muss ich diesen Pass erst suchen, denn ich habe ihn seit Tagen nicht mehr in der Hand gehabt. Um ehrlich zu sein, wollte ich ihn auch gar nicht sehen. Ich besitze ja nun wirklich nicht viel, aber die Bücher die herumliegen, staple ich übereinander, bis ich ihn endlich unter einem finde. Wozu braucht man überhaupt für die Anmeldung einen Ausweis? Der Kurs ist doch lediglich für den Privatzweck. Reicht da nicht einfach ein Anmeldeformular? Oder habe ich etwas nicht verstanden? Bevor ich rausgehe, werfe ich noch ein letztes Mal einen Blick auf meine Hände. Durch das Abkühlen, sind die Handschuhe etwas geschrumpft und sie sind so enganliegend, dass sie einer zweiten Haut gleichen. Es ist absolut nicht auffällig. Sam klopft an die geöffnete Tür und schiebt seinen Kopf ein Stück vor.
>Bist du so weit? Ich muss vorher noch tanken fahren. <
Ich nicke und gehe an ihm vorbei. So ganz wohl ist mir bei der Sache irgendwie nicht und dennoch laufe ich vor ihm her und stecke den Pass in meine Gesäßtasche. Sein Auto ist offen und sein Schlüssel steckt bereits. Auf der Beifahrerseite steige ich ein und mache die Zündung an, um einen Radiosender einzustellen. Ich finde, dass es - nachdem was vorhin passiert ist, eine Strafe für mich ist, gleich sechzig Meilen neben Sam sitzen zu müssen.
Ihm hingegen scheint das absolut nichts auszumachen. Wenig später steigt er auf der linken Seite ein und startet den Wagen.
Er sieht auf seine Armbanduhr und scheint ziemlich entspannt zu sein.
>Wann geht es denn los? < will ich wissen.
>Gegen 13 Uhr – wir haben genug Zeit. Es geht auch nur eine Stunde. Heute ist ohnehin nur die Einführung. Nächste Woche geht es dann richtig los. <
>Ach ja? Schlagen wir uns dann die Köpfe ein? <
>Nein, das eher weniger. < lacht Sam. >Du wirst wahrscheinlich die Jüngste sein – mit der hat sowieso immer jeder Mitleid. <
>Mörder nicht, soweit ich mich erinnern kann. < korrigiere ich.
>Berechtigter Einwand. Aber die haben ja auch kein Gewissen. <
Nur kurz darauf hält er an einer Zapfsäule und tankt seinen Wagen voll. Ich kann gar nicht glauben, auf was ich mich hier eingelassen habe. Und weshalb müssen wir deswegen überhaupt so weit fahren? In Duluth habe ich andauernd irgendwo eine Werbung stehen sehen, wo diese Kurse angeboten wurden. Ausgerechnet hier soll das nicht auch in der Nähe sein?
Sam kommt seufzend zurück auf seinen Platz, wirft mir einen Snickers-Riegel auf den Schoß und erklärt:
>Hier, ich dachte, du könntest etwas Nervennahrung gebrauchen. <
>Danke. Das ist die beste Idee, die du heute hattest. <
Daraufhin grinst er schelmisch und beugt sich etwas zu mir rüber.
>Ach ja? Nur die? <
Ich weiß worauf er anspielt. Weshalb macht er das? Wenn man sich für eine Sache entschuldigt, dann gehe ich davon aus, dass man es auch ernst meint. Sam muss sich allerdings ganz offensichtlich das Lachen verkneifen.
>Eines verspreche ich dir Sam. < erwidere ich zuckersüß und komme auch ihm ein Stück näher. >Alles, was ich in diesem Kurs lerne, übe ich an dir. Ich bin bei sowas leider immer etwas schwer von Begriff. Also fürchte ich, ich muss sehr, sehr lange an dir üben und dich verprügeln. <
Hinter uns hupt jemand angesäuert. Sam steht immer noch an der Zapfsäule und versperrt den Weg für den nächsten.
>Tu was du nicht lassen kannst. < lacht er und fährt den Wagen von der Stelle.
Ich mache mich über den Schokoriegel her, summe ein paar Melodien der Songs mit, die im Radio laufen und schlafe schließlich irgendwann mit dem Kopf an der Scheibe ein. Es ist selbst für mich anstrengend, wenn Sam diese unregelmäßigen Arbeitszeiten hat. Ich werde erst wieder wach, als Sam über eine Bodenwelle fährt. Erschrocken sehe ich umher und muss mich erst orientieren.
>Sorry, die sind mir hier neu. < meckert er und umfährt die nächste deutlich eleganter. >Offenbar kannst du im Auto immer am besten schlafen. <
>Das ist mir eher als Kind immer passiert. < angestrengt dehne ich meinen Nacken und strecke meine Beine etwas aus. >Wo sind wir? <
>Es ist nicht mehr lange. Ich habe schon vor fünf Minuten überlegt, wie ich dich später wach mache. Du warst völlig weg und du hast unfassbar viel gebrabbelt, weißt du das? <
>Was denn zum Beispiel? < Ich hoffe, es war nichts Unangemessenes.
>Du hast etwas von Iye´s Hausaufgaben erzählt und das er sie machen muss. Und du wolltest einen Dinosaurier holen, wenn ich das richtig verstanden habe. Aber meistens habe ich Megans Namen verstanden. Du vermisst sie. <
Natürlich vermisse ich sie, das muss ich ihm nicht extra sagen. Es wäre schon hilfreich nur ihre Stimme zu hören, doch das darf ich ja nicht.
>Iye hat Hausaufgaben gehasst und Dinos geliebt. < erwidere ich mutlos.
Sam wirft mir einen kurzen Seitenblick zu und wendet sich dann wieder der Straße zu. Ich verschränke die Arme vor der Brust und sehe wieder aus dem Fenster. Wir fahren auf einer Landstraße und ich wundere mich, weshalb ich nirgendwo Schilder sehe – weder Ortsschilder noch Geschwindigkeitsbegrenzungen. Ich schiele durch den Wald hindurch, der seitlich neben uns ist. Etwas hinter dem Dickicht sehe ich einen kleinen See. Inzwischen sind Sam und Sophia schon in alle Himmelsrichtungen mit mir gefahren und nie habe ich etwas anderes gesehen als Wasser, Wälder, Prärien und Mittelgebirge. Nicht dass das etwas Schlechtes wäre, denn schließlich liebe ich das. Aber erst jetzt lerne ich den Bundesstaat, in dem ich schon mein ganzes Leben lang wohne, richtig kennen. Es heißt nicht umsonst, Minnesota sei das “Land“ der 10.000 Seen. Und trotzdem reicht keiner davon an den 82.103 Km² großen Lake Superior heran, den ich so sehr liebe.
Plötzlich wird der Wald immer lichter und Sam wird langsamer. Aber hier ist doch nichts, weshalb fährt er so schleichend?
Es ist faszinierend, wie ein Wald so abrupt enden kann und danach einfach nur haufenweise Gras eine Straße einkreist. Es geht hier bergauf und ich rutsche etwas in den Sitz hinein.
>Wenn ich irgendwann diesen Job nicht mehr ertrage, dann ziehe ich hierher. < wirft Sam ein und fährt noch langsamer.
>Hier ist doch überhaupt nichts. < wende ich ein.
Daraufhin wirft er mir einen Blick zu und bleibt oben – als die Steigung der Straße ihren Höhepunkt erreicht, mit dem Wagen stehen. Ich sehe hinunter in das Gefälle und erkenne, wie eine sehr kurvenreiche Straße von Asphalt, in einen Feldweg übergeht.
Die Schönheit dieser Gegend kann ich gar nicht in Worte fassen.
>Was ist das da unten? < frage ich und kneife die Augen zusammen, weil ich nur verschiedenfarbige Brauntöne im Gras sehe.
>Das sind Wildpferde. Die rennen hier immer rum – manchmal stehen sie auch einfach mitten auf der Straße. <
Sam geht von der Bremse aufs Gas und lässt uns nach unten rollen. Ich lache, weil diese kurvige Straße wie eine Achterbahn ist. Dann als wir an der wahnsinnig großen Herde vorbeifahren, hupt Sam ewig lang und scheucht sie damit auf. In ihrer Formation setzen sie sich in Bewegung und galoppieren ein paar Meter hinter uns her. Sam fährt weiterhin recht langsam, damit ich sie noch sehen kann.
>Wow. < hauche ich und sehe ihnen hinterher. >Das ist unglaublich. <
>Kaum zu glauben, dass hier so ein kleines Idyll sein kann, oder? <
>Und hier fahren wir jede Woche hin? < frage ich begeistert.
>Wenn du das willst, dann fahre ich hier jeden Tag für dich hin. < betont er bedeutungsvoll und sieht mich lange an.
Ich grinse ihn an – das ist echt süß von ihm. Er beschleunigt schließlich wieder und lässt die langsam austrabende Herde hinter uns.
Diese Gegend bestaune ich noch weitere fünf Minuten, bis Sam den Wagen wieder in einen Wald hinein lenkt. Wir fahren auf einen Pfad, der nur durch Autoreifen entstanden zu sein scheint, weshalb ich denke, bald da zu sein.
Und so ist es. Er biegt auf dem Pfad ab und von weitem kann ich ein Schild sehen, wo SISAM draufsteht. Ein kleines Gebäude ist mit einem einfachen Bauzaun eingekreist. Das ist sie? Die legendäre Schule von der Sam gesprochen hat? Das ist doch ein Witz.
>Was bedeutet SISAM? < will ich wissen.
>Ehm … State Institute for … irgendwas. < murmelt er. Ich lache auf.
>Du schleppst mich hierhin und weißt nicht mal was das bedeutet? <
>Das ist sowieso nur Alibi. <
Er fährt auf das Gelände und parkt mitten im Sand neben anderen Fahrzeugen.
Ich schaue jedoch an dem Gebäude vorbei. Kann es sein, dass da noch ein weiterer Weg daneben verläuft? So genau kann ich das von hier drinnen nicht sehen. Allerdings fällt mir eine Schar Personen auf, die sich rauchend an der Seite des mickrigen Gebäudes aufhält. Ihr Alter und ihre Nationalität gehen weit auseinander, aber eines scheinen sie alle gemeinsam zu haben. Sie wirken trainiert und draufgängerisch. Alle tragen die gleiche Kleidung – hellgraues Shirt, beige Cargohose und flache schwarze Stiefel darüber.
>Sam wer sind die da? < frage ich und nicke zu ihnen. Er muss sich erst zu mir neigen, um sie zu sehen.
>Das sind wahrscheinlich Schüler der Stufe 3 und sie werden alle Kopfgeldjäger. Sie sollten eigentlich von Zivilisten ungesehen bleiben, deswegen ist ihre Schule ja auch viel weiter dahinter aber wie du siehst, raucht es sich hier vorne am Eingang besser. Ich fürchte, da muss ich mal ein Wörtchen mit Henry reden. <
>Henry? <
>Egal, er braucht dich nicht zu interessieren. Du musst nur Lukaz kennen – er leitet die Selbstverteidigungskurse. <
>Wozu steht hier überhaupt so ein Gebäude, wenn dahinter die eigentliche Schule ist? <
>Als Ablenkung natürlich. Nach hinten raus ist der Durchgang verboten – natürlich nur für die Normalsterblichen. Die Schüler und Ausbilder kommen durch. Aber wer nicht weiß, dass da etwas ist, verirrt sich auch nicht dorthin. < feixt er.
>Du kommst da hinten also rein? <
>Logisch. <
Ich schaue mir das Gebäude vor meiner Nase an. Tja also ablenken tut es jedenfalls. Es ist so unscheinbar, dass man nicht vermutet, dass dahinter etwas Größeres sein könnte.
>Na los, komm schon. Zeit dir zu zeigen, wie man sich die üblen Typen vom Hals hält. < heizt er mich an, worauf ich mit den Augen rolle und zum Türhebel greife. >Ach eines noch … du bist hier Kimberly. Denk daran. <
>Ihr erwartet aber nicht von mir, dass ich einen komplett neuen Lebenslauf auswendig lerne, oder? <
>Wo du es gerade ansprichst… bei ein paar kleinen Dingen sollte ich dich tatsächlich briefen. Aber es ist nicht viel. Du bist geboren in Tennessee, Einzelkind und hast dich mit deinen Eltern so sehr verkracht, dass es dir gereicht hat. Du bist vor einem halben Jahr nach Minnesota gekommen, weil du den Traum deiner Eltern nicht verwirklichen wolltest. Nach ein paar Semestern hast du das College geschmissen und anstatt dein Medizinstudium fertigzumachen, bist du gerade auf deinem Selbstfindungstrip. <
>Wer hat sich das denn ausgedacht? < feixe ich.
>Sophia natürlich – nur sie ist so durchgeknallt. Immerhin hat sie nämlich genau das getan, nur dass sie eben aus Deutschland hierherkam. Allerdings hat sie den Wunsch gehabt Stylistin zu werden und versuchte sich anfangs in der Filmbranche. <
>Was ernsthaft? Sophia hat sich wirklich deswegen mit ihren Eltern gestritten? Und sie wollte Schauspieler schminken und sowas? <
>Ja aber das ist schon ewig her. Immerhin reden sie inzwischen wieder miteinander und an Weihnachten fliegt sie immer zu ihnen. Das mit der großen Filmkarriere hat sie außerdem verdammt schnell wieder verworfen. Sie wurde zwar Stylistin aber sie ging in den Zeugenschutz wie du weißt. Seitdem hilft sie den Opfern bei einer neuen Identität, mit der sie sicher sind. <
>Oh Mann, das wusste ich nicht. <
>Also hast du dir alles gemerkt? Vergiss es nicht, du bist hier Kimberly Grant. <
>Ja ja, ich habe es kapiert. <
Schweigend decke ich den Tisch, während Sam Frühstück macht. Um mich etwas zu beruhigen, gieße ich mir Kaffee ein und nehme erstmal einen großen Schluck davon. Mit anderen Worten wollte Sam mir wohl deutlich machen, dass ich gar nicht das Problem bin oder habe ich das falsch interpretiert? Ich sollte das wohl einfach vergessen und weit, weit in eine Schublade hineinpacken. Das ist überhaupt das erste Mal, dass ich einen Korb erhalten habe. Vielleicht komme ich mir deswegen so dämlich vor. Ich hoffe mal, dass es nur das ist. Sam weckt mich aus meinen Gedanken, indem er mir Rührei von der Pfanne auf den Teller schaufelt.
>Übrigens habe ich gestern Nacht Dimitrij getroffen. Er hat mir das hier für dich gegeben. < er läuft kurz in den Flur und wirft mir dann eine transparente Plastiktüte zu, die ebenfalls gefüllt ist mit irgendetwas Transparentem. >Das sind deine Handschuhe. Ich zeige dir nach dem Frühstück wie das funktioniert und wenn du dann so weit bist, fahre ich mit dir zur Schule. Ich konnte da etwas organisieren. Alle paar Wochen werden wieder neue Ziviltrainingsstunden zur Selbstverteidigung geöffnet. Du hast mir versprochen es zu versuchen. <
>So schnell schon? < erwidere ich verwundert und hatte das schon wieder vollkommen vergessen. Allerdings bin ich gerade froh über das ablenkende Thema.
>Natürlich. Wie lange willst du damit warten? <
>Keine Ahnung … aber ich dachte nicht, dass es schon so bald ist. <
>Willst du einen Rückzieher machen? < fragt er und sein Unterton gefällt mir dabei nicht. Es klingt so, als wenn er es erwartet hätte.
>Nein, ich mache das. <
Dann verzieht er sein Gesicht zu einem Grinsen und greift hinter sich auf die Arbeitsplatte. Er setzt sich mir gegenüber und legt mir dann etwas auf den Tisch, das ich sofort als einen Führerschein erkenne. Bild und Name sind darauf identisch, so wie in dem falschen Pass.
Ich schaue ihn mir länger als nötig an, nur um Sam nicht ansehen zu müssen. Wegen dieses „Vorfalls“, der mich in Grund und Boden versinken lässt, will ich ihm im Moment weder zuhören, noch antworten. Eigentlich bin ich kein schlechter Verlierer aber das war schon ziemlich schäbig. Wenn das sein 1 : 0 ist, dann soll er sich daran erfreuen. Ich jedenfalls bin stinksauer, dass er mich so auflaufen ließ.
>Was ist los? Du isst ja kaum etwas. < sagt er und nickt zu meinem Teller herüber.
>Nichts, ich habe nur keinen besonders großen Hunger. < in genau diesem Moment muss mein Magen natürlich am lautesten knurren.
Sam feixt, steht auf und macht mir noch die Reste des Rühreis aus der Pfanne auf den Teller.
>Wenn du „nichts“ sagst, dann ist immer etwas. Ich habe doch schon gesagt, dass es mir leidtut. Keine Ahnung wieso ich das getan habe. <
>Du hast mich in so einer blöden und gefügigen Lage gesehen, dass ich dir nicht mal in die Augen sehen kann. <
>Oh ja, aber ich kann dir in die Augen sehen und du kannst mir glauben, das war der schönste Anblick seit einer ganzen Weile für mich. <
Gegen meinen Willen muss ich nun grinsen und bewerfe ihn – vor lauter Wut auf mich selbst, weil ich meinem bösen Blick nicht standgehalten habe, mit der Plastiktüte in der sich meine Schlangenhaut befindet. Sam lacht hingegen auf und fängt sie lässig.
>Na komm schon, iss auf und dann fahren wir los. Es gibt jemanden, den ich dir vorstellen muss. <
Zugegeben, Sam's Art am Tisch hat mich wieder etwas beschwichtigt. Allerdings ist seine tolle Männerweisheit ja total für die Tonne gewesen. Von wegen: „Wenn eine Frau anstrengend wird, gib ihr einen Orgasmus.“
Schön und gut. Aber wenn sie danach auf den Typen stinksauer ist, weil er ein Blödmann ist, dann hat der Orgasmus seine Wirkung verfehlt.
Im Moment stehe ich im unteren Bad und versuche mich annähernd so zu schminken, wie Sophia es mir gezeigt hat. So wie bei ihr wird es sicher nicht werden aber ich kriege das ganz gut hin, wie ich finde. Ich biege mir den Nasenring etwas zurecht und wuschele noch mal durch meinen Pony. Die Sache von heute Morgen sollte ich nicht allzu nah an mich herankommen lassen. Ich benötige meinen Kopf jetzt für dieses blöde Selbstverteidigungsprogramm, da ich es Sam nun mal versprochen habe. Und wer weiß, für was ich es mal brauchen werde.
Seufzend komme ich raus auf den Flur und bin zugegebenermaßen etwas nervös. Ich weiß nicht was auf mich zukommt und ich will mich nicht wie ein Idiot anstellen.
>Na damit können wir doch arbeiten. < sagt er grinsend als er mich sieht. Ich stehe fast vor ihm, da hebt er seine Hand zu mir. Er hält allerdings an meinem Ohr inne, räuspert sich kurz und dreht mir den Rücken zu. Was sollte das denn? Es kommt mir schon beinahe normal vor, dass er mir Haarsträhnen nach hinten streicht oder damit herumspielt. Selbst wenn er mein Kinn anhebt oder mir mit dem Daumen über die Wange fährt, ist das nichts Ungewöhnliches.
Stattdessen steht er immer noch von mir weggedreht und knistert mit etwas herum.
Als er sich wieder zu mir dreht, hält er mir ein Paar meiner maßangefertigten Handschuhe mit meinen falschen Fingerabdrücken hin.
>Ach ja … Kimberly. < murre ich nur und rümpfe die Nase.
>Hast du deinen Pass eingesteckt? <
>Nein, wozu? < frage ich aufgeschreckt. Bisher musste ich den noch nirgendwo zeigen. Die Handschuhe nehme ich ihm aus der Hand und merke, wie fest sich diese Dinger anfühlen. Die bekomme ich doch niemals angezogen.
>Ich muss dich da anmelden. Die wollen einen Ausweis sehen und ohne kommst du nicht rein. <
>Hältst du das wirklich für eine gute Idee? <
>Absolut. Es ist doch auch nur einmal die Woche. Das schaffst du schon. <
Hinter ihm liegt ein Föhn auf der Küchenarbeitsplatte und er steckt den Stecker in die Dose. Für einen Moment lässt er ihn heißlaufen und nimmt dann den rechten meiner Handschuhe weg. Den Föhn steckt er in die Handschuhöffnung und wartet einen Moment. Sekündlich kann ich dabei zusehen, wie das transparente Material immer milchiger wird. Sam wirft mir den fertig erhitzten zu und nimmt sich dann den anderen aus meiner Hand. Ich bin beeindruckt wie leicht das geht. So wie Sophia es mir gesagt hat, ist das Material jetzt ganz weich und elastisch geworden. Ich zupfe ein paar Mal hin und her bis er richtig sitzt, da reicht mir Sam auch schon den Zweiten und stellt den Föhn wieder aus.
>Das ist ja irre. < murmle ich.
>Die sind ziemlich robust und können mehrere Tage am Stück getragen werden. Dimitrij hat gute 100 Paar davon gemacht. Die sollten also eine Weile reichen. Kontrolliere sie immer auf Löcher oder sonstige kaputte Stellen, wenn du sie wiederverwendest. <
Ich wedle mit meinen Händen etwas in der Luft herum und versuche das Material runterzukühlen. Ein paar Minuten später, hat sich die Farbe von weiß, wieder in transparent verwandelt und die Substanz sitzt an mir wie eine zweite Haut. Man sieht wieder keinen Unterschied zu vorher. Es fühlt sich angenehm an und ich habe meine volle Beweglichkeit, ohne dass irgendwo Risse entstehen.
>Wenn du so weit bist, dann sollten wir los. Wir fahren eine Weile. <
>Wo müssen wir denn hin? <
>Etwa 60 Meilen nordwestlich. <
Ich reiße die Augen auf. Jedes Mal muss man einen wirklich langen Weg auf sich nehmen, wenn man aus dieser Wildnis heraus muss. Der nördliche Teil von Minnesota besteht im Grunde genommen nur aus Wald und Nationalparks. Da wo mich Sam und Sophia bisher hingeschleppt haben, waren die Orte kaum anders.
In seinem Gästezimmer muss ich diesen Pass erst suchen, denn ich habe ihn seit Tagen nicht mehr in der Hand gehabt. Um ehrlich zu sein, wollte ich ihn auch gar nicht sehen. Ich besitze ja nun wirklich nicht viel, aber die Bücher die herumliegen, staple ich übereinander, bis ich ihn endlich unter einem finde. Wozu braucht man überhaupt für die Anmeldung einen Ausweis? Der Kurs ist doch lediglich für den Privatzweck. Reicht da nicht einfach ein Anmeldeformular? Oder habe ich etwas nicht verstanden? Bevor ich rausgehe, werfe ich noch ein letztes Mal einen Blick auf meine Hände. Durch das Abkühlen, sind die Handschuhe etwas geschrumpft und sie sind so enganliegend, dass sie einer zweiten Haut gleichen. Es ist absolut nicht auffällig. Sam klopft an die geöffnete Tür und schiebt seinen Kopf ein Stück vor.
>Bist du so weit? Ich muss vorher noch tanken fahren. <
Ich nicke und gehe an ihm vorbei. So ganz wohl ist mir bei der Sache irgendwie nicht und dennoch laufe ich vor ihm her und stecke den Pass in meine Gesäßtasche. Sein Auto ist offen und sein Schlüssel steckt bereits. Auf der Beifahrerseite steige ich ein und mache die Zündung an, um einen Radiosender einzustellen. Ich finde, dass es - nachdem was vorhin passiert ist, eine Strafe für mich ist, gleich sechzig Meilen neben Sam sitzen zu müssen.
Ihm hingegen scheint das absolut nichts auszumachen. Wenig später steigt er auf der linken Seite ein und startet den Wagen.
Er sieht auf seine Armbanduhr und scheint ziemlich entspannt zu sein.
>Wann geht es denn los? < will ich wissen.
>Gegen 13 Uhr – wir haben genug Zeit. Es geht auch nur eine Stunde. Heute ist ohnehin nur die Einführung. Nächste Woche geht es dann richtig los. <
>Ach ja? Schlagen wir uns dann die Köpfe ein? <
>Nein, das eher weniger. < lacht Sam. >Du wirst wahrscheinlich die Jüngste sein – mit der hat sowieso immer jeder Mitleid. <
>Mörder nicht, soweit ich mich erinnern kann. < korrigiere ich.
>Berechtigter Einwand. Aber die haben ja auch kein Gewissen. <
Nur kurz darauf hält er an einer Zapfsäule und tankt seinen Wagen voll. Ich kann gar nicht glauben, auf was ich mich hier eingelassen habe. Und weshalb müssen wir deswegen überhaupt so weit fahren? In Duluth habe ich andauernd irgendwo eine Werbung stehen sehen, wo diese Kurse angeboten wurden. Ausgerechnet hier soll das nicht auch in der Nähe sein?
Sam kommt seufzend zurück auf seinen Platz, wirft mir einen Snickers-Riegel auf den Schoß und erklärt:
>Hier, ich dachte, du könntest etwas Nervennahrung gebrauchen. <
>Danke. Das ist die beste Idee, die du heute hattest. <
Daraufhin grinst er schelmisch und beugt sich etwas zu mir rüber.
>Ach ja? Nur die? <
Ich weiß worauf er anspielt. Weshalb macht er das? Wenn man sich für eine Sache entschuldigt, dann gehe ich davon aus, dass man es auch ernst meint. Sam muss sich allerdings ganz offensichtlich das Lachen verkneifen.
>Eines verspreche ich dir Sam. < erwidere ich zuckersüß und komme auch ihm ein Stück näher. >Alles, was ich in diesem Kurs lerne, übe ich an dir. Ich bin bei sowas leider immer etwas schwer von Begriff. Also fürchte ich, ich muss sehr, sehr lange an dir üben und dich verprügeln. <
Hinter uns hupt jemand angesäuert. Sam steht immer noch an der Zapfsäule und versperrt den Weg für den nächsten.
>Tu was du nicht lassen kannst. < lacht er und fährt den Wagen von der Stelle.
Ich mache mich über den Schokoriegel her, summe ein paar Melodien der Songs mit, die im Radio laufen und schlafe schließlich irgendwann mit dem Kopf an der Scheibe ein. Es ist selbst für mich anstrengend, wenn Sam diese unregelmäßigen Arbeitszeiten hat. Ich werde erst wieder wach, als Sam über eine Bodenwelle fährt. Erschrocken sehe ich umher und muss mich erst orientieren.
>Sorry, die sind mir hier neu. < meckert er und umfährt die nächste deutlich eleganter. >Offenbar kannst du im Auto immer am besten schlafen. <
>Das ist mir eher als Kind immer passiert. < angestrengt dehne ich meinen Nacken und strecke meine Beine etwas aus. >Wo sind wir? <
>Es ist nicht mehr lange. Ich habe schon vor fünf Minuten überlegt, wie ich dich später wach mache. Du warst völlig weg und du hast unfassbar viel gebrabbelt, weißt du das? <
>Was denn zum Beispiel? < Ich hoffe, es war nichts Unangemessenes.
>Du hast etwas von Iye´s Hausaufgaben erzählt und das er sie machen muss. Und du wolltest einen Dinosaurier holen, wenn ich das richtig verstanden habe. Aber meistens habe ich Megans Namen verstanden. Du vermisst sie. <
Natürlich vermisse ich sie, das muss ich ihm nicht extra sagen. Es wäre schon hilfreich nur ihre Stimme zu hören, doch das darf ich ja nicht.
>Iye hat Hausaufgaben gehasst und Dinos geliebt. < erwidere ich mutlos.
Sam wirft mir einen kurzen Seitenblick zu und wendet sich dann wieder der Straße zu. Ich verschränke die Arme vor der Brust und sehe wieder aus dem Fenster. Wir fahren auf einer Landstraße und ich wundere mich, weshalb ich nirgendwo Schilder sehe – weder Ortsschilder noch Geschwindigkeitsbegrenzungen. Ich schiele durch den Wald hindurch, der seitlich neben uns ist. Etwas hinter dem Dickicht sehe ich einen kleinen See. Inzwischen sind Sam und Sophia schon in alle Himmelsrichtungen mit mir gefahren und nie habe ich etwas anderes gesehen als Wasser, Wälder, Prärien und Mittelgebirge. Nicht dass das etwas Schlechtes wäre, denn schließlich liebe ich das. Aber erst jetzt lerne ich den Bundesstaat, in dem ich schon mein ganzes Leben lang wohne, richtig kennen. Es heißt nicht umsonst, Minnesota sei das “Land“ der 10.000 Seen. Und trotzdem reicht keiner davon an den 82.103 Km² großen Lake Superior heran, den ich so sehr liebe.
Plötzlich wird der Wald immer lichter und Sam wird langsamer. Aber hier ist doch nichts, weshalb fährt er so schleichend?
Es ist faszinierend, wie ein Wald so abrupt enden kann und danach einfach nur haufenweise Gras eine Straße einkreist. Es geht hier bergauf und ich rutsche etwas in den Sitz hinein.
>Wenn ich irgendwann diesen Job nicht mehr ertrage, dann ziehe ich hierher. < wirft Sam ein und fährt noch langsamer.
>Hier ist doch überhaupt nichts. < wende ich ein.
Daraufhin wirft er mir einen Blick zu und bleibt oben – als die Steigung der Straße ihren Höhepunkt erreicht, mit dem Wagen stehen. Ich sehe hinunter in das Gefälle und erkenne, wie eine sehr kurvenreiche Straße von Asphalt, in einen Feldweg übergeht.
Die Schönheit dieser Gegend kann ich gar nicht in Worte fassen.
>Was ist das da unten? < frage ich und kneife die Augen zusammen, weil ich nur verschiedenfarbige Brauntöne im Gras sehe.
>Das sind Wildpferde. Die rennen hier immer rum – manchmal stehen sie auch einfach mitten auf der Straße. <
Sam geht von der Bremse aufs Gas und lässt uns nach unten rollen. Ich lache, weil diese kurvige Straße wie eine Achterbahn ist. Dann als wir an der wahnsinnig großen Herde vorbeifahren, hupt Sam ewig lang und scheucht sie damit auf. In ihrer Formation setzen sie sich in Bewegung und galoppieren ein paar Meter hinter uns her. Sam fährt weiterhin recht langsam, damit ich sie noch sehen kann.
>Wow. < hauche ich und sehe ihnen hinterher. >Das ist unglaublich. <
>Kaum zu glauben, dass hier so ein kleines Idyll sein kann, oder? <
>Und hier fahren wir jede Woche hin? < frage ich begeistert.
>Wenn du das willst, dann fahre ich hier jeden Tag für dich hin. < betont er bedeutungsvoll und sieht mich lange an.
Ich grinse ihn an – das ist echt süß von ihm. Er beschleunigt schließlich wieder und lässt die langsam austrabende Herde hinter uns.
Diese Gegend bestaune ich noch weitere fünf Minuten, bis Sam den Wagen wieder in einen Wald hinein lenkt. Wir fahren auf einen Pfad, der nur durch Autoreifen entstanden zu sein scheint, weshalb ich denke, bald da zu sein.
Und so ist es. Er biegt auf dem Pfad ab und von weitem kann ich ein Schild sehen, wo SISAM draufsteht. Ein kleines Gebäude ist mit einem einfachen Bauzaun eingekreist. Das ist sie? Die legendäre Schule von der Sam gesprochen hat? Das ist doch ein Witz.
>Was bedeutet SISAM? < will ich wissen.
>Ehm … State Institute for … irgendwas. < murmelt er. Ich lache auf.
>Du schleppst mich hierhin und weißt nicht mal was das bedeutet? <
>Das ist sowieso nur Alibi. <
Er fährt auf das Gelände und parkt mitten im Sand neben anderen Fahrzeugen.
Ich schaue jedoch an dem Gebäude vorbei. Kann es sein, dass da noch ein weiterer Weg daneben verläuft? So genau kann ich das von hier drinnen nicht sehen. Allerdings fällt mir eine Schar Personen auf, die sich rauchend an der Seite des mickrigen Gebäudes aufhält. Ihr Alter und ihre Nationalität gehen weit auseinander, aber eines scheinen sie alle gemeinsam zu haben. Sie wirken trainiert und draufgängerisch. Alle tragen die gleiche Kleidung – hellgraues Shirt, beige Cargohose und flache schwarze Stiefel darüber.
>Sam wer sind die da? < frage ich und nicke zu ihnen. Er muss sich erst zu mir neigen, um sie zu sehen.
>Das sind wahrscheinlich Schüler der Stufe 3 und sie werden alle Kopfgeldjäger. Sie sollten eigentlich von Zivilisten ungesehen bleiben, deswegen ist ihre Schule ja auch viel weiter dahinter aber wie du siehst, raucht es sich hier vorne am Eingang besser. Ich fürchte, da muss ich mal ein Wörtchen mit Henry reden. <
>Henry? <
>Egal, er braucht dich nicht zu interessieren. Du musst nur Lukaz kennen – er leitet die Selbstverteidigungskurse. <
>Wozu steht hier überhaupt so ein Gebäude, wenn dahinter die eigentliche Schule ist? <
>Als Ablenkung natürlich. Nach hinten raus ist der Durchgang verboten – natürlich nur für die Normalsterblichen. Die Schüler und Ausbilder kommen durch. Aber wer nicht weiß, dass da etwas ist, verirrt sich auch nicht dorthin. < feixt er.
>Du kommst da hinten also rein? <
>Logisch. <
Ich schaue mir das Gebäude vor meiner Nase an. Tja also ablenken tut es jedenfalls. Es ist so unscheinbar, dass man nicht vermutet, dass dahinter etwas Größeres sein könnte.
>Na los, komm schon. Zeit dir zu zeigen, wie man sich die üblen Typen vom Hals hält. < heizt er mich an, worauf ich mit den Augen rolle und zum Türhebel greife. >Ach eines noch … du bist hier Kimberly. Denk daran. <
>Ihr erwartet aber nicht von mir, dass ich einen komplett neuen Lebenslauf auswendig lerne, oder? <
>Wo du es gerade ansprichst… bei ein paar kleinen Dingen sollte ich dich tatsächlich briefen. Aber es ist nicht viel. Du bist geboren in Tennessee, Einzelkind und hast dich mit deinen Eltern so sehr verkracht, dass es dir gereicht hat. Du bist vor einem halben Jahr nach Minnesota gekommen, weil du den Traum deiner Eltern nicht verwirklichen wolltest. Nach ein paar Semestern hast du das College geschmissen und anstatt dein Medizinstudium fertigzumachen, bist du gerade auf deinem Selbstfindungstrip. <
>Wer hat sich das denn ausgedacht? < feixe ich.
>Sophia natürlich – nur sie ist so durchgeknallt. Immerhin hat sie nämlich genau das getan, nur dass sie eben aus Deutschland hierherkam. Allerdings hat sie den Wunsch gehabt Stylistin zu werden und versuchte sich anfangs in der Filmbranche. <
>Was ernsthaft? Sophia hat sich wirklich deswegen mit ihren Eltern gestritten? Und sie wollte Schauspieler schminken und sowas? <
>Ja aber das ist schon ewig her. Immerhin reden sie inzwischen wieder miteinander und an Weihnachten fliegt sie immer zu ihnen. Das mit der großen Filmkarriere hat sie außerdem verdammt schnell wieder verworfen. Sie wurde zwar Stylistin aber sie ging in den Zeugenschutz wie du weißt. Seitdem hilft sie den Opfern bei einer neuen Identität, mit der sie sicher sind. <
>Oh Mann, das wusste ich nicht. <
>Also hast du dir alles gemerkt? Vergiss es nicht, du bist hier Kimberly Grant. <
>Ja ja, ich habe es kapiert. <