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Fingerabdrücke bleiben

von Lynnix
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Krimi / P16 / Gen
23.02.2018
25.11.2021
129
578.228
7
Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
2 Reviews
 
05.10.2018 4.312
 
Kapitel 33 – Zu viel

>Sam, jetzt renn nicht so schnell! < fluche ich und versuche ihm durch diesen Laden zu folgen. Er hat ja immerhin zwei gesunde Beine.
>Ich laufe ganz entspannt, du bist bloß zu langsam. Wenn du hierbleiben willst um ein bisschen mit irgendwem zu flirten, dann hole ich dich später wieder ab. < feixt er.
>Haha, sehr lustig. Ich denke, dass mich hier irgendwer erkennen könnte und du verarschst mich. < flüstere ich wütend.
>Hab einfach etwas Vertrauen in Sophias Ausbildung. < nuschelt er mir zu, legt seine Hand zwischen meine Schulterblätter und schiebt mich vorwärts.
An einem großen Regal mit Produkten – ohne die ich nicht leben kann, bleibe ich stehen.
>Darf ich dich mit Gewürzen eindecken < frage ich meinen kochfaulen Begleiter.
>Wozu? Ich habe doch welche. <
>Du hast nichts außer Salz und Pfeffer. <
>Das sind doch aber Gewürze, oder? < augenrollend lache ich los. Was hat der arme nur vorher ohne mich gemacht? Ach ja, Dosen geöffnet. Daraufhin grinst er ebenfalls. >Ich bin nicht so ausgefallen wie du. Das muss schnell und einfach gehen. Aber nimm alles, was du brauchst und zeig mir bei Gelegenheit wie man richtig kocht. Sonst bin ich irgendwann aufgeschmissen und werde verhungern. <
Amüsiert schüttle ich den Kopf und werfe ein paar der Behälter in den Wagen, die er zumindest als Basics dahaben sollte. Der junge Mann von vorhin scheint mich allerdings weiterhin zu umkreisen wie ein Geier und bei der Abteilung mit den Nudeln, sehe ich ihn schon wieder. Sam legt dieses Mal seinen Arm um meine Taille und haucht mir einen Kuss hinter das Ohr. Nicht nur ich bekomme einen Herzaussetzer, sondern auch der Typ, der prompt verschwunden ist. Also das nenne ich mal effektiv.
Jetzt kann ich mich tatsächlich etwas freier bewegen und mein Kopf beginnt sich allmählich etwas auszuschalten. Sam hat recht – ich erkenne mich ja selbst kaum noch, dann wird es auch kein anderer tun.
Allerdings nehme ich jetzt ganz andere Dinge wahr und mit einem knurrenden Magen einkaufen zu gehen, war die wohl dümmste Idee, die uns beiden einfiel. Allmählich merke ich auch, dass Sam gar nicht unbedingt der typische Mann ist, der nur auf Bier und Bacon steht – wie ich bis vor wenigen Minuten noch dachte.
Inzwischen stützen wir uns beide mit den Ellenbogen auf die Tiefkühltruhen und können uns nicht bei all den Eissorten entscheiden.
>Okay, ich schließe die Augen und zeige einfach irgendwo drauf. < schlägt er vor.
Ich lache als er auf Pistazie zeigt und dann angewidert die Nase rümpft. Sein zweiter Versuch ist auch nicht gerade besser.
Ich stülpe den Ärmel meines Pullis über meine Hand und schiebe die Tiefkühltruhe auf, um ihm einfach Strawbeery Cheescake vor die Nase zu halten.
>Das war immer der Kummerkanister von Megan und mir. < erkläre ich auf seinen fragenden Blick hin.
>Kummerkanister? <
>Jip. Wenn eine von uns beiden schlecht drauf war, dann halfen immer Ben & Jerry´s. Meg stand mal heulend mit dem 4,5 Liter-Eimer aus dem Großmarkt vor meiner Haustür, weil ihr Freund Schluss gemacht hat. Und ja, wir haben ihn zusammen mit Iye komplett geleert. <
Sam gluckst, nimmt mir das Eis ab und stellt es in den Wagen. Es ist so herrlich normal mit ihm hier umherzuschlendern und ich hatte es schon beinahe vergessen wie es ist, einfach nur solche alltäglichen Dinge zu tun. Wir lassen uns zwar anfänglich Zeit aber so langsam wird das Knurren unserer Mägen immer deutlicher und schließlich beeilen wir uns doch.
An der Kasse komme ich mir etwas blöd vor, da ich ihm nicht beim Einpacken helfen soll. Stattdessen stehe ich wie ein kleines verwöhntes Püppchen neben ihm und warte bis er fertig ist und bezahlt.

           Zurück am Auto verstaut er die Tüten auf seinem Rücksitz und hält mir dann die Tür auf, damit ich einsteigen kann.
Sobald er neben mir sitzt, sage ich:
>Dir ist schon klar, dass eine Tüte fast nur aus Marshmallows, Keksen, fertigen Pancakes und Eis besteht, oder? <
>Na und? Dafür ist die andere Tüte fast nur mit gesundem Zeug voll. Wenn das nicht ausgewogen ist, dann weiß ich auch nicht. < lacht er und startet den Wagen.
>Ich habe bei dir bestimmt schon einiges zugenommen. Wenn das so weitergeht und du mich mästest, dann platze ich innerhalb von einem Monat. Wie schaffst du es so auszusehen, wenn du das alles futterst? < frage ich und nicke zu seinem trainierten Oberkörper.
>Ich treibe eben viel Sport, also muss man auch viel essen. Außerdem finde ich es gut, dass du etwas mehr auf den Rippen hast. Jetzt siehst du mal gesund aus und hast eine Figur. <
Hmm recht hat er ja. Wenn ich daran denke, wie kritisch meine Mutter vor kurzem noch meine Beckenknochen musterte, schien ich wohl wirklich arg dünn gewesen zu sein. Für mich war das immer normal.
>Naja, das Essen war halt immer etwas knapp. Ich wollte das Iye wenigstens genug bekam. Immerhin war er noch im Wachstum und deshalb gab ich ihm meistens mehr als mir. <
>Deinen Bruder hast du sehr geliebt, was? <
Ich nicke. Dass es erst vor kurzem passiert ist als ich sie alle verloren habe, ist immer noch zu surreal.
>Du liebst deinen doch sicherlich auch. Wo lebt er denn jetzt? <
Sam´s Adamsapfel springt als ich ihn das frage und er schaut stur geradeaus auf die Straße. Oh oh, das hätte ich wohl nicht fragen sollen.
>Wenn ich dir das sage, dann brauchen wir beide wohl den Kummerkanister. <
>Lebt er auch nicht mehr? <
>Nein, leider nicht. Wie Iye war er ebenfalls jünger und es hätte nicht sein müssen. <
>Syrien? < frage ich instinktiv.
Er nickt und seufzt. Irgendwie hatte ich so etwas für einen kurzen Moment befürchtet, als ich das Bild von den beiden im Schlafzimmer gesehen habe. Da Sam keine weiteren Erklärungen für mich hat, lasse ich ihn lieber damit in Ruhe. Inzwischen weiß ich, dass er für manche Themen Zeit braucht. Vielleicht wird er mir irgendwann davon erzählen. Ich bin total glücklich darüber, dass er mich mal aus seiner Wildnis herausgelassen hat, also will ich ihn weder ärgern, noch ihm seine Laune versauen. Etwas feixender wirft er allerdings nach ein paar Minuten– wahrscheinlich zur Ablenkung, ein:
>Dir ist schon klar gewesen, dass dir der Kerl im Laden die ganze Zeit hinterhergelaufen ist, oder? Offensichtlich wollte er sehen, ob du frei bist. <
>Ja okay, das war mir später auch klar. Wobei du die ganze Zeit neben mir warst – was hat der erwartet? Aber es hätte auch genauso gut sein können, dass ich erkannt worden wäre. Ich kann damit noch nicht so gut umgehen und habe Angst, dass jemand die Polizei ruft, weil die untote Nayeli Misra im Discounter herumläuft. <
>Glaub mir, er hat dich in keiner Weise erkannt. Für ihn warst du einfach nur interessant. Vom Alter her könntest du meine kleine Schwester sein, wenn dich die Hautfarbe nicht verraten würde, also bezweifle ich, dass ich ihn mit meiner Anwesenheit abgeschreckt habe, nur weil ich neben dir herlief. <
>Wieso kleinere Schwester? Was hast du nur immer mit dem Alter? Sieh dir Madonna mit ihren fast 60 an. Sie sucht sich Männer aus, die so alt sind wie ich. <
Daraufhin rollt er mit den Augen.
>Versprich mir bloß eines: Such dir niemals einen Typen, der halb so alt ist wie du. Oder noch schlimmer: So einen verrückten Cowboy, wie es sie in den Kleinstädten gibt. <
Ich lache auf. Allein die Vorstellung, welchen Mann sich Sam für mich vorstellt, finde ich amüsant.
>Das ist bei mir ohnehin nicht so leicht, bis mir einer gefällt. Und wenn, dann war ich sowieso nie lange mit jemandem zusammen. Irgendwie scheine ich es immer zu vermasseln. <
>Zu anspruchsvoll? < will Sam wissen und biegt gerade in den Wald ab.
>Vielleicht. Aber man nimmt schließlich nicht einfach irgendwen, oder? Ich schätze aber das größere Problem liegt woanders an mir. Ich habe schon oft gesagt bekommen, ich sei „zu viel“. Bisher habe ich nicht verstanden was das heißt und Megan kam auch nicht wirklich dahinter. <
>Das kann ich auch nicht beurteilen aber es muss nicht unbedingt etwas Negatives sein „zu viel“ zu sein. Manchmal glaube ich, dass ich zu wenig war und ich für die ein oder andere einfach irgendwer war. <
>Nicht zwangsläufig. Menschen tun manchmal dumme Sachen. < murmle ich.
>Wie meinst du das denn? <
>Naja sieh mal: Du bist unter all deinen Zwiebelschichten ein Kerl, der echt schwer in Ordnung ist und du siehst gut aus. Bevor du deinen jetzigen Job ausgeübt hast, warst du sicherlich auch nicht so verschlossen und trübsinnig. Vielleicht war das, was dir passiert ist nur ein dummer Fehler von ihnen, weil sie sich während deines Auslandseinsatzes allein fühlten und es hatte im Grunde gar nichts mit dir zu tun. <
>Oh Klasse. Die Frau fühlt sich einsam und schon geht sie einem fremd. Tolle Entschuldigung. < erwidert er augenrollend.
>Nein das sollte nicht heißen, dass ich sie verteidige. Das sollte nur heißen, dass ich nicht glaube, dass es an dir gelegen hat. Ich wollte keine Wunden aufreißen. <
>Wunden aufreißen? < lacht er und legt seine enge Ellenbeuge um meinen Nacken, um mich zu sich zu ziehen, sodass ich würgend zu ihm rüberkrabble. >Das sind keine Wunden, Kleines. Ich finde es süß von dir, dass du versuchst mich in Schutz zu nehmen. Jeder will hören, dass der oder die Ex das Biest ist. <
Ich lache und versuche mit Würgelauten aus seinem Klammergriff zu kommen, den er amüsiert etwas lockert. Aber ich bleibe an seiner Seite auf dem mittleren Sitz.
>Bei mir war niemand ein Biest und hat mich betrogen. Zumindest nicht, dass ich davon wüsste. < gebe ich zu.
>Sie wären ja auch dämlich, wenn sie sich jemand anderen geholt hätten. < erwidert er sanft und streicht mit einer Hand durch meine Haare – beinahe zärtlich. Ich sehe ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen von der Seite her an.
>Was denn? < fragt er lässig. >Wir zwei sind doch keine Kinder. Wir können uns ruhig gegenseitig sagen, wenn der andere gut aussieht, ohne dass man sich gleich etwas dabei denken muss, oder? <
Ich schmunzle darüber und nicke.
>Dann erkläre mir deine Theorie was „zu viel“ bedeutet. Du meintest, es muss nichts Negatives sein. Ich habe es immer negativ aufgeschnappt. <
Erst schaut er etwas überfragt, dann überlegt er kurz und meint:
>Ich habe das noch nie bei einer Frau verwendet und auch noch nie gedacht, aber manchmal stoßen Frauen wie du auf das Ego von manchen Typen. <
>Hä? Geht das auch genauer? < frage ich verwirrt. Das hört sich nicht gerade positiv an. Wieder überlegt er kurz mit leicht zusammengekniffenen Augen.
>Du weißt genau was du willst und was du kannst. Du sagst gerade heraus was du denkst und willst von allem zu viel. Das zeugt von Charakter, was „zu viel“ für diejenigen sein kann, die keinen haben. <
So habe ich die Sache nie gesehen und ich grinse in mich hinein. Keine Ahnung, ob es für meine Ex-Freunde die gleiche Definition war, aber die von Sam mag ich.
>Das heißt, ich muss zusätzlich auch noch jemanden mit Charakter finden? Das wird ja immer schwerer. < gluckse ich belustigt.
>Tja wem sagst du das? Aber du weißt ja, ich habe es mit Frauen sowieso aufgegeben. Das ist schon okay so wie es ist. <
>Also ich glaube ja sowieso, dass dich deine Ex-Feindinnen schwul gemacht haben und du deswegen keine Lust mehr hast. <
Mit offenem Mund starrt er mich an und ich fange lauthals an zu lachen.
>Schwul? < keucht er, aber lacht dann ebenfalls.
>Ja ich komme mir vor, als würde ich mit einem großen Bruder zusammenleben. Du hast es ja vorhin selbst gesagt. <
>Ich bin alles, was du willst, Kleines aber ich versichere dir, ich bin sowas von nicht schwul. Ich liebe Frauen und respektiere sie – vorausgesetzt sie stehen nicht auf meiner Liste. Und oh Mann, wenn sie dann auch noch lange Haare und schöne Beine haben … < schwärmt er vor sich hin und schließt kurz genießerisch die Augen.
>Dann brauchst du schleunigst eine Freundin Sam, dringend. < kichere ich.
>Nein, das ist das Letzte, was ich brauche. Ich konnte mir vorher schon nie vorstellen, jemals mit einer Frau zusammenzuwohnen und jetzt ist es erst recht absolut abwegig. <
>Das mag dich jetzt vielleicht schockieren aber ich bin eine Frau. <
Erst dann beginnt er darüber zu schmunzeln, da ihm gerade aufgefallen zu sein scheint, dass er ja im weitesten Sinne mit einer zusammenlebt.
>Das stimmt, aber du bist anders. Du bist irgendwie einfach und nimmst mir nicht jedes Wort übel, sondern schlägst sogar manchmal zurück. Offenbar zeigst du so langsam deine wirkliche Natur. Das mag ich an dir. <
>Tja was soll ich dazu sagen? Einschneidende Erlebnisse können einen vorerst verändern. <
>Dem habe ich nichts hinzuzufügen. < erwidert er, beugt sich etwas vor und greift zu seinem Energydrink.
>Ich glaube trotzdem, dass du schwul bist. < werfe ich keck nach.
Er wirft mir einen gefährlichen Seitenblick zu, stellt die Dose zurück in den Getränkehalter und neigt sich zu meinem Gesicht. Seine Hand umgreift mein Kinn und sein Daumen geht auf meine Unterlippe. Er streicht darüber und bringt mich damit völlig aus dem Konzept. Will er nicht lieber auf die Straße gucken?
>Glaubst du das, weil ich nicht über dich herfalle wie ein rolliger Hund? <
>Das ist zumindest ein Argument. Du versuchst es nicht mal. <
Er grinst mit einem Mundwinkel und lässt mich wieder los, um seinen Blick wieder nach vorn zu richten.
>Du brauchst mich noch. Wenn ich über dich herfalle, dann macht es das um einiges schwieriger, dir zu helfen. Ich bin dir bereits jetzt viel näher, als ich sein sollte. Findest du nicht? Und wenn ich wollte, könnte ich dich zum Schnurren bringen, ohne dich dabei überhaupt anfassen zu müssen. <
>Das scheint zum einen, ein ziemliches Maß von Selbstbeherrschung mit sich zu bringen …< murmle ich und schaue ihn schief von der Seite her an >und zum anderen, ziemlich viel Arroganz. < ergänze ich wegen seines letzten Satzes.
>Alles Übung. Und das ist keine Arroganz, das ist Selbstsicherheit. < sagt er etwas überheblich und nippt erneut feixend an seinem Drink. Daraufhin schmunzele ich und schüttele den Kopf.  

           Am Abend habe ich zum ersten Mal in meinem Leben Sushi gegessen und muss zugeben, dass das echt lecker ist. Sam hat vorgeschlagen, dass wir morgen zusammen etwas kochen, da meistens ich diejenige bin, die es allein macht. Was das werden soll, frage ich mich lieber noch nicht aber es kann eigentlich nur lustig werden. Vor allem bei der Vorstellung, wie er die Gewürze nicht auseinanderhalten kann.
Generell ist es manchmal echt eigenartig mit ihm. In dem einen Moment streiten wir uns und im nächsten Moment ist es, als wäre nie etwas gewesen. Stattdessen ist er danach immer viel mehr in Redelaune und irgendwie glücklicher, wie es scheint. Inzwischen ist es gegen 22:30 Uhr und Sam muss sicher bald los, um sich Daniel Looper zu schnappen, wie er mittlerweile weiß.
Draußen hat es unerwartet zu stürmen begonnen. Es blitzt, donnert und schüttet wie aus Gießkannen. Die Temperaturen sind plötzlich von 22 Grad, auf nur noch 9 Grad extrem gefallen, weshalb Sam das Feuer in seinem Kamin für mich angemacht hat. Gut dass wir letztens genügend Holz gehackt haben, denn das wird hier häufiger vorkommen, dass die Nächte auch mal kälter werden.
Ich sitze mit einem großzügig gefüllten Weinglas im Wohnzimmer und lese das Buch, das verstaubt in einem Regalwürfel lag. Sam sitzt im Schneidersitz auf dem Boden gegenüber von mir und hat seinen Rechner auf dem Couchtisch abgestellt. Im Hintergrund läuft leise irgendeine Folge von Breaking Bad, die er gar nicht so genau beachtet.
Ich lasse das Buch etwas sinken und schaue mir sein Gesicht an, während er dabei ist, sich auf seine Arbeit vorzubereiten.
Eines geht mir schon die ganze Zeit durch den Kopf. Welchen Blick hat ein Mensch wie er, wenn er einem anderen das Leben auslöscht?
Ist er gleichgültig, weil er es schon so oft getan hat? Wutverzerrt, aufgrund der Verbrechen die seine Zielperson begangen hat? Oder vielleicht sogar von Schuldgefühlen zerfressen? Ich könnte es mir nicht vorstellen, nur einer Fliege etwas anzutun aber andererseits, wenn ich an die Mörder meiner Familie denke, dann nehmen meine Gedanken eine komische und verstörende Art an, die offenbar langsam an die meines Retters heranreichen. Wie wäre mein Gesichtsausdruck, wenn ich die drei Männer erneut sehen müsste? Was würde ich dieses Mal tun, wenn sie mir gegenüberstehen würden?
Sam schaut ziemlich böse auf seinen Bildschirm und ich kann das Lodern in seinen Augen sehen. Und nicht nur das – ich kann das Bild seines nächsten Opfers sehen, das sich in seinen Pupillen spiegelt. Es ist zu klein als das ich es erkennen könnte, aber ich weiß ohnehin schon wie dieser Looper aussieht. Irgendwie bekomme ich eine Gänsehaut. Diesen flackernden Blick habe ich erst einmal bei Sam gesehen und das war als ich Dimitrij erzählen musste, was passiert war. Sieht er sein Opfer heute Nacht genauso an?
Sam's Augen sehen plötzlich zu mir hoch und ich halte sofort das Buch etwas höher, um mein Gesicht zu verstecken. Ich lese genau eine Seite, ohne sie zu verstehen, weil ich mich ernsthaft frage, wie Sam in diese Sache hineingeraten ist. Wieder lasse ich das Buch ein Stück sinken und sehe ihn an.
Ich weiß, dass ich fast andauernd diesen Gedanken habe aber ich muss es jeden Tag aufs Neue feststellen, dass er ohne diesen dichten Vollbart, den etwas längeren Haaren und der Strickmütze ein wirklich schöner Mann ist. Diese bohrenden Augen und diese langen Blickkontakte, die einen beinahe unsicher werden lassen, finde ich faszinierend. Er sagte heute Morgen zu mir, dass die Leute ihn ansehen und wissen, man sollte ihn in Ruhe lassen. Für viele muss er auf jeden Fall einschüchternd wirken aber nur, weil sie nicht wissen wie er sein kann. Nach allem was er mir heute gesagt und gezeigt hat, sitze ich immer noch hier.
Aber die Tatsache, dass ich immer noch hier sitze, sollte mir selbst doch eigentlich sagen, wie sehr ich diesem Mann vertraue. Ich tue es auf eine Weise, die ich zuvor niemals für möglich gehalten habe und wüsste nicht, wo ich jetzt ohne ihn wäre. Mein Blick verweilt bei seinem Gesicht, da zwischen seinen Augen eine harte Falte ist, die ihn furchtlos dreinschauen lässt.
Meine Augen wandern von seiner Stirn weiter herab zu seinem Mund und seinem Kinn. Ich lasse meinen Blick weiter über ihn schweifen. Er trägt ein dunkles Hemd, das an seinen Oberarmen etwas spannt. Wieder schaut er plötzlich zu mir hoch, als meine Augen gerade seine Brust herunterfahren. Ich schrecke hoch und fühle mich ertappt, schon allein, weil ich meinen Kopf schmachtend schief gelegt habe. Oh Gott ist das peinlich.
>Was ist los? < fragt er ernst.
>Ich habe mich nur eben etwas gefragt. < piepse ich.
Er klappt den Laptop zu, knackt kurz mit seinen Fingern und legt seine Unterarme auf den Couchtisch.
>Und das wäre? <
>Wie hat das angefangen? Dass du Kriminelle umbringst, meine ich. <
>Oh Nayeli. Du stellst immer die falschen Fragen. <
>Welche wäre denn die Richtige? < will ich gradlinig wissen. Ich bin inzwischen noch direkter mit meinen Fragen, weil ich weiß, dass er mir nichts tun wird – er wird höchstens sauer auf mich.
>Wieso habe ich damit nicht schon viel früher angefangen und meine Zeit stattdessen in anderen Ländern vergeudet, um dort Leben zu retten, statt im eigenen Land? <
>Und wieso hast du? <
>Tja damals war ich noch Soldat, habe einen Eid geleistet und hatte noch so etwas wie Anstand. Es gilt als große Ehre, das Land von außen zu schützen, dabei passiert im Landesinneren auch viel zu viel. Damals hatte ich noch so etwas wie Prinzipien. Ich habe bis auf ein einziges Mal nur nach meinen Befehlen gehandelt und nicht auf eigene Faust, so wie ich es jetzt tue. Nachdem ich meine Soldatenlaufbahn freiwillig beendet hatte, war für mich klar, welchen Weg ich stattdessen gehen würde. Ich habe dem Ganzen den Rücken gekehrt und habe es nie bereut. Das, was ich jetzt tue, ist meine Domäne. <
Er richtet sich langsam vom Boden auf, kommt zu mir gelaufen und kniet sich mit einem Bein aufs Sofa, um sich dann neben mich zu setzen. Er sitzt seitlich von mir und hat den Ellenbogen auf die Rückenlehne gelegt, damit er seinen Kopf in seiner Hand betten kann.
>Du hast heute also keine Prinzipien mehr? < mutmaße ich.
>Nicht mehr so viele. <
Er ist mir so nah, dass ich seinen Duft einatmen kann und ich schlucke lautstark.
Meine Brust hebt und senkt sich etwas schneller, als er mir noch näher kommt und mich nicht aus den Augen lässt – schon wieder dieser intensive Augenkontakt. Ich hoffe nur, dass er meine Reaktion nicht bemerkt.
>Welche hast du denn? < hauche ich, als er meinem Gesicht ganz nah ist. Ich beiße mir auf die Lippen und versuche die verrückten Gedanken in meinem Kopf zu verdrängen. Er greift mir ungeniert in den Nacken, so als wäre ich seine Beute. Meine Lippen öffnen sich und er spürt die Reaktion meines Körpers definitiv auf ihn. Sein Mund streift mein Ohr und mir wird unerträglich heiß.
>Eines meiner wenigen Prinzipien ist, mich niemals auf so ein junges Mädchen einzulassen wie dir. < flüstert er und ich reiße meine Augen auf.
Dann wendet er sich wieder von mir ab und lässt meinen Nacken los. Er steht auf und geht breit grinsend aus dem Raum.
Ich atme schwer aus und sehe ihm nach, soweit ich es tun kann.
Nervös streiche ich mir die Haare nach hinten, während durch meinen Körper heißes Adrenalin strömt. Das hat er doch wieder mit Absicht gemacht und langsam glaube ich, dass er es lustig findet, mich so aus dem Konzept zu bringen.
>G… gute Prinzipien. < gurgle ich und versuche mir ein Lächeln abzugewinnen. Ich greife mir das Weinglas und gieße es mir auf ex in den Rachen. Sam war der Meinung, nach dem heutigen Tag bräuchte ich wirklich mal Alkohol. Den habe ich in diesem Moment weitaus nötiger als heute Morgen.
>Willst du auch noch was trinken? < ruft er mir zu als er zurückkommt und nickt zu meinem leeren Glas, als wäre nichts gewesen.
>Nein danke. Ich glaube, ich gehe jetzt schlafen. <
>Jetzt schon? <
Ich lege bereits einen Kassenbon als Lesezeichen in sein Buch rein und stehe stürmisch auf.
>Ja, das Lesen macht mich immer ziemlich müde. Also schlaf gut, wenn du wieder da bist. < sage ich schrill. Er zieht einen seiner Mundwinkel hoch und sagt beinahe schnurrend:
>Träum schön. <
Ich ergreife im wahrsten Sinne des Wortes die Flucht. Er hat mich vollkommen wuschig gemacht, sodass selbst meine Handflächen schwitzen.
Ich verschwinde im Badezimmer, um mir gleich mehrmals die Zähne zu putzen, damit ich Ablenkung habe. Boah dieser Blödmann! Die Vorlage habe ich ihm ja wieder toll in die Hände gespielt. Wie kann man jemanden so im Nacken packen, danach das Ohr streifen und dann so etwas sagen? Allerdings sah er meinen Spruch im Auto offensichtlich als Herausforderung und musste mir beweisen, dass er mich tatsächlich kaum anfassen müsse, um mich aus dem Konzept zu bringen.

              Als ich endlich im Bett liege, hat sich mein Körper immer noch nicht wirklich beruhigt. Sam kam mir so nah – viel zu nah und ich dachte, so wie sich seine Lippen verzogen haben, wollte er am liebsten noch enger zu mir heranrücken. Stattdessen macht er sich einen Spaß daraus. Ich trage sein Tennessee-Shirt immer noch zum Schlafen und ziehe es am Saum hoch bis zu meinem Bauch.
„Ein so junges Mädchen“ meinte er. Ich werde in zwei Monaten 22 Jahre alt, will er mich veralbern? Als hätte ich den Körper eines Kindes. Dann ziehe ich das Shirt noch höher über meine Brust. Nee definitiv kein Kinderkörper.
Sam wohnt hier völlig alleine. Er ist nicht der Typ der nach der Arbeit oder am Wochenende eine Frau aufreißt. Vermisst er da nicht auch mal ein paar Dinge?
Also ich merke jedenfalls, dass ich total unruhig werde, sobald er mir mit freiem Oberkörper entgegenkommt. Geht ihm das nicht ähnlich? Meine Hormone drehen offenbar mit mir durch, denn kaum sind meine Tage vorbei, macht meine Libido einen Sprung nach oben. Das ist ja wieder typisch.
Kaum zu fassen, dass mir vor ein paar Stunden noch die Tränen in den Augen standen, weil ich sein Geheimnis erfahren habe und jetzt ziehe ich ihn in Gedanken bereits aus. Das muss aufhören.
Ich wälze mich eine Weile hin und her, kann irgendwie nicht einschlafen, knabbere an meiner Zungenspitze herum und drehe Däumchen. Ist er sich wirklich sicher, dass er nicht schwul ist? Vielleicht sollte ich das mal unter Beweis stellen, denn was er kann, kann ich doch bestimmt auch. Seine Tonlage, seine Blicke, seine indirekten Berührungen …das kann doch nicht so schwer sein.
Aber was habe ich davon, wenn ich es weiß? Mir ist plötzlich so warm, dass ich die Decke gänzlich von mir herunterstoße und mit nackten, angewinkelten Beinen ermattet daliege.
Ich starre zur dunklen Decke und muss schon zugeben, dass von all den verrückten Tagen in letzter Zeit, der Heutige wohl der ist, der am meisten irritiert.
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