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Fingerabdrücke bleiben

von Lynnix
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Krimi / P16 / Gen
23.02.2018
25.11.2021
129
578.228
7
Alle Kapitel
102 Reviews
Dieses Kapitel
2 Reviews
 
07.09.2018 2.410
 
Kapitel 29 – Kimberly Grant

Sophia fährt mit mir von dem Gelände herunter, was ich daran merke, dass die Piste wieder etwas bucklig ist. Offenbar lassen sie die beiden an der Schranke direkt raus, ohne dass sie sie kontrollieren.
Es wird nach ein paar Minuten schon wieder wirklich stickig unter der Decke und ich versuche flacher zu atmen.
>Du kannst wieder vorkommen. Wir sind weit genug weg und wir wurden nicht gesehen. <
>Oh Gott sei Dank. < japse ich und hole tief Luft. Dann klettere ich umständlich wieder nach vorn auf den Beifahrersitz.
>Das hat alles gut geklappt. Dimitrij hat die vordere Flurkamera und die in seinem Büro manipulieren können, damit du und ich gar nicht gesehen wurden. In seiner Abteilung starten jeden Moment die Wartungsarbeiten – wir hatten also gerade nochmal Glück gehabt. Er bleibt jetzt noch etwas länger, um den Anschein zu erwecken, als würde er tatsächlich arbeiten. Die zwei Deppen am Eingang kriegen sowas gar nicht mit, sie sind nur für das Öffnen und Schließen zuständig. Viel wichtiger sind die Typen im Serverraum hinter den Monitoren. Wenn sie auf den Kameras nichts Ungewöhnliches sehen, machen sie auch keinen Alarm. Deswegen war Dimitrij schon eine Stunde vor uns da, damit er auch wirklich von den internen Wachen gesehen wurde. <
>Das ist aber ziemlich viel Aufwand für jemanden wie mich. <
>Ach Quatsch Süße. Du brauchst genauso viel Hilfe wie die Opfer, für die es offiziell gemacht wird. <
>Weshalb haben wir nicht einfach gewartet, bis die Wartungsarbeiten auch in Dimitrijs Abteilung starteten? Da hätte die Gefahr, dass wir gesehen werden, überhaupt nicht bestanden. < will ich wissen.
>Ja schon, aber die Scanner und der Bundesdrucker hätten dann auch keinen Pass mehr für dich ausgespuckt, wenn sie heruntergefahren worden wären. <
Okay das klingt logisch.
Nun da alles geklappt hat, werde ich wieder ruhiger. Ich streiche mit meinem Daumen über meine Fingerspitzen und kratze etwas daran herum.
>Was habe ich da eigentlich an den Fingern dran? <
>Du hast es vorhin schon richtig gesagt. Wir haben dir neue Abdrücke verpasst, die einmalig sind. In dem Zuge hat Dimitrij gleich noch ein Negativ davon angefertigt. Bis vor kurzem, musste man den Überzug für die Hände immer noch frisch machen aber inzwischen gibt es da eine ziemlich coole Technik, die ich gelernt habe. Man braucht eben nur ein Negativ der gesamten Hand mit den Fingerabdrücken. Wenn man etwas von einer anderen Gelmasse in die grüne Silikonform gibt, alles in jeden Winkel verteilt und wartet bis es trocken ist, dann hast du so eine Art Handschuh. Gerade wurde es direkt an deine Handfläche angepasst aber demnächst hast du einen Vorrat. Man hat herausgefunden, dass man die „Handschuhe“ nur erwärmen muss und dann sind sie ganz elastisch. Sie werden wieder etwas milchiger und man kann sie anziehen. Ein paar Minuten an der kühlen Luft und sie sind wie eine zweite Haut angetrocknet und wieder durchsichtig. Das, was du jetzt hast, ist nur für den einmaligen Gebrauch und nicht gerade alltagstauglich. <
>Dann wird das Zeug also immer flüssig, wenn es draußen warm ist? <
>Nein, dazu braucht man schon höhere Temperaturen. So wie du jetzt bist – mit den Abdrücken, dem Irisscan und dem neuen Pass, würdest du sogar bei einer Flugzeugkontrolle durchkommen. <
Mit einer Hand greift sie in ihren Mantel hinein und reicht mir etwas rüber.
Ich stelle das kleine Innenlicht auf meiner Seite an und schaue auf die Frau, die ich sein soll.
>Ich heiße Kimberly Grant? Ach du meine Güte. < keuche ich schrill und halte den falschen Ausweis hoch.
>Ja das klingt doch süß, oder? Kurzform Kim. Dimitrij meinte, dein Name sollte nicht so außergewöhnlich klingen wie vorher. Sondern eher häufiger vorkommend sein. So gehst du in der Masse der Daten unter. <
>Seit wann sind Phantomzeichner in Sachen falscher Pässe bewandert? <
>Wir sind vielseitig einsetzbar. < grinst sie. >Glaubst du etwa es ist okay, dass wir dir hinter dem Rücken der Regierung einen Pass aushändigen, den sie nicht freigegeben hat? Sam war sehr eindeutig in seinen Aussagen. Solange er nicht beweisen kann, dass du nicht die Mörderin bist, machen wir alles auf eigene Faust. Er weiß noch nicht, wer alles seine Finger mit im Spiel hat und Sam will keinen Maulwurf haben, der dich an die Falschen verrät. Das ist der Grund, weshalb er den Leuten auf den offiziellen Abteilungen nicht traut. <
>Das habe ich schon mitbekommen. Aber dennoch glaube ich, dass er weiß, dass er auf euch bauen kann, auch wenn er es sicherlich abstreiten würde. <
>Sam weiß, dass wir uns im Klaren darüber sind, dass er uns nicht vollständig vertraut und das ist auch okay so. Wir haben alle unsere Skepsis, die berechtigt ist. Und er hat genauso seine Gründe, wie jeder andere von uns. <
>Ich kann euch gar nicht genug für all das danken, was ihr für mich getan habt. < erkläre ich wehmütig.
>Das ist unser Job. Wir helfen eigentlich den offiziell anerkannten Opfern aber viel lieber helfen wir denen, die von der Regierung vergessen oder verraten werden. Du bist eine von ihnen. <
Sam hat von Anfang an gewusst, dass ich eine dieser „Vergessenen“ bin und war bereit mir zu helfen, obwohl er mich nicht kannte.
Ich hatte ihn anfangs für ein Monstrum gehalten als ich seinen Keller sah und gedacht, er würde mich misshandeln, vergewaltigen und anschließend umbringen. Seine Erscheinung hat mir Angst gemacht und dabei steckte unter dieser Maske ein so schöner und eigentlich auch Teilzeit-freundlicher Mann.
>Kimberly. < murmle ich leise vor mich hin und schaue auf das Bild von dem Pass. Ich stelle das kleine Licht wieder aus, damit ich Sophia nicht beim Fahren störe und stecke den amerikanischen Pass in meine Gesäßtasche.
>Morgen macht dir Dimitrij noch einen Führerschein aber es war wichtig, dass du erstmal in der Datenbank landest. Wenn dich also in Zukunft jemand wegen deines Passes auffordert, werde nicht panisch und zeige ihn einfach vor. Dir kann nichts passieren. In diesem Land leben sehr viele amerikanische Ureinwohner und ihr seht für mich alle gleich aus. <
>Ihr Europäer seht für mich auch alle gleich aus. < grinse ich und meine Fahrerin lacht.
>Okay eins zu null für dich. <
>Woher kommst du genau? < will ich wissen, denn so exakt kann ich ihren Akzent nicht einordnen.
>Aus Deutschland. Ich war jung und wollte die Welt sehen. Und plötzlich war ich in Amerika und bin geblieben. <

            Die Rücktour geht schneller als die Hintour und so sind wir nach nur 35 Minuten wieder in dem gewohnten Wald. Ich, an Sophias Stelle, wäre nicht so schnell gefahren, weil ich kein wildes Tier in meiner Motorhaube haben wollen würde aber ich schätze, sie hat einfach genug für heute und will auch mal langsam in ihr Bett. Es ist nun schon das zweite Mal, dass ich sie so spät noch aufhalte.
Sie hält vor Sam's Einfahrt. Im Haus ist es dunkel und sein Wagen steht nicht dort. Mir wäre es lieber, wenn er hier wäre aber da muss ich durch. Ich lächle bei Sophias Worten als sie mir wieder ins Gedächtnis schießen. „Wir helfen denen die von der Regierung vergessen wurden.“
>Danke für alles. < sage ich erneut wehmütig. >Wenn ich mein Leben zurückhabe, dann schwöre ich dir, ich lasse mir irgendetwas als Entschädigung für die ganzen Stunden einfallen, in denen du mich ertragen musstet. <
>Ach du bist so süß. Ich ertrage dich mit Freuden. Die meisten denken überhaupt nicht im Traum daran überhaupt mal „danke“ zu sagen, weil sie mit ihren Gedanken ganz woanders sind. Aber du bist anders – gut anders. Ich denke du könntest so viel bewirken, wenn du auch in dieser Branche arbeiten würdest. Es ist wichtig Leute zu haben, die verstehen was es heißt, alles verloren zu haben. <
>Oh nein, sowas hat Sam heute auch schon angedeutet. Ich fürchte ich bin durch und durch ein Büromensch, der das Image von Klienten aufpolieren muss. Umso mehr Akten und Ordner, desto besser. <
>Na du wirst deinen Weg schon gehen Süße. Komm her! < sie nimmt mich in den Arm und drückt mich so sehr an sich, dass ich mir vorkomme, als wenn sie mich zerquetschen will. Aber ich mag das, weil es so ehrlich wirkt. >Wenn du mit dem Schminken nicht klarkommst, dann soll Sam mich anrufen. Ich komme jederzeit vorbei. <
>Danke, das sage ich ihm. <
>Okay. Dann schlaf mal schön und sieh zu, dass Sam so bleibt. Er wirkt glücklicher seitdem du bei ihm bist. <
Darüber stutze ich. Das soll glücklich sein? Wie ist er dann erst die letzten Jahre gewesen?
>Ich glaube, er hat einfach gemerkt, dass die Einsamkeit zu lange gedauert hat - das ist alles. <
Sophia lacht leise und lässt mich dann wieder los.
>Schlaf gut Süße. < sagt sie und macht ein Kussgeräusch an meiner Wange.
>Du auch. <
Ich springe heraus und schlage die Tür zu. Zum Glück wartet sie noch einen Augenblick und gibt mir etwas Licht durch die Scheinwerfer, sodass ich das Schlüsselloch treffe. Drinnen stelle ich gleich das Flurlicht an und winke ihr nochmal zu, bevor sie davonfährt. Ich ziehe den Pass aus der Gesäßtasche und sehe ihn mir nochmal an. Es ist verrückt, dass ich das sein soll. Aber bis auf etwas mehr Helligkeit hat sie nichts an dem Foto geändert – so sehe ich tatsächlich inzwischen aus.
Ich lasse den Pass auf dem Küchentisch liegen und tapse ins Bad hinein. Mein Bein hat endgültig genug. So sehr wie heute habe ich es die ganze Zeit noch nicht gefordert und es brennt inzwischen ziemlich stark. Aus einem Reflex heraus ziehe ich das Hosenbein hoch und sehe mir die Wunde an. Bluten kann sie nicht mehr, denn dafür ist sie schon oberflächlich verheilt. Trotzdem habe ich noch des Öfteren das irrtümliche Gefühl, als würde die warme, rote Flüssigkeit immer noch herunterlaufen. Sasha der Medizinstudent, hat mir mal erzählt, wie manche Patienten unter Nervenschmerzen oder Phantomschmerzen leiden. Vielleicht ist es bei mir etwas Ähnliches, was mir immer diese imaginären Gefühle verschafft. Umständlich lege ich meinen Unterschenkel in das Waschbecken hinein und fülle es bis obenhin mit kaltem Wasser. Seufzend vor Erleichterung, genieße ich die angenehme Empfindung der Besserung. Während ich mein Bein noch einen Moment entlaste, sehe ich mich erneut im Spiegel an. Vielleicht sollte ich mir diesen Nasenring ernsthaft stechen lassen. Irgendwie habe ich Gefallen daran gefunden und ich wäre diesen Druck irgendwann los, den das unechte Ding verursacht, wenn es meinen Nasenflügel zusammendrückt. Das Make-up, das mir Sophia verpasst hat, finde ich echt cool. Um es so hinzubekommen wie sie, muss ich wohl etwas üben. Mühsam angle ich in meiner eigenartigen Haltung das Handtuch und trockne mein Bein ab.
Das ist eindeutig nicht meine Zeit. Seitdem ich bei Sam bin, habe ich mich etwas an seinen Rhythmus gewöhnt und bin meistens so lange wach wie er. Dafür schlafe ich – wenn ich mal durchschlafe, länger. Da Sam die Nächte über weg ist, reichen die paar Stunden Schlaf die er hat aber meist nicht aus und so schläft er des Öfteren nochmal am Nachmittag ein. Er kann einem schon wirklich leidtun. Ich bin jetzt jedenfalls vollkommen fertig und hundemüde. Lange gähnend beschmiere ich meine Zahnbürste mit der Paste und schlafe fast im Stehen ein, so ermattet bin ich. Im Auto habe ich gesehen, dass es fast 4 Uhr ist. Arme Sophia – ich kann mir vorstellen, dass ihr normaler Tag um acht Uhr beginnt. Bei Dimitrij wird es sicher nicht anders sein. Ich spüle mir den Mund aus und binde mir die Haare hoch.
Der Pony ist wirklich noch sehr ungewohnt und stört mich im Moment arg. Mit der einzigen Haarnadel, die ich besitze und die noch von meiner Frisur stammt, die ich zu meinem Abschluss trug, klemme ich ihn mir irgendwie nach oben, damit ich mein Gesicht von dem Make-up befreien kann. Im abgeschminkten Zustand sehe ich schon wieder eher aus wie ich – auch wenn vieles verändert ist. Seufzend gehe ich zurück in die Küche und hole mir etwas zu trinken. Es ist so komisch und unbehaglich, wenn ich hier die Nächte allein bin. Aus der Bauchtasche von Sam's Sweatshirt hole ich den Schlüssel raus, schließe die Tür zu und lege ihn zurück auf den kleinen Schrank.
Ein altes Haus hat immer die Angewohnheit zu knacken oder sonstige Geräusche von sich zu geben. Ab und zu schrecke ich auf und muss im selben Moment schon wieder auflachen, weil ich so schreckhaft geworden bin. Ich habe keine Ahnung wieso ich das tue, aber aus irgendeinem Grund laufe ich die Treppe nach oben.
Die Zimmertür von Sam geht knarrend auf und ich stelle das Licht an. Sofort fällt mir das gerahmte Bild von ihm und seinem Bruder auf. Jetzt wo ich es weiß, kann ich die Ähnlichkeiten erkennen und würde ihn jünger als Sam schätzen. Die Familie scheint gute Gene zu haben, denn sein Bruder sieht ebenfalls gut aus. Trotzdem wandert mein Blick zu der Person daneben. Sam sieht maskuliner aus, furchtloser und irgendwie anziehender. Ich stelle das Bild wieder an seinen Platz und setze mich auf sein ungemachtes Bett. Sein Zimmer ist wirklich groß und weitaus gemütlicher, als ich es Sam in den ersten paar Tagen zugetraut hätte. Vor Erschöpfung lasse ich mich zur Seite fallen und lande in seinem Kissen. Es riecht genauso wie er und einen Moment später, reiße ich die Augen auf und frage mich was ich hier eigentlich gerade für eine gestörte Sache mache. Ich lasse mich in fremde Betten fallen und rieche an Kopfkissen. Geht’s noch?
Aber aus einem unerklärlichen Grund bin ich hier oben viel entspannter. Ich rede mir ein, dass ich einfach durch all das Geschehene, die Nähe und Behaglichkeit brauche. Sam gibt mir diese Dinge zumindest Minutenweise, wenn er gut gelaunt ist und dafür bin ich ihm zugetan. Das ist alles.
Ich muss zum Glück nicht allein durch diese Tortur gehen, wie es sicherlich viele andere tun müssen. Da ist jemand, der für mich da ist und Himmel und Hölle in Bewegung setzt, um mir zu helfen. Meine Augenlider brennen und es fällt mir schwer sie überhaupt noch offenzulassen. Bevor ich noch müder werde, sollte ich lieber runter in mein Zimmer gehen … aber das schaffe ich gar nicht mehr.
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