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Fingerabdrücke bleiben

von Lynnix
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Krimi / P16 / Gen
23.02.2018
25.11.2021
129
578.228
7
Alle Kapitel
102 Reviews
Dieses Kapitel
1 Review
 
31.08.2018 5.109
 
Kapitel 28 – Neue Identität

Ich weiß nicht was Sam von mir erwartet hat aber bei meinem Desinteresse – was mein angebliches „Potenzial“ angeht, schien er irgendwie entkräftet und ernüchtert. Leute wie mich muss es eben auch geben – die Theoretiker, die Bücherwürmer und die, die immer pünktlich ihre Steuererklärung machen werden. Sam scheint eher so der praktisch veranlagte Draufgänger zu sein. Jedem das Seine.
>Sophia wird dich heute Abend abholen und fährt mit dir zusammen in das Department. Nimm nachher einen Schlüssel mit, denn vermutlich kommst du zurück, wenn ich nicht da bin. < erklärt er und wechselt somit zum Glück das Thema, während er alles aufräumt.
>Wo genau fährt sie denn mit mir hin? <
Sam läuft bereits vor mir aus dem Nebengelass heraus und verschließt es, sobald ich ebenfalls draußen bin.
>So genau darf ich dir das nicht sagen. Ihr bleibt immer noch in Minnesota und trefft euch nachher vor Ort mit Dimitrij. Es ist normalerweise nahezu unmöglich für Leute wie dich unangemeldet hineinzukommen. Mitten in der Nacht schon gar nicht, da es immerhin einen Wachschutz ab 22 Uhr gibt, aber Sophia hat sich schon etwas ausgedacht und extra bis heute gewartet. Alle zwei Monate sind die Wartungen fällig und die Server werden beinahe gleichzeitig runtergefahren. Sie kommt erst her und schminkt dich, damit du auf dem Foto noch veränderter aussiehst. Mit dir zusammen fährt sie dorthin, schleust dich ein und erstellt mit Dimitrij deinen neuen Pass. <
>Dazu braucht man aber Fingerabdrücke und meine jetzigen können sie wohl kaum benutzen. < wende ich ein.
>Die Neuen sind schon in Arbeit. <
>Auf keinen Fall. Ich ätze meine Haut nicht weg! <
>Das wird auch nicht nötig sein. Maskenbildner sollten nie unterschätzt werden. Dank Sophia kenne ich inzwischen auch ein paar Tricks mehr. <
>Ihr und Dimitrij scheinst du sehr zu vertrauen. < wende ich ein.
>Du weißt, ich traue fast niemandem. Sie wissen immer nur so viel, wie sie wissen müssen – das ist alles. Für meinen Geschmack ist das was sie über dich wissen, schon zu viel. Aber ohne ihre Hilfe komme ich nicht weiter. Irgendwann sind selbst mir die Hände gebunden und ich muss manches nun mal zähneknirschend übergeben. <
>Das ist doch nur natürlich. Jeder Mensch braucht Hilfe, sogar du. Die beiden erwecken doch außerdem einen sehr vertrauenswürdigen Eindruck. <
>Lass dich niemals vom Anschein täuschen. <
>Stimmt. Wenn ich dem gefolgt wäre, würde ich dich immer noch für einen Holzfäller halten. <
Sam feixt.
>Holzfäller, Sanitäter … was denkst du erst über mich, wenn herauskommt, dass ich ein Immobilienmakler bin? <
>Ich stelle dich mir gerade eher vor, wie du hinter einem Schreibtisch an der Kundenhotline sitzt und andauernd ins Telefon sagst: „falsche Frage“. <
Wir lachen beide schallend auf. Das ist wohl eines der letzten Dinge, die mir zu ihm einfallen würden.

            Kaum zu glauben aber den Rest des Tages amüsiere ich mich regelrecht mit Sam. Es ist total angenehm in seiner Nähe zu sein und der Streit von heute Morgen scheint vollkommen vergessen. Er lenkt mich die ganze Zeit ab und wirkt überhaupt nicht sauer auf mich, trotz der Dinge, die ich ihm an den Kopf geworfen habe. Zwischendurch macht er sich wieder an meiner Schulter zu schaffen, die bis auf wenige Schorfreste und roten Wundrändern inzwischen gut aussieht. Ich hoffe wirklich sehr, eines Tages wieder voll auf dem Damm zu sein. Mein Bein lässt er größtenteils in Ruhe, weil er findet, dass ich für heute viel zu viel Bewegung hatte. Darum bringt er mir lediglich ein Kühlpads und streicht mit beiden Händen über die unverletzten Stellen an meiner Wade, fast liebevoll, was ich so von ihm nur selten kenne und was mich auf eigenartige Weise stutzig werden lässt. War es wirklich mal notwendig, ihn verbal so anzugehen wie vorhin am Lake?
Offensichtlich! Denn am Abend kocht sogar mal er – auch wenn ich klammheimlich ziemlich viel nachsalzen muss, zählt der gute Wille. Ich fand es sogar nett als er mich in sein Wohnzimmer zurückschickte, damit er die Küche aufräumen konnte. Heute will er mich offenbar wirklich mal schonen.
Inzwischen ist es etwa gegen 22 Uhr, als jemand gegen die Tür klopft. Eigentlich kann es nur Sophia sein. Sam steht bereits auf, ehe ich es tun kann und läuft aus dem Wohnzimmer raus. Ich folge ihm und komme an der Tür an, als er sie bereits öffnet und wieder überschwänglich von Sophia geküsst und umarmt wird – ich glaube sie macht das mit Absicht, weil sie weiß, dass er das eigentlich nicht leiden kann. Er rollt mit den Augen aber grinst und lässt es über sich ergehen.
>Tut mir wirklich leid, dass ich mich etwas verspätet habe. < keucht sie und streift ihren dünnen Mantel ab, unter dem sie heute ein Etuikleid trägt und noch höhere Schuhe als beim letzten Mal. Ich würde mir die Füße brechen, wenn ich darin laufen müsste.
Sophia drückt ihren Mantel in Sam's Hände und kommt dann strahlend zu mir gelaufen.
>Kein Problem. Noch bin ich ja hier gewesen. < erwidert er und wirft sich Sophias Kleidungsstück ordentlicher über den Arm, so wie ein Butler und sagt schließlich an mich gewandt: >Dann übergebe ich dich mal in ihre Hände. <
Daraufhin verlässt er die Küche und lässt uns beide allein.
>Hi Süße. < bringt mir Sophia entgegen. >Du siehst gut aus. Bist du bereit? <
>Danke, du auch. Tja ich schätze, für ein Zurück ist es jetzt zu spät. <
Sie lächelt und legt den Arm um mich.
>Das wird schon alles. Du bist nicht die Erste, die durch so eine Prozedur muss und leider wirst du auch nicht die Letzte sein. Am besten fangen wir gleich an. <
>Wie viele Menschen mussten sich aus Schutzmaßnahmen schon einen falschen Pass machen lassen? <
>Uff, da bin ich überfragt. Aber nicht bei jedem ist es so wie bei dir. Dir wollen wir immerhin nur so lange einen anderen Namen verpassen, bis Sam dich rausgeboxt hat. Aber grundlegend sind viel zu viel falsche Pässe im Umlauf, die nicht durch Menschen wie uns kontrolliert hergestellt werden. Es gibt Täter, die gleich mehrere davon besitzen. Oder manchmal sind es auch einfach nur ein paar Teenager die sich älter machen, damit sie endlich in die guten Clubs kommen. <
>Und wie wird herausgefunden, ob jemand einen falschen Pass hat? <
>Gar nicht. Die Regierung ist nicht mehr Herr der Lage. Es ist nur Zufall, wenn sie zwei oder mehrere Pässe bei einem Verdächtigen finden, aber wenn nur ein Ausweis von jemandem verlangt wird und der vom Passfälscher noch selbst herausgegeben wird, dann können sie es nicht kontrollieren. Deswegen ist es auch ein sicherer Weg für dich. Denn du besitzt dann nur diesen einen und kannst bei einer möglichen Taschenkontrolle nicht ins Visier genommen werden. <
Sophia packt mehrere Dinge aus ihrem Koffer aus und stellt einiges an Make-up in einer Reihe auf dem leergeräumten Küchentisch auf.
>Ich habe schon ein paar Sachen zusammengesucht. Wir schauen jetzt mal was zu deinem Ton passt und dann schminke ich dich. Da das alles Proben sind, kannst du sie behalten. Wenn du raus in die Stadt gehst, musst du versuchen es halbwegs so hinzubekommen wie ich es dir gleich zeige. <
>Okay, aber erwarte nicht zu viel. <
>Ach was, das wird schon. < sagt sie munter und drückt mich mit sanfter Gewalt auf Sam's Küchenstuhl.
>Die Kratzer, die du in deinem Gesicht hattest, sind aber super verheilt. Du hast eine so schöne Haut, dass ich dir da überhaupt nichts grundieren will, deswegen nehme ich einfach einen dunkleren Ton und mache deine Konturen etwas auffälliger. So kann ich zum Beispiel mehr Tiefe bei deinen Wangenknochen hervorrufen. <
>Ich vertraue dir. Mach einfach was du denkst. <
>Ganz so mutig warst du das letzte Mal aber nicht. < grinst sie und schnappt sich bereits ihre Utensilien.
Als hätte ich eine Wahl …
Sam kommt zwischendurch mal bei uns schauen und setzt sich mir gegenüber. Es scheint so als würde er in seinem Handy herumtippen aber immer, wenn ich zu ihm hochschaue, treffen sich unsere Blicke und dann schaut er wieder auf das Gerät. Sophia redet die ganze Zeit wie ein Wasserfall und ich komme gar nicht dazu, etwas zu erwidern – was mir um ehrlich zu sein sehr entgegenkommt. Darum nicke ich eigentlich nur und gebe ab und zu mal ein „hmm“ oder ein „aha“ von mir.
>Süße, ich würde dir wirklich gerne noch einen Pony schneiden. Das würde nochmal ziemlich was ausmachen. < wirft Sophia plötzlich ein und unterbricht mal ihren Redefluss über Gott und die Welt.
>Nein, ich hasse Ponys. <
Ohne darauf einzugehen was ich sagte, teilt sie meine Haare vorn ab und zieht sie seitlich leicht rüber.
>Sam, reich mir mal den kleinen Handspiegel aus meinem Koffer. < dirigiert sie ihn. Er kramt etwas darin herum, flucht leise vor sich hin:
>Das ist hier drin wie ein schwarzes Loch. < und reicht ihn mir rüber.
Sobald ich mich sehe, achte ich gar nicht auf die abgeteilten Haare, sondern nur auf meine Augen, Wangen und meinen Mund. Ich war letztens schon fasziniert, als Sophia mir die Haare geschnitten und gefärbt hat. Aber jetzt ist alles, was mich mal ausmachte, fast nicht mehr wiederzuerkennen.
>Na erkennst du dich noch? < lacht sie.
>Irgendwie nicht. Was hast du mit meinem Mund angestellt? <
>Du kannst die Form und die Fülle ändern, indem du etwas mit dem Konturenstift herumspielst. <
Ohne dass sie es tatsächlich anzeichnet, zieht sie vor dem Spiegel den Verlauf meiner Lippen etwa einen Millimeter darüber nach, den ich später alleine versuchen soll. Auch mit den Augen gibt sie mir viele Tipps, damit ich es möglichst ähnlich hinbekomme.
Letzten Endes lasse ich mich doch tatsächlich zu einem Pony überreden, den ich eigentlich nie wollte.
Trotzdem muss ich zugeben, dass es gut aussieht und noch mal einen erheblichen Unterschied zu vorher ausmacht. Ich sollte diese Angst wirklich endlich ablegen, dass mich jemand draußen erkennen könnte.
>Ich muss dann los. < verkündet Sam und zieht sich gerade seine Lederjacke an. Die ebenfalls schwarzen Lederhandschuhe liegen bereits auf dem Küchentisch und das mitten im Sommer. Dann kommt er zu mir gelaufen und erklärt leise:
>Sophia bringt dich nachher wieder zurück. Es wird sicher mitten in der Nacht sein und es ist wahrscheinlich, dass du nachher wieder alleine sein wirst. Der Schlüssel liegt im Flur – nimm ihn später mit und schließe zu, wenn du zurück bist. <
>Okay mach ich. Hast du es eigentlich weit bis zu deinem Job? < will ich wissen.
>Heute nicht. < grinst er. >Also dann bis später. Und seid vorsichtig. <
>Immer doch. < wendet Sophia lässig ein.
>Sophia ich meine es ernst! Du weißt ich würde sofort mitkommen, wenn ich dort so sicher wie du rein- und wieder rauskommen würde. <
>Ja schon gut. < sagt sie nun nicht mehr ganz so leichthin. >Ich passe auf sie auf und bringe sie dir wieder wohlbehalten zurück. <
>Gut. < sagt er abschätzend und wendet sich dann wieder mir zu. Er nimmt wie schon beim ersten Mal, eine meiner Haarsträhnen zwischen zwei Finger. >Wir sehen uns morgen früh, Kleines. Hab keine Angst, Sophia wird so wenig Zeit mit dir dort drin verbringen wie es geht. Und morgen sieht die Welt wieder ein kleines bisschen besser für dich aus. <
Ich nicke nur, denn irgendwie wird mir bei diesem Gedanken eigenartig zumute, obwohl ich ja schon wusste, dass sie das mit mir vorhaben würden. >Du siehst sehr hübsch aus. < ergänzt er und ich schaue grinsend zu ihm hoch.
>Danke. < murmle ich. >Hoffentlich wirst du nicht wieder verletzt. <
Ich sehe zu seiner getapten Platzwunde am Kopf und er tut es mit einer Handbewegung ab.
>Also dann. Schlaf nachher gut. < sagt er und nimmt mich in seine Arme. Das tut er seit zwei oder drei Tagen häufiger. Er löst sich und hält Sophia dann eine Wange hin, so als wenn er sich dieser Geste ergeben müsste. Da kennt seine offenbar beste und auch einzige Freundin nichts und drückt ihm wieder den knallroten Lippenstift drauf. Sicherlich würde er die Bezeichnung „beste Freundin“ wieder abstreiten aber da kann er mir nichts vormachen. Er vertraut ihr mehr als er zugeben will.
Ich muss lachen als sie ihn auch noch begeistert an sich drückt und er sich herauswindet.
Sam schnappt sich die Handschuhe vom Küchentisch und wischt sich mit dem Handrücken den Lippenstift runter. Im Flur greift er sich noch seinen Rucksack, schwingt ihn über eine Schulter und bleibt mit der Hand an der Türklinke stehen, um mir noch einen Blick zuzuwerfen. Ich lächle ihm ermunternd zu, denn ich will nicht, dass er denkt, dass ich mich fürchten würde. Dann nickt er und verschwindet.
>Was hast du denn mit ihm angestellt? < erklingt Sophia ziemlich verwundert hinter mir.
>Wie meinst du das? Ich habe gar nichts angestellt. <
>Er hat dich umarmt – freiwillig. Ich muss ihn immer zwingen, damit er sich das gefallen lässt. <
>Ach Blödsinn. < lache ich. >Er tut bei dir doch nur so, weil ihr euch gegenseitig aufzieht. <
Sie murmelt gedankenverloren irgendetwas Unverständliches und setzt sich dann dort hin, wo bis vor ein paar Minuten noch Sam gesessen hat. Ihr Mund wird schmal und sie mustert mich.
>Hat er dir irgendwas gesagt? < will sie wissen.
>Inwiefern? <
>Ach keine Ahnung. Zum Beispiel hast du gesagt du hoffst, dass ihm dieses Mal nichts passiert. Hat er dir denn erzählt, dass etwas passiert sei? < fragt sie beiläufig, aber diesen Unterton kenne ich von so ziemlich jeder Frau. Sie versuchen unbefangen zu klingen aber man hört immer die Neugier raus, als würden sie auf eine ganz spezielle Information warten.
>Nein hat er nicht wirklich. Mir ist aufgefallen, dass er manchmal blutet, wenn er zurückkommt. <
>Aha. Na gut. Also ich bin dann fertig. Wir sollten uns lieber gleich auf den Weg machen. < verkündet sie plötzlich überschwänglich und wechselt so abrupt das Thema, dass es schon auffällig ist. Sophia zieht einen Stuhl an die weiße Küchenwand. >Setz dich davor! Ich muss ein Bild für den Pass machen. <
Ich tue was sie sagt. Aus ihrer Tasche zückt sie eine Canon und nimmt ein paar Einstellungen vor. Sie spielt auch etwas mit Sam's Licht herum bis sie halbwegs zufrieden zu sein scheint.
>Das müssten wir eigentlich bei Tageslicht machen aber egal – den Rest bearbeite ich am Laptop. Also dann Schätzchen, schau direkt zu mir in die Linse und lächle nicht. Blicke einfach ausdruckslos. <
Die Kamera klickt gleich mehrere Male, dann wird sie zur Seite gelegt und Sophia wuschelt noch mal meine Haare durch. Also perfektionistisch ist sie ja wirklich, denn ich dachte das würde schnell gehen. Sie biegt sogar nochmal meinen falschen Nasenring etwas zurecht und schießt dann erneut ein paar Bilder.
Dann geht sie vor sich hinmurmelnd etwa zehn bis fünfzehn Fotos durch und löscht alle bis auf ihren Favoriten.
>Hier schau mal. Das würde ich nehmen. < sie drückt mir die Canon in die Hand und läuft zu ihrer Tasche, um einen Laptop herauszuholen und hochzufahren. Das Bild, das ich sehe, zeigt eine erwachsene Frau, die nicht so aussieht, als wäre sie auch nur in der Nähe der 21 Jahre und auch nicht malträtiert oder angegriffen worden.
Ich nicke Sophia wortlos zu, als sie mir die Kamera wieder abnimmt.
>Alles okay Süße? <
>Klar doch. < antworte ich monoton. Langsam macht sich die Nervosität in mir breit.
Sie nimmt die Speicherkarte heraus und steckt sie in den Laptop hinein.
>Mach dir keine Sorgen. Das ist heute Nacht alles fertig. Ich ändere nur noch ein bisschen die Helligkeit auf dem Foto und dann können wir los. Du kannst dich aber schon mal umziehen. Trage bitte lange Klamotten, falls du welche hast und möglichst dunkel. <
Ich bin zwar irritiert aber so langsam stelle ich keine Fragen mehr. Ich bin mir zwar sicher, dass Sophia mir alles erklären würde aber ich bin müde und es wird sich ohnehin herausstellen, wie es meistens der Fall ist.
In Sam's Gästezimmer krame ich eine Jeans hervor und wechsle sie gegen Megans Rock, den ich noch trage. Ein sauberes Langarmshirt oder eine dunkle Jacke habe ich gerade nicht, also lasse ich das T-Shirt an und gehe ins Wohnzimmer, wo Sam's schwarzes Kapuzensweatshirt auf der Couch liegt. Eilig ziehe ich es drüber und gehe wieder in die Küche, wo Sophia bereits alles zusammenpackt.
Sie drückt mir ein paar der Dinge in die Hände, damit ich ihr etwas abnehmen kann.
>Bring das schon mal zum Wagen. Ich komme gleich. <
Ich stecke den Hausschlüssel in meine Gesäßtasche und schleppe ihren Kosmetikkoffer und ihre Tasche zum Auto. Wenn das Licht in der Küche nicht an wäre, würde ich hier draußen so gut wie nichts sehen. Es ist so stockdunkel wie in der Nacht, als mich der Taxifahrer herausgeworfen hat. Wie kann ein Wald trotz wolkenfreiem Himmel und hellem Mond nur so verflucht dunkel sein? In der schwarzen Nacht hört man Geräusche und sieht Dinge, die nicht da sind – das wusste ich schon damals aber ich konnte sie immer lässig ignorieren.
Ich stelle die Sachen von Sophia vor dem Auto ab und laufe in die Richtung, die weg vom Haus führt. In der näheren Umgebung des Superior Lakes, wird der geringe Schein – der bis eben noch aus Sam's Küche kam, kaum noch wahrnehmbar. Ich höre wie das Wasser fließt, wie irgendwo eine Eule kreischt und noch weitaus anderes Getier.
>Die Angst ist nur in meinem Kopf. < flüstere ich zu mir selbst. >Sie ist nur in meinem Kopf. Es ist einfach nur dunkel. <
Ich muss das endlich auf die Reihe bekommen. Ich muss wieder lernen, mich angstfrei im Dunkeln zu bewegen und auf mich selbst aufpassen. Bald ist Sam nicht mehr da und dann muss ich alleine klarkommen. Meine Augen weiten sich automatisch, als ich immer mehr in die Dunkelheit hineinlaufe. Mein Herzschlag beschleunigt sich schmerzlich, als in meinem Schädel alle möglichen Dinge umherfliegen. Nach fast zwei Wochen schaffe ich es gerade mal, ohne Licht einzuschlafen, aber hier draußen ist die Finsternis unerträglich.
>Nur in meinem Kopf. < murmle ich erneut.
>Schätzchen? < ruft Sophia und ich schrecke keuchend zusammen.
>Du dummer Feigling. < nuschle ich zu mir selbst und rufe dann lauter über meine Schulter: >Ich komme! <
Die andere Richtung ist noch hell und ich sehe zumindest wohin ich laufe.
>Wo warst du denn? < fragt sie und öffnet den Wagen.
>Ich ehm, ich wollte nur etwas testen. <
Schnell mache ich das Licht im Haus aus und schließe Sam's Tür zu. Sophia sitzt bereits im Auto und hat die Scheinwerfer an.
Sie fährt einen schicken Jeep und ich nehme vorn neben ihr Platz.
Im Innenraum macht sie mir das Licht an, damit ich den Gurt schneller finde.
>Erzwinge das Ganze nicht. < sagt sie zu meiner Verwunderung verständnisvoll.
>Was meinst du? <
>Glaubst du ich wüsste nicht, was du da gemacht hast? Lass dir Zeit. Es ist noch gar nicht lange her – du kannst nicht erwarten, dass du von heute auf morgen wieder derselbe Mensch wirst. Und um ehrlich zu sein, erlebe ich fast niemanden, der jemals wieder so wird, wie er vorher war. <
>Ich will es wenigstens versuchen. Meine Familie würde das wollen. <
Sophia lächelt und streicht mir ein paar Haarsträhnen hinters Ohr.
>Sam hatte recht. Du kannst ziemlich taff sein und du weißt genau was du willst. <
>Das hat Sam zu dir gesagt? Wann? <
>Keine Ahnung. Vor kurzem. <
Sie lässt den Motor an, stellt das Licht im Innenraum wieder aus und fährt über den breiten Trampelpfad. Dass ausgerechnet mein Lebensretter mich für taff und mutig hält, erstaunt mich immer noch, aber dass er es auch noch mit Sophia teilt, verwundert mich noch mehr. Offenbar haben wir zwei ganz unterschiedliche Ansichten davon. Und exakt deswegen, weil ich mich selbst eher als ein Feigling ansehe, will ich in Sam's Augen erst recht nicht so rüberkommen als wäre ich einer. Ich will versuchen mich zusammenzureißen und das alles irgendwie hinbekommen. Mir ist immer noch nicht klar wie aber ich will es probieren.

            Sophia fährt etwa eine dreiviertel Stunde in Richtung Nordwesten. Ich wüsste gern wo wir hinfahren, denn ich bin in Minnesota vollkommen gefangen.
In Richtung Osten und Süden ist der Lake, Richtung Norden die kanadische Grenze - über die ich niemals kommen würde und im Westen meine Heimat. Ich kann diesen Bundesstaat also unmöglich unauffällig verlassen und das weiß Sophia auch.
>Wie lange fahren wir denn noch? <
>Vielleicht noch fünf Minuten. <
>Die Hälfte der Zeit waren wir ja immerhin noch auf einer Straße aber inzwischen fahren wir nur noch auf Schotter. <
>Alles nach Grand Portage besteht so ziemlich nur aus Schotter und einer ganzen Menge Wildnis. < feixt sie. >Hier ist es ein bisschen versteckter, verstehst du? So ein Gebäude baut man nicht mitten in der Großstadt. <
>Was denn genau für ein Gebäude? < will ich wissen.
>Wirst du gleich sehen. < sagt sie geheimnisvoll.
Seit einer Weile erkenne ich nur noch Tannen, Tannen und nichts als Tannen. Ich bin mir nicht sicher aber es könnte sein, dass ich immer wieder mal Einfahrten erkenne, wo ein oder zwei Häuser in der Entfernung stehen, aber grundlegend ist es eher eine verlassene Ecke.
>Wir sind gleich da. Schnall dich ab und versteck dich hinter meinem Sitz. Du musst die ganze Zeit leise sein, damit der Wach- und Schließdienst am Eingang nichts von dir mitbekommt. Da hinten liegt irgendwo eine Decke – versteck dich da drunter. <
>Bist du wirklich sicher, dass wir das tun sollten? <
>Ja na klar. Keine Sorge, wenn ich „Wachdienst“ sage, dann meine ich damit zwei kleine Donut-futternde Kerle, die nur eine Schranke auf und zu machen sollen. Ich habe sie heute schon gesehen und die werden mir sicher nicht blöd kommen. Aber das ist eben nur für heute so leicht, dort hineinzukommen. Deswegen musste ich so lange warten, bis ich dich herbringen konnte. Und jetzt mach schon! <
Das hört sich irgendwie trotzdem heikel an aber ich tue, was sie sagt. Zum Glück kann ich mich dazwischen klemmen, weil ich so dünn bin. Obwohl ich zugeben muss, dass ich bei Sam allmählich so etwas wie eine gesunde Figur bekomme. Seine Pflege hinterlässt langsam Spuren und ich habe zugenommen.
Trotz dem ich aber immer noch so schlank bin, muss ich mich ganz schön hinter Sophias Sitz verbiegen, um das eine Weile aushalten zu können. Schließlich weiß ich nicht wie lange das dauert.
>Bist du so weit? < fragt sie in dem Moment, als ich die dunkle Decke über mich stülpe.
>Ja bin fertig. <
>Gut dann ab jetzt keinen Mucks von dir. <
Sie fährt noch eine geschätzte Minute weiter, bis sie anhält und die Lautstärke ihres Radios etwas runterdreht. Offenbar lässt sie ihr Fenster runter, denn sie ruft etwas lauter:
>Abend Jungs, ich muss nochmal rein – ich hab was vergessen. <
>Heute ist ja was los. Mister Lebedew kam auch nochmal zum Nacharbeiten her. Eigentlich sollte keiner mehr während der Wartungen hier sein. <
>Tja was soll ich sagen, wir sind eben sehr arbeitseifrig. Also seid bitte so lieb und lasst mich rein. Es ist wirklich wichtig und dauert nicht lange. < kichert sie süß. Offenbar scheint ihre Masche mit der Mädchenstimme und den klimpernden Wimpern zu funktionieren, denn kurz darauf fahren wir weiter. Das Ganze dauert aber nicht sehr lange, da höre ich wie sie über die Freisprechanlage jemanden anruft und es einige Male läutet.
>Ja. < höre ich eine männliche Stimme und weiß sofort wer es ist.
>Wir sind da. Ich stehe genau neben deinem Wagen. <
>Okay ich komme raus. < sagt ganz eindeutig Dimitrij, mit dem unverkennbar russischen Akzent. Dann wird der Anruf beendet.
>Du bleibst noch kurz im Wagen. Setz die Kapuze auf! < befiehlt sie mir und steigt aus dem Auto aus. Unter der Decke versuche ich sie mir irgendwie über die Haare zu streifen. Es ist totenstill da draußen und ich höre nicht mal Sophias Absätze oder ein Gespräch. Meine Atmung geht stoßweise, da es hier drunter ziemlich stickig wird. Was mache ich hier eigentlich? Das ist sowas von illegal was wir hier tun.
Plötzlich geht die Tür neben mir auf und mein Herzschlag beschleunigt sich. Jemand zieht die Decke von meinem Kopf und steht als schwarze Gestalt neben mir.
>Komm schon kleiner Vogel. < sagt Dimitrij. >Zeit dich wieder fliegen zu lassen. <
Er reicht mir seine Hand, um mir aus dieser Lage herauszuhelfen. Sobald ich stehe, legt er den Arm um mich und schiebt mich vorwärts durch eine schmale Hintertür hindurch.
Sophia steht bereits in einem hellen, weißen Flur und zieht eine Karte durch eine Apparatur. Dort öffnet sich eine Tür, die sie uns beiden aufhält.
>Wir müssen uns beeilen, weil wir nur noch 15 Minuten haben. < erklärt Dimitrij eilig und schiebt mich in den Raum hinein. >So lange ist das Kamerastandbild noch von meinem Büro eingestellt. Wenn wir gesehen werden, dass wir um diese Zeit jemandem einen Pass machen, dann ist das selbst für uns zu auffällig. <
Sophia reagiert sofort und fährt ihren Laptop mit meinem Foto hoch. Dimitrij schiebt mich hinüber zu einem langen Schreibtisch und einem breiten aber flachen Behälter mit einer weißen Flüssigkeit.
>Leg deine Hände da rein. < befiehlt er. Verwirrt mustere ich das eigenartige Zeug, das aussieht wie Gel. Sie werden doch nicht wirklich irgendwas an mir wegätzen? Weil ich nicht reagiere, greift er meine Handgelenke, wobei ich panisch aufjapse. Dimitrij legt beide Handflächen von mir hinein, wovon die Daumen jeweils frei bleiben. Das Zeug geht mir nur bis knapp unter den Fingernagel.
>Was tust du da? < frage ich zittrig.
>Psst. < sagt er nur leise und schüttelt den Kopf, damit ich nicht noch mehr sage. Dann zieht er mich an meinen Handgelenken heraus und positioniert mich auf eine Art Schablone, worauf er meine Finger bis auf die Daumen drauflegt. Er stellt ein schmales Gerät über meine Hände, welches kühle Luft abgibt. Ich erwarte jeden Moment heftige Schmerzen aber bisher spüre ich nichts. Dimitrij verschwindet für einen Augenblick aus meinem Sichtfeld und stellt sich zu Sophia, um irgendwas auf dem danebenstehenden Rechner einzutippen. Ich blicke unter das Gerät, worunter sich meine Hände befinden und sehe, wie das weiße Zeug plötzlich trocknet und transparent wird.
Dann kommt Dimitrij wieder zu mir rüber und nimmt erneut meine Hände, um meine Daumen bis zum Daumenballen in die weiße Gelmasse hineinzudrücken. Erst dann kapiere ich, was er hier mit mir tut.
>Das sind ja wirklich meine neuen Fingerabdrücke. < flüstere ich. Er nickt, nimmt meine Hände wieder raus und drückt meine Daumen auf die Schablonen, mit dem darüber angebrachten kühlen Föhn. Sophia tippt in der Zwischenzeit alles Mögliche in ihren Laptop ein und nimmt dann einen Scanner in die Hand.
>Lass deine Augen weit geöffnet. < flüstert sie und hält mir das Ding genau vor die Linsen. Es piept zweimal, dann verschwindet sie wieder an den Laptop.
Als augenscheinlich auch das Gel an meinen Daumen transparent geworden ist, sehe ich keinen Unterschied mehr zu vorher. Es sieht so aus, als hätte ich überhaupt nichts über meinen Fingern und es fühlt sich sogar völlig normal auf der Haut an. Ich kann die Finger bewegen, wie sonst auch.
Dimitrij schickt mich trotzdem ein weiteres Mal unter den Föhn und rührt irgendetwas Neues hinter meinem Rücken an. Sophia kommt mit einem kleinen, flachen Gerät zu mir und verbindet es mit ihrem Laptop.
>Jeden Finger einzeln draufhalten. < erklärt sie leise. Sobald ich einen Fingerabdruck abgebe, piept das kleine Ding leise und ich muss den nächsten Finger ablegen. Nach ein paar Minuten ist alles geschehen.
Sie reicht mir zum Schluss ein winziges, digitales Gerät für eine Unterschrift.
Auf einem gelben Zettel, den sie mir vor die Nase hält, steht „Grant“. Das soll jetzt also mein Name sein?
Mit einem geschwungenen Bogen unterzeichne ich einen falschen Namen und werde direkt weiter zu Dimitrij geschoben, der das giftgrüne angerührte Zeug in einen Eimer umgefüllt hat.
>Bis zu den Handgelenken rein und nicht bewegen bis es trocken ist. < flüstert er. Ich stelle keine Fragen und tue es einfach. Das Zeug fühlt sich noch eigenartiger an, als das Weißliche.
Sophia hält uns vier Finger in die Höhe und der Russe schaut ungeduldiger auf die grüne Masse, so als würde sie dadurch schneller trocknen.
Sophia scheint mit allem fertig zu sein und fährt ihren Laptop runter, um danach alles einzupacken.
Dann zeigt sie nur noch zwei Finger hoch – die wohl für 2 Minuten stehen sollen und läuft dann in den hinteren Bereich des Büros, wo ich sie nicht mehr sehen kann.
Der Russe tippt mit seinem Finger in die Masse hinein und scheint erleichtert, als seine Fingerkuppe keinen Abdruck darin hinterlässt. Für mich fühlt sich das Zeug aber total wabbelig an und ich verstehe nicht, wie ich hier wieder rauskommen soll, wenn es hart ist.
Allerdings positioniert er meine Arme nach oben und zieht dann an dem Eimer. Zu meiner Verwunderung löst sich das Zeug ganz leicht als Klumpen heraus. Das was meine Hände umschließt, zieht er auf links ab, stülpt es um und tut es zurück in den Eimer. Das ist Silikon oder so etwas Ähnliches, wie mir jetzt klar wird – kein Wunder das es sich verhält wie Wackelpudding. Sophia kommt zurück und hält etwas kleines Rechteckiges in den Händen, was wohl mein Pass sein muss.
Sie nimmt mich bei der Hand und zieht mich mit sich, während der Russe schon wieder irgendetwas in den Eimer hineinkippt, wo eben noch meine Hände drin waren. Ich kann ihm noch nicht mal Tschüss sagen, schon werde ich schon aus dem Büro herausgeschliffen.
>Steig direkt ins Auto hinter meinen Sitz! < befiehlt Sophia und geht als erste durch die Hintertür um zu sehen, ob die Luft rein ist.
Draußen schaut sie sich unauffällig um und zieht mich dann hinterher. Am Wagen angekommen, drängt sie mich hinter den Rücksitz und steigt vorne ein, um den Motor anzulassen.
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