Fingerabdrücke bleiben
von Lynnix
Kurzbeschreibung
Nayeli genießt ihre letzte Woche als Studentin und lebt mit ihrer indianisch stämmigen Familie in einem alten Haus neben den Klippen des Superior Lakes. Sie kann es kaum erwarten ihren künftigen Job anzutreten, mit dem ihr eine aussichtsreiche Zukunft bevorsteht. Trotz Strapazen empfindet sie ihr Leben als perfekt aber was sie bis zu dem Zeitpunkt noch nicht weiß ist, dass ihr Vater eine große Last mit sich herumschleppt, dessen Folgen ihr den Boden unter den Füßen wegreißen werden. Die junge Frau lernt jemanden kennen, von dem sie noch nicht weiß, ob er Freund oder Feind ist. Plötzlich ist sie auf fremde Hilfe angewiesen, muss hinter Masken sehen, verstehen wie korrupt das Land ist, in dem sie lebt und auf schmerzhafte Weise Stück für Stück erfahren, wie tief ihr Vater in die Ereignisse verstrickt war. Sie muss Entscheidungen treffen, von denen sie glaubte, so etwas niemals tun zu müssen. Aber wie weit muss sie gehen um Schmerzen und Verlust zu überwinden?
GeschichteDrama, Krimi / P16 / Gen
23.02.2018
25.11.2021
129
578.228
7
Alle Kapitel
102 Reviews
102 Reviews
Dieses Kapitel
1 Review
1 Review
17.08.2018
4.364
Kapitel 26 - Verletzungen
Mehrere Tage ziehen ins Land. Ich habe vergessen welchen Wochentag wir haben, vergessen zum wievielten Mal ich die Bücher aus Langeweile gelesen habe, vergessen wie oft ich Sam nach Meg gefragt habe, ohne eine Antwort zu erhalten.
An diesem Morgen wache ich auf und habe zum ersten Mal keinen Albtraum gehabt. Zumindest keinen, an den ich mich erinnere oder der mich schweißgebadet aufwachen ließ. Meine Wunden heilen auch immer besser und Sam konnte mir gestern die Fäden entfernen. Irgendwann sind es einfach nur noch Narben, die mir einmal vor langer Zeit zugefügt wurden. Und irgendwann verschwimmt vielleicht sogar das Gesicht von denen in meinem Kopf, die dafür verantwortlich sind.
Ich ziehe die Jalousie hoch und sehe wie sich die Sonne langsam durchkämpft. Der Lake wirkt relativ ruhig und einladend.
Sam ist letzte Nacht erst gegen 2 Uhr zur Arbeit gefahren und sicherlich erst vor ein oder zwei Stunden zurückgekehrt. Dieses Mal bin ich sogar ins Bett gegangen, noch bevor er gegangen war und ich bekam lediglich schlaftrunken mit, wie er den Motor startete.
Ich tapse leise auf den Flur raus und verschwinde für kurze Zeit im Badezimmer. Nur mit einem Handtuch bekleidet, komme ich wieder heraus und gehe nach draußen zum Lake. Die kleinen Steine, Zweige und Nadeln der Bäume piken an meinen Füßen aber dennoch laufe ich auf Zehenspitzen bis zu der Bucht, an der wir fast jeden Tag sind.
Das Handtuch werfe ich auf dem liegenden Baumstamm ab und steige nackt in das Wasser hinein. Dieses Verlangen hier drin zu schwimmen, habe ich schon seit Tagen gehabt aber erst heute kann ich mich wirklich dazu aufraffen, mich zu bewegen. Allmählich werde ich hier von Tag zu Tag depressiver, weil ich hier feststecke, ohne dass in den letzten Tagen etwas Nennenswertes passiert ist, das mir irgendwie helfen könnte. Es gibt keine guten Nachrichten von Sophia oder von Dimitrij – von Sam ganz zu schweigen, der mir rein gar nichts sagt. Er wirkt zwar offener und kommunikativer aber dennoch immer noch so schrecklich verschlossen, wenn es sich um Dinge handelt, die mit meinem Fall oder einem verwandten Themenbereich zu tun haben.
Inzwischen stecken meine Knöchel im Wasser aber ich laufe noch tiefer in den Lake hinein. Bei der Kälte zucke ich zusammen, obwohl ich noch von früher dran gewöhnt sein müsste. Dieser See ist eben kein stilles Gewässer und war deswegen niemals wirklich warm – das haben Iye und ich regelmäßig getestet, was uns schon frühzeitig zu perfekten Schwimmern machte.
Mit zusammengebissenen Zähnen gehe ich tiefer hinein, bis mein Oberkörper bedeckt ist. Erst dann mache ich Zug um Zug und schwimme in die leichte Strömung hinein. Die ausladende Bewegung sticht am Schulterblatt aber eher unterschwellig. Den Schmerz ignoriere ich inzwischen ganz gut und bin weg von den Schmerzmitteln. Was gut tut ist die Kälte des Wassers, die den Stich bei jedem kräftigen Schwimmzug zusätzlich minimiert. Ich hole tief Luft und tauche dann unter, mache große Vorwärtsbewegungen mit den Amen und schlage mit meinen Beinen.
Tief nach Luft ringend, tauche ich wieder auf und schwimme weiter über der Oberfläche. Das ist ein Moment, der mich an zu Hause erinnert – nur musste ich dort gegen weitaus mehr Strömung ankämpfen als jetzt.
Allmählich gewöhne ich mich an die Temperatur und es wirkt angenehm. Ab und zu streift mich ein Fisch oder irgendeine Seepflanze. Als ich mich nach hinten umschaue, sehe ich wie weit ich bereits geschwommen bin und dass ich mittlerweile im größeren Strömungsbereich gelandet bin. Meine Schulter hat doch noch mehr Kraft als ich dachte. Ich bewege mich die Strecke wieder zurück und will austesten, wie viele Male ich es hin und her schaffe. Das könnte ein besseres Training sein, als die Trockenübungen, die ich sonst mache. Immerhin bin ich darauf angewiesen, dass mein Arm wieder vollständig funktionieren muss. Sam geht mehrmals die Woche für eine Stunde im Wald joggen, was ich mit meinem Bein leider nicht mitmachen kann, daher wäre das eine gute Alternative.
Gegen das, was ich mir eigentlich vor wenigen Sekunden vorgenommen hatte, schaffe ich nur etwa die Hälfte der Rücktour, als ich Reifen- und Motorengeräusche höre. Aus der Gewohnheit heraus verstecke ich mich und tauche so weit unter Wasser, dass nur noch meine Augen über der Oberfläche sind. Erst dann fällt mir auf, dass Sam's Pick-up gar nicht in der Einfahrt steht und auch, dass die Haustür gar nicht abgeschlossen war. Das ist ungewöhnlich, denn so lange war er bisher noch nie weg.
Der Wagen kommt näher und ich sehe bereits die vertraute Form und schließlich auch das Kennzeichen von ihm. Zum Glück, denn langsam muss ich wieder Luft holen. Ich setze mich wieder in Bewegung und will weiter in seine Nähe schwimmen, als er auch schon einparkt und herausspringt.
>Sam? Bist du etwa so lange weg gewesen? < rufe ich ihm nach, weil ich noch nicht am Ufer bin. Erschrocken dreht er sich zu mir um, da er ganz offensichtlich nicht mit mir gerechnet hat. Doch als ich ihn sehe, stockt mir der Atem. >Was ist passiert? Du blutest an der Stirn. < keuche ich und schwimme schneller in seine Richtung.
>Schon gut. Das ist nicht schlimm. < winkt er ab und verschwindet schleunigst im Haus. Soll das etwa ein Scherz sein? Das an seiner Stirn sah aus wie eine Platzwunde. Vor einer knappen Woche hatte er einen verbundenen Schnitt am Handgelenk. Jetzt reicht es, ich lasse mich nicht für dumm verkaufen. Mit schnellen Bewegungen kehre ich zurück zum Ufer, schlinge mir eilig das Handtuch um den Körper und renne zur Tür hinein.
Er ist noch dabei, sich seine Jacke auszuziehen und somit erwische ich ihn im Flur.
>Hör auf das so runterzuspielen. < meckere ich und erkenne, dass die Wunde schon eine Weile lang blutet. Die Ränder sind bereits geronnen und getrocknet, während das Blut aus der Mitte der Wunde immer noch an seiner Wange entlang auf sein Shirt tropft. Ohne zu zögern, laufe ich zum Bad, mache mir schnell die Füße trocken und hole einen nassen Waschlappen.
Als ich zurückkehre, ist er nicht mehr dort wo er eben noch stand. Genervt durchsuche ich die untere Etage nach ihm, laufe wieder zurück in den Flur und die Treppe hoch.
>Sam? <
>Mach dir keine Sorgen. Mir geht es gut. <
Seine Stimme kam nicht aus dem oberen Bad wie ich es erst dachte, sondern aus dem Zimmer, in dem ich bisher noch nie war und vor dem ich bisher gehörigen Respekt hatte, es zu betreten – warum auch immer.
Ich drücke die angelehnte Tür auf und sehe, wie wahnsinnig groß es hier oben ist. Keine Ahnung was ich erwartet hatte aber die eine Hälfte ist ein ganz normales Zimmer, das gemütlich eingerichtet ist. Auf der anderen Hälfte hat er ein paar Fitnessgeräte zu stehen und ein paar Hanteln zu liegen. Kein Wunder, dass er so trainiert aussieht. An zwei Seiten sind Dachschrägen mit großzügigen Fenstern und somit nimmt sein Zimmer fast die gesamte obere Etage ein.
Er sitzt auf seinem Bett und wischt sich mit dem Handrücken übers Gesicht. Das ist das einzige Zimmer im ganzen Haus, in dem ich bisher ein Foto entdecke. Auf einem Schreibtisch steht neben seinem iMac ein gerahmtes Bild von zwei Männern in beiger Armeeuniform. Den einen erkenne ich als Sam, nur viel jünger. Er hat seinen Arm über die Schulter eines anderen Soldaten gelegt. Ich wende meinen Blick ab und knie mich zwischen seine gespreizten Beine hin, um mit dem nassen Tuch über seine verschmierte Wange zu wischen und bleibe dann auf der Wunde, um Druck darauf zu geben.
>Bitte sag mir was passiert ist. < flüstere ich. >Du verschwindest jeden Tag zu einer anderen Uhrzeit aber immer nachts. Manchmal kommst du nach zwei Stunden zurück und manchmal dauert es ewig. Das ist schon das zweite Mal, dass ich es mitbekomme, dass du verletzt zurückkommst. Das ist doch kein normaler Job, den du da erledigst. Bitte rede mit mir. <
>Das ist doch nur ein Kratzer, dadurch bin ich noch lange nicht verletzt. Ich habe mich gestoßen, das ist alles. Es hat nichts mit meinem Job zu tun. <
>Lüge mich nicht an! < zische ich mit zusammengebissenen Zähnen und sehe ihn finster an.
>Hey du kannst ja richtig kratzbürstig werden. < erwidert er auf eine amüsierte Art, die ich gerade in keiner Weise nachvollziehen kann.
>Erzähl mir wie das passiert ist! <
>Das ist gerade der falsche Zeitpunkt. Ich bin wirklich müde und würde jetzt gern etwas schlafen. <
>Es dauert fünf Minuten, um mir das zu erklären. Die Zeit wirst du dir nehmen müssen. <
>Herr Gott, du bist aber auch hartnäckig. Ich bin wirklich müde, weil ich heute zwei Aufträge auf einmal abarbeiten musste. Im Übrigen bist du heute Nacht endlich mit Sophia verabredet. Es ging leider nicht vorher aber heute wird in der Abteilung nichts los sein, weil sämtliche Geräte in dem Departement eine Wartung bekommen. Diese Chance müsst ihr ausnutzen, weil heute niemand außer dem Wachpersonal im Dienst ist. Sophia hat mir versprochen, dich heil dort hinzubringen, alles mit dir durchzuziehen und dich wieder herzubringen. Es wird Zeit, dass du deinen versprochenen Pass bekommst. <
>Netter Ablenkungsversuch. Das erklärt alles nicht die Platzwunde an deiner Stirn. <
Genervt seufzt er und schließt für einen Moment die Augen. Seine lockere Haltung ändert sich und sein Ton wird murrender.
>Ich glaube, du hast mal wieder zu viel Fantasie. Es war nichts Nennenswertes – eigentlich ist es sogar recht peinlich. Ich bin im Dunkeln gegen irgendwas gerannt. Ich hoffe, ich zerstöre dir damit nicht komplett deine irren Gedanken. <
>Das glaube ich dir aber nicht. <
>Dann lass es und schwimm wieder eine Runde oder sowas. Ich muss wirklich schlafen und habe keine Lust mich vor dir zu rechtfertigen. <
Ich bin so sauer auf ihn, dass mir die Worte fehlen. Dass man sich auf Arbeit mal verletzen kann, ist ja glaubhaft aber nicht dieser Mist, den er mir erzählen will. Ich kann mir zusammenreimen, dass er nicht einfach gegen etwas gelaufen ist.
>Das nennt man Besorgnis – hast du davon schon mal irgendwas gehört? Weshalb vertraust du mir nicht? <
Ich lasse meine Hand von seinem Gesicht sinken. Daraufhin starrt er mich verständnislos an.
>Wie kommst du denn darauf? <
Ich stehe auf, werfe ihm den Waschlappen zu und erwidere mit saurer Miene:
>Ach vergiss es einfach. Ich dachte, wir wären so langsam über diesen Punkt hinaus. Offenbar habe ich mich getäuscht. <
Damit ich körperlich nicht mehr preisgebe als ich will, zupfe ich mir das Handtuch zurecht und laufe zur Tür. Ich höre ihn seufzen aber er lässt mich gehen. Womöglich ist er sogar zufrieden, dass ich endlich verschwinde. Enttäuscht und sauer zugleich, schließe ich die Tür hinter mir und laufe nach unten.
Um die Reste des unsauberen Lakes von mir abzuspülen, steige ich schnell in die Dusche hinein und starre unter dem anhaltenden Wasserstrahl stur auf die Wandfliesen, die anhand meines bösen Blickes schon dutzend Risse bekommen müssten.
Um danach den Kopf etwas freizubekommen und Sam seinen Schlaf nachholen zu lassen, laufe ich draußen herum. Obwohl ich seit fast zwei Wochen bei ihm sein müsste – oder ist es sogar schon länger? …habe ich den hinteren Bereich seines Grundstückes genauso wenig zu Gesicht bekommen, wie bisher sein Zimmer. Am ersten Tag, an dem ich nach draußen konnte, sagte Sam, dass er all den Platz benötigen würde, den er hier hat. Er hat hinter seinem Haus eine große Garage zu stehen, in der allerdings nie sein Pick-up ist. Noch ein Stück dahinter, hat er ein langgezogenes Nebengelass, in dem ich ebenfalls noch nie war. Ich gehe dorthin und schaue mir die Tür an. Sie ist mit einem Zahlenschloss verriegelt und mir ist klar, dass ich Sam zu wenig kenne, um es zu knacken, aber das heißt nicht, dass ich es nicht schaffen könnte. Immerhin ist es nur ein Vorhängeschloss. Bei solchen Dingern funktioniert der Trick mit den Haarklammern tatsächlich und ich könnte … ach was soll das Ganze eigentlich? So langsam habe ich keine Lust mehr auf dieses Theater und auch nicht auf dieses Dahinvegetieren.
Wenn Sophia heute Nacht dafür sorgt, dass ich endlich diesen falschen Pass bekomme, dann kann es mir egal sein was Sam macht. Soll er sich doch zerfetzen lassen, von wem oder was auch immer.
Aber einen kurzen Augenblick später bereue ich meine Gedanken. Sam ist mir nicht egal – immer weniger. Ich würde alles dafür geben, wenn er ehrlich zu mir wäre aber stattdessen ist er immer noch zeitweise dieser mürrische Kerl, der mich belügt, wenn es sich um die schlechten Seiten der Welt dreht.
Eine ganze Weile laufe ich allein draußen herum und gehe so weit neben dem Lake her, wie ich es hier bisher noch nie getan habe. Ich sehe ab und zu ein paar Trampelpfade und Gabelungen aber abgesehen davon nur Wald, Wald und Ewigkeiten nichts als Wald. Vielleicht bin ich in die falsche Richtung gegangen und hier kommt für die nächste Stunde einfach nicht anderes mehr. Als Sam mich nach Maple Hill gefahren hat, sind wir schließlich in die entgegengesetzte Richtung verschwunden und nach einer kurzen Strecke auf der Landstraße, etwas später auf den Highway gekommen.
So langsam fängt mein Unterschenkel an zu schmerzen und ich setze mich einfach auf den Boden gleich neben dem See.
Manchmal hilft es einfach etwas darüber zu reiben und ein paar Mal zu beugen aber im Moment habe ich es nicht eilig. Sam liegt geschätzte drei Meilen weiter blutend in seinem Bett und schläft. Einfach alles kotzt mich seit ein paar Tagen an. Dieses Herumsitzen und Nichtstun, dieses Warten auf Antworten oder Taten und vor allem dieses Herunterspielen von Sam. Ich nehme einen Stein neben mir und werfe ihn ins Wasser. Den nächsten werfe ich mit noch mehr Wut hinein und beim übernächsten glaube ich damit einen Fisch erschlagen zu können.
Das hier ist nicht mein Leben! Ich ertrage es nicht mehr und finde, es ist an der Zeit, endlich etwas zu tun. Ich brauche einen Job, eine Wohnung, eine Zukunft. Irgendwas.
Dass ich heute Abend endlich den Pass bekomme, auf den ich schon die ganze Zeit warte, ist zumindest ein Hoffnungsschimmer.
Trotz des Ziehens in meinem Bein, raffe ich mich wieder auf, zupfe mir Megans Rock zurecht und laufe weiter in die Richtung, in die ich schon die ganze Zeit laufe. Es ist mir egal wie weit der Rückweg ist, ich muss wissen, ob es hier irgendetwas Leben in dieser Wildnis gibt.
Weitere geschätzte zwanzig Minuten meckere ich vor mich hin, bis mir eine alte Frau auf einem Fahrrad entgegenkommt. Aus einem Reflex heraus senke ich den Blick und verstecke mich hinter meinen Haaren. Als sie an mir vorbei ist, sehe ich ihr hinterher. Sie hat zwei gefüllte Tüten aus einem Supermarkt bei sich, also scheine ich langsam auf dem richtigen Weg zu sein. Auch wenn ich eigentlich nicht mal mehr gehen kann, renne ich jetzt, um schneller irgendetwas zu finden.
Mehr als ein paar wenige Minuten muss ich das aber zum Glück gar nicht tun. Der Wald endet endlich und etwas abschüssig geht es runter zu einem Stadtkern. Ich würde dort liebend gern hinuntergehen aber kann ich das riskieren? Was ist wenn mich jemand erkennt? Verdammt, ich hätte das Basecap mitnehmen sollen - inzwischen gehe ich kaum noch ohne das Ding raus. Aber andererseits kann mich keiner mehr erkennen, denn ich sehe für Außenstehende völlig anders aus. Irgendwie habe ich diese Sorge ständig in meinem Kopf und traue mich einfach nicht es auszuprobieren.
Ich lehne mich an einen der letzten Bäume in der vorderen Reihe an und schaue hinunter. Leben könnte ich inmitten einer Stadt so wie dort unten nicht. Aber ich würde wirklich alles dafür geben, meine Bedenken ablegen und dort hinuntergehen zu können, um sie mir anzusehen und für einen Moment wieder unter Leuten zu sein.
Auch wenn ich nicht fassen kann was ich da gerade tue, kehre ich dem Stadtinneren den Rücken zu und versuche keinen Gedanken mehr daran zu verschwenden und auch nicht mehr zurückzusehen.
Ich habe meine Situation zwangsweise akzeptiert und musste die Konsequenzen in Kauf nehmen. Momentan sollte ich es lieber bleibenlassen gesehen zu werden, egal wie ich aussehe.
Ich habe kein Gefühl dafür wie lange ich überhaupt weg war aber es müssen mehrere Stunden gewesen sein, da ich manchmal in die falsche Richtung ging. Der Weg war ziemlich weit und deswegen musste ich ein paar Pausen einlegen. Trotzdem versuche ich den puckernden Schmerz in meinem Bein knallhart von mir fernzuhalten. Ich habe schlichtweg keine Lust mehr das Opfer zu sein.
Die Waldstelle an die ich gelange, kommt mir wieder sehr bekannt vor, denn hier bin ich schließlich am häufigsten. Keine dreihundert Meter weiter steht Sam's Besitztum hinter den Bäumen. Meine Bewegungen werden immer träger und immer langsamer aber schließlich bin ich heilfroh, als ich den Teil seines Daches erkenne und mit jedem weiteren Schritt mehr von seinem Haus erfasse. Zu meiner Verwunderung sehe ich Sam dort am Lake sitzen, wo ich heute Morgen noch baden war. Er wirkt konzentriert und schwer beschäftigt.
Natürlich bemerkt er meine Schritte einige Meter hinter seinem Rücken und dreht sich um.
>Hey wo bist du gewesen? < will er wissen. Ich dachte, er würde sauer sein aber in seiner Stimme höre ich einen Anflug von Besorgnis.
>Ich war einfach spazieren. < schmerzerfüllt laufe ich zum Wasser, streife Megans Ballerinas ab und laufe ins kühle Nass hinein. Zum Glück habe ich einen Rock an, so kann ich bis zum Knie darin stehenbleiben und das Bein kühlen, was sofort den erleichternden Erfolg bringt, den ich erhofft hatte. Ich kann nicht anders und seufze, weil es so guttut.
>Seit wann bist du weg gewesen? <
>Kurz nachdem ich dein Zimmer verlassen habe. <
Er reißt die Augen auf und schaut auf seine Armbanduhr.
>Du warst fast fünf Stunden unterwegs? Bis wohin bist du denn gelaufen? <
>Bis zum Rand der Stadt. Keine Sorge, ich bin nicht hinuntergegangen und niemand hat mich gesehen. < vervollständige ich eilig, bevor er sich zu große Gedanken machen kann.
>Dann hast du offensichtlich einen riesigen Umweg genommen. Du hättest nur bei der ersten Gabelung nach links abbiegen müssen, statt nach rechts weiterzugehen. Auf die Weise hast du den kompletten Wald durchkreuzt. Was hast du denn gesucht? <
>Ich habe überhaupt nichts gesucht. Ich wollte nur wissen, wo ich bin. <
>Du weißt, wo du bist – in Grand Portage. <
Ich verziehe mein Gesicht zu einem falschen Lachen. Zum Teufel noch eins. Ich habe absolut keine Ahnung wo ich genau bin – nur irgendwo in der Wildnis, nicht weit weg von der kanadischen Grenze. So gut sind meine Geografiekenntnisse allerdings auch nicht.
Mein Blick wandert an Sam hoch. Seine Stirn sieht besser aus – jetzt da er die Platzwunde gesäubert und mit kleinen Pflasterstrips zusammengezogen hat. So entspannt wie er auf dem Baumstamm sitzt und irgendetwas von sich hin schnitzt, macht er mich wahnsinnig. Er schaut mich nur einen kurzen Moment an und ist dann wieder total vertieft in die Figur, die er formt. Jeden Tag seitdem ich hier bin, frage ich mich weshalb er so ist, wie er ist. Wenn ich einen Schritt zu viel auf ihn zugehe, dann geht er einen zurück. Das Gleiche ist es, wenn er eigenartigerweise sogar damit beginnt mir etwas anzuvertrauen oder sogar mal charmant zu mir ist, selbst dann macht er zwei Minuten später wieder einen Rückzieher. Seine ganze Person ist manchmal derart widersprüchlich. Er redet niemals über seinen Job, niemals über seine Familie und kaum über seine Freunde. Hätten mir Sophia und Dimitrij nicht helfen müssen, dann bin ich mir sicher, dass er auch von ihnen nichts erzählt hätte.
Ich wende meinen Blick von ihm ab und laufe weiter ins Wasser hinein, bis es an meinem Oberschenkel ist. Meine Hände ahmen im Wasser die Bewegung der Strömung nach.
>Ich ertrage das einfach nicht mehr. < flüstere ich kraftlos.
>Was hast du gesagt? <
Ich drehe mich wieder zu ihm um und bemerke, dass er mich so eigenartig ansieht.
>Ich sagte, dass ich das nicht mehr ertrage. Ich komme mir vor wie in einem Käfig. Du redest nicht mit mir, du lässt mich in der Regel nicht weit weg und du lässt mich nicht mal mit Meg reden. Weshalb machst du das? <
Seine Gesichtszüge werden hart. Kurz darauf macht er mit seiner Beschäftigung weiter und tut so, als wäre ich nicht da. Langsam aber sicher machen mir die letzten Tage zu schaffen. Seitdem ich mich von Megan verabschieden musste, ging es mir nur einen Tag danach gut. Kurz darauf wurde es mit jedem Tag schlimmer und schlimmer und ich fühlte mich einsamer und einsamer.
>Hör zu Kleines. < beginnt er schließlich doch. >Glaube nicht, dass ich das nicht merke. Ich hatte niemals vor, deine Freundin mit einzuspannen. Ich habe ihr das nur so gesagt, dass sie die Augen offen halten soll, damit sie das Gefühl hat, sie könnte dir mit irgendetwas helfen. Für alles, was in deiner Heimatstadt abläuft, brauche ich sie nicht – das bekomme ich allein raus. Aber was deinen Ausgang betrifft, sperre ich dich hier nicht ein. <
>Stimmt, der Wald sperrt mich ein. < schnaube ich.
>Das wird er nicht mehr. Wir lassen heute deinen Pass anfertigen. <
>Ich will keinen falschen Pass. <
>Was willst du dann? <
>Ich will nach Hause. < beteure ich und meine Stimme bricht weg.
>Niemand kann dich hier einmauern, wenn du es nicht willst - am wenigsten ich. Aber niemand kann dich beschützen, wenn du nach Duluth zurückkehrst. <
Er tut es schon wieder und blickt mich mit diesen harten Gesichtszügen an, die nachdenklich, kontrolliert aber auch irgendwie verletzt wirken.
Meine Beine laufen vorwärts auf Sam zu aber ich gehe nicht ganz aus dem Wasser heraus.
>Ich kann das nicht mehr. < hauche ich.
Sam nickt vorsichtig und senkt den Blick, um das Holzstück zur Seite zu legen.
Mit den Händen in den Hosentaschen vergraben, kommt er zu mir an den Rand des Lakes und steht mir gegenüber.
>Mir ist klar, dass von dir sehr viel abverlangt wurde. Aber du machst das besser, als ich es in den ersten Tagen vermutet hätte. <
>Was mache ich besser? Mich hier verstecken, die Hände in den Schoß legen und mich aushalten lassen von einem Mann, der kaum mal lächelt und mich andauernd anlügt? <
Er seufzt und fährt sich mit seiner Hand durch die kurzen Haare.
>Sag mir was ich tun soll. < bittet er mich mit flehendem Blick.
>Mir die Wahrheit sagen! <
>Ich wüsste nicht mal wo ich anfangen sollte. <
>Oh großartig. < lache ich auf. >Das bedeutet, nichts von allem, was du mir erzählt hast, ist wahr. <
>Nein. Hör auf das zu sagen! <
Ich schweige, aber nicht, weil er es gesagt hat. Irgendwie haben wir zwei uns festgefahren. Alles, was er gesagt hat, lasse ich noch einmal Revue passieren. In Gedanken versuche ich mir einen weiteren Plan zusammenzuschmieden.
>Wenn ich meinen Pass habe, dann kann ich überall hin? Nur nicht nach Duluth? < frage ich vorsichtig. Er nickt und atmet aus, als würde ihm seine Antwort schwerfallen.
>Du solltest fürs Erste in der Region an der kanadischen Grenze bleiben und auf keinen Fall über die Grenzlinie aber prinzipiell – solange du in den Vereinigten Staaten bleibst, bist du sicher. Wenn du das willst, dann bringe ich dich dorthin, wo du wieder von vorn beginnen willst. <
>Aber du willst das nicht. < mutmaße ich anhand seines Blickes und seines ungewohnten Tones.
>Nein. <
Dieses Mal habe ich keinen Zweifel daran, dass er mir die Wahrheit sagt.
Aus was soll ich Sam zusammensetzen? Er sagte zwar vor einer Weile, dass er mich gern bei sich hat, aber ich nahm an, weil er auch die Vorzüge daran erkannte. Wie meinte er das aber vor ein paar Sekunden? Ehe ich ihn das fragen kann, setzt er erneut an:
>Das Chaos ist weit von dir weg. Ich werde dich nicht aufhalten, wenn du gehen willst aber ich lasse nicht zu, dass du ihnen unbedacht in die Arme läufst. Dafür war es ein zu harter Kampf bisher. Ich kann verstehen, dass du allmählich ins Zweifeln gerätst und nach Duluth willst, aber ich verspreche dir, dass ich nahe dran bin und diese Kerle fassen werden. Mir wäre wohler bei dem Gedanken, wenn du erst dann gehst, wenn ich sie erwischt habe oder mir zumindest eine andere Lösung eingefallen ist. <
Er nimmt sich meine Hand, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
>Wie nah? < flüstere ich.
>Nah. Aber gib mir noch etwas Zeit. < Ich nicke. Was soll ich auch anderes tun? Dann schließt er mich in seine Arme und ich keuche auf. >Es tut mir leid, dass ich vorhin so ruppig zu dir war. Es kommt sicherlich der Tag, an dem ich deine Fragen beantworten werde. <
>Wenn es jemals so weit ist, dann kann es sein, dass sie mich dann gar nicht mehr interessieren oder ich längst weg bin. <
>Wer weiß. <
Er löst sich wieder von mir und läuft zurück zu dem Baumstumpf, um mit ernstem Blick weiterzuschnitzen. Diesen Blick hasse ich an ihm inzwischen so sehr, dass ich ihn nicht ansehen kann. So sollte Sam nicht aussehen – absolut nicht. Eigentlich wollte ich mich gar nicht mit ihm streiten aber innerlich brodelte es so sehr in mir, dass diese Bombe mal platzen musste. Auch wenn immer noch nicht alles gut ist, geht es mir trotzdem emotional etwas besser, weil ich ihm das mal ins Gesicht sagen konnte. Er sieht allerdings kein bisschen so aus, als wenn er sich besser fühlen würde – im Gegenteil, jetzt wirkt er noch nachdenklicher. Ich will ihn glücklich und lachend sehen, so wie es selten aufkeimt. Genau das fehlt mir an ihm.
Mehrere Tage ziehen ins Land. Ich habe vergessen welchen Wochentag wir haben, vergessen zum wievielten Mal ich die Bücher aus Langeweile gelesen habe, vergessen wie oft ich Sam nach Meg gefragt habe, ohne eine Antwort zu erhalten.
An diesem Morgen wache ich auf und habe zum ersten Mal keinen Albtraum gehabt. Zumindest keinen, an den ich mich erinnere oder der mich schweißgebadet aufwachen ließ. Meine Wunden heilen auch immer besser und Sam konnte mir gestern die Fäden entfernen. Irgendwann sind es einfach nur noch Narben, die mir einmal vor langer Zeit zugefügt wurden. Und irgendwann verschwimmt vielleicht sogar das Gesicht von denen in meinem Kopf, die dafür verantwortlich sind.
Ich ziehe die Jalousie hoch und sehe wie sich die Sonne langsam durchkämpft. Der Lake wirkt relativ ruhig und einladend.
Sam ist letzte Nacht erst gegen 2 Uhr zur Arbeit gefahren und sicherlich erst vor ein oder zwei Stunden zurückgekehrt. Dieses Mal bin ich sogar ins Bett gegangen, noch bevor er gegangen war und ich bekam lediglich schlaftrunken mit, wie er den Motor startete.
Ich tapse leise auf den Flur raus und verschwinde für kurze Zeit im Badezimmer. Nur mit einem Handtuch bekleidet, komme ich wieder heraus und gehe nach draußen zum Lake. Die kleinen Steine, Zweige und Nadeln der Bäume piken an meinen Füßen aber dennoch laufe ich auf Zehenspitzen bis zu der Bucht, an der wir fast jeden Tag sind.
Das Handtuch werfe ich auf dem liegenden Baumstamm ab und steige nackt in das Wasser hinein. Dieses Verlangen hier drin zu schwimmen, habe ich schon seit Tagen gehabt aber erst heute kann ich mich wirklich dazu aufraffen, mich zu bewegen. Allmählich werde ich hier von Tag zu Tag depressiver, weil ich hier feststecke, ohne dass in den letzten Tagen etwas Nennenswertes passiert ist, das mir irgendwie helfen könnte. Es gibt keine guten Nachrichten von Sophia oder von Dimitrij – von Sam ganz zu schweigen, der mir rein gar nichts sagt. Er wirkt zwar offener und kommunikativer aber dennoch immer noch so schrecklich verschlossen, wenn es sich um Dinge handelt, die mit meinem Fall oder einem verwandten Themenbereich zu tun haben.
Inzwischen stecken meine Knöchel im Wasser aber ich laufe noch tiefer in den Lake hinein. Bei der Kälte zucke ich zusammen, obwohl ich noch von früher dran gewöhnt sein müsste. Dieser See ist eben kein stilles Gewässer und war deswegen niemals wirklich warm – das haben Iye und ich regelmäßig getestet, was uns schon frühzeitig zu perfekten Schwimmern machte.
Mit zusammengebissenen Zähnen gehe ich tiefer hinein, bis mein Oberkörper bedeckt ist. Erst dann mache ich Zug um Zug und schwimme in die leichte Strömung hinein. Die ausladende Bewegung sticht am Schulterblatt aber eher unterschwellig. Den Schmerz ignoriere ich inzwischen ganz gut und bin weg von den Schmerzmitteln. Was gut tut ist die Kälte des Wassers, die den Stich bei jedem kräftigen Schwimmzug zusätzlich minimiert. Ich hole tief Luft und tauche dann unter, mache große Vorwärtsbewegungen mit den Amen und schlage mit meinen Beinen.
Tief nach Luft ringend, tauche ich wieder auf und schwimme weiter über der Oberfläche. Das ist ein Moment, der mich an zu Hause erinnert – nur musste ich dort gegen weitaus mehr Strömung ankämpfen als jetzt.
Allmählich gewöhne ich mich an die Temperatur und es wirkt angenehm. Ab und zu streift mich ein Fisch oder irgendeine Seepflanze. Als ich mich nach hinten umschaue, sehe ich wie weit ich bereits geschwommen bin und dass ich mittlerweile im größeren Strömungsbereich gelandet bin. Meine Schulter hat doch noch mehr Kraft als ich dachte. Ich bewege mich die Strecke wieder zurück und will austesten, wie viele Male ich es hin und her schaffe. Das könnte ein besseres Training sein, als die Trockenübungen, die ich sonst mache. Immerhin bin ich darauf angewiesen, dass mein Arm wieder vollständig funktionieren muss. Sam geht mehrmals die Woche für eine Stunde im Wald joggen, was ich mit meinem Bein leider nicht mitmachen kann, daher wäre das eine gute Alternative.
Gegen das, was ich mir eigentlich vor wenigen Sekunden vorgenommen hatte, schaffe ich nur etwa die Hälfte der Rücktour, als ich Reifen- und Motorengeräusche höre. Aus der Gewohnheit heraus verstecke ich mich und tauche so weit unter Wasser, dass nur noch meine Augen über der Oberfläche sind. Erst dann fällt mir auf, dass Sam's Pick-up gar nicht in der Einfahrt steht und auch, dass die Haustür gar nicht abgeschlossen war. Das ist ungewöhnlich, denn so lange war er bisher noch nie weg.
Der Wagen kommt näher und ich sehe bereits die vertraute Form und schließlich auch das Kennzeichen von ihm. Zum Glück, denn langsam muss ich wieder Luft holen. Ich setze mich wieder in Bewegung und will weiter in seine Nähe schwimmen, als er auch schon einparkt und herausspringt.
>Sam? Bist du etwa so lange weg gewesen? < rufe ich ihm nach, weil ich noch nicht am Ufer bin. Erschrocken dreht er sich zu mir um, da er ganz offensichtlich nicht mit mir gerechnet hat. Doch als ich ihn sehe, stockt mir der Atem. >Was ist passiert? Du blutest an der Stirn. < keuche ich und schwimme schneller in seine Richtung.
>Schon gut. Das ist nicht schlimm. < winkt er ab und verschwindet schleunigst im Haus. Soll das etwa ein Scherz sein? Das an seiner Stirn sah aus wie eine Platzwunde. Vor einer knappen Woche hatte er einen verbundenen Schnitt am Handgelenk. Jetzt reicht es, ich lasse mich nicht für dumm verkaufen. Mit schnellen Bewegungen kehre ich zurück zum Ufer, schlinge mir eilig das Handtuch um den Körper und renne zur Tür hinein.
Er ist noch dabei, sich seine Jacke auszuziehen und somit erwische ich ihn im Flur.
>Hör auf das so runterzuspielen. < meckere ich und erkenne, dass die Wunde schon eine Weile lang blutet. Die Ränder sind bereits geronnen und getrocknet, während das Blut aus der Mitte der Wunde immer noch an seiner Wange entlang auf sein Shirt tropft. Ohne zu zögern, laufe ich zum Bad, mache mir schnell die Füße trocken und hole einen nassen Waschlappen.
Als ich zurückkehre, ist er nicht mehr dort wo er eben noch stand. Genervt durchsuche ich die untere Etage nach ihm, laufe wieder zurück in den Flur und die Treppe hoch.
>Sam? <
>Mach dir keine Sorgen. Mir geht es gut. <
Seine Stimme kam nicht aus dem oberen Bad wie ich es erst dachte, sondern aus dem Zimmer, in dem ich bisher noch nie war und vor dem ich bisher gehörigen Respekt hatte, es zu betreten – warum auch immer.
Ich drücke die angelehnte Tür auf und sehe, wie wahnsinnig groß es hier oben ist. Keine Ahnung was ich erwartet hatte aber die eine Hälfte ist ein ganz normales Zimmer, das gemütlich eingerichtet ist. Auf der anderen Hälfte hat er ein paar Fitnessgeräte zu stehen und ein paar Hanteln zu liegen. Kein Wunder, dass er so trainiert aussieht. An zwei Seiten sind Dachschrägen mit großzügigen Fenstern und somit nimmt sein Zimmer fast die gesamte obere Etage ein.
Er sitzt auf seinem Bett und wischt sich mit dem Handrücken übers Gesicht. Das ist das einzige Zimmer im ganzen Haus, in dem ich bisher ein Foto entdecke. Auf einem Schreibtisch steht neben seinem iMac ein gerahmtes Bild von zwei Männern in beiger Armeeuniform. Den einen erkenne ich als Sam, nur viel jünger. Er hat seinen Arm über die Schulter eines anderen Soldaten gelegt. Ich wende meinen Blick ab und knie mich zwischen seine gespreizten Beine hin, um mit dem nassen Tuch über seine verschmierte Wange zu wischen und bleibe dann auf der Wunde, um Druck darauf zu geben.
>Bitte sag mir was passiert ist. < flüstere ich. >Du verschwindest jeden Tag zu einer anderen Uhrzeit aber immer nachts. Manchmal kommst du nach zwei Stunden zurück und manchmal dauert es ewig. Das ist schon das zweite Mal, dass ich es mitbekomme, dass du verletzt zurückkommst. Das ist doch kein normaler Job, den du da erledigst. Bitte rede mit mir. <
>Das ist doch nur ein Kratzer, dadurch bin ich noch lange nicht verletzt. Ich habe mich gestoßen, das ist alles. Es hat nichts mit meinem Job zu tun. <
>Lüge mich nicht an! < zische ich mit zusammengebissenen Zähnen und sehe ihn finster an.
>Hey du kannst ja richtig kratzbürstig werden. < erwidert er auf eine amüsierte Art, die ich gerade in keiner Weise nachvollziehen kann.
>Erzähl mir wie das passiert ist! <
>Das ist gerade der falsche Zeitpunkt. Ich bin wirklich müde und würde jetzt gern etwas schlafen. <
>Es dauert fünf Minuten, um mir das zu erklären. Die Zeit wirst du dir nehmen müssen. <
>Herr Gott, du bist aber auch hartnäckig. Ich bin wirklich müde, weil ich heute zwei Aufträge auf einmal abarbeiten musste. Im Übrigen bist du heute Nacht endlich mit Sophia verabredet. Es ging leider nicht vorher aber heute wird in der Abteilung nichts los sein, weil sämtliche Geräte in dem Departement eine Wartung bekommen. Diese Chance müsst ihr ausnutzen, weil heute niemand außer dem Wachpersonal im Dienst ist. Sophia hat mir versprochen, dich heil dort hinzubringen, alles mit dir durchzuziehen und dich wieder herzubringen. Es wird Zeit, dass du deinen versprochenen Pass bekommst. <
>Netter Ablenkungsversuch. Das erklärt alles nicht die Platzwunde an deiner Stirn. <
Genervt seufzt er und schließt für einen Moment die Augen. Seine lockere Haltung ändert sich und sein Ton wird murrender.
>Ich glaube, du hast mal wieder zu viel Fantasie. Es war nichts Nennenswertes – eigentlich ist es sogar recht peinlich. Ich bin im Dunkeln gegen irgendwas gerannt. Ich hoffe, ich zerstöre dir damit nicht komplett deine irren Gedanken. <
>Das glaube ich dir aber nicht. <
>Dann lass es und schwimm wieder eine Runde oder sowas. Ich muss wirklich schlafen und habe keine Lust mich vor dir zu rechtfertigen. <
Ich bin so sauer auf ihn, dass mir die Worte fehlen. Dass man sich auf Arbeit mal verletzen kann, ist ja glaubhaft aber nicht dieser Mist, den er mir erzählen will. Ich kann mir zusammenreimen, dass er nicht einfach gegen etwas gelaufen ist.
>Das nennt man Besorgnis – hast du davon schon mal irgendwas gehört? Weshalb vertraust du mir nicht? <
Ich lasse meine Hand von seinem Gesicht sinken. Daraufhin starrt er mich verständnislos an.
>Wie kommst du denn darauf? <
Ich stehe auf, werfe ihm den Waschlappen zu und erwidere mit saurer Miene:
>Ach vergiss es einfach. Ich dachte, wir wären so langsam über diesen Punkt hinaus. Offenbar habe ich mich getäuscht. <
Damit ich körperlich nicht mehr preisgebe als ich will, zupfe ich mir das Handtuch zurecht und laufe zur Tür. Ich höre ihn seufzen aber er lässt mich gehen. Womöglich ist er sogar zufrieden, dass ich endlich verschwinde. Enttäuscht und sauer zugleich, schließe ich die Tür hinter mir und laufe nach unten.
Um die Reste des unsauberen Lakes von mir abzuspülen, steige ich schnell in die Dusche hinein und starre unter dem anhaltenden Wasserstrahl stur auf die Wandfliesen, die anhand meines bösen Blickes schon dutzend Risse bekommen müssten.
Um danach den Kopf etwas freizubekommen und Sam seinen Schlaf nachholen zu lassen, laufe ich draußen herum. Obwohl ich seit fast zwei Wochen bei ihm sein müsste – oder ist es sogar schon länger? …habe ich den hinteren Bereich seines Grundstückes genauso wenig zu Gesicht bekommen, wie bisher sein Zimmer. Am ersten Tag, an dem ich nach draußen konnte, sagte Sam, dass er all den Platz benötigen würde, den er hier hat. Er hat hinter seinem Haus eine große Garage zu stehen, in der allerdings nie sein Pick-up ist. Noch ein Stück dahinter, hat er ein langgezogenes Nebengelass, in dem ich ebenfalls noch nie war. Ich gehe dorthin und schaue mir die Tür an. Sie ist mit einem Zahlenschloss verriegelt und mir ist klar, dass ich Sam zu wenig kenne, um es zu knacken, aber das heißt nicht, dass ich es nicht schaffen könnte. Immerhin ist es nur ein Vorhängeschloss. Bei solchen Dingern funktioniert der Trick mit den Haarklammern tatsächlich und ich könnte … ach was soll das Ganze eigentlich? So langsam habe ich keine Lust mehr auf dieses Theater und auch nicht auf dieses Dahinvegetieren.
Wenn Sophia heute Nacht dafür sorgt, dass ich endlich diesen falschen Pass bekomme, dann kann es mir egal sein was Sam macht. Soll er sich doch zerfetzen lassen, von wem oder was auch immer.
Aber einen kurzen Augenblick später bereue ich meine Gedanken. Sam ist mir nicht egal – immer weniger. Ich würde alles dafür geben, wenn er ehrlich zu mir wäre aber stattdessen ist er immer noch zeitweise dieser mürrische Kerl, der mich belügt, wenn es sich um die schlechten Seiten der Welt dreht.
Eine ganze Weile laufe ich allein draußen herum und gehe so weit neben dem Lake her, wie ich es hier bisher noch nie getan habe. Ich sehe ab und zu ein paar Trampelpfade und Gabelungen aber abgesehen davon nur Wald, Wald und Ewigkeiten nichts als Wald. Vielleicht bin ich in die falsche Richtung gegangen und hier kommt für die nächste Stunde einfach nicht anderes mehr. Als Sam mich nach Maple Hill gefahren hat, sind wir schließlich in die entgegengesetzte Richtung verschwunden und nach einer kurzen Strecke auf der Landstraße, etwas später auf den Highway gekommen.
So langsam fängt mein Unterschenkel an zu schmerzen und ich setze mich einfach auf den Boden gleich neben dem See.
Manchmal hilft es einfach etwas darüber zu reiben und ein paar Mal zu beugen aber im Moment habe ich es nicht eilig. Sam liegt geschätzte drei Meilen weiter blutend in seinem Bett und schläft. Einfach alles kotzt mich seit ein paar Tagen an. Dieses Herumsitzen und Nichtstun, dieses Warten auf Antworten oder Taten und vor allem dieses Herunterspielen von Sam. Ich nehme einen Stein neben mir und werfe ihn ins Wasser. Den nächsten werfe ich mit noch mehr Wut hinein und beim übernächsten glaube ich damit einen Fisch erschlagen zu können.
Das hier ist nicht mein Leben! Ich ertrage es nicht mehr und finde, es ist an der Zeit, endlich etwas zu tun. Ich brauche einen Job, eine Wohnung, eine Zukunft. Irgendwas.
Dass ich heute Abend endlich den Pass bekomme, auf den ich schon die ganze Zeit warte, ist zumindest ein Hoffnungsschimmer.
Trotz des Ziehens in meinem Bein, raffe ich mich wieder auf, zupfe mir Megans Rock zurecht und laufe weiter in die Richtung, in die ich schon die ganze Zeit laufe. Es ist mir egal wie weit der Rückweg ist, ich muss wissen, ob es hier irgendetwas Leben in dieser Wildnis gibt.
Weitere geschätzte zwanzig Minuten meckere ich vor mich hin, bis mir eine alte Frau auf einem Fahrrad entgegenkommt. Aus einem Reflex heraus senke ich den Blick und verstecke mich hinter meinen Haaren. Als sie an mir vorbei ist, sehe ich ihr hinterher. Sie hat zwei gefüllte Tüten aus einem Supermarkt bei sich, also scheine ich langsam auf dem richtigen Weg zu sein. Auch wenn ich eigentlich nicht mal mehr gehen kann, renne ich jetzt, um schneller irgendetwas zu finden.
Mehr als ein paar wenige Minuten muss ich das aber zum Glück gar nicht tun. Der Wald endet endlich und etwas abschüssig geht es runter zu einem Stadtkern. Ich würde dort liebend gern hinuntergehen aber kann ich das riskieren? Was ist wenn mich jemand erkennt? Verdammt, ich hätte das Basecap mitnehmen sollen - inzwischen gehe ich kaum noch ohne das Ding raus. Aber andererseits kann mich keiner mehr erkennen, denn ich sehe für Außenstehende völlig anders aus. Irgendwie habe ich diese Sorge ständig in meinem Kopf und traue mich einfach nicht es auszuprobieren.
Ich lehne mich an einen der letzten Bäume in der vorderen Reihe an und schaue hinunter. Leben könnte ich inmitten einer Stadt so wie dort unten nicht. Aber ich würde wirklich alles dafür geben, meine Bedenken ablegen und dort hinuntergehen zu können, um sie mir anzusehen und für einen Moment wieder unter Leuten zu sein.
Auch wenn ich nicht fassen kann was ich da gerade tue, kehre ich dem Stadtinneren den Rücken zu und versuche keinen Gedanken mehr daran zu verschwenden und auch nicht mehr zurückzusehen.
Ich habe meine Situation zwangsweise akzeptiert und musste die Konsequenzen in Kauf nehmen. Momentan sollte ich es lieber bleibenlassen gesehen zu werden, egal wie ich aussehe.
Ich habe kein Gefühl dafür wie lange ich überhaupt weg war aber es müssen mehrere Stunden gewesen sein, da ich manchmal in die falsche Richtung ging. Der Weg war ziemlich weit und deswegen musste ich ein paar Pausen einlegen. Trotzdem versuche ich den puckernden Schmerz in meinem Bein knallhart von mir fernzuhalten. Ich habe schlichtweg keine Lust mehr das Opfer zu sein.
Die Waldstelle an die ich gelange, kommt mir wieder sehr bekannt vor, denn hier bin ich schließlich am häufigsten. Keine dreihundert Meter weiter steht Sam's Besitztum hinter den Bäumen. Meine Bewegungen werden immer träger und immer langsamer aber schließlich bin ich heilfroh, als ich den Teil seines Daches erkenne und mit jedem weiteren Schritt mehr von seinem Haus erfasse. Zu meiner Verwunderung sehe ich Sam dort am Lake sitzen, wo ich heute Morgen noch baden war. Er wirkt konzentriert und schwer beschäftigt.
Natürlich bemerkt er meine Schritte einige Meter hinter seinem Rücken und dreht sich um.
>Hey wo bist du gewesen? < will er wissen. Ich dachte, er würde sauer sein aber in seiner Stimme höre ich einen Anflug von Besorgnis.
>Ich war einfach spazieren. < schmerzerfüllt laufe ich zum Wasser, streife Megans Ballerinas ab und laufe ins kühle Nass hinein. Zum Glück habe ich einen Rock an, so kann ich bis zum Knie darin stehenbleiben und das Bein kühlen, was sofort den erleichternden Erfolg bringt, den ich erhofft hatte. Ich kann nicht anders und seufze, weil es so guttut.
>Seit wann bist du weg gewesen? <
>Kurz nachdem ich dein Zimmer verlassen habe. <
Er reißt die Augen auf und schaut auf seine Armbanduhr.
>Du warst fast fünf Stunden unterwegs? Bis wohin bist du denn gelaufen? <
>Bis zum Rand der Stadt. Keine Sorge, ich bin nicht hinuntergegangen und niemand hat mich gesehen. < vervollständige ich eilig, bevor er sich zu große Gedanken machen kann.
>Dann hast du offensichtlich einen riesigen Umweg genommen. Du hättest nur bei der ersten Gabelung nach links abbiegen müssen, statt nach rechts weiterzugehen. Auf die Weise hast du den kompletten Wald durchkreuzt. Was hast du denn gesucht? <
>Ich habe überhaupt nichts gesucht. Ich wollte nur wissen, wo ich bin. <
>Du weißt, wo du bist – in Grand Portage. <
Ich verziehe mein Gesicht zu einem falschen Lachen. Zum Teufel noch eins. Ich habe absolut keine Ahnung wo ich genau bin – nur irgendwo in der Wildnis, nicht weit weg von der kanadischen Grenze. So gut sind meine Geografiekenntnisse allerdings auch nicht.
Mein Blick wandert an Sam hoch. Seine Stirn sieht besser aus – jetzt da er die Platzwunde gesäubert und mit kleinen Pflasterstrips zusammengezogen hat. So entspannt wie er auf dem Baumstamm sitzt und irgendetwas von sich hin schnitzt, macht er mich wahnsinnig. Er schaut mich nur einen kurzen Moment an und ist dann wieder total vertieft in die Figur, die er formt. Jeden Tag seitdem ich hier bin, frage ich mich weshalb er so ist, wie er ist. Wenn ich einen Schritt zu viel auf ihn zugehe, dann geht er einen zurück. Das Gleiche ist es, wenn er eigenartigerweise sogar damit beginnt mir etwas anzuvertrauen oder sogar mal charmant zu mir ist, selbst dann macht er zwei Minuten später wieder einen Rückzieher. Seine ganze Person ist manchmal derart widersprüchlich. Er redet niemals über seinen Job, niemals über seine Familie und kaum über seine Freunde. Hätten mir Sophia und Dimitrij nicht helfen müssen, dann bin ich mir sicher, dass er auch von ihnen nichts erzählt hätte.
Ich wende meinen Blick von ihm ab und laufe weiter ins Wasser hinein, bis es an meinem Oberschenkel ist. Meine Hände ahmen im Wasser die Bewegung der Strömung nach.
>Ich ertrage das einfach nicht mehr. < flüstere ich kraftlos.
>Was hast du gesagt? <
Ich drehe mich wieder zu ihm um und bemerke, dass er mich so eigenartig ansieht.
>Ich sagte, dass ich das nicht mehr ertrage. Ich komme mir vor wie in einem Käfig. Du redest nicht mit mir, du lässt mich in der Regel nicht weit weg und du lässt mich nicht mal mit Meg reden. Weshalb machst du das? <
Seine Gesichtszüge werden hart. Kurz darauf macht er mit seiner Beschäftigung weiter und tut so, als wäre ich nicht da. Langsam aber sicher machen mir die letzten Tage zu schaffen. Seitdem ich mich von Megan verabschieden musste, ging es mir nur einen Tag danach gut. Kurz darauf wurde es mit jedem Tag schlimmer und schlimmer und ich fühlte mich einsamer und einsamer.
>Hör zu Kleines. < beginnt er schließlich doch. >Glaube nicht, dass ich das nicht merke. Ich hatte niemals vor, deine Freundin mit einzuspannen. Ich habe ihr das nur so gesagt, dass sie die Augen offen halten soll, damit sie das Gefühl hat, sie könnte dir mit irgendetwas helfen. Für alles, was in deiner Heimatstadt abläuft, brauche ich sie nicht – das bekomme ich allein raus. Aber was deinen Ausgang betrifft, sperre ich dich hier nicht ein. <
>Stimmt, der Wald sperrt mich ein. < schnaube ich.
>Das wird er nicht mehr. Wir lassen heute deinen Pass anfertigen. <
>Ich will keinen falschen Pass. <
>Was willst du dann? <
>Ich will nach Hause. < beteure ich und meine Stimme bricht weg.
>Niemand kann dich hier einmauern, wenn du es nicht willst - am wenigsten ich. Aber niemand kann dich beschützen, wenn du nach Duluth zurückkehrst. <
Er tut es schon wieder und blickt mich mit diesen harten Gesichtszügen an, die nachdenklich, kontrolliert aber auch irgendwie verletzt wirken.
Meine Beine laufen vorwärts auf Sam zu aber ich gehe nicht ganz aus dem Wasser heraus.
>Ich kann das nicht mehr. < hauche ich.
Sam nickt vorsichtig und senkt den Blick, um das Holzstück zur Seite zu legen.
Mit den Händen in den Hosentaschen vergraben, kommt er zu mir an den Rand des Lakes und steht mir gegenüber.
>Mir ist klar, dass von dir sehr viel abverlangt wurde. Aber du machst das besser, als ich es in den ersten Tagen vermutet hätte. <
>Was mache ich besser? Mich hier verstecken, die Hände in den Schoß legen und mich aushalten lassen von einem Mann, der kaum mal lächelt und mich andauernd anlügt? <
Er seufzt und fährt sich mit seiner Hand durch die kurzen Haare.
>Sag mir was ich tun soll. < bittet er mich mit flehendem Blick.
>Mir die Wahrheit sagen! <
>Ich wüsste nicht mal wo ich anfangen sollte. <
>Oh großartig. < lache ich auf. >Das bedeutet, nichts von allem, was du mir erzählt hast, ist wahr. <
>Nein. Hör auf das zu sagen! <
Ich schweige, aber nicht, weil er es gesagt hat. Irgendwie haben wir zwei uns festgefahren. Alles, was er gesagt hat, lasse ich noch einmal Revue passieren. In Gedanken versuche ich mir einen weiteren Plan zusammenzuschmieden.
>Wenn ich meinen Pass habe, dann kann ich überall hin? Nur nicht nach Duluth? < frage ich vorsichtig. Er nickt und atmet aus, als würde ihm seine Antwort schwerfallen.
>Du solltest fürs Erste in der Region an der kanadischen Grenze bleiben und auf keinen Fall über die Grenzlinie aber prinzipiell – solange du in den Vereinigten Staaten bleibst, bist du sicher. Wenn du das willst, dann bringe ich dich dorthin, wo du wieder von vorn beginnen willst. <
>Aber du willst das nicht. < mutmaße ich anhand seines Blickes und seines ungewohnten Tones.
>Nein. <
Dieses Mal habe ich keinen Zweifel daran, dass er mir die Wahrheit sagt.
Aus was soll ich Sam zusammensetzen? Er sagte zwar vor einer Weile, dass er mich gern bei sich hat, aber ich nahm an, weil er auch die Vorzüge daran erkannte. Wie meinte er das aber vor ein paar Sekunden? Ehe ich ihn das fragen kann, setzt er erneut an:
>Das Chaos ist weit von dir weg. Ich werde dich nicht aufhalten, wenn du gehen willst aber ich lasse nicht zu, dass du ihnen unbedacht in die Arme läufst. Dafür war es ein zu harter Kampf bisher. Ich kann verstehen, dass du allmählich ins Zweifeln gerätst und nach Duluth willst, aber ich verspreche dir, dass ich nahe dran bin und diese Kerle fassen werden. Mir wäre wohler bei dem Gedanken, wenn du erst dann gehst, wenn ich sie erwischt habe oder mir zumindest eine andere Lösung eingefallen ist. <
Er nimmt sich meine Hand, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
>Wie nah? < flüstere ich.
>Nah. Aber gib mir noch etwas Zeit. < Ich nicke. Was soll ich auch anderes tun? Dann schließt er mich in seine Arme und ich keuche auf. >Es tut mir leid, dass ich vorhin so ruppig zu dir war. Es kommt sicherlich der Tag, an dem ich deine Fragen beantworten werde. <
>Wenn es jemals so weit ist, dann kann es sein, dass sie mich dann gar nicht mehr interessieren oder ich längst weg bin. <
>Wer weiß. <
Er löst sich wieder von mir und läuft zurück zu dem Baumstumpf, um mit ernstem Blick weiterzuschnitzen. Diesen Blick hasse ich an ihm inzwischen so sehr, dass ich ihn nicht ansehen kann. So sollte Sam nicht aussehen – absolut nicht. Eigentlich wollte ich mich gar nicht mit ihm streiten aber innerlich brodelte es so sehr in mir, dass diese Bombe mal platzen musste. Auch wenn immer noch nicht alles gut ist, geht es mir trotzdem emotional etwas besser, weil ich ihm das mal ins Gesicht sagen konnte. Er sieht allerdings kein bisschen so aus, als wenn er sich besser fühlen würde – im Gegenteil, jetzt wirkt er noch nachdenklicher. Ich will ihn glücklich und lachend sehen, so wie es selten aufkeimt. Genau das fehlt mir an ihm.