Fingerabdrücke bleiben
von Lynnix
Kurzbeschreibung
Nayeli genießt ihre letzte Woche als Studentin und lebt mit ihrer indianisch stämmigen Familie in einem alten Haus neben den Klippen des Superior Lakes. Sie kann es kaum erwarten ihren künftigen Job anzutreten, mit dem ihr eine aussichtsreiche Zukunft bevorsteht. Trotz Strapazen empfindet sie ihr Leben als perfekt aber was sie bis zu dem Zeitpunkt noch nicht weiß ist, dass ihr Vater eine große Last mit sich herumschleppt, dessen Folgen ihr den Boden unter den Füßen wegreißen werden. Die junge Frau lernt jemanden kennen, von dem sie noch nicht weiß, ob er Freund oder Feind ist. Plötzlich ist sie auf fremde Hilfe angewiesen, muss hinter Masken sehen, verstehen wie korrupt das Land ist, in dem sie lebt und auf schmerzhafte Weise Stück für Stück erfahren, wie tief ihr Vater in die Ereignisse verstrickt war. Sie muss Entscheidungen treffen, von denen sie glaubte, so etwas niemals tun zu müssen. Aber wie weit muss sie gehen um Schmerzen und Verlust zu überwinden?
GeschichteDrama, Krimi / P16 / Gen
23.02.2018
25.11.2021
129
578.228
7
Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
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13.07.2018
3.648
Kapitel 21 - Abhörgeräusche
So wie die anderen Nächte zuvor habe ich wieder nicht lange geschlafen. Ich starre an die Decke und versuche die Zeit totzuschlagen. Sam hat sich auf die Seite von mir weggedreht und macht so ruhige Atemzüge, dass ich ihn nicht mit meinem Aufstehen wecken will. Es wundert mich, dass er ernsthaft die ganze Nacht bei mir geblieben ist und noch mehr, dass er mir nicht einfach gesagt hat, ich solle mich nach dem Alptraum zusammenreißen und weiterschlafen.
Mein Blick fällt auf den kleinen Nachtschrank mit dem Buch und wieder zurück auf Sam's Rücken. Wir haben uns zu zweit in ein Bett gequetscht, das nicht für zwei Personen geeignet ist. Der Weg zu dem Buch ist nicht weit aber ich traue mich nicht dort rüberzugreifen. Immerhin ist er nun schon zum zweiten Mal mitten in der Nacht von mir aus dem Bett geschrien worden, da will ich ihn wenigstens jetzt in Ruhe lassen. Raschelnd dreht er sich auf den Rücken und seinen Kopf zu mir. Seine Gesichtsmuskeln sind entspannt und er sieht total friedlich aus, wie er so daliegt.
Ich muss immer noch darüber schmunzeln, wie sehr ich mich mit seinem Alter verschätzt habe. Leise und vorsichtig drehe ich mich auf die Seite und sehe ihn an. Die Decke ist etwas heruntergerutscht und liegt knapp unter seinem Bauchnabel. Ich sollte wirklich damit aufhören, so an ihm hinauf- und hinunterzusehen.
Plötzlich atmet er tiefer ein, kneift die Augen etwas stärker zu, blinzelt ein paar Mal und sieht mich dann verschlafen an.
>Morgen Kleines. < murmelt er.
>Guten Morgen. <
>Wie lange bist du schon wieder wach? <
>Viel zu lange. <
Sam reibt sich über sein Gesicht und lässt dann seinen Unterarm darüber liegen.
>Den Schlaf zu meiden macht das nicht besser. Hier kann dir niemand etwas. <
>Ich weiß. < erwidere ich. >Der Schlaf meidet außerdem mich und nicht andersherum. <
Er nimmt seinen Arm vom Gesicht und wirft dann die Decke zur Seite.
>Dann werde ich mal Frühstück machen. < gähnt er.
In Boxershorts bekleidet geht er aus dem Zimmer heraus, sodass ich seine gesamte Rückansicht sehen kann. Mir bleibt der Mund offen stehen, als er in Richtung des Bades abbiegt. Ich rolle mich etwas weiter auf die Seite, auf der er eben noch lag und die noch gewärmt von seinem Körper ist. Meine Beine ziehe ich etwas an den Körper heran, weil es mir im Unterleib so unangenehm zieht und ich mich wegen meiner Periode einfach nicht so richtig wohlfühle. Seufzend schmiege ich meinen Kopf in das Kissen hinein und bemerke genießerisch, wie es nach einem Männerduschgel riecht. Was mache ich hier eigentlich?
Erschrocken fahre ich hoch und hüpfe einbeinig ebenfalls aus dem Bett heraus. Ich hoffe nur, dass ich Sam keine falschen Signale gesendet habe. Nur weil ich nicht alleine sein wollte, soll er sich jetzt nichts dabei denken. Das Ganze sollte ich nicht noch schüren, indem ich ihn länger als nötig ansehe.
Schnell schließe ich die Zimmertür und ziehe mir etwas an. So langsam wird mir bewusst, dass ich wahrscheinlich jeden Tag das Gleiche tragen werde. Denn mehr als ein 5er Set der dunklen Basic-Shirts habe ich hier nicht. Als ich fertig aus dem Zimmer herauskomme, verlässt Sam im selben Moment das untere Bad und läuft mir immer noch in Shorts bekleidet entgegen. Ich zwinge mich dieses Mal wegzusehen, denn ein Anstarren würde die Sache mit den falschen Signalen wohl noch verstärken. Aber das Wegsehen ist wirklich schwerer als man glauben könnte.
>Es ist gar nicht so verkehrt, wenn man nicht allzu viel Auswahl an Klamotten hat, oder? < wirft er belustigt ein, als er mich angezogen sieht.
>Zumindest geht es schneller. < erwidere ich und laufe schnell an ihm vorbei, damit ich ins Bad kann. Wie sonst auch schließe ich hier drin lieber ab. Ich widme mich meinem Hygieneprogramm und beeile mich, damit ich meiner nächtlichen Gesellschaft unter die Arme greifen kann. Durch den coolen neuen Haarschnitt bürste ich nur ein paar Mal durch und wuschele durch meine Mähne. Der falsche Nasenring drückt etwas unangenehm an meinem Nasenflügel aber daran werde ich mich wohl gewöhnen müssen.
Ich poltere nach dem Zurechtmachen aus der Tür heraus und treffe ihn in der Küche an – bereits fertig mit allem.
>Och man, ich wollte dir doch helfen. < protestiere ich nörgelnd.
>Wozu? Das ist doch nicht viel. Du hilfst mir dafür an anderen Ecken. < erwidert er grinsend und trinkt seinen Kaffee. Mit der anderen Hand reicht er mir bereits eine andere gefüllte Tasse mit dem Mischverhältnis, das ich mag.
>Da wir gerade beim Thema sind. Ich habe mich in der Nacht gefragt, ob ich dir vielleicht irgendwie bei deiner Arbeit helfen kann. <
Er spuckt hingegen seinen Kaffee zurück in die Tasse und hustet ein:
>Du willst was? <
>Dir helfen! Du machst immer ziemlich viel am Laptop bevor du losfährst. Ich habe einen Collegeabschluss und bin eine kleine Theoretikerin, vielleicht kann ich dir ja zuarbeiten oder sowas. Du hast doch selbst gesagt, ich bin clever und außerdem roste ich somit nicht ein. Verstehe mich nicht falsch aber mir ist langweilig. Sterbenslangweilig! Ich fühle mich als würde mein IQ mit jedem Tag mehr und mehr sinken, weil ich hier nichts zu tun habe. Unter normalen Bedingungen würde ich mich jetzt einfach in die Arbeit stürzen, um mich von der Realität abzulenken. <
Sam schnaubt belustigt und grinst mich mit offensichtlichem Interesse an.
>Du versuchst die ganze Zeit herauszubekommen, was ich mache. Ich muss zugeben, das ist ein nettes Hintertürchen von dir, um das herauszubekommen. <
>Was das angeht, glaube ich es herausbekommen zu haben. <
Er zieht beide Augenbrauen hoch und grinst überlegen.
>Ach ja? Nun gut kleine Miss Neunmalklug. Also was mache ich? <
Ich kralle mich an der Tasse fest, die er mir eben herübergereicht hat und hoffe, dass ich mich niemals weniger geirrt habe.
>Ich glaube, dass du nachts die Welt ein kleines bisschen besser machst. Sophia scheint eine hohe Meinung von dir zu haben und du bewegst dich ganz offenbar in dieser Schiene wie sie und Dimitrij. <
>Echt? Das glaubst du? < lacht er. >Du hältst mich also für „den Guten.“ <
>Klar tue ich das. <
Daraufhin grinst er im ersten Moment leicht und schweigt. Aber einen kurzen Augenblick später, runzelt er die Stirn und starrt betreten in seine Kaffeetasse hinein, als hätte ich etwas Falsches gesagt. Seine Kiefermuskeln spannen sich an und sein Blick wird irgendwie düster.
>Sam? < sage ich unbehaglich. >Was ist los? <
>Gar nichts. Ich kann dich für meine Arbeit nur nicht gebrauchen. Aber mir gefällt der Gedanke, den du hast. < erwidert er jetzt freundlicher und nippt erneut an seiner Tasse, um sich dann an den Tisch zu setzen. Ich nehme noch ein paar Kleinigkeiten aus dem Kühlschrank und setze mich dann zu ihm.
>Ich weiß, dass es bei mir nicht allzu spannend ist, deswegen habe ich dir was zu lesen mitgebracht. Vielleicht lenkst du dich erstmal damit ab. < erklärt er. >Und sobald du einen neuen Pass hast, dann kannst du tun was du willst. Ich finde, du solltest das mit deinen Wunden so gut wie möglich auf die Reihe bekommen und dir dann wieder so einen langweiligen Job in so einer Agentur suchen. Das scheint deine Chance zu sein und dir scheint sowas zu liegen. < wendet er zu meiner Überraschung ein.
>Echt das glaubst du? Bin ich denn sicher vor diesen Typen? <
>Von Duluth solltest du dich fernhalten aber ich denke, du könntest von vorne anfangen. Ich sehe dich schon vor meinem inneren Auge, in so einem albernen Bleistiftrock, mit lauter Aktenordnern und einem Telefon zwischen Ohr und Schulter geklemmt. <
>Bis das realistisch ist, wird es wohl noch etwas dauern. < murmle ich. Was er allerdings an so einem Rock auszusetzen hat, kapiere ich nicht.
>Wird sich zeigen. Wir lassen erstmal etwas Gras über die Sache wachsen, bis dich die Leute vergessen haben. Erfahrungsgemäß sind sämtliche Fälle dieser Art nach ein paar Wochen aus den Köpfen der Zivilisten verschwunden und die Polizei wird dich nicht suchen, weil angeblich deine Leiche entdeckt wurde und der Fall geschlossen ist. Es gibt jeden Tag irgendetwas anderes das berichtet wird und jetzt wo du anders aussiehst, hast du nichts zu befürchten. Bis das alles vergessen ist, haben wir die Kerle hoffentlich erwischt. <
>Dann kann ich also auch Meg wiedersehen? < frage ich erwartungsvoll.
>Nein. Ich sagte doch gerade, halte dich fern von Duluth. Die Leute würden dich dort ganz sicher erkennen. Was glaubst du was passiert, wenn du plötzlich von den Toten auferstanden bist? <
>Dann sehe ich sie eben woanders. <
>Wenn du deine alten Freunde triffst, dann machst du alles kaputt, was wir die letzten Tage erreicht haben. Fang neu an und suche dir neue Freunde. <
>Ich vergesse doch nicht einfach die Frau, mit der ich zusammen groß geworden bin. Außerdem sind sie, Jordan und die anderen etwas Besonderes. <
>Jordan? Dein Freund? <
>Was? Oh Gott nein. < lache ich auf. Obwohl ich ein paar seltsame Minuten mit ihm hatte, kann ich mir das bei weitem nicht vorstellen.
>Wieso wirst du dann rot? < will er wissen.
>Weil ich gerade an etwas echt Blödes denken musste. <
>Ach ja? An was denn? <
Jetzt grinse ich ihn an, weil er plötzlich so interessiert wirkt und antworte keck:
>Falsche Frage. <
Er schnaubt belustigt auf.
>Okay, vielleicht war ich etwas zu neugierig. < gibt er zu. Ich gieße mir die Milch ins Müsli hinein und rühre darin herum. >Dann erzähl mir von dieser Meg. Wie ist sie so? <
>Meg ist einfach großartig. Sie ist der tollste Mensch, den ich mir vorstellen kann und hat mich noch nie hängengelassen. Es muss furchtbar für sie sein, das alles gehört zu haben. Megan könnte genauso gut meine Schwester sein. <
>Und trotzdem würde sie dich verraten, wenn es darauf ankommen würde. <
>Nein würde sie nicht. < zische ich wütend und lasse den Löffel in die Schüssel fallen. >Weshalb sagst du das nur immer? Es tut mir leid, wenn du von Leuten hängengelassen wurdest aber meine Freunde sind nicht so. <
>Jetzt hör mir mal zu. Es geht gar nicht darum, ob sie es tun würde, sondern nur zu welchem Preis. <
>Du… du machst mich so wütend. <
>Da bist du nicht die Erste, die das sagt. <
>Ich vegetiere hier vor mich hin und alles was du sagst, ist: „Ich versuche dir zu helfen“, „Du musst warten bis deine Wunden heilen“ und „Deine Freunde musst du für immer an den Nagel hängen. Sie werden dich verraten.“ Ich kann und will nicht so ein einsames Leben führen wie du. < platze ich heraus und bereue es eine Sekunde später schon wieder bei seinem Blick. Ich kneife die Augen zusammen, weil ich das überhaupt nicht sagen wollte. Meine Wut gilt eigentlich nicht ihm, sondern diesen Männern. >Tut mir leid. Ich habe es nicht so gemeint. <
>Doch das hast du. Und du hast recht. Ich will auch nicht so ein einsames Leben führen aber manchmal muss man sich für diesen Weg entscheiden, auch wenn er nicht jedem gefällt. Sich von Leuten abzukapseln ist nicht nur sicherer für einen selbst, sondern sicherer für die, die einem früher mal nahestanden. Hätte sich nämlich dein Vater früh genug von euch getrennt, um euch zu schützen, dann wären drei von euch noch da und sie hätten nur ihn gejagt. <
>Hör auf damit! < wimmere ich.
>Hätte er den Mumm gehabt und auf dich gehört, als du dich bereits verfolgt gefühlt hattest, dann wäre es anders gelaufen. Stattdessen hat er gewartet bis sie kamen und hat die Hände in den Schoß gelegt. <
>Sam hör auf! < brülle ich und bin mit wutverzerrtem Gesicht aufgestanden. >Du weißt absolut nichts über meinen Vater. Du hast kein Recht so über ihn zu reden. <
Ich schluchze und kann ihn durch meine Tränen kaum noch erkennen. >Du bohrst immer wieder in meinen Wunden und willst mir auch noch meine Freunde nehmen – die einzigen Leute, die verstehen könnten wie ich mich fühle. Ich vermisse meine Familie und meine beste Freundin. Wieso kannst du das nicht verstehen? <
Ich humple rückwärts, bis ich an die Küchenplatte stoße und vergrabe meine Hände in den Haaren. Bisher habe ich vor lauter Trauer geweint, aber jetzt tue ich es, weil mir Sam wirklich wehgetan hat.
>Würde ich dich verhätscheln, würde es dir absolut nicht helfen. Es ist besser vorher zu erfahren wie die Dinge laufen, als hinterher zu spüren, wie dich deine Liebsten hintergangen haben. <
>Aber Sam, so ist doch nicht jeder Mensch auf der Welt. < schniefe ich und laufe aus der Küche raus, direkt zu dem Zimmer in dem ich untergebracht bin. Lauthals schluchzend werfe ich mich in das Bett. Kaum zu glauben, dass Sam gestern für ein paar Stunden vollkommen anders war – sogar anziehend, liebevoll und mitfühlend.
Doch im nächsten Moment, da redet er mir wieder die schlechten Seiten dieser Welt ein. Ich wusste bereits vorher wie schrecklich es an manchen Orten zugehen kann, aber das war immer so weit weg und hat mich niemals so getroffen wie das, was mir widerfahren ist. Ich brauche irgendeinen Halt von Leuten, die ich liebe. Besonders Meg zu vergessen, ist daher einfach absolut unmöglich.
Die Tür öffnet sich vorsichtig und ich rufe dumpf ins Kissen, dass er weggehen soll.
>Nein, das ist nämlich mein Haus. < widerspricht er zornig.
>In Ordnung, dann gehe ich. < schluchze ich und stehe auf, weil ich an ihm vorbeitrampeln will aber er stellt sich mir in den Weg. >Geh bitte zur Seite. Ich sollte überhaupt nicht hier sein. <
>Nein! Ich will, dass du mir zuhörst. Ich bin in diesen Dingen einfach nicht mehr besonders gut. Vielleicht bin ich über die Jahre ja wirklich abgestumpft aber es tut mir leid was ich gesagt habe. Ich finde nur, dass es dir rein gar nichts bringt, wenn ich dich bei so etwas anlüge. Es ist kein einfaches Unterfangen eine Person von der Bildfläche verschwinden zu lassen und sie dann mit alten Bekannten zusammenzubringen, die öffentlich über sie auspacken könnten. <
>Ich kenne Megan seit fast zwanzig Jahren. <
>Dann will ich für dich hoffen, dass sie das nicht vergessen hat. <
>Was? < frage ich schrill, weil ich nichts kapiere. Als Antwort hält er mir ein fremdes Handy hin, welches ich noch gar nicht kenne.
>Ruf sie an! Sag deiner Freundin, sie soll heute Abend, wenn es dunkel ist nach Maple Hill kommen. Ich fahre dich dort hin und ihr könnt reden. So kann ich sie mir mal genauer ansehen. <
>D… du lässt mich mit ihr reden? < stottere ich verständnislos. Bis eben hat er doch noch einen riesigen Aufstand deswegen gemacht.
>Ja aber eben nur mit diesen gewissen Vorkehrungen. Und glaub mir, es passt mir trotzdem nicht. Solche heiklen Dinge tue ich für gewöhnlich nie. <
>Findest du das nicht etwas übertrieben? <
>Nein am liebsten würde ich dich dafür aus dem Bundesstaat rausfahren, aber das würde bedeuten, dass wir entweder an deiner Heimat vorbeikommen oder über die kanadische Grenze müssen. Nichts von beidem finde ich sicher genug, um dich dort einzuschleusen, solange die Sache nicht geklärt ist. Dimitrij und ein paar Weitere sind an dem Fall dran. Sie versuchen Beweise zu finden, um deine Unschuld öffentlich zu beweisen. Das ist bisher nur leider ziemlich schwierig. <
Verwundert wische ich mir die Tränen vom Gesicht und starre auf seine Hand mit dem Telefon.
>Welche „Weiteren“ hängen sich in einen solchen Fall mit hinein, der angeblich ganz klar gegen mich spricht? <
>Ich glaube du wirst sie schon bald kennenlernen, wenn das so weitergeht. Also, folgendes: Ruf deine Freundin an, sag ihr wo ihr euch trefft und wirf das Handy nach dem Gespräch in den Lake. Ihr bleibt vor Ort die ganze Zeit im Auto bis ich sage, dass wir uns herauswagen können, kapiert? Auch wenn du jetzt anders aussiehst, will ich nicht, dass du auf einer Verkehrskamera oder einer Ladenkamera landest. Du brauchst erst einen Pass, der aussagt, dass du jemand anderes bist. <
>Du müsstest einen ziemlichen Weg auf dich nehmen, um mich dorthin zu bringen. <
>Tja weißt du, bis Sonntag habe ich zufällig nichts Besseres vor. < grinst er.
>Ich meine damit, ich könnte auch allein dort hinfahren. <
>Auf keinen Fall. Ich gebe dir weder meinen Pick-up noch lasse ich dich alleine zu so einem Treffen. Dass du auffliegst, ist aktuell viel zu gefährlich. < manchmal flackert etwas in ihm durch, als würde er sich wirkliche Sorgen um mich machen.
>Eines verstehe ich nicht. Woher der Sinneswandel? <
Er kaut nachdenklich auf seiner Unterlippe herum und lässt dann seine Hand mit dem Telefon sinken, da ich mich noch nicht getraut habe, danach zu greifen. Vielleicht überlegt er es sich jeden Moment wieder anders. So aussehen tut er jedenfalls.
>Ich habe wohl vergessen, dass du mit der Einsamkeit nicht so klarkommen kannst, wie ich. Das Erlebte ist zu frisch und ehrlich gesagt, kann ich dich nicht weinen sehen. Es tut mir leid was ich gesagt habe – schließlich kannte ich deinen Vater nicht. Nur weil ich anders gehandelt hätte, heißt das nicht, dass er ein Feigling war. Und was deine Freundin angeht, gebe ich ihr eine Chance und sehe sie mir an. < erklärt er und wischt mit seinem Daumen eine verbliebene Träne aus meinem Augenwinkel.
Ich nicke und grinse leicht.
Wir gehen ein Stück neben dem Lake spazieren, bis wir uns weit genug vom Haus entfernt haben. Sam ist wirklich übervorsichtig was mögliche Signale angeht, die zurückverfolgt werden könnten. Dann nehme ich sein Wegwerfhandy entgegen und wähle Megs Nummer. Hoffentlich geht sie dieses Mal ran. Etwas zittrig nehme ich das Telefon an mein Ohr und kaue mir an den Fingernägeln herum. Sam nimmt es mir allerdings weg und drückt auf den Lautsprecher. Es läutet einmal, zweimal und dann dreimal und endlich höre ich ihre Stimme. Sie klingt weder warm noch freundlich, sondern völlig am Ende und trotzdem macht mein Herz bei ihrem Klang einen Satz.
>Hallo? < ertönt sie kratzig auf der anderen Seite.
>Meg. Ich bin es. < daraufhin folgt erst ein Schweigen, dann ein Schluchzen.
>Du blöde Kuh! Findest du das etwa lustig? Das ist pietätlos. < haucht sie und will offenbar schon auflegen.
>Nein bleib dran! Ich bin es wirklich und mir geht es gut. <
>Was? Du spinnst doch. <
>Megan, du musst mir zuhören! Du liebst Bücher von Ken Follett und hasst den Geruch von Popcorn, weshalb du im Kino immer zwischen Jordan und Sasha sitzt, weil sie das nicht essen. Die Politikwissenschaft war dein absolutes Antifach und du …<
>Oh Gott Yeli. < jammert sie herzzerreißend und redet mir hinein, da sie mir nun zu glauben scheint. >Ich habe gehört, dass du tot sein sollst. Die ganze Stadt behauptet das. Ich kann nicht glauben, … ich meine, ich habe …<
Ihr fehlen die Worte und sie hört sich total am Boden an.
>Ich weiß. Das sollte auch so sein, damit nicht mehr nach mir gefahndet wird. Es geht mir wirklich gut und ich bin in Sicherheit. Du musst mir glauben, dass ich nicht das getan habe, was da gesagt wird. <
>Das weiß ich doch. Glaubst du etwa, ich hätte auch nur eine Sekunde an deiner Unschuld gezweifelt? Aber der Rest ist wahr. Deine Eltern und Iye sind wirklich nicht mehr am Leben. < berichtet sich und beginnt fürchterlich zu weinen.
>Ja, weiß ich. < krächze ich und sehe wie Sam nervös auf der imaginären Uhr an seinem verbundenen Handgelenk tippt. >Ich muss mich jetzt für den Fall kurzfassen, dass wir abgehört werden. Können wir uns sehen? <
>Ja natürlich, sofort! Aber wieso sollte man uns abhören? <
>Das ist eine lange Geschichte. Können wir uns in Maple Hill sehen? Es gibt da eine Tankstelle mit einem Diner, das genauso heißt wie der Ort. <
>Yeli, ich komme überall dorthin wo du bist und ich kann sofort losfahren. Ich habe immer noch keinen Job und selbst wenn, wäre mir das scheiß egal. <
Das erschreckt mich jetzt allerdings. Aber ich habe keine Zeit, mich davon ablenken zu lassen. Ich muss schnell machen. Sam blickt mich immer ungeduldiger an und zeigt zwei Finger in die Höhe.
>Okay dann treffen wir uns heute Abend gegen zehn dort – es muss dunkler sein. Ich melde mich später nochmal. Sag niemandem wohin du fährst. Niemandem okay? <
>Warte … kann ich dich denn irgendwie erreichen? Was ist, wenn wir uns nicht finden? <
Seitdem es Sam gibt, bin ich viel hellhöriger und sensibler geworden. Im Hintergrund höre ich die Knack- und Raschelgeräusche, die er beschrieben hat. Ich sage nichts und blicke zu ihm. Da ich den Lautsprecher anhabe, hört auch er es und läuft bereits mit großen Schritten auf mich zu. Sam schüttelt energisch den Kopf, damit ich nicht weiterrede.
>Hallo? < ruft Meg.
Ich drücke sie weg und ehe Sam bei mir ist, um es zu tun, werfe ich das Telefon in den Lake hinein. Mit einem lauten Platsch, geht es unter und ich schaue schockiert auf die Stelle, auf die ich gerade gezielt habe.
>Da hast du gut reagiert Kleines. Das ging gerade nochmal gut. <
>Ich dachte immer du übertreibst aber jetzt weiß ich was du meinst. <
>Schön, dass du mir endlich glaubst. <
So wie die anderen Nächte zuvor habe ich wieder nicht lange geschlafen. Ich starre an die Decke und versuche die Zeit totzuschlagen. Sam hat sich auf die Seite von mir weggedreht und macht so ruhige Atemzüge, dass ich ihn nicht mit meinem Aufstehen wecken will. Es wundert mich, dass er ernsthaft die ganze Nacht bei mir geblieben ist und noch mehr, dass er mir nicht einfach gesagt hat, ich solle mich nach dem Alptraum zusammenreißen und weiterschlafen.
Mein Blick fällt auf den kleinen Nachtschrank mit dem Buch und wieder zurück auf Sam's Rücken. Wir haben uns zu zweit in ein Bett gequetscht, das nicht für zwei Personen geeignet ist. Der Weg zu dem Buch ist nicht weit aber ich traue mich nicht dort rüberzugreifen. Immerhin ist er nun schon zum zweiten Mal mitten in der Nacht von mir aus dem Bett geschrien worden, da will ich ihn wenigstens jetzt in Ruhe lassen. Raschelnd dreht er sich auf den Rücken und seinen Kopf zu mir. Seine Gesichtsmuskeln sind entspannt und er sieht total friedlich aus, wie er so daliegt.
Ich muss immer noch darüber schmunzeln, wie sehr ich mich mit seinem Alter verschätzt habe. Leise und vorsichtig drehe ich mich auf die Seite und sehe ihn an. Die Decke ist etwas heruntergerutscht und liegt knapp unter seinem Bauchnabel. Ich sollte wirklich damit aufhören, so an ihm hinauf- und hinunterzusehen.
Plötzlich atmet er tiefer ein, kneift die Augen etwas stärker zu, blinzelt ein paar Mal und sieht mich dann verschlafen an.
>Morgen Kleines. < murmelt er.
>Guten Morgen. <
>Wie lange bist du schon wieder wach? <
>Viel zu lange. <
Sam reibt sich über sein Gesicht und lässt dann seinen Unterarm darüber liegen.
>Den Schlaf zu meiden macht das nicht besser. Hier kann dir niemand etwas. <
>Ich weiß. < erwidere ich. >Der Schlaf meidet außerdem mich und nicht andersherum. <
Er nimmt seinen Arm vom Gesicht und wirft dann die Decke zur Seite.
>Dann werde ich mal Frühstück machen. < gähnt er.
In Boxershorts bekleidet geht er aus dem Zimmer heraus, sodass ich seine gesamte Rückansicht sehen kann. Mir bleibt der Mund offen stehen, als er in Richtung des Bades abbiegt. Ich rolle mich etwas weiter auf die Seite, auf der er eben noch lag und die noch gewärmt von seinem Körper ist. Meine Beine ziehe ich etwas an den Körper heran, weil es mir im Unterleib so unangenehm zieht und ich mich wegen meiner Periode einfach nicht so richtig wohlfühle. Seufzend schmiege ich meinen Kopf in das Kissen hinein und bemerke genießerisch, wie es nach einem Männerduschgel riecht. Was mache ich hier eigentlich?
Erschrocken fahre ich hoch und hüpfe einbeinig ebenfalls aus dem Bett heraus. Ich hoffe nur, dass ich Sam keine falschen Signale gesendet habe. Nur weil ich nicht alleine sein wollte, soll er sich jetzt nichts dabei denken. Das Ganze sollte ich nicht noch schüren, indem ich ihn länger als nötig ansehe.
Schnell schließe ich die Zimmertür und ziehe mir etwas an. So langsam wird mir bewusst, dass ich wahrscheinlich jeden Tag das Gleiche tragen werde. Denn mehr als ein 5er Set der dunklen Basic-Shirts habe ich hier nicht. Als ich fertig aus dem Zimmer herauskomme, verlässt Sam im selben Moment das untere Bad und läuft mir immer noch in Shorts bekleidet entgegen. Ich zwinge mich dieses Mal wegzusehen, denn ein Anstarren würde die Sache mit den falschen Signalen wohl noch verstärken. Aber das Wegsehen ist wirklich schwerer als man glauben könnte.
>Es ist gar nicht so verkehrt, wenn man nicht allzu viel Auswahl an Klamotten hat, oder? < wirft er belustigt ein, als er mich angezogen sieht.
>Zumindest geht es schneller. < erwidere ich und laufe schnell an ihm vorbei, damit ich ins Bad kann. Wie sonst auch schließe ich hier drin lieber ab. Ich widme mich meinem Hygieneprogramm und beeile mich, damit ich meiner nächtlichen Gesellschaft unter die Arme greifen kann. Durch den coolen neuen Haarschnitt bürste ich nur ein paar Mal durch und wuschele durch meine Mähne. Der falsche Nasenring drückt etwas unangenehm an meinem Nasenflügel aber daran werde ich mich wohl gewöhnen müssen.
Ich poltere nach dem Zurechtmachen aus der Tür heraus und treffe ihn in der Küche an – bereits fertig mit allem.
>Och man, ich wollte dir doch helfen. < protestiere ich nörgelnd.
>Wozu? Das ist doch nicht viel. Du hilfst mir dafür an anderen Ecken. < erwidert er grinsend und trinkt seinen Kaffee. Mit der anderen Hand reicht er mir bereits eine andere gefüllte Tasse mit dem Mischverhältnis, das ich mag.
>Da wir gerade beim Thema sind. Ich habe mich in der Nacht gefragt, ob ich dir vielleicht irgendwie bei deiner Arbeit helfen kann. <
Er spuckt hingegen seinen Kaffee zurück in die Tasse und hustet ein:
>Du willst was? <
>Dir helfen! Du machst immer ziemlich viel am Laptop bevor du losfährst. Ich habe einen Collegeabschluss und bin eine kleine Theoretikerin, vielleicht kann ich dir ja zuarbeiten oder sowas. Du hast doch selbst gesagt, ich bin clever und außerdem roste ich somit nicht ein. Verstehe mich nicht falsch aber mir ist langweilig. Sterbenslangweilig! Ich fühle mich als würde mein IQ mit jedem Tag mehr und mehr sinken, weil ich hier nichts zu tun habe. Unter normalen Bedingungen würde ich mich jetzt einfach in die Arbeit stürzen, um mich von der Realität abzulenken. <
Sam schnaubt belustigt und grinst mich mit offensichtlichem Interesse an.
>Du versuchst die ganze Zeit herauszubekommen, was ich mache. Ich muss zugeben, das ist ein nettes Hintertürchen von dir, um das herauszubekommen. <
>Was das angeht, glaube ich es herausbekommen zu haben. <
Er zieht beide Augenbrauen hoch und grinst überlegen.
>Ach ja? Nun gut kleine Miss Neunmalklug. Also was mache ich? <
Ich kralle mich an der Tasse fest, die er mir eben herübergereicht hat und hoffe, dass ich mich niemals weniger geirrt habe.
>Ich glaube, dass du nachts die Welt ein kleines bisschen besser machst. Sophia scheint eine hohe Meinung von dir zu haben und du bewegst dich ganz offenbar in dieser Schiene wie sie und Dimitrij. <
>Echt? Das glaubst du? < lacht er. >Du hältst mich also für „den Guten.“ <
>Klar tue ich das. <
Daraufhin grinst er im ersten Moment leicht und schweigt. Aber einen kurzen Augenblick später, runzelt er die Stirn und starrt betreten in seine Kaffeetasse hinein, als hätte ich etwas Falsches gesagt. Seine Kiefermuskeln spannen sich an und sein Blick wird irgendwie düster.
>Sam? < sage ich unbehaglich. >Was ist los? <
>Gar nichts. Ich kann dich für meine Arbeit nur nicht gebrauchen. Aber mir gefällt der Gedanke, den du hast. < erwidert er jetzt freundlicher und nippt erneut an seiner Tasse, um sich dann an den Tisch zu setzen. Ich nehme noch ein paar Kleinigkeiten aus dem Kühlschrank und setze mich dann zu ihm.
>Ich weiß, dass es bei mir nicht allzu spannend ist, deswegen habe ich dir was zu lesen mitgebracht. Vielleicht lenkst du dich erstmal damit ab. < erklärt er. >Und sobald du einen neuen Pass hast, dann kannst du tun was du willst. Ich finde, du solltest das mit deinen Wunden so gut wie möglich auf die Reihe bekommen und dir dann wieder so einen langweiligen Job in so einer Agentur suchen. Das scheint deine Chance zu sein und dir scheint sowas zu liegen. < wendet er zu meiner Überraschung ein.
>Echt das glaubst du? Bin ich denn sicher vor diesen Typen? <
>Von Duluth solltest du dich fernhalten aber ich denke, du könntest von vorne anfangen. Ich sehe dich schon vor meinem inneren Auge, in so einem albernen Bleistiftrock, mit lauter Aktenordnern und einem Telefon zwischen Ohr und Schulter geklemmt. <
>Bis das realistisch ist, wird es wohl noch etwas dauern. < murmle ich. Was er allerdings an so einem Rock auszusetzen hat, kapiere ich nicht.
>Wird sich zeigen. Wir lassen erstmal etwas Gras über die Sache wachsen, bis dich die Leute vergessen haben. Erfahrungsgemäß sind sämtliche Fälle dieser Art nach ein paar Wochen aus den Köpfen der Zivilisten verschwunden und die Polizei wird dich nicht suchen, weil angeblich deine Leiche entdeckt wurde und der Fall geschlossen ist. Es gibt jeden Tag irgendetwas anderes das berichtet wird und jetzt wo du anders aussiehst, hast du nichts zu befürchten. Bis das alles vergessen ist, haben wir die Kerle hoffentlich erwischt. <
>Dann kann ich also auch Meg wiedersehen? < frage ich erwartungsvoll.
>Nein. Ich sagte doch gerade, halte dich fern von Duluth. Die Leute würden dich dort ganz sicher erkennen. Was glaubst du was passiert, wenn du plötzlich von den Toten auferstanden bist? <
>Dann sehe ich sie eben woanders. <
>Wenn du deine alten Freunde triffst, dann machst du alles kaputt, was wir die letzten Tage erreicht haben. Fang neu an und suche dir neue Freunde. <
>Ich vergesse doch nicht einfach die Frau, mit der ich zusammen groß geworden bin. Außerdem sind sie, Jordan und die anderen etwas Besonderes. <
>Jordan? Dein Freund? <
>Was? Oh Gott nein. < lache ich auf. Obwohl ich ein paar seltsame Minuten mit ihm hatte, kann ich mir das bei weitem nicht vorstellen.
>Wieso wirst du dann rot? < will er wissen.
>Weil ich gerade an etwas echt Blödes denken musste. <
>Ach ja? An was denn? <
Jetzt grinse ich ihn an, weil er plötzlich so interessiert wirkt und antworte keck:
>Falsche Frage. <
Er schnaubt belustigt auf.
>Okay, vielleicht war ich etwas zu neugierig. < gibt er zu. Ich gieße mir die Milch ins Müsli hinein und rühre darin herum. >Dann erzähl mir von dieser Meg. Wie ist sie so? <
>Meg ist einfach großartig. Sie ist der tollste Mensch, den ich mir vorstellen kann und hat mich noch nie hängengelassen. Es muss furchtbar für sie sein, das alles gehört zu haben. Megan könnte genauso gut meine Schwester sein. <
>Und trotzdem würde sie dich verraten, wenn es darauf ankommen würde. <
>Nein würde sie nicht. < zische ich wütend und lasse den Löffel in die Schüssel fallen. >Weshalb sagst du das nur immer? Es tut mir leid, wenn du von Leuten hängengelassen wurdest aber meine Freunde sind nicht so. <
>Jetzt hör mir mal zu. Es geht gar nicht darum, ob sie es tun würde, sondern nur zu welchem Preis. <
>Du… du machst mich so wütend. <
>Da bist du nicht die Erste, die das sagt. <
>Ich vegetiere hier vor mich hin und alles was du sagst, ist: „Ich versuche dir zu helfen“, „Du musst warten bis deine Wunden heilen“ und „Deine Freunde musst du für immer an den Nagel hängen. Sie werden dich verraten.“ Ich kann und will nicht so ein einsames Leben führen wie du. < platze ich heraus und bereue es eine Sekunde später schon wieder bei seinem Blick. Ich kneife die Augen zusammen, weil ich das überhaupt nicht sagen wollte. Meine Wut gilt eigentlich nicht ihm, sondern diesen Männern. >Tut mir leid. Ich habe es nicht so gemeint. <
>Doch das hast du. Und du hast recht. Ich will auch nicht so ein einsames Leben führen aber manchmal muss man sich für diesen Weg entscheiden, auch wenn er nicht jedem gefällt. Sich von Leuten abzukapseln ist nicht nur sicherer für einen selbst, sondern sicherer für die, die einem früher mal nahestanden. Hätte sich nämlich dein Vater früh genug von euch getrennt, um euch zu schützen, dann wären drei von euch noch da und sie hätten nur ihn gejagt. <
>Hör auf damit! < wimmere ich.
>Hätte er den Mumm gehabt und auf dich gehört, als du dich bereits verfolgt gefühlt hattest, dann wäre es anders gelaufen. Stattdessen hat er gewartet bis sie kamen und hat die Hände in den Schoß gelegt. <
>Sam hör auf! < brülle ich und bin mit wutverzerrtem Gesicht aufgestanden. >Du weißt absolut nichts über meinen Vater. Du hast kein Recht so über ihn zu reden. <
Ich schluchze und kann ihn durch meine Tränen kaum noch erkennen. >Du bohrst immer wieder in meinen Wunden und willst mir auch noch meine Freunde nehmen – die einzigen Leute, die verstehen könnten wie ich mich fühle. Ich vermisse meine Familie und meine beste Freundin. Wieso kannst du das nicht verstehen? <
Ich humple rückwärts, bis ich an die Küchenplatte stoße und vergrabe meine Hände in den Haaren. Bisher habe ich vor lauter Trauer geweint, aber jetzt tue ich es, weil mir Sam wirklich wehgetan hat.
>Würde ich dich verhätscheln, würde es dir absolut nicht helfen. Es ist besser vorher zu erfahren wie die Dinge laufen, als hinterher zu spüren, wie dich deine Liebsten hintergangen haben. <
>Aber Sam, so ist doch nicht jeder Mensch auf der Welt. < schniefe ich und laufe aus der Küche raus, direkt zu dem Zimmer in dem ich untergebracht bin. Lauthals schluchzend werfe ich mich in das Bett. Kaum zu glauben, dass Sam gestern für ein paar Stunden vollkommen anders war – sogar anziehend, liebevoll und mitfühlend.
Doch im nächsten Moment, da redet er mir wieder die schlechten Seiten dieser Welt ein. Ich wusste bereits vorher wie schrecklich es an manchen Orten zugehen kann, aber das war immer so weit weg und hat mich niemals so getroffen wie das, was mir widerfahren ist. Ich brauche irgendeinen Halt von Leuten, die ich liebe. Besonders Meg zu vergessen, ist daher einfach absolut unmöglich.
Die Tür öffnet sich vorsichtig und ich rufe dumpf ins Kissen, dass er weggehen soll.
>Nein, das ist nämlich mein Haus. < widerspricht er zornig.
>In Ordnung, dann gehe ich. < schluchze ich und stehe auf, weil ich an ihm vorbeitrampeln will aber er stellt sich mir in den Weg. >Geh bitte zur Seite. Ich sollte überhaupt nicht hier sein. <
>Nein! Ich will, dass du mir zuhörst. Ich bin in diesen Dingen einfach nicht mehr besonders gut. Vielleicht bin ich über die Jahre ja wirklich abgestumpft aber es tut mir leid was ich gesagt habe. Ich finde nur, dass es dir rein gar nichts bringt, wenn ich dich bei so etwas anlüge. Es ist kein einfaches Unterfangen eine Person von der Bildfläche verschwinden zu lassen und sie dann mit alten Bekannten zusammenzubringen, die öffentlich über sie auspacken könnten. <
>Ich kenne Megan seit fast zwanzig Jahren. <
>Dann will ich für dich hoffen, dass sie das nicht vergessen hat. <
>Was? < frage ich schrill, weil ich nichts kapiere. Als Antwort hält er mir ein fremdes Handy hin, welches ich noch gar nicht kenne.
>Ruf sie an! Sag deiner Freundin, sie soll heute Abend, wenn es dunkel ist nach Maple Hill kommen. Ich fahre dich dort hin und ihr könnt reden. So kann ich sie mir mal genauer ansehen. <
>D… du lässt mich mit ihr reden? < stottere ich verständnislos. Bis eben hat er doch noch einen riesigen Aufstand deswegen gemacht.
>Ja aber eben nur mit diesen gewissen Vorkehrungen. Und glaub mir, es passt mir trotzdem nicht. Solche heiklen Dinge tue ich für gewöhnlich nie. <
>Findest du das nicht etwas übertrieben? <
>Nein am liebsten würde ich dich dafür aus dem Bundesstaat rausfahren, aber das würde bedeuten, dass wir entweder an deiner Heimat vorbeikommen oder über die kanadische Grenze müssen. Nichts von beidem finde ich sicher genug, um dich dort einzuschleusen, solange die Sache nicht geklärt ist. Dimitrij und ein paar Weitere sind an dem Fall dran. Sie versuchen Beweise zu finden, um deine Unschuld öffentlich zu beweisen. Das ist bisher nur leider ziemlich schwierig. <
Verwundert wische ich mir die Tränen vom Gesicht und starre auf seine Hand mit dem Telefon.
>Welche „Weiteren“ hängen sich in einen solchen Fall mit hinein, der angeblich ganz klar gegen mich spricht? <
>Ich glaube du wirst sie schon bald kennenlernen, wenn das so weitergeht. Also, folgendes: Ruf deine Freundin an, sag ihr wo ihr euch trefft und wirf das Handy nach dem Gespräch in den Lake. Ihr bleibt vor Ort die ganze Zeit im Auto bis ich sage, dass wir uns herauswagen können, kapiert? Auch wenn du jetzt anders aussiehst, will ich nicht, dass du auf einer Verkehrskamera oder einer Ladenkamera landest. Du brauchst erst einen Pass, der aussagt, dass du jemand anderes bist. <
>Du müsstest einen ziemlichen Weg auf dich nehmen, um mich dorthin zu bringen. <
>Tja weißt du, bis Sonntag habe ich zufällig nichts Besseres vor. < grinst er.
>Ich meine damit, ich könnte auch allein dort hinfahren. <
>Auf keinen Fall. Ich gebe dir weder meinen Pick-up noch lasse ich dich alleine zu so einem Treffen. Dass du auffliegst, ist aktuell viel zu gefährlich. < manchmal flackert etwas in ihm durch, als würde er sich wirkliche Sorgen um mich machen.
>Eines verstehe ich nicht. Woher der Sinneswandel? <
Er kaut nachdenklich auf seiner Unterlippe herum und lässt dann seine Hand mit dem Telefon sinken, da ich mich noch nicht getraut habe, danach zu greifen. Vielleicht überlegt er es sich jeden Moment wieder anders. So aussehen tut er jedenfalls.
>Ich habe wohl vergessen, dass du mit der Einsamkeit nicht so klarkommen kannst, wie ich. Das Erlebte ist zu frisch und ehrlich gesagt, kann ich dich nicht weinen sehen. Es tut mir leid was ich gesagt habe – schließlich kannte ich deinen Vater nicht. Nur weil ich anders gehandelt hätte, heißt das nicht, dass er ein Feigling war. Und was deine Freundin angeht, gebe ich ihr eine Chance und sehe sie mir an. < erklärt er und wischt mit seinem Daumen eine verbliebene Träne aus meinem Augenwinkel.
Ich nicke und grinse leicht.
Wir gehen ein Stück neben dem Lake spazieren, bis wir uns weit genug vom Haus entfernt haben. Sam ist wirklich übervorsichtig was mögliche Signale angeht, die zurückverfolgt werden könnten. Dann nehme ich sein Wegwerfhandy entgegen und wähle Megs Nummer. Hoffentlich geht sie dieses Mal ran. Etwas zittrig nehme ich das Telefon an mein Ohr und kaue mir an den Fingernägeln herum. Sam nimmt es mir allerdings weg und drückt auf den Lautsprecher. Es läutet einmal, zweimal und dann dreimal und endlich höre ich ihre Stimme. Sie klingt weder warm noch freundlich, sondern völlig am Ende und trotzdem macht mein Herz bei ihrem Klang einen Satz.
>Hallo? < ertönt sie kratzig auf der anderen Seite.
>Meg. Ich bin es. < daraufhin folgt erst ein Schweigen, dann ein Schluchzen.
>Du blöde Kuh! Findest du das etwa lustig? Das ist pietätlos. < haucht sie und will offenbar schon auflegen.
>Nein bleib dran! Ich bin es wirklich und mir geht es gut. <
>Was? Du spinnst doch. <
>Megan, du musst mir zuhören! Du liebst Bücher von Ken Follett und hasst den Geruch von Popcorn, weshalb du im Kino immer zwischen Jordan und Sasha sitzt, weil sie das nicht essen. Die Politikwissenschaft war dein absolutes Antifach und du …<
>Oh Gott Yeli. < jammert sie herzzerreißend und redet mir hinein, da sie mir nun zu glauben scheint. >Ich habe gehört, dass du tot sein sollst. Die ganze Stadt behauptet das. Ich kann nicht glauben, … ich meine, ich habe …<
Ihr fehlen die Worte und sie hört sich total am Boden an.
>Ich weiß. Das sollte auch so sein, damit nicht mehr nach mir gefahndet wird. Es geht mir wirklich gut und ich bin in Sicherheit. Du musst mir glauben, dass ich nicht das getan habe, was da gesagt wird. <
>Das weiß ich doch. Glaubst du etwa, ich hätte auch nur eine Sekunde an deiner Unschuld gezweifelt? Aber der Rest ist wahr. Deine Eltern und Iye sind wirklich nicht mehr am Leben. < berichtet sich und beginnt fürchterlich zu weinen.
>Ja, weiß ich. < krächze ich und sehe wie Sam nervös auf der imaginären Uhr an seinem verbundenen Handgelenk tippt. >Ich muss mich jetzt für den Fall kurzfassen, dass wir abgehört werden. Können wir uns sehen? <
>Ja natürlich, sofort! Aber wieso sollte man uns abhören? <
>Das ist eine lange Geschichte. Können wir uns in Maple Hill sehen? Es gibt da eine Tankstelle mit einem Diner, das genauso heißt wie der Ort. <
>Yeli, ich komme überall dorthin wo du bist und ich kann sofort losfahren. Ich habe immer noch keinen Job und selbst wenn, wäre mir das scheiß egal. <
Das erschreckt mich jetzt allerdings. Aber ich habe keine Zeit, mich davon ablenken zu lassen. Ich muss schnell machen. Sam blickt mich immer ungeduldiger an und zeigt zwei Finger in die Höhe.
>Okay dann treffen wir uns heute Abend gegen zehn dort – es muss dunkler sein. Ich melde mich später nochmal. Sag niemandem wohin du fährst. Niemandem okay? <
>Warte … kann ich dich denn irgendwie erreichen? Was ist, wenn wir uns nicht finden? <
Seitdem es Sam gibt, bin ich viel hellhöriger und sensibler geworden. Im Hintergrund höre ich die Knack- und Raschelgeräusche, die er beschrieben hat. Ich sage nichts und blicke zu ihm. Da ich den Lautsprecher anhabe, hört auch er es und läuft bereits mit großen Schritten auf mich zu. Sam schüttelt energisch den Kopf, damit ich nicht weiterrede.
>Hallo? < ruft Meg.
Ich drücke sie weg und ehe Sam bei mir ist, um es zu tun, werfe ich das Telefon in den Lake hinein. Mit einem lauten Platsch, geht es unter und ich schaue schockiert auf die Stelle, auf die ich gerade gezielt habe.
>Da hast du gut reagiert Kleines. Das ging gerade nochmal gut. <
>Ich dachte immer du übertreibst aber jetzt weiß ich was du meinst. <
>Schön, dass du mir endlich glaubst. <