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Fingerabdrücke bleiben

von Lynnix
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Krimi / P16 / Gen
23.02.2018
25.11.2021
129
578.228
7
Alle Kapitel
102 Reviews
Dieses Kapitel
2 Reviews
 
06.07.2018 3.595
 
Kapitel 20 – Angst davor, allein zu sein

Nachdem Sophia gegangen war, lag ich etwa eine halbe Stunde im Bett und habe doch noch gelesen, obwohl ich anfangs echt müde war. Ich hätte zuvor nicht gedacht, dass meine Augen heute überhaupt so lange offenbleiben können, aber da es plötzlich ziemlich stark zu gewittern anfing, sind sie jetzt weit aufgerissen.
Inzwischen ist an das Einschlafen überhaupt nicht mehr zu denken. Ich hoffe nur, dass Sophia gut nach Hause gekommen ist. Sam wohnt bei weitem nicht so hoch neben den Klippen wie ich, sondern gleich neben einer relativ ruhigen Bucht. Hier um uns herum sind viele große Bäume und bei so einem Sturm mache ich mir schon so meine Gedanken, was passiert, wenn einer davon auf sein Haus knallt.
Es ist komisch zu wissen, dass Sam nicht hier ist. Ich finde es ziemlich unbehaglich völlig allein zu sein. Auch wenn ich ihn überhaupt noch nicht gut kenne, hat er trotzdem in irgendeiner Weise die Rolle eines Beschützers für mich eingenommen.
Ich denke an seine stechend grauen Augen, an seine inzwischen ziemlich kurzen Haare und den kurz rasierten Bart, der nun viel mehr von seinem Gesicht preisgibt. Eindeutig ein schöner Mann, wenn man ihn erstmal so gesehen hat.
Kaum zu glauben, dass ich ihn deutlich älter geschätzt habe. Ich lege das Buch auf meiner Brust ab und schaue zur Tür – irgendwie fühle ich mich unwohl. Zuvor haben mir Gewitter und die Dunkelheit nie etwas ausgemacht aber jetzt ist es anders geworden. Bei einem besonders lauten Donnern zucke ich zusammen und ziehe die Decke bis zur Nase. Es ist idiotisch und kindisch aber mein Unbehagen lässt sich nicht abstellen. Ich versuche mich nach ein paar Minuten abzulenken und schaue wieder in das Buch hinein. Krampfhaft versuche ich müde zu werden aber das macht es nur noch schlimmer und schlussendlich bin ich hellwach.
Schließlich stehe ich auf und mache sofort das Licht im Flur an. Leise höre ich in die Stille der vier Wände hinein und nehme nur den Regen und das Grollen von draußen wahr. Ich bin hier sicher – das weiß ich und trotzdem führe ich mich auf, wie ein kleines Kind, das Angst vor Monstern unter dem Bett hat. Auf leisen Sohlen gehe ich in die Küche und mache auch dort sofort das Licht an. In meinem derzeitigen Zustand kann ich mir nicht vorstellen, jemals wieder so ungezwungen und bei Nacht durch einen Wald zu laufen, wie ich es früher getan habe.
Vorsichtig hinke ich zu seiner Eingangstür und rüttele daran. Sie ist abgeschlossen. Das sollte ich eigentlich ziemlich genau wissen, dann immerhin habe ich es ja selbst getan. Aber allein für mein Gefühl war es wichtig, es erneut zu überprüfen. Ich laufe weiter in die Küche hinein und mein Blick geht zur Uhr – es ist fast 2 Uhr nachts. Aus dem Hahn lasse ich mir etwas Leitungswasser in ein Glas laufen und gehe damit zum Sam´s Tisch. Nervös mit dem Bein wippend, sitze ich auf seinem Küchenstuhl und nippe hin und wieder an meinem Getränk. Ich weiß nicht, weshalb ich mir heute so die Nacht um die Ohren schlage, denn die letzten beiden Tage ging es immerhin auch irgendwie. Vielleicht ist es, weil ich so viel an Megan denken muss. Sie hat die Nachricht im Fernsehen sicherlich gehört und muss am Boden zerstört sein. Ich habe gar nicht daran gedacht, was das mit ihr gemacht haben muss, als sie hörte, dass ich tot aufgefunden wurde. Mir ist ja auch klar was Dimitrij damit bezweckte und dass ich scheintot sicherer bin, als immer noch auf einer Fahndungsliste zu sein. Für die, die mich von früher kennen ist es aber sicher mehr als nur furchtbar.
Das Gewitter ebbt immer noch nicht ab und jedes Mal, wenn es erneut donnert, schrecke ich zusammen. Den Gedanken ans Schlafengehen habe ich inzwischen völlig verworfen.

            Ich trinke nun schon das zweite Glas leer, als ich Reifen auf modrigem Boden hören kann. Kurz darauf blicke ich aus dem Fenster und sehe die Scheinwerfer eines Autos. Sofort erinnern sie mich an die des Wagens, die noch vor kurzem in unser Küchenfenster hineinschienen. Sie gehen aus und durch die Dunkelheit sehe ich keine weiteren Bewegungen. Meine Angst lähmt mich, als kurz darauf an der Tür gerüttelt wird und der Riegel zur Seite springt. Auch wenn es nur ein paar Schritte von der Einfahrt bis zum Eingang waren, kommt Sam mit nassen Klamotten und mit schlammigen Schuhen hinein, während ich wie festgewachsen in seinem Shirt auf dem Stuhl sitze.
>Hey Kleines, was machst du denn noch hier? < fragt er verwundert und auf eine seltsame Weise sanft. Mir hingegen fällt ein Stein vom Herzen als er es ist.
>Ich kann nicht einschlafen. Es ist zu viel in meinem Kopf. <
>Ja ich schätze, das kann ich verstehen. < murmelt er und schaut mich mit diesem intensiven Blick an, den ich inzwischen kenne und der auf irgendeine Weise fesselnd ist. >Sophia hat ganze Arbeit gemacht. Man erkennt dich auf den ersten Blick nicht. <
>Ich muss zugeben, ich habe mich selbst erst nicht erkannt. <
>Du siehst gut aus. < sagt er gerade heraus.
Irritiert starre ich zu ihm hoch und murmle dann ein verwundertes „danke“.
>Du solltest eher eine warme Milch als das Wasser trinken, wenn du nicht schlafen kannst. < wendet er ein und nickt zu meinem Glas.
>Ach schon gut. Ich glaube es wird jetzt gehen, du bist ja wieder da. < erwidere ich wahrheitsgetreu. In diesem Moment schauen wir uns gegenseitig mit exakt dem gleichen, verdutzten Gesichtsausdruck an. Habe ich das gerade echt gesagt? Aber andererseits stimmt es. Ich fühlte mich sofort beruhigter, als er zur Tür hereinkam. Er hatte versprochen, nicht so lange weg zu sein und da steht er. Mein Blick fällt plötzlich auf sein freies Handgelenk, das weder von seinem dunklen Lederhandschuh, noch von seinem Jackenärmel verdeckt wird.
>Du hast dich geschnitten, du blutest. < merke ich an und zeige auf die feine Linie.
>Oh. Ja das muss mir gerade erst passiert sein. <
Ich stehe auf und schnappe mir etwas Küchenpapier. Bei genauerem Hinsehen kann es aber gar nicht von eben sein.
>Das ist echt tief und blutet schon eine Weile. Drumherum ist das Blut doch schon angetrocknet. <
>Ach was. < sagt er lässig und nimmt mir das Zewatuch aus der Hand, um es sich aufs Handgelenk zu pressen. >Du solltest jetzt ins Bett gehen und deine Batterien aufladen. Ich muss mich noch duschen und dann gehe ich auch schlafen. <
>Mitten in der Nacht? < zweifle ich an und ziehe eine Augenbraue hoch.
>Ja ich kann es nicht leiden ins Bett zu gehen, wenn ich von der Arbeit komme. Ich muss den Dreck vorher loswerden. <
>Okay. Dann schlaf nachher gut. < murmle ich und sehe an ihm herab. Er ist an der schwarzen Jeans etwas mit Schlamm bespritzt aber abgesehen davon, ist der Rest von ihm einfach nur pitschnass vom Regen. Trotzdem ist es wohl besser, wenn er sich unter die heiße Dusche stellt.
>Du auch Kleines. <
Ich ziehe den Saum seines Shirts etwas weiter hinunter, damit ich meinen Po nicht allzu freizügig präsentiere und gehe los in Richtung des Gästezimmers. Auf den letzten Metern wende ich mich erneut zu ihm um, da mir noch etwas unter den Nägeln brennt.
>Du Sam? <
>Hmm? <
>Dürfte ich morgen noch mal dein Telefon benutzen? Ich will meiner Freundin sagen, dass es mir gut geht. <
>Nein, Dimitrij hat es für dich so gedreht, dass du erstmal sicher aus der Sache raus bist. Wenn du dich jetzt meldest und deine Freundin drüber öffentlich auspackt, dass du doch noch lebst, dann hast du ein noch größeres Problem. Vor allem war dann alles bisher umsonst. <
>Das würde sie niemals tun! Wir kennen uns fast unser ganzes Leben lang. <
>Das hat nichts zu bedeuten. Man wird in dem Moment von den Leuten im Stich gelassen, wenn du sie am dringendsten brauchst. Sobald es zu unbequem für sie wird, bist du auf dich allein gestellt. Je eher du lernst mit den Dingen allein klarzukommen, desto besser. <
>Sam bitte. Sie ist alles, was ich habe. Meg würde mir niemals in den Rücken fallen, nie. <
>Lass uns morgen darüber reden. Ich bin ziemlich erledigt und du solltest auch versuchen zu schlafen. <
Er beendet das Gespräch nach seinem Geschmack und antwortet mir wieder nicht so, wie ich es gerne hätte. Langsam frustriert er mich regelrecht, auch wenn Sophia mir ein paar Erklärungen zu ihm geben konnte. Meine Gesichtszüge entgleiten mir aber trotzdem bleiben seine bei der üblichen Strenge. Eben war ich noch so froh, dass er wieder da ist und jetzt werde ich von ihm wieder zusammengefaltet.
„Er will, dass du stark bist. Verstehst du?“ waren Sophias Worte. Aber soll ich Meg einfach vergessen? Das kann ich nicht und das will ich auch nicht.
Wortlos drehe ich mich um und laufe bereits in Richtung des Zimmers.
>Ich tue das nicht, um dir den letzten Menschen zu nehmen, den du hast, sondern um dich aus diesem Desaster herauszuholen. <
>Ich weiß. < wispere ich und gehe einfach weiter. Immerhin meckert er nicht schon wieder herum, weil ich ohne Stütze laufe.
Sobald ich wieder im Bett liege, denke ich über seine Worte nach. „Man wird in dem Moment von den Leuten im Stich gelassen, wenn du sie am dringendsten brauchst."
Was ist ihm denn passiert, dass er so darüber denkt? Es gibt doch immer Menschen, die einem zur Seite stehen, wenn es schwierig wird. Oder?
Genervt drehe ich mich auf die Seite und stelle das Nachtlicht an. Das offene Buch lege ich auf dem kleinen Tisch neben dem Bett ab und starre zur Tür. Ich lausche dem Sturm, der immer noch nicht ruhiger wird – aber zumindest macht er mir keine Angst mehr wie vorhin. Allmählich habe ich von dem Willen das Einschlafen zu erzwingen Kopfschmerzen bekommen und massiere mir die Schläfen, bis ich endlich irgendwann wegdämmere.

Später
Hände. Überall sind Hände, die mich festhalten. Hände, die mir an die Kehle gehen, mir die Luft abdrücken und mich am Schreien hindern wollen. Hände, die meine Fußgelenke festhalten, damit ich nicht aufstehen und wegrennen kann. Hände, die sich in meine Schusswunden hineinbohren. Ich schreie so laut es meine zugedrückte Kehle zulässt und winde meinen Kopf hin und her.
>Lass mich los! < brülle ich.
>Du bist eine recht hübsche Anzahlung. Ich glaube dich nehme ich mit. < lacht jemand hinter mir. Ich versuche um mich zu treten aber immer mehr Hände halten mich an sämtlichen Körperstellen fest und ziehen mich in eine schwarze Tiefe.  
>Nein! Ich gehe nicht mit! < schreie ich aus Leibeskräften und werde am ganzen Körper geschüttelt.
>Werd wach! Niemand nimmt dich mit. < ruft irgendein anderes Wesen. >Du bist sicher. Hörst du mich? Du bist hier sicher. Es ist nur ein Traum, wach auf! <


Plötzlich reiße ich meine Augen auf und bin an beiden Schultern gepackt.
>Nein. < keuche ich und versuche die Hände wegzuschlagen.
>Nayeli ist schon gut. Ich bin es – du hast nur geträumt. <
>Sam? < wimmere ich und halte jetzt zittrig seine Hände, anstatt sie wegzuschieben. Das Licht neben meinem Bett ist angestellt, weshalb ich sein Gesicht im Schein sehen kann. >Verdammt. Wann wird das aufhören? < erschöpft lasse ich meinen Kopf gegen seine nackte Brust fallen. Er berührt meinen Hinterkopf und seufzt.
>Vielleicht nie. Vielleicht aber auch schon sehr bald, wenn ich sie habe. <
>Die könnten überall sein und einer gegen drei ist eine schlechte Aussicht. <
>Lass das ruhig meine Sorge sein. <
Ich löse mich von ihm und sehe jetzt erst, dass er nur eine Boxershorts trägt. So bin ich ihm bisher auch noch nicht begegnet. Sein Handgelenk, das vorhin geblutet hat, ist ein paar Mal mit Mull umwickelt.
>Es tut mir so leid, dass ich dich andauernd wach mache. <
>Ist schon gut. Es ist mir so lieber, dann kann ich dich aus diesem Alptraum herausholen. <
>Danke. < hauche ich. Er steht von dem Bett auf aber ich greife schnell seine nicht verbundene Hand, um ihn aufzuhalten. >Kannst du bei mir bleiben? Nur für heute. <
Sein Gesicht wirkt verblüfft aber dann geht er wortlos in den Flur. Ich denke schon, dass er geht und will, dass ich damit alleine fertig werde. Aber er macht lediglich das Licht aus und kommt dann mit leisen Schritten zurück.
>Dann rutsch ein Stück rüber und wehe, du ziehst mir die Decke weg. < meckert er – allerdings mit einem belustigten Unterton.
>Von mir aus kannst du sie für dich alleine haben. <
Mir ist nur wichtig, dass er hier ist. Er muss nur einen halben Meter neben mir liegen, das reicht.
Sam steigt zu mir ins Bett und ich mache ihm etwas Platz. Zu meinem Unbehagen stellt er das Licht neben dem Bett aus.
Ehrlich gesagt habe ich nicht erwartet, dass er tatsächlich tun würde, worum ich ihn gebeten habe. Es war eher eine nicht durchdachte Bitte, ohne Hoffnung auf Erfüllung und trotzdem liegt er jetzt hier. Auch wenn wir auseinanderliegen, spüre ich wie sein Körper die Wärme abgibt und mir ein Gefühl der Sicherheit schenkt.
>Du hättest wahrscheinlich nie gedacht, dass du mal das Bett mit deinem ungeladenen Mitbewohner teilen müsstest. < werfe ich murmelnd ein.
>Das ist wohl wahr. Aber du stellst es etwas zu negativ dar. Ich mag dich Kleines. Du bist cool und es stört mich nicht, für die eine Nacht bei dir zu sein. <
>Cool? < schnaube ich belustigt und sehe so langsam seine Umrisse, als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen.
>Naja du bist clever und kannst nebenbei bemerkt toll kochen. Endlich bekomme ich mal was Richtiges zu essen – das gefällt mir. Es ist nur schade, dass ich dich so selten lächeln sehe. <
Während er spricht, berührt er in etwa die Stelle in meinem Gesicht, wo mein Grübchen ist und pikst leicht mit dem Zeigefinger rein.
>Das sagt ja gerade der Richtige. < erwidere ich und rolle mit den Augen. >Unter normalen Umständen bin ich ein recht lebensfroher Mensch. Ich war glücklich mit meinem Leben und für mich war zuvor trotz Schwierigkeiten alles perfekt, bis mir alles weggenommen wurde. <
>Das kann es wieder werden. Du kannst dich entweder dein Leben lang verkriechen und das was passiert ist für immer mit dir herumtragen oder du machst deine eigenen Regeln. Denke nicht, dass ich nicht wüsste, wie du dich fühlst – glaube mir, das tu ich. Aber du musst deine Trauer hinter dir lassen und weitermachen. Gerade deswegen, um zu zeigen, dass sie dich nicht zerstört haben. Dir fehlt nur noch ein bisschen die Stärke, die zu deinem Mut passt. <
Ich pruste ungewollt los und starre ihn in der Dunkelheit an.
>Das Einzige, was ich bin, ist ein Feigling zu sein. Ich bin davongelaufen. <
Dann richtet er sich abrupt auf und stellt das Nachtlicht an. Sam stützt sich auf den Ellenbogen und neigt sein Gesicht mehr zu meinem, was mich automatisch zurückweichen lässt.
>Bitte um Verzeihung aber jemand der in ein Haus hineinläuft, um die Familie dort herauszuholen – und vorher weiß, dass dort jemand drin ist, der nicht dort sein sollte, der ist nicht feige. Deine Familie ist dir so wichtig gewesen, dass du alles andere um dich herum vergessen hast. Du warst in der Nacht vollkommen alleine und unbewaffnet – natürlich solltest du davonlaufen, wenn drei Kerle hinter dir her sind. Das hat absolut rein gar nichts mit Feigheit zu tun. < Dann lässt er sich wieder auf den Rücken fallen und dreht den Kopf zu mir. >Du hast im Traum geschrien, dass du nicht mitkommen wirst. Was hast du da geträumt? <
Einen Moment lang zögere ich und sehe von seinem Gesicht zu seinem Hals herab, darunter auf seine nackte Brust und den trainierten Bauch. Es ist nicht das erste Mal, dass ich ihn oberkörperfrei sehe aber jetzt fällt mir eine kreisrunde Narbe rechts von seinem Bauchnabel auf. Ich wende meinen Blick wieder seinem Gesicht zu und erkläre ihm flüsternd:
>Es war kein Traum, sondern so ähnlich lief es ab. Der eine von ihnen hat in der Nacht gesagt, er wollte mich als Anzahlung für die offene Rechnung mitnehmen. <
Sam presst die Kiefer aufeinander und sieht mich mit diesem bösen Blick an, den Sophia mir erst erklären musste. Trotzdem finde ich ihn immer noch unheimlich.
>Dir ist klar was er mit dir gemacht hätte, wenn er dich in die Finger bekommen hätte, oder? <
Ich nicke und presse die Lippen aufeinander. Eigentlich will ich gar nicht daran denken, wie schlimm es noch hätte werden können. Ich sehe ihn an und glaube, dass er mich einfach nicht versteht. Das, was ich in dieser Nacht getan habe, war kein Mut, sondern das war pure Verzweiflung als ich dort hineinging.
Mein Blick wandert erneut an ihm herunter und bleibt wieder auf dieser Bauchnarbe hängen.
>Das ist auch eine Schusswunde, oder? Das sieht jedenfalls so aus wie meine. <
>Ja, es ist schon eine Weile her und tut schon lange nicht mehr weh. <
>Wo hast du die her? < will ich wissen.
>Ich war in Syrien als Soldat stationiert. Damals waren wir im Konvoi im Kriegsgebiet. Den Rest kannst du dir denken. <
>Du fertigst jedes Thema so schnell ab, wie ich eine Frage stelle. <
>Das ist nun mal eine Zeit, an die ich nicht gern zurückdenke. < erwidert er und blickt schnaufend in Richtung der Zimmerdecke.
>Ist der Rest von deinen Kameraden auch so glimpflich weggekommen wie du? <
Er lässt den Kopf wieder seitlich zu mir fallen und schaut mich mit diesem echt-jetzt?- Blick an. Ja schon klar, das war wieder mal die falsche Frage. >Okay, Sorry. Ich habe es ja verstanden. Keine Kriegsfragen mehr, ich verspreche es. <
Inzwischen hat er seine Augen geschlossen aber seine Lippen kräuseln sich und er murmelt:
>Das hältst du eh nicht lange aus. <
>Was soll das denn heißen? <
>Dass du die neugierigste, kleine Nervensäge bist, die ich bisher kennengelernt habe. Du redest so wahnsinnig viel und das selbst jetzt noch mitten in der Nacht. < feixt er und legt seinen Arm über sein Gesicht.
>Hey! Was ist aus „du bist cool Kleines“ geworden? Außerdem bist du nun mal der einzige, den ich zum Reden habe und ich kenne dich noch gar nicht. Vielleicht würdest du auch ein paar Sachen über mich wissen wollen, wenn du in meiner Lage wärst. < traurig füge ich nach einem stillen Moment hinzu: >Immerhin habe ich alles verloren … <
>Nein. Hör auf das zu sagen! < erwidert er und richtet sich erneut über die Seite auf. Dieses Mal dreht er mein Gesicht zu sich, damit ich ihn anschauen muss. >Ich sage es dir noch mal: Spiel nach deinen eigenen Regeln. Hol dir dein Leben zurück. Ich schwöre dir, ich helfe dir dabei, so gut ich kann. <
>Wie willst du das anstellen? <
>Schritt für Schritt. Und jetzt schlaf endlich wieder ein, sonst sind wir morgen beide nicht besonders gut zu gebrauchen. <
War ja klar, dass ich keine Antwort bekomme, also schmiege ich mein Gesicht wieder in das Kissen und seufze. Sam beugt sich rüber und stellt das kleine Nachtlicht wieder aus. Ich drehe mich gerade auf meine gewohnte Schlafseite, als Sam unerwartet mit seinem Arm um meine Taille greift und mich zu sich heranzieht.
>Hey was tust du? < keuche ich und will mich am liebsten am Laken festkrallen.
>Komm einfach her. Sonst wälzt du dich die halbe Nacht grübelnd herum und schläfst womöglich nie ein. <
Sein einer Arm liegt um meinen Körper herum und er hat seinen Kopf direkt hinter meinem zu liegen, wodurch ich seinen warmen Atem in meinem Nacken spüren kann. Mit aufgerissenen Augen und zusammengepressten Lippen starre ich zur Wand. Das kann doch wohl nicht sein Ernst sein. Trotzdem fühle ich mich nur im ersten Moment unwohl, denn da er mich sonst nicht weiter anfasst, werde ich nach und nach immer entspannter. Seine Anwesenheit, sein Geruch und seine ruhige Atmung lassen mich endlich zur Ruhe kommen. Er richtet sich nochmal aus und ich spüre die kurzen Bartstoppeln an meiner Schulter. Noch näher und ich schlage vor Beklemmungen womöglich doch noch um mich. Vorsichtig rutsche ich mit meinem Hintern etwas von seinem Becken weg. Ich höre und spüre wie er deswegen belustigt hinter mir schnaubt.
>Angst Kleines? < fragt er feixend.
>Ja, Platzangst. <
Er nimmt seinen Arm etwas zurück und lässt seine Hand nur noch auf meiner Taille ruhen.
>Versuche zu schlafen! Wenn du Alpträume hast, dann bin ich da. < haucht er.
Ich schlucke schwer. Was zum Geier tut er hier eigentlich? Ein halber Meter Abstand zwischen uns hätte es doch auch getan.
Er gähnt müde und danach werden seine Atemzüge immer ruhiger, bis er keine zwei Minuten später eingeschlafen ist. Manchmal beneide ich die Männer dafür. Trotzdem rücke ich mit meinem Unterkörper lieber noch ein paar Zentimeter von ihm weg. Sicher ist sicher. Ich finde Sam mit seinem neuen Look in keiner Weise unangenehm aber diese Situation ist irgendwie paradox. Dennoch bin ich froh darüber, dass er mir so nah ist. Manchmal ist die Gefühlswelt einfach nicht zu verstehen.
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