Fingerabdrücke bleiben
von Lynnix
Kurzbeschreibung
Nayeli genießt ihre letzte Woche als Studentin und lebt mit ihrer indianisch stämmigen Familie in einem alten Haus neben den Klippen des Superior Lakes. Sie kann es kaum erwarten ihren künftigen Job anzutreten, mit dem ihr eine aussichtsreiche Zukunft bevorsteht. Trotz Strapazen empfindet sie ihr Leben als perfekt aber was sie bis zu dem Zeitpunkt noch nicht weiß ist, dass ihr Vater eine große Last mit sich herumschleppt, dessen Folgen ihr den Boden unter den Füßen wegreißen werden. Die junge Frau lernt jemanden kennen, von dem sie noch nicht weiß, ob er Freund oder Feind ist. Plötzlich ist sie auf fremde Hilfe angewiesen, muss hinter Masken sehen, verstehen wie korrupt das Land ist, in dem sie lebt und auf schmerzhafte Weise Stück für Stück erfahren, wie tief ihr Vater in die Ereignisse verstrickt war. Sie muss Entscheidungen treffen, von denen sie glaubte, so etwas niemals tun zu müssen. Aber wie weit muss sie gehen um Schmerzen und Verlust zu überwinden?
GeschichteDrama, Krimi / P16 / Gen
23.02.2018
25.11.2021
129
578.228
7
Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
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02.03.2018
3.553
Kapitel 02 – Ohne Begleitung
Ich schrecke hoch, als mein blöder Wecker lärmt und schalte ihn schnell aus. Auf meinem Bauch liegt offen und nach unten gerichtet einer meiner vielen Romane. Gähnend lege ich ein Lesezeichen hinein und stehe dann auf.
Auf meinem Stuhl liegen bereits meine Klamotten bereit. Iye und mein Vater sind schon längst aus dem Haus, während meine Mutter sicher schon dabei ist, zum zweiten Mal Frühstück zu machen. Ich ziehe eine rote Stoffhose und ein weißes Langarmshirt mit dünnem, flattrigem Stoff an den Ärmeln an, ehe ich in unser Badezimmer taumle.
Eine halbe Stunde später packe ich einiges aus meiner Umhängetasche heraus und laufe runter in die Küche. Es ist der letzte Tag nach unserer Prüfung. Heute passiert nicht mehr allzu viel und daher ist es schön, mal so eine leichte Tasche über der Schulter zu tragen.
>Morgen Mum. < gähne ich, als sie gerade am Herd steht und French Toast macht.
>Guten Morgen mein Schatz. Gut geschlafen? <
>Geht so. Ich habe irgendwie auf einem Buch gelegen, während das zweite auf mir lag. <
>Also von mir hast du das nicht mit all diesen Büchern. <
>Dafür aber eine Menge anderes. < erwidere ich grinsend.
Sie stellt mir einen Kaffee auf den Tisch und den fertigen French Toast.
>Danke aber du weißt, dass du das nicht jeden Morgen machen musst. Ich bin erwachsen …<
>Ja, ja ich weiß. Aber ich mache das gerne und wer weiß wie lange du noch hier wohnst, wenn du erst deinen Job hast. Du könntest schon in ein paar Monaten nicht mehr hier sein und wem mache ich dann Frühstück und Kaffee? <
Ich lache daraufhin und erwidere:
>Na zum Beispiel mal dir selbst oder Dad. Iye solltest du aber lieber keinen Kaffee geben, ich glaube, das geht sonst nach hinten los. <
Sie gibt mir einen liebevollen Klaps auf den Hinterkopf und schüttelt grinsend den Kopf. Nachdem ich meinen Koffeinschock bekommen habe und inzwischen wach bin, schwinge ich meine Tasche seitlich über die Schulter, küsse meine Mutter zum Abschied auf die Wange und hole mein Fahrrad von draußen aus dem Schuppen.
Als ich aufsteige, sehe ich noch einmal zu meiner Mutter, die in der Tür steht und beide Daumen gedrückt nach oben hält.
Überall stehen Pfützen von der letzten Nacht und ich umfahre sie weitläufig. Ich brauche etwa fünf Minuten mit dem Rad, um auf eine normale asphaltierte Straße zu gelangen. Von dort aus muss ich noch weitere zwanzig Minuten bis zu meiner Uni fahren. Ich mag es morgens mit dem Drahtesel unterwegs zu sein, ganz zu schweigen davon, dass es billiger ist als Busfahren. Außerdem ist es auch schön, sich morgens etwas wach und warm zu strampeln. Heute komme ich gut durch und alle Ampeln sind mir gnädig. Ich überquere die letzte Straße und sehe schon von weitem meine beste Freundin Megan. Sie ist Inderin – na ja eigentlich Amerikanerin da sie hier geboren ist, aber ihre Eltern kommen beide aus New Delhi und verfolgen den typisch amerikanischen Traum.
Unsere Kommilitonen nennen uns immer das Indi-Duo - wegen dem Inderin und Indianerin-Ding. Uns gefiel das irgendwie von Anfang an, also wehrten wir uns nicht dagegen. Mit quietschender Bremse halte ich kurz vor ihr an und lasse mich von ihr auf die Wange küssen.
>Hi, na schon eine Ahnung wie du abgeschnitten hast? < will sie wissen und wirft ihr dickes Haar schwungvoll nach hinten.
>Nein, ich kann sowas immer nicht einschätzen. Geschafft haben werde ich es schon, aber ich glaube ich habe Theologie voll versaut. < antworte ich und kämpfe mich mit meinem alten Fahrradschloss am Ständer ab.
>So geht’s mir bei Politikwissenschaft. Ich glaube, da habe ich was vollkommen durcheinandergebracht. <
>Wird schon. < spreche ich ihr Mut zu. >Wir sollten uns deswegen aber nicht den ganzen Morgen verrückt machen. Immerhin müssen wir das Ergebnis noch ein paar Stunden abwarten. <
>Ich frage mich sowieso, wozu wir noch Unterricht machen. < quittiert Megan mit einem Schmollmund, der dadurch noch voller als ohnehin schon wirkt. Sie trägt heute eine coole lässige Jeans, die an den Knien aufgerissen ist. Ganz anders als ihre Mutter – klassisch in einem bunten Sari, trägt meine Freundin moderne Kleidung, schminkt sich auffällig und ist überhaupt nicht traditionell.
Ihre Eltern betreiben in unserem Ort ein Restaurant, was wahrscheinlich deswegen so gut läuft, weil die indische Tradition mit einfließt. Es fängt bei der Kleidung an und endet bei dem viel zu leckeren Essen, was ich oft kostenlos essen durfte. Meine beste Freundin und ich kennen uns schon seitdem wir ganz kleine Mädchen waren, daher sind ihre Eltern fast so etwas wie eine Ersatzfamilie für mich.
Jordan – einer unser Spieler bei den Bulldogs, kündigt sich schon einen halben Kilometer vorher an und verursacht einen Heidenlärm mit seiner Velocette Venom. Sein Motorrad ist uralt und neben seinem Auto sein ganz persönliches Schätzchen. Wenn es stimmt was er sagt, dann ist es ein echter Oldtimer, mit der er täglich zum College fährt. Eigentlich gehört dieses Ding in ein Museum finden wir.
Ich hatte recht und er fährt in diesem Moment auf den Campus. Megan winkt ihm schon zu – was vollkommen unnötig ist, da wir sowieso jeden Tag an der gleichen Stelle stehen und aufeinander warten.
Mit seinem Oldie fährt er bis zu den Fahrradständern, um ihn dort mit dem letzten lauten Röhren abzustellen.
>Poah das stinkt. < huste ich bei all den Abgasen, die sein Gefährt auspustet.
>Morgen Ladies. Das ist übrigens altertümlicher Charme. <
>Wenn du es sagst. < hüstelt Megan.
>Schaut ihr heute Nachmittag eigentlich auch zu? < fragt er und nimmt seinen Helm ab.
>Was ist denn heute Nachmittag? < fragt meine Freundin überrumpelt.
>Weißt du es wirklich nicht? Da ist ein Auswahltraining! < keucht Jordan etwas enttäuscht von ihr. >Wenn ich schon die Uni und das Team verlasse, dann will ich wenigstens entscheiden, wer von den Spinnern zukünftig spielen darf. <
>Also ich bin dabei. < grinse ich ihn an.
>Ich nicht. Ich habe am Nachmittag noch ein Vorstellungsgespräch im Museum. Vielleicht habe ich ja Glück und sie nehmen mich. Und falls nicht habe ich am Donnerstag noch eines bei einem Verlag. < antwortet Megan etwas stolz.
>Echt? Toll, das hast du mir noch gar nicht erzählt. < werfe ich überrascht ein.
>Ich weiß, es war auch erst am Samstag in der Post. <
Jordan erwidert daraufhin achselzuckend:
>Ich bin erstmal nur in ein Praktikum hereingerutscht aber besser als nichts. <
Er ist drei Jahre älter als wir und studiert nicht wie Megan und ich Geisteswissenschaften, sondern Pharmazie.
Die Schulglocke läutet, als er sich gerade eine Zigarette anstecken will.
>Oh man, so 'n Mist. < flucht er und macht sie sich trotzdem an. Er nimmt drei schnelle Züge, ehe er sie wieder austritt.
>Also dann bis später. < winke ich ihm zu, als wir getrennte Wege gehen.
>Tschau ihr Süßen. <
Der morgendliche Affentanz beginnt, die Türen werden geöffnet und auf den Gängen herrscht Tumult. Die Cheerleader springen auf dem Flur herum, während das Footballteam mit dem Football-Ei unter den Arm geklemmt, an den Spinden angelehnt steht. Sobald ein paar hübsche Mädchen vorbeilaufen, werfen sie sich provokant in die Brust. Auf der einen Seite stehen die Gruppen, die lieber unsichtbar sein wollen. Auf der anderen die Mädels, die ihr Haar kess nach hinten werfen und hinter vorgehaltener Hand kichern, sobald eines der männlichen Individuen vorbeiläuft.
>Heute komme ich mir wieder besonders stark in die Highschool zurückversetzt vor. < murmelt Megan und verzieht ihren Mund bei all dem Getue.
>Na ja, es ist der letzte Balztag. Sie müssen noch mal alles geben. < lache ich.
>Ja aber es gibt auch außerhalb des Colleges echt heiße Männer. Und ich rede wirklich von Männern, nicht von diesen Bubis. Glaub mir, ich hab nachgesehen. < zwinkert sie mir frech zu.
>Hmm. Sollte ich da etwas wissen? < grinse ich verschwörerisch.
>Sieh´ mich nicht so an. Es ist nichts Ernstes. < antwortet sie süß und hebt unschuldig ihre Schultern hoch. Dafür dass ihre Eltern eine sehr glückliche aber auch arrangierte Ehe führen, ist ihre Tochter ziemlich offen was Beziehungen oder Nicht-Beziehungen angeht.
Sollte ich jetzt beleidigt sein, weil ich von ihren neusten Begegnungen nichts weiß? Normalerweise bin ich die Erste, die etwas über Megan erfährt.
Wir verlassen den Tumult auf den Gängen und betreten unseren Hörsaal – wie immer setzen wir uns in der vierten Reihe nebeneinander. Ich kann es nicht leiden zu weit vorn oder hinten zu sitzen.
Die Hälfte unseres Studiengangs scheint noch nicht ganz wach zu sein. Wirklichen Unterricht haben wir heute ohnehin nicht mehr, weshalb die meisten sicher erst spät in der Nacht im Bett waren. Ich packe meinen Block und die vielen Kugelschreiber trotzdem auf den Tisch.
Dann lehnt sich ein Hintern gegen meine Schreibunterlage und schiebt mein akkurat zusammengelegtes Gesamtkunstwerk fast vom Tisch runter.
>Hey Indis, na schon einen Plan für Freitagabend? <
Megan wirft mir einen vielsagenden Blick zu.
>Tja Even ich weiß zwar nicht was du tust, aber Nayeli und ich werden ein mega gutes Diplom bekommen, unsere Familien vor Stolz zum Weinen bringen und abends die Tanzfläche rocken. <
>Das ist mir schon klar. Aber mit wem geht ihr abends da hin? < will er wissen und zuckt erst mit der linken, dann mit der rechten Augenbraue.
Weil er das so durchschaubar ansprach, gluckse ich, aber ich kann es gerade noch als Hüsteln tarnen.
Egal was Megan ihm gleich antwortet, meistens kommt etwas Gutes bei raus.
>Wir bevorzugen es gegen den Strom zu schwimmen und – du wirst es nicht glauben, Nayeli und ich gehen zusammen. <
>Ach Blödsinn. Ihr wurdet doch sicher von jemandem gefragt. Ihr könnt doch da nicht ohne Partner auftauchen. <
>Weißt du das ist so eine Sache mit den emanzipierten Frauen... < kontert meine beste Freundin. Ich schlage mir die Hand vor die Stirn, denn jetzt wird richtig dick aufgetragen. >… wir können selbst entscheiden was wir wollen. <
>Ihr werdet dort auftauchen wie Loser. < wendet er vollkommen verdattert ein.
>Das werden wir ja sehen. Challenge akzeptiert. < grinst sie verschwörerisch.
Dann verzieht er seine Miene und verschwindet auf seinen Platz.
>Gut gerettet. < wende ich flüsternd ein.
>Wer hat dich denn gefragt? < will Nicole von mir wissen, die das Gespräch mitbekommen hat und sich soeben zu meiner anderen Seite setzt.
>Stan Parker und Alexander Newton. <
>Hmm. Gleich zwei. Nicht schlecht. < wendet die Blondine zu meiner Überraschung ein. >Und dich? < fragt sie an Megan gewandt.
Meine Freundin schaut angestrengt an die Decke, so als müsste ihr Gehirn gerade Schwerstarbeit erledigen.
>Warte mal, du überschlägst doch nicht ernsthaft?! < keucht Nicole als hätte sie der Blitz getroffen.
>Sechs. < antworte ich für Megan, da sie offenbar noch eine Weile zum Überlegen braucht. Mit aufgerissenen Augen und leicht schüttelndem Kopf schaut meine andere Banknachbarin nach vorn zum Lehrerpult.
>Und dann gehen die ohne Partner hin. < murmelt sie verständnislos zu sich selbst.
Aber wir bleiben dabei. Wir haben es beide beschlossen, an unserem Abschlussabend das typische Klischee zu verlassen und ohne Partner zu gehen. Und wer weiß, vielleicht haben wir damit einer anderen jungen Frau die Tür geöffnet, die sonst nicht gefragt worden wäre und unbedingt mit einem Partner zusammen hinwollte. Aber Megan und ich, wir wollen einfach nur unseren Spaß haben, feiern, tanzen und den ein oder anderen Schluck trinken, ohne von irgendwem begrabscht zu werden.
Es klingelt ein zweites Mal und gerade so in letzter Sekunde, huscht noch unser Dozent Mr. Berth hinein.
>Na das ging ja gerade noch mal gut. < schnauft er und richtet seine Brille mit den runden Gläsern auf seiner Nase zurecht. >Guten Morgen. < begrüßt er uns strahlend und legt seine Tasche auf dem Pult ab.
>Guten Morgen. < stammelt der überwiegend müde Teil des Kurses.
>Ich bin mir sicher, auch wenn Sie alle Ihre Diplome mehr oder minder gut erhalten, kann ich Ihnen trotzdem noch etwas beibringen. <
Daraufhin murmeln die anderen ihren Protest, während ich meinen Block und einen Stift zücke. Diesen einen letzten Tag überstehen wir auch noch.
Mr. Berth geht immer sehr in seiner Rolle als Dozent auf. Er verkauft uns das langweiligste und einsilbigste Buch das man je in die Finger bekam, als etwas Phänomenales, schärft damit unseren Blick für das, was nicht sofort offensichtlich ist und liest zwischen den Zeilen. Dadurch schafft er es, Dinge hineinzuinterpretieren, die wohl kaum ein anderer sehen würde.
Inzwischen verstehe ich was er meint. Wenn man ihn ansieht, denkt man auf den ersten Blick: „Armer, kleiner, alter Mann.“
Er trägt immer ein hellblaues Hemd, darüber ein Kordsakko das an den Rändern und den Taschen schon etwas ausgefranst aussieht. Seine Haare bestehen sowohl links als auch rechts, nur noch aus schmalen, grauen Balken, die von vorn nach hinten verlaufen. Er hat einen kleinen Bauch, der noch mehr zum Vorschein kommt, weil er sein Hemd in die Hose hineinsteckt. Doch auf den zweiten Blick ist dieser Mann ein Genie.
Der Kurs läuft alles in allem sehr fließend und er gab uns nach seiner beeindruckenden Einleitung, einen Roman aus dem 19. Jahrhundert zu lesen. Auf den ersten Blick mal wieder kein Meisterwerk aber der innere Sinn dahinter fasziniert mich, ebenso wie die alte Sprache. Es ist fast etwas schade, als die Klingel das Unterrichtsende verkündet und ich weiß, dass ich dieses Buch nicht mehr in der Uni zu Ende lesen werde. Also schreibe ich mir schnell den Titel und den Autor auf und versuche es mir demnächst von meinem ersten selbstverdienten Geld zu kaufen.
In der nächsten Stunde haben wir mit Mrs. Lennert Theologie - das Fach, von dem ich denke, es vermasselt zu haben. Allerdings ist der Unterricht ein netter Ausklang, bei dem wir unsere grauen Zellen mal nicht anstrengen müssen, weil sie für den gesamten Block einfach einen Film laufen lässt. Er hat zwar nicht im Entferntesten etwas mit ihrem Fach zu tun, aber es ist ein verfilmter Roman von Jane Austen, den wir schon bei Mr. Berth interpretieren mussten.
Es geht um eine von fünf Töchtern, die komplett anders tickt als ihre Schwestern und absolut keine Lust hat zu heiraten. Allerdings spielt diese Handlung nicht im 21., sondern im 18. Jahrhundert, wo der einzige Sinn eine Frau zu sein darin bestand, früh zu heiraten, ein Dutzend Kinder zu bekommen und den Haushalt zu schmeißen.
Grinsend schaue ich zu Megan, da wir ja nun ganz offensichtlich auch aus allen typischen Mustern herausbrechen. Wir brauchen keine männliche Begleitung um einen schönen Abend zu haben.
Plötzlich landet ein zusammengefalteter Zettel auf meinem Tisch. Ich sehe mich um aber keiner deutet an, dass ich ihn weiterzugeben soll und ich weiß nicht von wo er geflogen kam. Mrs. Lennert schaut wie gebannt zum Fernseher, also falte ich das kleine Stück Papier auf. Dort ist in einer krakeligen Handschrift zu lesen:
„Bist du wirklich sicher, dass du nicht lieber mit mir zur Party willst? Even.“
Ich grinse aber ich bleibe dabei. Er ist ein netter Kerl und ich mag ihn, genauso wie Jordan. Aber genau das ist es – ich mag sie eben nur. Ich schreibe zurück und werfe ihm meine kurze und knappe Antwort zu.
„Ja absolut.“
Nachdem ich bei der literarischen Verfilmung stellenweise wieder einmal gesehen habe, wie man mithilfe einer gekonnten Schlagfertigkeit, gegen jede hochmütige Person das Feld als Siegerin verlassen kann, höre ich nach einer Weile gar nicht mehr richtig. Ich lasse meinen Kopf auf die Tischplatte fallen und denke über die nächsten Wochen nach. Ich kann es kaum erwarten in eine Arbeitsroutine hereinzukommen. Die stellvertretende Chefin der PR-Agentur will mich am Mittwoch noch einmal bei sich haben, um alle vertraglichen Dinge festzuhalten. Ab Freitag - wenn die Übergabe der Diplome sein wird, bin ich offiziell keine Studentin mehr und habe endlich meinen Platz gefunden.
Es klingelt zur Pause und die Hälfte des Studienganges erwacht wieder aus ihrem Halbschlaf. Ich packe meine Sachen in die Tasche und krame in meinem Portemonnaie herum. Bevor ich gegangen bin, hat mir meine Mum noch 5 Dollar zugesteckt. Immerhin kann ich mir aus der Kantine mal etwas zu essen holen, anstatt mein selbstgemachtes Essen mitzubringen.
>Wollen wir uns ein Sandwich holen und draußen essen? Es ist so schön heute. < frage ich Megan.
>Klar, ich brauche unbedingt Sonne. Diese letzten drei Tage haben dafür gesorgt, dass ich schon wieder leicht depressiv geworden bin. <
>Oh ja, du musst unbedingt in die Sonne. Du bist schon ganz Weiß geworden. < lache ich auf. Daraufhin werde ich nicht sehr liebevoll auf den Oberarm geboxt.
Aber sie hat recht, denn das Wetter hier kann einem wirklich übel mitspielen.
Wir holen uns etwas zu essen und sitzen dann auf der Bank in unserem großzügigen Campuspark.
>Nach der Pause bekommen wir unsere Ergebnisse. < jammert Megan mit vollem Mund und verputzt ihren Burger mit doppelt Käse.
>Musstest du das jetzt sagen? Ich habe es gerade verdrängt. <
Kurz darauf klingelt ihr Telefon.
>Oh das ist Jordan…Hi, wo steckst du? …. Von wegen, glaubst du wir laufen vor dir davon? …Haha… komm einfach rüber, wir sitzen im Park neben der Statue. Bis gleich. <
>Und wieder ist es vorbei mit der Ruhe. < murmelt Nicole grinsend, als meine beste Freundin den Anruf beendet hat. Ich mag die großgewachsene Blondine, weil sie selten eines der typischen Klischees bedient. Manchmal ist sie bei uns, weil sie genug von den Cheerleadern hat – zu denen sie selbst zwar dazuzählt, aber dennoch nicht immer einer Meinung mit ihnen ist. Sobald sie bei uns sitzt, haut sie sich genauso mit Junkfood voll wie Megan. Ist sie allerdings bei ihren sportlichen Assen, darf es nur noch Salat geben.
Keine zwei Minuten später läuft Jordan voraus und hat noch vier seiner Teamkameraden mit im Schlepptau. Sasha und Lukas die Medizinstudenten, Paul der Wirtschaftswissenschaftler und Andrew ebenso wie Jordan, in der Pharmazie. Sie sind nett und sitzen häufiger mit uns zusammen. Interessanterweise aus einem bestimmten Grund. Lukas meinte mal irgendwann, dass Megan und ich nicht so doofe Tussis sind wie die anderen. Das ließen wir einfach mal so im Raum stehen und sahen es als eine Art Kompliment an. Nicole hatte allerdings vollkommen recht, sobald die Jungs bei uns herumstehen, ist es vorbei mit der Ruhe. Es wird sich gerauft und laut gelacht, was ich hingegen recht amüsant finde. Das ist jedoch der Grund, weswegen ich sie immer noch „Jungs“ nenne und das, obwohl sie teilweise 25 Jahre und älter sind. Einige Studenten haben deutlich mehr Semester als wir zu absolvieren oder sie brauchen einfach etwas länger als die Regelstudienzeit vorschreibt.
Leider haben sie jetzt alle nur noch ein Thema. Die Auswertung unserer Prüfungsergebnisse sowie unsere Jobs danach und – wie soll es anders sein? Eishockey!
Allerdings kann ich bei dem letzten Thema wenigstens mitreden, ohne dass ich Schweißausbrüche bekomme.
>Dieser Thomas Banks vier Semester unter uns, ist echt schnell aber ich glaube, auf Schlittschuhen wird es ihn total umhauen. < wendet Paul nachdenklich ein und schaut sich die Liste der Eishockeybewerber an. Alle paar Jahre gehen die alten Spieler und werden durch neue ersetzt. Jordan verlässt dieses College daher auch mit einem weinenden Auge. Es war immerhin eine Zeit lang sein Team, worin all sein Herzblut lag. Ich fand es erstaunlich, dass er das alles mit seinem Studium vereinbaren konnte.
>Sucht das Footballteam heute auch seine neuen Spieler aus? < frage ich in die Runde.
>Ja, ich muss nämlich auch dabei sein. Die Cheerleader sind später dran und suchen ebenfalls nach Nachwuchs. Das kann dauern. < nörgelt Nicole und setzt die Dose Pepsi an die Lippen. Der schlaksige, aber riesengroße Sasha wendet dazu ein:
>Ich denke, das geht heute sämtlichen Sportlern so. Heute sind zumindest noch alle vollzählig. <
>Große Lust hat eigentlich keiner darauf, aber die nächsten Tage wird es wohl eher schwer werden, sie alle zusammenzutrommeln. Also bringen sie das alles heute hinter sich. < wirft Lukas ein und kassiert daraufhin von Jordan einen bösen Blick. Immerhin geht es hier um das Nachfolgeteam, das nicht alles wieder herunterreißen soll, was unser Team vollbracht hat.
Football interessiert mich an der Schule eigentlich eher weniger, aber es gehört eben dazu – ich schaue lieber den Superbowl mit den Profis an.
Cheerleading finde ich hingegen cool, wenn die Formationen gut sind, aber ich selbst würde darin wahrscheinlich eher unbeholfen wirken. Ich sehe mir daher lieber die Spiele von unserem Eishockeyteam an und schreie am lautesten, wenn sie ihre Punkte erzielen.
Eine Glocke ertönt, um uns das Ende der Pause zu signalisieren. Sofort sind wir alle verstummt und schauen uns mit zusammengepressten Lippen an.
>Na dann mal auf in die Höhle der Löwen. < lacht Lukas unsicher.
>Wir haben es sicherlich alle geschafft – schaut nicht so angespannt. < wendet Paul ein, der allerdings auch eine andere Gesichtsfarbe angenommen hat.
Ich atme schwerfällig aus und packe die andere Hälfte meines Schokoriegels wieder in das Papier ein. Dann gehen wir alle in unterschiedliche Richtungen zu unserem Hörsaal.
Ich schrecke hoch, als mein blöder Wecker lärmt und schalte ihn schnell aus. Auf meinem Bauch liegt offen und nach unten gerichtet einer meiner vielen Romane. Gähnend lege ich ein Lesezeichen hinein und stehe dann auf.
Auf meinem Stuhl liegen bereits meine Klamotten bereit. Iye und mein Vater sind schon längst aus dem Haus, während meine Mutter sicher schon dabei ist, zum zweiten Mal Frühstück zu machen. Ich ziehe eine rote Stoffhose und ein weißes Langarmshirt mit dünnem, flattrigem Stoff an den Ärmeln an, ehe ich in unser Badezimmer taumle.
Eine halbe Stunde später packe ich einiges aus meiner Umhängetasche heraus und laufe runter in die Küche. Es ist der letzte Tag nach unserer Prüfung. Heute passiert nicht mehr allzu viel und daher ist es schön, mal so eine leichte Tasche über der Schulter zu tragen.
>Morgen Mum. < gähne ich, als sie gerade am Herd steht und French Toast macht.
>Guten Morgen mein Schatz. Gut geschlafen? <
>Geht so. Ich habe irgendwie auf einem Buch gelegen, während das zweite auf mir lag. <
>Also von mir hast du das nicht mit all diesen Büchern. <
>Dafür aber eine Menge anderes. < erwidere ich grinsend.
Sie stellt mir einen Kaffee auf den Tisch und den fertigen French Toast.
>Danke aber du weißt, dass du das nicht jeden Morgen machen musst. Ich bin erwachsen …<
>Ja, ja ich weiß. Aber ich mache das gerne und wer weiß wie lange du noch hier wohnst, wenn du erst deinen Job hast. Du könntest schon in ein paar Monaten nicht mehr hier sein und wem mache ich dann Frühstück und Kaffee? <
Ich lache daraufhin und erwidere:
>Na zum Beispiel mal dir selbst oder Dad. Iye solltest du aber lieber keinen Kaffee geben, ich glaube, das geht sonst nach hinten los. <
Sie gibt mir einen liebevollen Klaps auf den Hinterkopf und schüttelt grinsend den Kopf. Nachdem ich meinen Koffeinschock bekommen habe und inzwischen wach bin, schwinge ich meine Tasche seitlich über die Schulter, küsse meine Mutter zum Abschied auf die Wange und hole mein Fahrrad von draußen aus dem Schuppen.
Als ich aufsteige, sehe ich noch einmal zu meiner Mutter, die in der Tür steht und beide Daumen gedrückt nach oben hält.
Überall stehen Pfützen von der letzten Nacht und ich umfahre sie weitläufig. Ich brauche etwa fünf Minuten mit dem Rad, um auf eine normale asphaltierte Straße zu gelangen. Von dort aus muss ich noch weitere zwanzig Minuten bis zu meiner Uni fahren. Ich mag es morgens mit dem Drahtesel unterwegs zu sein, ganz zu schweigen davon, dass es billiger ist als Busfahren. Außerdem ist es auch schön, sich morgens etwas wach und warm zu strampeln. Heute komme ich gut durch und alle Ampeln sind mir gnädig. Ich überquere die letzte Straße und sehe schon von weitem meine beste Freundin Megan. Sie ist Inderin – na ja eigentlich Amerikanerin da sie hier geboren ist, aber ihre Eltern kommen beide aus New Delhi und verfolgen den typisch amerikanischen Traum.
Unsere Kommilitonen nennen uns immer das Indi-Duo - wegen dem Inderin und Indianerin-Ding. Uns gefiel das irgendwie von Anfang an, also wehrten wir uns nicht dagegen. Mit quietschender Bremse halte ich kurz vor ihr an und lasse mich von ihr auf die Wange küssen.
>Hi, na schon eine Ahnung wie du abgeschnitten hast? < will sie wissen und wirft ihr dickes Haar schwungvoll nach hinten.
>Nein, ich kann sowas immer nicht einschätzen. Geschafft haben werde ich es schon, aber ich glaube ich habe Theologie voll versaut. < antworte ich und kämpfe mich mit meinem alten Fahrradschloss am Ständer ab.
>So geht’s mir bei Politikwissenschaft. Ich glaube, da habe ich was vollkommen durcheinandergebracht. <
>Wird schon. < spreche ich ihr Mut zu. >Wir sollten uns deswegen aber nicht den ganzen Morgen verrückt machen. Immerhin müssen wir das Ergebnis noch ein paar Stunden abwarten. <
>Ich frage mich sowieso, wozu wir noch Unterricht machen. < quittiert Megan mit einem Schmollmund, der dadurch noch voller als ohnehin schon wirkt. Sie trägt heute eine coole lässige Jeans, die an den Knien aufgerissen ist. Ganz anders als ihre Mutter – klassisch in einem bunten Sari, trägt meine Freundin moderne Kleidung, schminkt sich auffällig und ist überhaupt nicht traditionell.
Ihre Eltern betreiben in unserem Ort ein Restaurant, was wahrscheinlich deswegen so gut läuft, weil die indische Tradition mit einfließt. Es fängt bei der Kleidung an und endet bei dem viel zu leckeren Essen, was ich oft kostenlos essen durfte. Meine beste Freundin und ich kennen uns schon seitdem wir ganz kleine Mädchen waren, daher sind ihre Eltern fast so etwas wie eine Ersatzfamilie für mich.
Jordan – einer unser Spieler bei den Bulldogs, kündigt sich schon einen halben Kilometer vorher an und verursacht einen Heidenlärm mit seiner Velocette Venom. Sein Motorrad ist uralt und neben seinem Auto sein ganz persönliches Schätzchen. Wenn es stimmt was er sagt, dann ist es ein echter Oldtimer, mit der er täglich zum College fährt. Eigentlich gehört dieses Ding in ein Museum finden wir.
Ich hatte recht und er fährt in diesem Moment auf den Campus. Megan winkt ihm schon zu – was vollkommen unnötig ist, da wir sowieso jeden Tag an der gleichen Stelle stehen und aufeinander warten.
Mit seinem Oldie fährt er bis zu den Fahrradständern, um ihn dort mit dem letzten lauten Röhren abzustellen.
>Poah das stinkt. < huste ich bei all den Abgasen, die sein Gefährt auspustet.
>Morgen Ladies. Das ist übrigens altertümlicher Charme. <
>Wenn du es sagst. < hüstelt Megan.
>Schaut ihr heute Nachmittag eigentlich auch zu? < fragt er und nimmt seinen Helm ab.
>Was ist denn heute Nachmittag? < fragt meine Freundin überrumpelt.
>Weißt du es wirklich nicht? Da ist ein Auswahltraining! < keucht Jordan etwas enttäuscht von ihr. >Wenn ich schon die Uni und das Team verlasse, dann will ich wenigstens entscheiden, wer von den Spinnern zukünftig spielen darf. <
>Also ich bin dabei. < grinse ich ihn an.
>Ich nicht. Ich habe am Nachmittag noch ein Vorstellungsgespräch im Museum. Vielleicht habe ich ja Glück und sie nehmen mich. Und falls nicht habe ich am Donnerstag noch eines bei einem Verlag. < antwortet Megan etwas stolz.
>Echt? Toll, das hast du mir noch gar nicht erzählt. < werfe ich überrascht ein.
>Ich weiß, es war auch erst am Samstag in der Post. <
Jordan erwidert daraufhin achselzuckend:
>Ich bin erstmal nur in ein Praktikum hereingerutscht aber besser als nichts. <
Er ist drei Jahre älter als wir und studiert nicht wie Megan und ich Geisteswissenschaften, sondern Pharmazie.
Die Schulglocke läutet, als er sich gerade eine Zigarette anstecken will.
>Oh man, so 'n Mist. < flucht er und macht sie sich trotzdem an. Er nimmt drei schnelle Züge, ehe er sie wieder austritt.
>Also dann bis später. < winke ich ihm zu, als wir getrennte Wege gehen.
>Tschau ihr Süßen. <
Der morgendliche Affentanz beginnt, die Türen werden geöffnet und auf den Gängen herrscht Tumult. Die Cheerleader springen auf dem Flur herum, während das Footballteam mit dem Football-Ei unter den Arm geklemmt, an den Spinden angelehnt steht. Sobald ein paar hübsche Mädchen vorbeilaufen, werfen sie sich provokant in die Brust. Auf der einen Seite stehen die Gruppen, die lieber unsichtbar sein wollen. Auf der anderen die Mädels, die ihr Haar kess nach hinten werfen und hinter vorgehaltener Hand kichern, sobald eines der männlichen Individuen vorbeiläuft.
>Heute komme ich mir wieder besonders stark in die Highschool zurückversetzt vor. < murmelt Megan und verzieht ihren Mund bei all dem Getue.
>Na ja, es ist der letzte Balztag. Sie müssen noch mal alles geben. < lache ich.
>Ja aber es gibt auch außerhalb des Colleges echt heiße Männer. Und ich rede wirklich von Männern, nicht von diesen Bubis. Glaub mir, ich hab nachgesehen. < zwinkert sie mir frech zu.
>Hmm. Sollte ich da etwas wissen? < grinse ich verschwörerisch.
>Sieh´ mich nicht so an. Es ist nichts Ernstes. < antwortet sie süß und hebt unschuldig ihre Schultern hoch. Dafür dass ihre Eltern eine sehr glückliche aber auch arrangierte Ehe führen, ist ihre Tochter ziemlich offen was Beziehungen oder Nicht-Beziehungen angeht.
Sollte ich jetzt beleidigt sein, weil ich von ihren neusten Begegnungen nichts weiß? Normalerweise bin ich die Erste, die etwas über Megan erfährt.
Wir verlassen den Tumult auf den Gängen und betreten unseren Hörsaal – wie immer setzen wir uns in der vierten Reihe nebeneinander. Ich kann es nicht leiden zu weit vorn oder hinten zu sitzen.
Die Hälfte unseres Studiengangs scheint noch nicht ganz wach zu sein. Wirklichen Unterricht haben wir heute ohnehin nicht mehr, weshalb die meisten sicher erst spät in der Nacht im Bett waren. Ich packe meinen Block und die vielen Kugelschreiber trotzdem auf den Tisch.
Dann lehnt sich ein Hintern gegen meine Schreibunterlage und schiebt mein akkurat zusammengelegtes Gesamtkunstwerk fast vom Tisch runter.
>Hey Indis, na schon einen Plan für Freitagabend? <
Megan wirft mir einen vielsagenden Blick zu.
>Tja Even ich weiß zwar nicht was du tust, aber Nayeli und ich werden ein mega gutes Diplom bekommen, unsere Familien vor Stolz zum Weinen bringen und abends die Tanzfläche rocken. <
>Das ist mir schon klar. Aber mit wem geht ihr abends da hin? < will er wissen und zuckt erst mit der linken, dann mit der rechten Augenbraue.
Weil er das so durchschaubar ansprach, gluckse ich, aber ich kann es gerade noch als Hüsteln tarnen.
Egal was Megan ihm gleich antwortet, meistens kommt etwas Gutes bei raus.
>Wir bevorzugen es gegen den Strom zu schwimmen und – du wirst es nicht glauben, Nayeli und ich gehen zusammen. <
>Ach Blödsinn. Ihr wurdet doch sicher von jemandem gefragt. Ihr könnt doch da nicht ohne Partner auftauchen. <
>Weißt du das ist so eine Sache mit den emanzipierten Frauen... < kontert meine beste Freundin. Ich schlage mir die Hand vor die Stirn, denn jetzt wird richtig dick aufgetragen. >… wir können selbst entscheiden was wir wollen. <
>Ihr werdet dort auftauchen wie Loser. < wendet er vollkommen verdattert ein.
>Das werden wir ja sehen. Challenge akzeptiert. < grinst sie verschwörerisch.
Dann verzieht er seine Miene und verschwindet auf seinen Platz.
>Gut gerettet. < wende ich flüsternd ein.
>Wer hat dich denn gefragt? < will Nicole von mir wissen, die das Gespräch mitbekommen hat und sich soeben zu meiner anderen Seite setzt.
>Stan Parker und Alexander Newton. <
>Hmm. Gleich zwei. Nicht schlecht. < wendet die Blondine zu meiner Überraschung ein. >Und dich? < fragt sie an Megan gewandt.
Meine Freundin schaut angestrengt an die Decke, so als müsste ihr Gehirn gerade Schwerstarbeit erledigen.
>Warte mal, du überschlägst doch nicht ernsthaft?! < keucht Nicole als hätte sie der Blitz getroffen.
>Sechs. < antworte ich für Megan, da sie offenbar noch eine Weile zum Überlegen braucht. Mit aufgerissenen Augen und leicht schüttelndem Kopf schaut meine andere Banknachbarin nach vorn zum Lehrerpult.
>Und dann gehen die ohne Partner hin. < murmelt sie verständnislos zu sich selbst.
Aber wir bleiben dabei. Wir haben es beide beschlossen, an unserem Abschlussabend das typische Klischee zu verlassen und ohne Partner zu gehen. Und wer weiß, vielleicht haben wir damit einer anderen jungen Frau die Tür geöffnet, die sonst nicht gefragt worden wäre und unbedingt mit einem Partner zusammen hinwollte. Aber Megan und ich, wir wollen einfach nur unseren Spaß haben, feiern, tanzen und den ein oder anderen Schluck trinken, ohne von irgendwem begrabscht zu werden.
Es klingelt ein zweites Mal und gerade so in letzter Sekunde, huscht noch unser Dozent Mr. Berth hinein.
>Na das ging ja gerade noch mal gut. < schnauft er und richtet seine Brille mit den runden Gläsern auf seiner Nase zurecht. >Guten Morgen. < begrüßt er uns strahlend und legt seine Tasche auf dem Pult ab.
>Guten Morgen. < stammelt der überwiegend müde Teil des Kurses.
>Ich bin mir sicher, auch wenn Sie alle Ihre Diplome mehr oder minder gut erhalten, kann ich Ihnen trotzdem noch etwas beibringen. <
Daraufhin murmeln die anderen ihren Protest, während ich meinen Block und einen Stift zücke. Diesen einen letzten Tag überstehen wir auch noch.
Mr. Berth geht immer sehr in seiner Rolle als Dozent auf. Er verkauft uns das langweiligste und einsilbigste Buch das man je in die Finger bekam, als etwas Phänomenales, schärft damit unseren Blick für das, was nicht sofort offensichtlich ist und liest zwischen den Zeilen. Dadurch schafft er es, Dinge hineinzuinterpretieren, die wohl kaum ein anderer sehen würde.
Inzwischen verstehe ich was er meint. Wenn man ihn ansieht, denkt man auf den ersten Blick: „Armer, kleiner, alter Mann.“
Er trägt immer ein hellblaues Hemd, darüber ein Kordsakko das an den Rändern und den Taschen schon etwas ausgefranst aussieht. Seine Haare bestehen sowohl links als auch rechts, nur noch aus schmalen, grauen Balken, die von vorn nach hinten verlaufen. Er hat einen kleinen Bauch, der noch mehr zum Vorschein kommt, weil er sein Hemd in die Hose hineinsteckt. Doch auf den zweiten Blick ist dieser Mann ein Genie.
Der Kurs läuft alles in allem sehr fließend und er gab uns nach seiner beeindruckenden Einleitung, einen Roman aus dem 19. Jahrhundert zu lesen. Auf den ersten Blick mal wieder kein Meisterwerk aber der innere Sinn dahinter fasziniert mich, ebenso wie die alte Sprache. Es ist fast etwas schade, als die Klingel das Unterrichtsende verkündet und ich weiß, dass ich dieses Buch nicht mehr in der Uni zu Ende lesen werde. Also schreibe ich mir schnell den Titel und den Autor auf und versuche es mir demnächst von meinem ersten selbstverdienten Geld zu kaufen.
In der nächsten Stunde haben wir mit Mrs. Lennert Theologie - das Fach, von dem ich denke, es vermasselt zu haben. Allerdings ist der Unterricht ein netter Ausklang, bei dem wir unsere grauen Zellen mal nicht anstrengen müssen, weil sie für den gesamten Block einfach einen Film laufen lässt. Er hat zwar nicht im Entferntesten etwas mit ihrem Fach zu tun, aber es ist ein verfilmter Roman von Jane Austen, den wir schon bei Mr. Berth interpretieren mussten.
Es geht um eine von fünf Töchtern, die komplett anders tickt als ihre Schwestern und absolut keine Lust hat zu heiraten. Allerdings spielt diese Handlung nicht im 21., sondern im 18. Jahrhundert, wo der einzige Sinn eine Frau zu sein darin bestand, früh zu heiraten, ein Dutzend Kinder zu bekommen und den Haushalt zu schmeißen.
Grinsend schaue ich zu Megan, da wir ja nun ganz offensichtlich auch aus allen typischen Mustern herausbrechen. Wir brauchen keine männliche Begleitung um einen schönen Abend zu haben.
Plötzlich landet ein zusammengefalteter Zettel auf meinem Tisch. Ich sehe mich um aber keiner deutet an, dass ich ihn weiterzugeben soll und ich weiß nicht von wo er geflogen kam. Mrs. Lennert schaut wie gebannt zum Fernseher, also falte ich das kleine Stück Papier auf. Dort ist in einer krakeligen Handschrift zu lesen:
„Bist du wirklich sicher, dass du nicht lieber mit mir zur Party willst? Even.“
Ich grinse aber ich bleibe dabei. Er ist ein netter Kerl und ich mag ihn, genauso wie Jordan. Aber genau das ist es – ich mag sie eben nur. Ich schreibe zurück und werfe ihm meine kurze und knappe Antwort zu.
„Ja absolut.“
Nachdem ich bei der literarischen Verfilmung stellenweise wieder einmal gesehen habe, wie man mithilfe einer gekonnten Schlagfertigkeit, gegen jede hochmütige Person das Feld als Siegerin verlassen kann, höre ich nach einer Weile gar nicht mehr richtig. Ich lasse meinen Kopf auf die Tischplatte fallen und denke über die nächsten Wochen nach. Ich kann es kaum erwarten in eine Arbeitsroutine hereinzukommen. Die stellvertretende Chefin der PR-Agentur will mich am Mittwoch noch einmal bei sich haben, um alle vertraglichen Dinge festzuhalten. Ab Freitag - wenn die Übergabe der Diplome sein wird, bin ich offiziell keine Studentin mehr und habe endlich meinen Platz gefunden.
Es klingelt zur Pause und die Hälfte des Studienganges erwacht wieder aus ihrem Halbschlaf. Ich packe meine Sachen in die Tasche und krame in meinem Portemonnaie herum. Bevor ich gegangen bin, hat mir meine Mum noch 5 Dollar zugesteckt. Immerhin kann ich mir aus der Kantine mal etwas zu essen holen, anstatt mein selbstgemachtes Essen mitzubringen.
>Wollen wir uns ein Sandwich holen und draußen essen? Es ist so schön heute. < frage ich Megan.
>Klar, ich brauche unbedingt Sonne. Diese letzten drei Tage haben dafür gesorgt, dass ich schon wieder leicht depressiv geworden bin. <
>Oh ja, du musst unbedingt in die Sonne. Du bist schon ganz Weiß geworden. < lache ich auf. Daraufhin werde ich nicht sehr liebevoll auf den Oberarm geboxt.
Aber sie hat recht, denn das Wetter hier kann einem wirklich übel mitspielen.
Wir holen uns etwas zu essen und sitzen dann auf der Bank in unserem großzügigen Campuspark.
>Nach der Pause bekommen wir unsere Ergebnisse. < jammert Megan mit vollem Mund und verputzt ihren Burger mit doppelt Käse.
>Musstest du das jetzt sagen? Ich habe es gerade verdrängt. <
Kurz darauf klingelt ihr Telefon.
>Oh das ist Jordan…Hi, wo steckst du? …. Von wegen, glaubst du wir laufen vor dir davon? …Haha… komm einfach rüber, wir sitzen im Park neben der Statue. Bis gleich. <
>Und wieder ist es vorbei mit der Ruhe. < murmelt Nicole grinsend, als meine beste Freundin den Anruf beendet hat. Ich mag die großgewachsene Blondine, weil sie selten eines der typischen Klischees bedient. Manchmal ist sie bei uns, weil sie genug von den Cheerleadern hat – zu denen sie selbst zwar dazuzählt, aber dennoch nicht immer einer Meinung mit ihnen ist. Sobald sie bei uns sitzt, haut sie sich genauso mit Junkfood voll wie Megan. Ist sie allerdings bei ihren sportlichen Assen, darf es nur noch Salat geben.
Keine zwei Minuten später läuft Jordan voraus und hat noch vier seiner Teamkameraden mit im Schlepptau. Sasha und Lukas die Medizinstudenten, Paul der Wirtschaftswissenschaftler und Andrew ebenso wie Jordan, in der Pharmazie. Sie sind nett und sitzen häufiger mit uns zusammen. Interessanterweise aus einem bestimmten Grund. Lukas meinte mal irgendwann, dass Megan und ich nicht so doofe Tussis sind wie die anderen. Das ließen wir einfach mal so im Raum stehen und sahen es als eine Art Kompliment an. Nicole hatte allerdings vollkommen recht, sobald die Jungs bei uns herumstehen, ist es vorbei mit der Ruhe. Es wird sich gerauft und laut gelacht, was ich hingegen recht amüsant finde. Das ist jedoch der Grund, weswegen ich sie immer noch „Jungs“ nenne und das, obwohl sie teilweise 25 Jahre und älter sind. Einige Studenten haben deutlich mehr Semester als wir zu absolvieren oder sie brauchen einfach etwas länger als die Regelstudienzeit vorschreibt.
Leider haben sie jetzt alle nur noch ein Thema. Die Auswertung unserer Prüfungsergebnisse sowie unsere Jobs danach und – wie soll es anders sein? Eishockey!
Allerdings kann ich bei dem letzten Thema wenigstens mitreden, ohne dass ich Schweißausbrüche bekomme.
>Dieser Thomas Banks vier Semester unter uns, ist echt schnell aber ich glaube, auf Schlittschuhen wird es ihn total umhauen. < wendet Paul nachdenklich ein und schaut sich die Liste der Eishockeybewerber an. Alle paar Jahre gehen die alten Spieler und werden durch neue ersetzt. Jordan verlässt dieses College daher auch mit einem weinenden Auge. Es war immerhin eine Zeit lang sein Team, worin all sein Herzblut lag. Ich fand es erstaunlich, dass er das alles mit seinem Studium vereinbaren konnte.
>Sucht das Footballteam heute auch seine neuen Spieler aus? < frage ich in die Runde.
>Ja, ich muss nämlich auch dabei sein. Die Cheerleader sind später dran und suchen ebenfalls nach Nachwuchs. Das kann dauern. < nörgelt Nicole und setzt die Dose Pepsi an die Lippen. Der schlaksige, aber riesengroße Sasha wendet dazu ein:
>Ich denke, das geht heute sämtlichen Sportlern so. Heute sind zumindest noch alle vollzählig. <
>Große Lust hat eigentlich keiner darauf, aber die nächsten Tage wird es wohl eher schwer werden, sie alle zusammenzutrommeln. Also bringen sie das alles heute hinter sich. < wirft Lukas ein und kassiert daraufhin von Jordan einen bösen Blick. Immerhin geht es hier um das Nachfolgeteam, das nicht alles wieder herunterreißen soll, was unser Team vollbracht hat.
Football interessiert mich an der Schule eigentlich eher weniger, aber es gehört eben dazu – ich schaue lieber den Superbowl mit den Profis an.
Cheerleading finde ich hingegen cool, wenn die Formationen gut sind, aber ich selbst würde darin wahrscheinlich eher unbeholfen wirken. Ich sehe mir daher lieber die Spiele von unserem Eishockeyteam an und schreie am lautesten, wenn sie ihre Punkte erzielen.
Eine Glocke ertönt, um uns das Ende der Pause zu signalisieren. Sofort sind wir alle verstummt und schauen uns mit zusammengepressten Lippen an.
>Na dann mal auf in die Höhle der Löwen. < lacht Lukas unsicher.
>Wir haben es sicherlich alle geschafft – schaut nicht so angespannt. < wendet Paul ein, der allerdings auch eine andere Gesichtsfarbe angenommen hat.
Ich atme schwerfällig aus und packe die andere Hälfte meines Schokoriegels wieder in das Papier ein. Dann gehen wir alle in unterschiedliche Richtungen zu unserem Hörsaal.