Schriftgröße  Schriftart  Ausrichtung  Zeilenabstand  Zeilenbreite  Kontrast 

Fingerabdrücke bleiben

von Lynnix
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Krimi / P16 / Gen
23.02.2018
25.11.2021
129
578.228
7
Alle Kapitel
102 Reviews
Dieses Kapitel
1 Review
 
15.06.2018 4.491
 
Kapitel 17 - Phantombilder

*TRIGGERWARNUNG!*
Der Inhalt des mittleren Teils des folgenden Kapitels kann bei vereinzelten Personen eventuell emotional aufwühlend wirken.

Am Nachmittag ist das Wetter kein bisschen besser geworden als am Morgen und deshalb sitzen wir beide zusammen vor dem Fernseher – oder besser gesagt ich. Sam hat seinen Laptop auf dem Schoß und ist schon wieder heftig am Tippen.
>Bist du in einem Partnerchat der sowas? <
>Wie kommst du denn auf die Idee? < gluckst er und schaut über den Bildschirm hinweg.
>Kann doch sein. Du bist ziemlich viel am Laptop. Dann scheinst du immer kurz etwas zu lesen und tippst dann wieder einen längeren Text. <
>Ziemlich aufmerksam…< erwidert er nur. >Aber du hast nicht ganz Unrecht. Ich bin in einem Chat und ich schreibe über das Darknet mit jemandem. Dort bekomme ich die wichtigsten Angaben, die ich für meinen Job brauche. Wenn ich genügend Informationen habe, dann weiß ich, was ich am Abend tun muss. <
>Du bekommst deine Aufgaben über das Darknet geschickt? Ist es nicht verboten das zu benutzen? <
>Nein. Es ist nur verboten darüber illegale Dinge zu kaufen, anzusehen oder zu verkaufen. Das Gute ist, dass ich darüber völlig unsichtbar bin. Die Software verschleiert meine Herkunft, indem sie jedes Datenpaket über verschiedene zufällig ausgewählte Rechner leitet, bevor es über den Endknoten ins offene Internet übergeben wird. Es ist eine mehrfache Verschlüsselung – Zwiebelschicht für Zwiebelschicht sozusagen. <
>Und wozu braucht man es dann, wenn man nichts Illegales tun will? <
>Um schlechter hackbar zu sein. Selbst unsere Regierung – und im übrigen auch viele andere in sämtlichen Ländern, bestellen ihr Zeug über das Darknet, um nichts von sich preiszugeben. Das ist keine Verschwörungstheorie, sondern die Wahrheit. Es ist dort sicherer, weil du deine Anonymität wahrst. <
Ich denke darüber nach, denn auch Megan wurde schon mal gehackt. Das war echt übel, weil sämtliche Accounts in ihren Portalen davon betroffen waren. Es hat Wochen gedauert, bis sie bei dem Chaos wieder Ordnung hineinbrachte.
Im Fernseher kommt eine Melodie, die uns ankündigt, dass die Regionalnachrichten beginnen. Die beiden TV-Sprecher halten sich nicht lange an Kleinigkeiten der Begrüßung fest und lesen schon ihren Text vor. Ich höre nur beiläufig zu, als sie davon berichten, dass es in der vergangenen Nacht in Detroit zu einer Schießerei mit zwei Gangs kam, von denen insgesamt 7 Tote und 4 Verletze dabei waren. So schlimm wie es ist, aber leider ist das in unserem Land und speziell in manchen Gegenden nichts Außergewöhnliches.
Häufig werden die Fälle kaum erwähnt und im Fernsehen sogar noch weniger. Es gibt einfach zu viele Vorkommnisse und daher existiert nur ab und zu eine kleingedruckte Überschrift mit ein paar kurzen Sätzen.
Der Nachrichtensprecher tritt in seinem dunklen Anzug etwas zur Seite und rechts von ihm wird ein Bild eingeblendet, was ein altes Haus im Wald zeigt. Erst schenke ich dem Bild kaum Beachtung, doch dann erkenne ich es, reiße die Augen auf und setze mich schlagartig mit geradem Rücken auf. Als der Moderator anfängt zu reden, beschleunigt sich mein Herzschlag unweigerlich.
>Der Fall, der sich vor wenigen Tagen in Duluth, Minnesota ereignete und bei dem drei Personen einer Familie ums Leben kamen, hält die Einwohner noch immer in Atem. Die Polizei geht weiterhin davon aus, dass die Tochter der ermordeten Personen die Täterin ist und sich weiterhin auf der Flucht befindet. < kurz darauf wird das Bild unseres Hauses, durch ein Bild von mir ersetzt. >Spuren am Tatort haben darauf hingewiesen, dass sie ein Küchenmesser benutzt habe, um die Angehörigen damit zu töten. Die Fingerabdrücke darauf seien ohne Zweifel der Verdächtigen zuzuordnen. Am Ort des Geschehens fand man außerdem Blutspuren der Tochter, da sie durch ihre Opfer offensichtlich verletzt wurde. Daher wird an alle Krankenhäuser appelliert, sofort eine Meldung herauszugeben, sollte diese Person gesehen werden. Bisher fehlt von ihr jede Spur. <
>Was? < schreie ich auf und stemme mich mühsam auf ein Bein hoch. >Das ist nicht wahr, wie kommen sie denn auf die Idee, dass ich sie damit umgebracht habe? Ich habe ein Messer angefasst, das stimmt. Aber da war kein Tropfen Blut dran, ich habe es gegriffen, um mich zu wehren. < rufe ich Sam zu. Er sitzt allerdings völlig unbeeindruckt auf der Couch und nippt an seinem Glas.
>Ich habe mich schon gefragt, wann sie das tun werden und den Fall im Fernsehen bringen. Da siehst du mal was es bedeutet hätte, wenn ich dich in ein Krankenhaus gebracht hätte. Innerhalb der nächsten zehn Minuten hättest du Handschellen dran. <
>Was soll das heißen, dass du dich schon gefragt hast „wann sie das tun werden“? Verdammt ich werde inzwischen als Mörderin auf der Flucht dargestellt und nicht mehr nur als mögliche Täterin. <
>Ja natürlich, das ist der einfachste Weg für sie. <
>Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr. Scheiße, hätte ich doch nur nicht dieses stumpfe Küchenmesser mitgenommen. Aber ich habe es einfach blind nach ihnen geworfen. < ich humple herum wie ein aufgescheuchtes Huhn und greife mir voller Verzweiflung in die Haare.
>Die Sache ist zu groß geworden und das ist eher untypisch. Du weißt ja wie selten sowas bei uns aufgebauscht wird. Da steckt mehr dahinter und sie haben womöglich Angst, dass du entkommen sein könntest. Es ist also leichter, dich erstmal auf diesem Weg vom ganzen Land suchen zu lassen. Kennst du ihre Gesichter? <
>Was für eine Frage. Natürlich kenne ich sie... besonders das Erste. < antworte ich zittrig und meine Lippe bebt, als ich den blau-gelben Handabdruck auf meinem Oberarm berühre. Mir wird ganz anders als ich daran denke, wie mich dieser Kerl in seinem Griff hatte – auch wenn es nur kurz war.
Sam´s Blick wird hart und kalt, als er meine Geste sieht. Daraufhin steht er auf und zückt sein anderes Smartphone, das ich nicht benutzen durfte.
>Ich gehe mal kurz telefonieren. Es wird wirklich Zeit. <
>Zeit? Zeit wofür? < rufe ich ihm hinterher, doch er verschwindet irgendwo im Haus und zieht sich zurück.

            Sam tauchte eine Weile lang nicht mehr auf und wollte mir danach auch nicht sagen, mit wem er so lange geredet hatte. Ich hasse es, wenn er das tut. Aber nun ist es eine knappe Stunde später, nachdem er wieder zurückgekommen war. Als ich in der Küche an einem Apfel herumkaue, sehe ich wie ein Audi Q7 vor dem einsamen Haus zum Stillstand kommt und aus einem Reflex heraus, gehe ich sofort vom Fenster weg. Kurz darauf klopft es an der Tür. Ich reiße beunruhigt die Augen auf, da der Schlag so brutal klingt.
>Beruhige dich, er wird dir helfen. Geh schon mal rüber. < besänftigt mich mein Gastgeber und geht zur Tür. Ich tue was er sagt, lasse mich im Wohnzimmer wieder vorsichtig auf sein Sofa fallen und vergrabe meine Hände im Schoß. Ehrlich gesagt weiß ich überhaupt nicht was mich jetzt erwartet, denn Sam sagte nur die ganze Zeit, dass ich mich mal entspannen und es auf mich zukommen lassen soll.
Ich höre die tiefe Stimme eines Mannes und dann die dazu passenden schweren Schritte. Seitdem ich hier bin, bin ich noch keiner anderen Person begegnet.
Ein großer Kerl mit Glatze kommt in einem Anzug herein, der sich unter dem Türrahmen hindurch ducken muss, um sich nicht zu stoßen. Als er mich sieht, werden seine Augen groß und er schaut kurz zu Sam. Offensichtlich hat er nicht damit gerechnet, hier eine junge Frau sitzen zu sehen.
>Nayeli Misra? < fragt er ungläubig, mit einer sehr tiefen Stimme und einem deutlichen russischen Akzent. Das verwundert mich jetzt allerdings schon sehr, dass er sofort meinen vollen Namen nennt – auch wenn er ihn falsch ausgesprochen hat. Erst sage ich nichts und sehe zwischen ihm und meinem Retter hin und her.
>J…ja. < antworte ich schließlich zögernd. Die runzlige Stirn von ihm verwandelt sich in eine geglättete und er schaut mich jetzt freundlicher an.
>Interessant, ausgerechnet Sie bei Sam anzutreffen. Sie sehen in Wahrheit ja noch hübscher aus, als auf dem Foto. <
>Ehm … danke. < erwidere ich überrumpelt und frage mich, ob er die Kratzer auf meinem Schläfenbereich absichtlich ignoriert. >Tut mir leid aber ich befürchte, ich verstehe im Moment rein gar nichts. Aber wenn Sie meinen Namen kennen, dann sollten Sie unbedingt wissen, dass das, was dort im Fernsehen über mich erzählt wird… <
>Oh keine Sorgen, das ist mir durch den Anruf bereits klar. < unterbricht er mich. Verdutzt kräusle ich die Stirn. Er setzt sich mir schräg gegenüber aufs andere Eck des Sofas und packt in aller Ruhe seine Tasche aus. Irritiert sehe ich zu Sam rüber, der nur amüsiert die Achseln zuckt.
>Entschuldigen Sie. Und Sie sind? < frage ich zögerlich.
>Ach ja, wo sind bloß meine Manieren? < lacht er auf, beugt sich etwas zu mir vor und schüttelt mir kurz die Hand – der eher zerquetscht wird. >Dimitrij Lebedew. Sam rief mich an und sagte, er hätte jemanden hier, der unschuldig ist und meine Hilfe braucht. Ich bin sicher wir kriegen das hin. <
>Und was genau kriegen wir  hin? < will ich wissen. Sam kommt zu uns gelaufen, stellt seinem Besuch etwas zu trinken hin und lässt sich dann zwischen uns fallen.
>Zuerst muss ich wissen, was das für Leute waren. Und ich muss genau wissen, was passiert ist. Es ist wirklich wichtig über Details zu reden. Die Medien versuchen bereits Sie zu zerreißen und den Leuten dort draußen ein Urteil in den Kopf zu legen – vollkommen egal, ob gerechtfertigt oder nicht. Sam und ich wissen nur zu gut, wie gern die Wahrheit verdreht wird. Diejenigen die im guten Licht stehen wollen, bezahlen für Falschmeldungen – und das nicht gerade wenig. Es ist zu einem regelrechten Geschäft geworden. <
>Moment. Soll das heißen irgendjemand stellt mich mit Absicht an den Pranger, damit die Spur von denen wegführt? < keuche ich. >Das ist doch verrückt, ich bin doch nur eine junge Frau aus einer Stadt, die niemanden sonst interessiert. Kein Mensch der fünf Meilen außerhalb von meinem Haus wohnt, kennt mich. <
>Eben. Und genau deswegen könnten Sie nicht perfekter dafür sein, Miss Misra. Meine Aufgabe ist es, Ihnen jetzt zuzuhören und dann zu entscheiden, wie wir Sie schützen können. Erzählen Sie mir alles was passiert ist und lassen Sie keine Einzelheiten aus – das ist wichtig. <
Ich bin verunsichert. Bisher habe ich es noch nicht einmal Sam im Detail erzählt und der hat mir immerhin das Leben gerettet. Jetzt soll ich es diesem Dimitrij erklären und ich weiß noch nicht einmal woher er kommt und was er beruflich tut. Ich weiß nur, dass er ziemlich gut gekleidet, mit übereinander geschlagenen Beinen und einem Zeichenblock vor mir sitzt und mir ein warmes Lächeln schenkt.
Ich streiche mir die Haare hinter die Ohren, schlucke schwer und atme tief ein. Sam versucht mir schon die ganze Zeit zu helfen, wenn auch auf seine komische Art. Ich sollte endlich reden und ganz offensichtlich nicht mit der Polizei – was mir immer noch schwer im Magen liegt.
>Nun ja…< setze ich an und weiß eigentlich gar nicht, wo ich überhaupt anfangen soll. Es fällt mir so schwer, das Geschehene in Worte zu fassen, die ich nicht mal in meinen stillen Momenten denken konnte. >Erstmal lassen Sie bitte diese „Miss Misra“ weg. Ich bin einfach nur Nayeli. <
>In Ordnung. Dann bin ich einfach nur Dimitrij für dich. < erwidert er lächelnd. Ich schaue auf meine Hände, die ich im Schoß vergraben habe. Wenn nicht jetzt, wann soll ich es dann tun? Ich atme nochmal tief durch und bringe es einfach hinter mich.
>Ich habe gerade erst mein Diplom an der Uni erhalten. Letzte Woche Freitag hatte ich meine Absolventenparty. Meine Eltern und mein Bruder haben mich noch hingebracht - sie waren dabei, als ich mein Diplom bekam. < ich merke wie meine Atmung schneller geht und sich mein Gesicht heiß anfühlt. Zittrig flüstere ich: >Am Abend habe ich noch mit meinem Dad getanzt. Das war der letzte Moment mit allen zusammen, danach sind sie nach Hause gefahren. <
Dimitrij wartet ab bis ich weiterrede und sieht mich ebenso wie Sam mit einem durchdringenden Blick an. Meine Hände vergrabe ich noch weiter in meinem Schoß. >Ich war noch ziemlich lange auf der Party, bis etwa drei Uhr morgens. Vielleicht war es auch länger – ich weiß es nicht. Dann bin ich mit einem Taxi zurückgefahren aber da ich nicht mehr so viel Geld dabei hatte, nahm mich der Fahrer nur ein Stück mit. Den letzten Teil der Strecke musste ich durch den Wald laufen. Als ich zu unserem Haus kam, da wusste ich, dass etwas nicht stimmt. < meine Augen füllen sich mit Tränen und ich muss schwer schlucken. Es ist eigenartig es so vor Sam zu erzählen, der einige Dinge zwangsweise kennt, aber es fällt mir echt schwer, es erneut hochkochen zu lassen.
>Was ist dann passiert? < harkt Dimitrij sanft nach.
>Unsere Eingangstür stand weit offen und das Licht am Hauseingang flackerte aber ich konnte niemanden von meiner Familie hören. Erst als ich hineinging hörte ich die fremden Männerstimmen. Ich glaube nicht, dass diese Kerle vorher überhaupt wussten, dass ich auch dort wohnte. Sie schienen nämlich ziemlich verwundert über mich zu sein. Allerdings fühlte ich mich rückblickend betrachtet schon seit Tagen verfolgt. Es ging so weit, dass ein Kerl ein paar Tage zuvor im Auto vor unserem Küchenfenster war und mit durchdrehenden Reifen wegfuhr, als ich nach draußen zu ihm rannte. Mein Vater hat mir nicht geglaubt als ich ihm sagte, dass wir beobachtet wurden und ich glaubte fotografiert worden zu sein. Als ich am Samstagmorgen diese fremden Männer hörte, wusste ich nicht, wie ich Hilfe rufen sollte. Ich besaß kein Handy, das Haus steht mitten im Wald und die nächsten Nachbarn wären viel zu weit entfernt gewesen. Also bin ich weiter dort hineingegangen und hörte, dass sie in der oberen Etage waren – dort wo meine Eltern und mein Bruder schliefen. <
Sam neben mir mustert mich eigenartig und stemmt seine Ellenbogen auf seine Knie, um mir offenbar besser zuhören zu können. >In der Küche wollte ich die Polizei über das Festnetz anrufen aber kurz darauf stand auch schon einer von diesen Männern in der Tür. Er hatte die Telefonleitung gekappt und griff mich an. < die letzten Wörter verschlucke ich nur noch und es klingt mehr wie ein Gurgeln, als wie ein zusammenhängender Satz.
>Wie sah er aus? < fragt Dimitrij unheilvoll.
>Er war groß, vielleicht 1,90 Meter und hatte etwa kinnlange, braune Haare. An seinem Hals befand sich eine Tätowierung die offenbar seinen ganzen Arm runterging bis zu den Fingerknöcheln. Er hatte nur ein dunkles T-Shirt an. <
>Was war es für eine Tätowierung? < will Dimitrij wissen und malt bereits fieberhaft drauflos.
>Am Hals war es ein Totenschädel, auf den Fingerknöcheln stand irgendwas geschrieben. Den Rest weiß ich nicht mehr, dafür ging es zu schnell. <
>Beschreibe seine Kopfform, seine Augenfarbe. Wie war die Nase? <
Ich muss kurz überlegen, denn es waren nur kurze Augenblicke, an denen wir uns gegenüberstanden. Aber besonders diesen Mann kann ich wohl noch am besten beschreiben, da er mir so nah kam.
>Seine Nase war ein bisschen zu groß für sein Gesicht und sah so aus, als wenn sie schon mal gebrochen war. Sein Gesicht war hingegen ziemlich rund. Seine Augen … waren … tut mir leid ich weiß es nicht. < fluche ich ermattet und bekomme es nicht mehr zusammen.
>Schon okay. Das hast du bisher sehr gut gemacht. Nochmal zu den Haaren – waren sie glatt, gewellt oder vielleicht zusammengebunden? Irgendeine Auffälligkeit? Oder Narben im Gesicht? Welche Hautfarbe hatte er? <
>Die Haare waren offen, nass vom Regen draußen und leicht gewellt. Eine Narbe habe ich auf die Schnelle nicht entdecken können und er war ein Weißer. <
Mit sehr ernstem und konzentriertem Gesicht, skizziert Dimitrij auf seinem Block. Ich glaube, ich habe noch nie so schnell jemanden zeichnen gesehen.
>Kommt das in etwa hin? < fragt er nach ein paar Minuten und dreht sein Bild um. Ich glaube es einfach nicht, wie gut er diesen Kerl getroffen hat. Es ist beinahe gruselig und es wirkt so, als würde er jeden Moment aus dem Papier springen.
Ich befinde mich in einer Starre. Dieser Mann und zwei Komplizen haben meine Familie umgebracht. Ich kann es nicht unterdrücken und schluchze, lasse meinen Kopf in meine Hände fallen und kann das nicht ertragen.
>Er ist es also? < fragt er erneut nach.
Ich nicke nur und halte den Kopf immer noch in meinen Händen.
>Und wie sahen die anderen beiden aus? < will Sam wissen.
>Ich weiß es nicht. < nuschle ich.
>Denk nach Nayeli. Irgendein markantes Zeichen? < bittet mich Sam's Freund erneut. Ich sehe wieder hoch zu ihm und versuche mich zu erinnern.
>Ich weiß nur noch, dass ich bei dem einen sofort an einen Taliban denken musste, weil er so einen schwarzen langen Bart hatte und seine Haut etwas dunkler war. Die Haare waren ganz kurz und er hatte Geheimratsecken. Der andere, der mir bis zu meiner Zimmertür hinterherrannte, hatte ein schlaffes Augenlid, eine Glatze, eine ziemlich lange Nase und einen Leberfleck genau hier. <
Ich zeige auf die Nasenwurzel und beide Männer sehen sich eindringlich an, so als würde diese Information gar nicht so überraschend kommen. Irgendwie glaube ich auch nicht, dass dieser Dimitrij mit dieser knappen Information so viel anfangen konnte und trotz allem hat er den Kerl recht gut getroffen.
>Na gut, spulen wir nochmal kurz zurück. Was geschah, als du in der Küche warst? < fragt er weiter.
>Als ich sah, dass der erste Kerl auf mich zukam, habe ich mir ein Messer gegriffen und bin in die andere Richtung zur Diele losgerannt. Er schrecke nicht zurück, sondern kam mir hinterher und hat mich festgehalten. Ich musste ihn treten, damit er mich loslässt – das Messer habe ich nicht benutzt, weil ich es nicht konnte. Dann verkeilte ich die Tür zur Treppe und lief weiter. Ich weiß nicht warum ich das tat, aber ich rannte trotz der Gewissheit nach oben, dass dort noch andere Einbrecher sein würden. Meine Familie war dort und ich konnte sie doch nicht alleine lassen. < schluchze ich schon wieder, wische aber dieses Mal meine Tränen wütend mit meinem Handrücken weg. >Dann kamen die zwei anderen Kerle aus dem Zimmer meiner Eltern. Sie hatten blutverschmierte Messer und da war mir bereits bewusst, was passiert sein musste. Sobald sie mich gesehen hatten, kamen sie auf mich zugelaufen. Ich warf das Messer blind nach ihnen aber sie bekamen nicht einen Kratzer davon. Dann bin ich losgerannt, habe mich in meinem Zimmer eingeschlossen und bin aus dem Fenster gestiegen. Sie traten und schlugen gegen meine Tür aber kamen nicht rein. Ich musste die ganze Zeit an meinen kleinen Bruder denken, weil mir dachte, dass er eine immense Angst haben musste. Also bin ich an den Weinranken rüber zu seinem Zimmerfenster geklettert. Es brannte Licht und ich hab … ich habe …ihn gesehen. Da war… so viel Blut. <
Plötzlich kann ich nicht mehr weiterreden. Ich fühle mich ausdruckslos und leer, völlig verlassen und gequält. Sam's Blick wirkt so, als könnte er erst jetzt die Situation von heute Morgen wirklich verstehen, als ich vor ihm davonlief.
>Und dann? < fragt Dimitrij weiter.
>Die Holzstreben brachen und ich bin gefallen … < hauche ich. Mir wird schwindlig und ich fühle mich nicht wohl. Meine Hände werden eiskalt aber gleichzeitig habe ich eine schweißnasse Stirn.
>Hey Kleines, geht’s dir nicht gut? < fragt Sam sorgenvoll. Sein Gesicht ist das letzte, was ich wahrnehme, ehe mein Kreislauf vollkommen zusammenbricht.

Einige Minuten später
Als ich kurz darauf wieder zu mir komme, liege ich am Boden, mit dem Kopf auf Sam's Knien und einem nassen Tuch in meinem Nacken.
>Da bist du ja wieder. < lächelt er aufmunternd aber es erreicht seine Augen nicht. In seinem Blick steckt zum ersten Mal etwas Mitfühlendes.
Ich grummle und lege meine Hand auf die Stirn. Mühsam versuche ich mich in eine sitzende Position zu bringen aber Sam lässt mich nicht. Dimitrij hält mir ein Glas Wasser vors Gesicht.
>Das war wohl etwas zu viel, was? < fragt er sanft und gibt es mir in die Hand.
>Danke … ja, scheint so. Es ist alles noch ziemlich frisch. < dankbar nehme ich das Wasser an.
>Im Grunde genommen habe ich schon ausreichend Informationen bekommen. Das Meiste mit den Schusswunden hat mir Sam bereits aus seiner Sicht erzählt. Ich nehme an, dass man dich nach deinem Sturz verfolgte und dann auf dich geschossen hat, als du wegliefst. <
Ich sehe kurz zu Sam und nicke.
>Hast du eine Ahnung weshalb deiner Familie das angetan wurde? < fragt der Russe erneut nach.
>Der Kerl, der für mich aussah wie ein Taliban, der erzählte mir, dass alle Schulden beglichen werden müssten. Erst in der letzten Woche habe ich von meinem Vater erfahren, dass er sich Geld von einer Privatperson geliehen hat. Ich weiß nicht wie viel es genau war – er redete nicht darüber. Aber ich weiß, dass diese Person es zurückhaben wollte. <
>Verstehe. < erwidert Dimitrij. Ich hingegen verstehe überhaupt nichts. >Ich setze mich gleich an den Fall ran. Das, was in den Medien verbreitet wird, müssen wir allerdings etwas ändern lassen. <
>Was meinst du damit? < frage ich verständnislos. Was will man da noch abändern und wie? Immerhin sind die Meldungen doch bereits an die Öffentlich gelangt.
>Du stehst auf einer Fahndungsliste und wirst demnach überall gesucht. Das bedeutet kein Zivilist oder Staatsdiener darf dich irgendwo auf der Straße sehen, sonst wirst du ausgeliefert. < erklärt mir der Riese im Anzug. Das, was er sagt, klingt für mich auch verständlich aber eines ist mir noch nicht ganz klar …
>Und wie wollt ihr mich von dieser Liste herunterbekommen? <
>Manchmal müssen wir zu härteren Maßnahmen greifen aber ich hoffe du verstehst, dass ich das tun muss. Ich werde es so drehen lassen, dass du nicht mehr am Leben bist. Die Kontakte dazu habe ich. Wenn ich mich beeile, dann geht es ganz schnell. < erklärt er mir.
>Was? Aber das ist nicht wahr. Aus welchem Grund sollte so etwas über mich erzählt werden? Sam lässt mich doch sowieso nicht in der Stadt herumspazieren. <
>Weil es besser für dich ist, tot zu sein als eine gesuchte Mörderin. Und die Männer, die dafür verantwortlich sind, suchen nicht mehr weiter nach dir. Das, was in den Medien verbreitet wird, ist schließlich das Werk von denen. Solange sie nicht wissen, ob du irgendwo dort draußen bist, veranstalten sie eine Hetzjagd nach dem eigentlichen Opfer und nicht nach dem wahren Täter – es ist nicht das erste Mal das so etwas passiert. Ich bin sicher, sie haben das von dir geworfene Küchenmesser mit deinen Fingerabdrücken so präpariert, dass dort das Blut der Familie dran klebt. Sie haben alles so aussehen lassen, als wärst du dafür verantwortlich. <
Jetzt werde ich ganz still. So habe ich die Sache noch gar nicht gesehen. Mir wird mehr und mehr bewusst, wie schlagartig sich mein Leben geändert hat. Ich habe keine Familie mehr und kein Gesicht mehr. Selbst wenn ich nicht als tot gelte, bin ich immer noch eine Mörderin. Keuchend liegt mein Kopf noch auf Sam's Knien, denn ich schaffe es gar nicht mich aufzurichten, selbst wenn er mich lassen würde.
>Erstmal bleibst du weiterhin bei Sam. Wir regeln das. < erklärt Dimitrij mitfühlend.
Mit diesen Worten steht er auf und schüttelt mir zum Abschied die Hand, die schlaff zu Boden fällt. Sam stützt sanft meinen Kopf von seinen Knien und legt ihn seitlich auf dem Boden ab. Ich glaube, dass mir meine Beine wegsacken würden, wenn ich versuchen würde aufzustehen. Sam bringt Dimitrij noch zur Tür. Ich höre zwar Stimmen aber ich verstehe sie nicht. Es hört sich an als würden die beiden russisch miteinander reden, aber vielleicht lässt mich auch einfach meine Wahrnehmung im Stich. Ich fühle mich total eigenartig, so kaputt und entkräftet.

            Nur etwas später verstummen die beiden und ich höre die Tür zuknallen. Inzwischen sitze ich immerhin aufrecht auf dem Boden aber habe mich keinen Meter von der Stelle bewegt. Sam kommt um die Ecke und ruft mir zu:
>Komm schon. Du brauchst jetzt dringend frische Luft und kannst mir beim Angeln helfen. <
Das ist ja wieder typisch für ihn. Ich habe mir gerade mein Herz ausgeschüttet und mir meine Seele herausgerissen und er macht weiter mit seinem Alltag, als wäre nichts gewesen. Ich raffe mich wackelig auf und laufe zur Tür.
>Sam mir ist nicht danach. <
>Das ist mir klar und genau deswegen kommst du jetzt mit raus, bevor du dich in dem Zimmer verkriechst und in Selbstmitleid versinkst. Das ist nämlich das letzte, was du jetzt tun solltest. <
Er muss sich wirklich sicher sein, dass mir in diesem Wald niemand begegnen kann, denn das, was Dimitrij gesagt hat, war eindeutig. Ich darf nicht einfach so in einer Stadt herumlaufen und erkannt werden. Er läuft bereits vor und verschwindet durch die Eingangstür. Widerwillig laufe ich langsam hinter ihm her. Im Moment wäre ich wirklich lieber allein.
Ich mache die zugefallene Eingangstür auf und starre nach draußen. Es hat aufgehört zu regnen und die Wolken verziehen sich allmählich wieder, sodass stellenweise die Sonne durchscheint. Sam kann ich nicht mehr sehen und daher laufe ich ein Stück aus dem Haus hinaus. Er poltert in der großen Garage herum und sobald er herauskommt, sehe ich, dass er eine Menge Zeug mit sich schleppt. Ich humple zu ihm und will ihm etwas abnehmen, doch er zieht die Angelkiste weg.
>Du läufst ohne deine Stütze? < meckert er. >Geh rein und hole sie dir! <
Da ich keine Lust habe mit ihm zu streiten, gehe ich wieder hinein, hole mir meine Gehhilfe aus dem Wohnzimmer und laufe wieder zu ihm nach draußen. An der kleinen Bucht mit dem umgestürzten Baumstamm packt er bereits seine Sachen aus und hantiert dann an einer Angel herum.
>Mach dir die Haare zusammen und setze die hier auf! < ruft er und wirft mir seine Strickmütze zu. Ich frage nicht mehr nach, ich tue es einfach, bis kein Haar mehr von mir zu sehen ist.
Er wirkt schweigsam – noch mehr als sonst. Diese Falte auf seiner Stirn hat sich in dem Moment gebildet, als ich den ersten Kerl beschreiben musste und ging seitdem nicht mehr weg.
Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass sowohl Dimitrij als auch Sam genau wissen, von welchem Kaliber diese Täter sind.
Review schreiben
 Schriftgröße  Schriftart  Ausrichtung  Zeilenabstand  Zeilenbreite  Kontrast