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Fingerabdrücke bleiben

von Lynnix
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Krimi / P16 / Gen
23.02.2018
25.11.2021
129
578.228
7
Alle Kapitel
102 Reviews
Dieses Kapitel
2 Reviews
 
08.06.2018 4.382
 
Kapitel 16 – Déjà-vu

*TRIGGERWARNUNG!*
Der Inhalt des folgenden Kapitels kann bei vereinzelten Personen eventuell Panikgefühle auslösen.

So wie ich es mir dachte, bin ich am nächsten Morgen schon sehr früh wach, weil mich die Träume immer wieder aufweckten und weil das Wetter da draußen offenbar völlig verrücktspielt. Da ich die Erschöpfung durch den starken Blutverlust vor knapp fünf Tagen inzwischen hinter mir gelassen habe, fühle ich mich trotz Schlafmangels aber einigermaßen okay und nicht mehr so entkräftet. Sam sagte gestern, dass er längst wieder zurück wäre, sobald ich aufwache. Mitten in der Nacht, wo mich die Träume immer wieder aufschreckten, war ich aber noch allein.
Ich schiebe die Jalousie mit zwei Fingern auseinander und da steht sein Pick-up im Regen. Zumindest habe ich es nicht mitbekommen als er kam, also scheine ich zwischendurch doch mal etwas fester geschlafen zu haben.
Ich bewege vorsichtig meine Schulter durch. Sie tut weh aber es ist erträglich. Auf dem kleinen Tisch neben dem Gästebett liegen noch Schmerztabletten und ich werfe mir eine halbe davon ein.
Auch wenn ich weiß, dass sie so schnell noch nicht wirkt, mache ich bereits ein paar der Dinge, die Sam mir gezeigt hat. Trotz dem die Bewegungen noch nicht gut funktionieren, bin ich doch froh, dass ich mich überhaupt noch bewegen kann. Mein schweigsamer Gastgeber zeigte bisher recht wenig Anteilnahme für meine Situation – zumindest im emotionalen Sinne und bindet mich in seine Arbeiten draußen oder im Haushalt mit ein.
Er achtet allerdings darauf, dass es mir körperlich trotzdem passabel geht und rüstet mich mit Medikamenten aus. Außerdem sorgt er dafür, dass ich genug esse und kümmert sich um meine Verletzungen. Ich finde diesen Widerspruch ziemlich eigenartig aber so schweigsam wie er ist, so achtsam ist er im Gegenzug.
Gestern fiel es mir besonders auf, weil er mich genau in meinen Bewegungen beobachtet hat und bemerkte, wenn mir etwas wehtut. In dem Fall wollte er, dass ich weniger mache oder den anderen Arm benutze.
Trotzdem habe ich bisher noch nicht erlebt, dass er mich in eine Ecke geschickt hat, um mir eine Pause zu gönnen. Das ist offenbar seine Art – mich zu triezen und rumzukommandieren, aber eigentlich will ich mich darüber gar nicht beschweren. Im Grunde muss ich mir eingestehen, dass er ziemlich in Ordnung zu sein scheint – auch wenn ich nicht alles beantwortet bekomme, was ich wissen will und er ab und zu bei gewissen Themen eher verschlossen wirkt. Aber eigentlich kennen wir uns auch gar nicht. Also warum sollte er dann so viel von sich preisgeben? Ich tue es ja auch nicht.
Angestrengt stehe ich auf und will ihm dieses Mal Frühstück machen, um mich erkenntlich zu zeigen. Als ich im Zimmer die Jalousie komplett nach oben ziehe, sehe ich nach draußen – es ist so stürmisch wie ich es die ganze Zeit schon höre. Einen viel schlimmeren und erst kürzlich vergangenen Sturm habe ich allerdings noch ziemlich lebhaft in Erinnerung, als sich die Bäume bogen und das Wasser ebenso von oben, wie von unten kam. Aber das hier ist nicht dieser schreckliche Sturm von meiner Abschlussnacht, sondern das ist einfach irgendein Sturm, bei dem der Regen erbarmungslos gegen das Fenster peitscht und mir nichts anhaben kann.
Ich stelle die kleine Lampe auf dem Tisch aus, ohne die ich nicht einschlafen konnte und ziehe mich an, um mir danach im Badezimmer die Zähne zu putzen und die Haare zu bürsten.
Sobald ich fertig bin, laufe ich leise auf seinem Flur herum und bleibe unten vor seiner Treppe stehen. Dort höre ich über das Prasseln des Regens hinweg. Sam scheint bei all dem Lärm da draußen tatsächlich noch zu schlafen – was ich ganz gut finde. Es scheint normal zu sein, dass er einfach irgendwann nachts verschwindet und mich allein zurücklässt. Bisher habe ich nicht mitbekommen, wenn er wieder zurückkam und auch nicht herausgefunden, was er beruflich tut. Zugegeben, drei Tage davon war ich offenbar nicht bei Bewusstsein und habe überhaupt nichts mitgekriegt.
Jedenfalls kann ich mir offenbar ein bisschen Zeit beim Zubereiten des Frühstücks lassen.

            In seiner Küche angekommen sehe ich mich genauer um und überlege was ich machen könnte. Da er erst gestern einkaufen war, sind seine Schränke gefüllt, aber ich finde auf Anhieb nicht das, was ich suche. Nur ungern möchte ich seine ganzen Schränke durchwühlen aber nach einigem Hadern tue ich es doch, um mir alles zusammenzusuchen, das für einen Brötchenteig reicht. Allerdings bleibe ich auch bei den nächsten Schränken erfolglos. Ich glaube, er hat sein Mehl und die meisten Zutaten in seinem Keller. Da unten ist es immerhin trocken und kühl. Gestern Morgen habe ich ihn mit ein paar Eiern die Treppe hochkommen sehen. Also sehe ich am besten dort nach. Ich öffne die Kellerluke im Boden und steige umständlich die ersten paar Stufen hinunter, bis ich an den Lichtschalter neben der zweiten Stufe komme. Die unteren Lampen flackern erst kurz und es dauert etwas, bis sie gänzlich anbleiben. Ich bin die Stufen fast bis zur Hälfte mit meiner Stütze heruntergelaufen und war so sehr auf meinen sicheren Tritt konzentriert, dass ich mich erst jetzt traue, nach vorn zu sehen. Vor lauter Schreck kippe ich nach hinten um und komme auf der Treppe schmerzhaft auf meinem Steißbein zum Sitzen.
Die Gehhilfe fällt mir aus der Hand und nimmt jede verbliebene Stufe mit einem lauten Poltern mit, bis sie am Ende der Treppe auf dem Boden landet.
Der Anblick vor mir schockiert mich so sehr, dass ich beginne, aus einem Reflex heraus zu schreien. Ich rapple mich ungeschickt auf und lasse meine Gehstütze dort wo sie ist. Mein Bein schmerzt, sobald ich renne aber das ist egal. Ich muss hier raus. Und zwar dringend.
Soweit ich es „rennen“ nennen kann, eile ich wieder nach oben und laufe in Richtung der Haustür, als ein fremder Mann gerade aufgescheucht von der oberen Etage heruntergestürmt kommt. Die Eingangstür ist abgeschlossen! Wieso ist sie abgeschlossen, verdammt? Ich renne panisch weiter geradeaus, wo ich zumindest weiß, wie ich hier rauskomme. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals und meine Augen brennen. Nicht noch einmal, bitte nicht noch mal.
>Hey was ist passiert? < ruft er und das ist definitiv Sam's Stimme. Er läuft mir in einem schnelleren Gang sofort hinterher.
>Lass mich in Ruhe! < schreie ich und renne in das Zimmer zurück, aus dem ich gekommen bin. Ich klemme einen Stuhl unter die Klinke und eile schnell zum Fenster, um es zu öffnen. Diese Szene kommt mir so erschreckend bekannt vor – so bekannt, dass ich sofort weiß, was ich tun muss. Dieses Mal bin ich aber zum Glück im Erdgeschoss und klettere aus dem Fenster heraus. Mein Herz rast so sehr, sodass ich kaum etwas anderes hören kann, als sein panisches Schlagen. Ich kann das nicht noch einmal durchmachen. Halb rennend, halb humpelnd laufe ich nach draußen und kämpfe gegen den peitschenden Wind und Regen an. Ich schaue mich nach hinten um, als ich auch schon den fremden Kerl hinter mir herrennen sehe. Keuchend versuche ich nicht noch mehr in Panik zu verfallen und vor allem in diesem weichen Schlamm nicht zu Boden zu gehen.
Mein Bein tut so schrecklich weh aber ich kann jetzt nicht stehenbleiben.
>Verdammt Nayeli was soll das? Hast du dich mal umgesehen? Es ist gefährlich hier draußen. < ruft er mir hinterher.
>Nicht gefährlicher als bei dir. <
In dem Moment als er hinter mir herlief, hätte ich es wissen müssen. Er ist vielleicht erst nach mir aus dem Haus gestürmt aber ich bin viel zu langsam durch meine frischen Verletzungen. Schnell holt er mich ein und umgreift meinen Arm, der nicht angeschossen wurde.
>Nein! < schreie ich verzweifelt und versuche ihm meinen Arm zu entziehen. Aber er zieht mich kraftvoll mit meinem Rücken an seine Brust und umklammert mich in einem Griff, der mich nicht entkommen lässt. Ich schreie qualvoll und verweint umher und trample mit meiner Ferse auf seinen nackten Fuß. Er keucht zwar auf und flucht, aber lässt mich trotz des Schmerzes nicht los.
>Hör auf! Fass mich nicht an! < brülle ich herzzerreißend. Dann legt er seine Hand um meinen Mund aber ich beiße zu, sodass er mich einen Moment loslässt. Ich werde nicht klein beigeben und zulassen, dass ich mich kampflos ergebe. Nur eine Sekunde komme ich von ihm los, ehe er mich zu Boden wirft und sich über mich beugt.
>Verdammt, was ist denn in dich gefahren? Ist das deine Art sich zu bedanken? < brüllt er mich kalt an.
Erst jetzt sehe ich ihn richtig an. Im ersten Augenblick denke ich, dass es gar nicht Sam ist. Aber der scheinbar andere, fremde Mann ist immer noch mein Gastgeber.
Meine Atmung geht hektisch und mein Gesicht verzieht sich angstvoll. Auf meinen Wangen landet der unbarmherzige Regen und ich zittere am ganzen Leib.
>Bitte Sam. Ich habe dir vertraut und ich flehe dich an, bring mich nicht um. < flüstere ich bebend vor Angst.
>Umbringen? Was soll der Mist – wieso sollte ich dich umbringen? < zischt er wütend.
>Dein Keller … ich war dort. Da war alles voller … Blut. < hauche ich und zittere noch mehr, weil ich mich aus seinem Griff nicht befreien kann.
>Mein Keller? < murmelt er verständnislos. Aber dann stöhnt er auf, schließt die Augen und atmet schwer aus, als es ihm offenbar einfällt was ich meine. >Oh Gott nein. Ich habe heute in der Dämmerung noch ein Reh ausgenommen. Ich kann es dir in der Gefriertruhe zeigen. Hätte ich gewusst, dass du da runtergehst, hätte ich danach noch sauber gemacht aber ich war so verflucht müde. Ich bringe dich nicht um, verdammt. <
Er schaut mich irgendwie verletzt an, so als hätte ich ihm mit meinem Verdacht einen Schlag ins Gesicht verpasst. Vielleicht wirkt er auch nur deswegen so, weil er jetzt so anders aussieht. Sam hat sich seinen gesamten buschigen Bart auf wenige Millimeter hinunter rasiert, genauso wie seine Haare viel kürzer sind. Er ist definitiv keine 40 Jahre alt, sondern eher 30 oder jünger und jetzt sieht man erst, dass er ein hübscher Mann ist.
Ich bin nicht imstande etwas zu sagen – ich bibbere so stark vor Angst, vor Kälte, vor Adrenalin.
>Komm schon, lass uns reingehen. Du holst dir hier draußen noch den Tod und ich mir gleich dazu. <
Er steht auf und zieht mich mit sich hoch. Hätte er mich umbringen wollen, dann hätte er es schon längst getan. Sam lässt mich los und läuft einfach vorwärts. Ich will ihm nicht folgen, sondern ich will nach Hause zu meinen Eltern und zu meinem Bruder, der noch so viele Jahre vor sich haben müsste. Mein Blick geht Richtung Wald und ich frage mich, wie ich dort draußen allein zurechtkommen würde, wenn ich von hier abhauen würde. Der Wind peitscht mir ins Gesicht und der Regen prallt gemein auf mich ein. Ich habe nicht mehr als sein Football-Shirt und eine Panty an und es wirkt so kalt, weil ich hier barfuß im Dreck stehe. Mein Körper und meine Haare sind inzwischen voller Schlamm, da ich von Sam zu Boden gedrückt wurde. Dieser springt durch das offene Fenster, aus dem ich hinausgerannt bin und beseitigt offenbar den eingeklemmten Stuhl von der Türklinke. Denn kurz darauf steht er an der offenen Eingangstür und wartet offensichtlich auf mich. Ich weiß nicht, weshalb er mir solche Angst macht aber ich weiß, dass ich ohne ihn bereits tot wäre. Langsam bewegen sich meine Beine auf ihn zu. Allerdings so langsam, dass ich immer noch überlege, nicht doch wieder vor ihm fortzurennen. Jetzt wo dieser Bart und die dichten Haare weg sind, sieht er kaltblütiger aus und doch so gut – ein eigenartiger Zwiespalt. Seine grauen Augen stechen jetzt noch mehr hervor.
>Wenn du noch langsamer gehst, holen wir uns beide eine Lungenentzündung. < flucht er und legt genervt den Kopf schräg.
Ich bleibe genau neben ihm stehen und sehe ihn mit klappenden Zähnen an. Aber ich traue mich immer noch nicht ins Haus hinein. Stattdessen schaue ich auf seine geballten Fäuste. Ich schlucke schwer und betrete dann beklommen sein Haus. Hinter mir knallt er die Eingangstür zu, was mich geräuschvoll aufschreckt.
Dann läuft er geräuschvoll und verdreckt ein Stockwerk nach oben und kommt kurz darauf wieder heruntergerannt, um mir ein Handtuch zuzuwerfen.
>Hier, mach dich trocken! Ich springe unter die heiße Dusche und wenn ich runterkomme, solltest du dir überlegt haben, was du machen willst. Wenn du gehen willst, dann tu es aber warte wenigstens bis der Regen aufgehört hat und nimm dann das verdammte Frauenzeug mit. <
Sam dreht sich um und geht mit bitterer Miene hoch in seine Etage. Ich presse das Handtuch an meine Brust und sinke auf die Knie.
Ein Stockwerk höher höre ich wie die Tür verriegelt wird und starre dort eine gefühlte Ewigkeit hin. Ich komme mir so schrecklich vor. Mein Bein zittert unkontrolliert und ich drücke meine Hand auf die Wunde.
Ich kann noch nicht von hier weg, auch wenn ich es so sehr will.
Mit all meinem Mut raffe ich mich auf und laufe in seine Küche, um noch einmal diesen Keller zu betreten. Ich muss es einfach wissen, ob er mir die Wahrheit gesagt hat. Das Licht ist immer noch an und ich humple einige Stufen hinunter. Auf der Hälfte zeigt sich mir bereits der Tisch in der Mitte des Raumes und ich schlucke schwer bei diesem Anblick. Mir wird schlecht und ich glaube mich gleich übergeben zu müssen. Aber trotzdem gehe ich schwankend weiter. Ich mache einen großen Bogen um das Möbelstück. Auf dem Boden steht eine große Schale voll mit dickem Blut, drum herum Blutspritzer die an den Beinen des Holztisches heruntergelaufen sind. Nicht hyperventilieren, sage ich zu mir selbst als ich merke, dass sich die wachsende Panik wieder durchsetzen will. In dem Keller sind außer diesem Tisch, noch Regale an den Wänden. Einige sind vollgestellt mit Konserven und anderen Dingen für den Haushalt. Wieder andere lassen mich vorsichtiger werden.
Ich gehe näher heran und erkenne, dass sie voll mit Waffen sind. Meine Hand geht zittrig dorthin und greift nach einem Messer, das dort liegt. Ich drehe es in meiner Hand und frage mich, weshalb man so viele davon für ein paar Tiere benötigt. Daneben sind zwei verschieden große Gewehre und mehrere Pistolen. Es sieht für mich beinahe aus wie eine Trophäensammlung. Etwas weiter rechts sind Pfeile in einem Köcher und ein Bogen. Ich nehme ihn in die Hand und betätige die surrende Sehne. Schnell lege ich ihn wieder zurück und laufe an der Wand weiter. Meine Atmung kann sich einfach nicht beruhigen. Wozu braucht er das alles?
An der nächsten Wand hängt eine Weste, die mein Interesse auf sich zieht. Sie ist beige und hat unvorstellbar viele Taschen. Noch dazu ist sie stark gepolstert und fühlt sich stocksteif an. Wie soll man sich damit bewegen? Auf der Brust ist die amerikanische Flagge abgebildet. Ich bewege mich weiter durch diesen Keller und werde auf eigenartige Weise mutiger, obwohl ich so schlottere. Auf einem weiteren Regal ruht ein Helm. Er ist ebenfalls in Beige und in einem Tarnmuster. Behutsam fahren meine Finger über eine eingedellte Stelle darüber. Daneben liegt ein schwarzes Basecap mit einem Logo der Spezial Force.
Hinter mir höre ich die Stufen leicht knarzen aber ich drehe mich nicht um.
>Du bist ein Soldat. < flüstere ich tonlos.
>Nein, ich war mal einer. Das ist ein Teil von mir, den ich nicht mehr abschütteln kann. <
Er kommt die Treppen hinunter und bleibt neben mir stehen. Ich sehe ihn nicht an, sondern immer noch zu seinem Basecap. Allerdings spüre ich seinen Blick auf mir.
>Es tut mir leid. < keuche ich beschämt. > Ich … ich war nur so panisch. Ich dachte wirklich du… <
>Schon gut. < antwortet er sanfter und geht von mir weg. Ich blicke zur Seite, dort wo Sam zur Kühltruhe läuft. Er öffnet den Deckel und holt eine offensichtliche Rehkeule heraus, die er bereits abgepackt hat. Das darauf geschriebene Datum von heute hält er mir beinahe unter die Nase.
>Ich glaube dir. <
Er nickt und wirft sie wieder hinein, um dann das Fach zu schließen. Als er wieder auf mich zukommt und mit einer Hand mein Kinn umfasst, verkrampfe ich mich und kneife die Augen zu.
>Gott, was haben sie nur mit dir gemacht? < flüstert er eher zu sich selbst. >Komm wieder mit hoch! Ich glaube kaum, dass es dir besser geht, wenn du barfuß im Blut stehst. <
>Wieso bist du kein Soldat mehr? < will ich wissen und umgehe seinen Befehl.
>Lange Geschichte. <
>Ich habe Zeit. < versuche ich ermunternder zu klingen, als ich mich fühle.
>Aber im Moment nicht die Nerven dafür. Wenn dich mein Keller schon zum Weglaufen bewegt, dann glaube ich nicht, dass du so etwas hören willst. Du gehörst nicht hierher und du gehörst auch nicht in so eine Welt, in der Leute angeschossen und getötet werden. <
>Ich weiß, dass ich nicht gerade den Eindruck erwecke, als wenn ich besonders taff wäre, aber…<
>Du erweckst absolut nicht diesen Eindruck. Und ich will, dass wir wieder nach oben gehen. < verkündet Sam und lässt keinen Raum mehr für Widersprüche.

            Eigentlich wollte ich ihm zur Abwechslung mal Frühstück machen, stattdessen muss ich mir erstmal den Dreck abwaschen und mir etwas mehr Stoff anziehen. Danach wische ich eilig über den Boden, da er von unseren nackten Füßen mit Schlamm bespritzt wurde.
Sobald ich damit fertig bin, gehe ich wieder zu Sam. Er steht schon an seinen Schränken und zaubert etwas, das ich ihm gar nicht zugetraut hätte.
>Kann ich dir wenigstens helfen? < frage ich, da ich mir völlig fehl am Platz vorkomme.
>Ja, gib mal den Blutorangensaft rüber! <
Sam dreht mir zwar den Rücken zu aber ich sehe wie seine Ohren ein Stück nach oben gehen und ich weiß, dass er grinst.
>Ich werde nicht gleich wieder schreiend davonlaufen, nur weil ich eine rote Flüssigkeit sehe. < wende ich ein und trete neben ihn, hole zwei Gläser aus dem Schrank und gieße jedem ein.
Er zieht zweifelnd eine Augenbraue hoch.
>Das steht dir ziemlich gut … so bartlos. < murmle ich, als ich ihn eine Weile ansehe.
Daraufhin sieht er mich überrascht an. Wow, seine Augen stechen jetzt aber wirklich extrem in diesem Grauton und vor allem bei diesem Licht. Sein Gesicht ist schlank und markant. Außerdem wirken seine Wimpern – da der Fokus jetzt mehr auf seinen Augen liegt, echt lang. Das ist manchmal wirklich gemein. Warum müssen Frauen da immer nachhelfen?
>Ich wollte nur nicht mehr aussehen wie 40, das hat mir zu denken gegeben. <
Das hat er meinetwegen gemacht?
>Und wie alt bist du nun? Du hast mir keine Antwort gegeben. <
>Wie alt sehe ich denn jetzt aus? < fragt er und leckt an seinem Daumen, als er seine zusammengerührten Aufstrich probiert.
>Wie gerade mal dreißig. <
>Nicht schlecht. Ich bin 28 um genau zu sein. <
>Und jetzt wo du kein Soldat mehr bist, was machst du da - außer Frauen aus dem Superior Lake zu fischen? <
>Hast du im Moment keine anderen Sorgen, als mich das zu fragen? <
>Doch unzählige aber das interessiert mich jetzt. <
>Na schön. Manchmal gebe ich nebenbei noch einzelne Trainerworkshops an einer speziellen Schule aber das tue ich nur, weil es mir Spaß macht und nicht wegen des Geldes. <
Trainerworkshops? Wenn ich ihn so ansehe, dann denke ich sofort an etwas Sportliches. Jedenfalls sieht er danach aus.
>Und was tust du hauptberuflich? <
Daraufhin schaut er mich nachdenklich an aber antwortet nicht. Ich finde es furchtbar, wenn er mich so ansieht. In seinem Kopf scheint sich innerhalb von wenigen Sekunden so viel abzuspielen und er scheint so viele Optionen abzuwägen, die ich nicht kapieren kann.
>Verstehe, dafür habe ich nicht die Nerven. < wiederhole ich seine Worte.
>Hmm. < murrt er nur aber grinst. Jetzt sieht man Grübchen, wenn er lacht. Als würde plötzlich ein vollkommen anderer Mann vor mir stehen. Mir wird bewusst, dass ich ihn anstarre und ich versuche das schleunigst zu ändern. Aber ich finde es faszinierend, wie sich ein gutaussehender Mann unnötig hinter so einem Berg Bart- und Kopfhaare verstecken konnte.

            Am Frühstückstisch nage ich an einem Brötchen, das er aufgebacken hat. Eigentlich habe ich nach dem, was ich da unten gesehen habe, absolut keinen Hunger aber da er seinen selbstgeräucherten Lachs in dünne Scheiben geschnitten hat, wäre es unfreundlich ihn zu verschmähen. In seinem dazu passenden Aufstrich ist Meerrettich oder sowas drin – jedenfalls schmeckt es wirklich gut. Nachdem ich mein Glas mit dem Blutorangensaft leer habe, geht mir die Stille zwischen uns aber wieder ziemlich auf die Nerven. Wie hält er das nur so lange aus? Und wie lange ist er schon so alleine?
>Ich weiß es nervt dich, wenn ich das frage, aber was soll ich jetzt tun? In meiner Heimatstadt bin ich vielleicht nicht mehr sicher und an meinen Job brauche ich wahrscheinlich gar nicht mehr zu denken. Ich hätte längst damit anfangen sollen. <
>Du wurdest gerade erst angeschossen und machst dir Sorgen um einen Job? Du bist echt verrückt. <
>Dieser Job war alles, was ich je wollte. Ich kann doch nicht ewig hier bei dir bleiben und brauche eine Perspektive. <
>Da hast du recht, das kannst du nicht. <
>Also? Was soll ich deiner Meinung nach tun? Die Mörder meiner Eltern laufen immer noch dort draußen herum. Du musst mir endlich meine Fragen beantworten …bitte Sam. Ich weiß, dass ich vorhin ziemlich hysterisch war aber vielleicht wäre ich das nicht gewesen, wenn du endlich mit mir reden würdest. Ich habe verstanden, dass du mir nichts antun wirst. <
Er zögert seine Antwort heraus und schaut dann auf sein Frühstück. Ich glaube schon, dass er mir wieder nichts darauf erwidern wird, also stemme ich mein Kinn in eine Handfläche und beiße traurig von dem Brötchen ab.
>Ich habe mir bereits einige Gedanken zu dir gemacht …< wendet er wider erwartend ein. >Deinen Fall habe ich etwas genauer nachgelesen und eine Kopie der Akte dazu. Im Moment hast du schlechte Karten dort draußen. Ich habe da einen guten Bekannten, der könnte dafür sorgen, dass du vorübergehend einen anderen Pass mit einem anderen Namen und einen komplett neuen Lebenslauf bekommst. Eine neue Identität sozusagen. Denn der andere Weg, der mir einfällt, ist eher nichts für dich. <
>Was? Aber ein falscher Pass ist illegal. < antworte ich empört.
>Das Töten von unschuldigen Menschen auch. < Dem habe ich nichts mehr hinzuzufügen. >Du könntest auch erst mal nur mit ihm reden…< vervollständigt er bei meinem Schweigen.
Ich bin mir nicht so sicher in was ich da reingerate und ich weiß auch nicht, wie Sam an meine Akte herangekommen ist aber irgendwie beruhigt mich der Gedanke zu wissen, dass er mal unserem Land gedient hat – auch wenn er es jetzt nicht mehr tut. Die Wand mit all den Waffen versuche ich aus meinen Gedanken zu verbannen.
>Okay. < hauche ich ganz leise nach einem kurzen Zögern. Ich habe kaum eine Wahl, oder?

            Ich räume die Küche auf, während Sam bis eben noch im Badezimmer war, um sich für den Tag fertigzumachen. Jetzt höre ich ihn irgendwo im Wohnzimmer herumpoltern. Mein Körper hat sich allmählich wieder vollständig beruhigt, auch wenn dieser Schreckenszustand eine Weile anhielt.
>Na toll, sieh dir mal dein Bein an! < flucht er plötzlich hinter mir, wovon ich erstmal zusammenzucke. Früher war ich nie so schreckhaft.
>Wieso, was ist damit? < Ich beuge mich mit dem Rücken nach hinten und mein Bein etwas an, um zu sehen was er meint. Meine Wunde an der Wade hat einen ausgebreiteten feuchten und dunklen Fleck auf dem Stoff der Hose hinterlassen.
Er seufzt und schiebt mich in Richtung des Küchenstuhls, auf dem ich mit sanfter Gewalt gedrückt werde. Sam verschwindet kurz aus meinem Blickwinkel, was mir die Zeit gibt, wenigstens den Teller wegzustellen, den ich bis eben noch festhielt.
Dann kommt er mit ein paar Verbandssachen zurück und schiebt mein Hosenbein hoch, um dann Schicht für Schicht die alte Binde abzuwickeln. Das darin haftende Blut wird immer dunkler. Ich sehe weg, weil mir schlecht wird.
>Das ist nur, weil du weggerannt bist. < meckert Sam, weil es offenbar selbst jetzt noch nachblutet.
>Tut mir leid aber ich hatte nun mal Angst. Dort war alles voller Blut und da wo ich herkomme, bedeutet so etwas „Lauf um dein Leben.“ <
>Was hattest du da unten überhaupt verloren? < zischt er.
>Ich wollte dir einfach nur etwas zu essen machen und habe nicht das gefunden, was ich gesucht habe. Woher sollte ich auch wissen, dass du da unten so ein Massaker angerichtet hast? <
>Woher sollte ich auch wissen, dass du da runterläufst? <
Mit verschränkten Armen lasse ich mich gegen die Stuhllehne fallen. Unglaublich dieser Kerl.
>Sorry, ich weiß ich kann manchmal wirklich gemein drauf sein. Du konntest schließlich nichts dafür. < murmelt er in einem fluchenden Unterton.
Ich nicke nur und bin baff, dass er sich tatsächlich deswegen entschuldigt. Wieder etwas, das nicht zu seiner rauen Art passt. Er tupft an meiner Beinwunde herum und desinfiziert sie um schlimmeres zu vermeiden.
>Das muss dir doch schon die ganze Zeit wehtun. < mutmaßt er nach einer Weile und sieht dann in mein unerfreutes Gesicht. >Moment mal… das tut dir auch ziemlich weh. Wieso sagst du nichts? Du weißt doch, dass ich Schmerztabletten für dich habe. <
>Ich will nicht, dass du denkst, ich wäre so ein Sensibelchen. Obwohl … tust du ja eh schon. <
Er verzieht den Mund zu einem Lächeln.
>Das tue ich nicht. Körperlich scheinst du jedenfalls eine Menge wegzustecken. Über deine Anfälligkeit zum Thema Blut lässt sich streiten. <
>Du hast ja keine Ahnung…< hauche ich und denke dabei an Iye. Schaudernd schließe ich meine Augen und lasse Sam einfach weitermachen, um mir danach eine ordentliche Portion Schmerzmittel einzuverleiben.
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