Fingerabdrücke bleiben
von Lynnix
Kurzbeschreibung
Nayeli genießt ihre letzte Woche als Studentin und lebt mit ihrer indianisch stämmigen Familie in einem alten Haus neben den Klippen des Superior Lakes. Sie kann es kaum erwarten ihren künftigen Job anzutreten, mit dem ihr eine aussichtsreiche Zukunft bevorsteht. Trotz Strapazen empfindet sie ihr Leben als perfekt aber was sie bis zu dem Zeitpunkt noch nicht weiß ist, dass ihr Vater eine große Last mit sich herumschleppt, dessen Folgen ihr den Boden unter den Füßen wegreißen werden. Die junge Frau lernt jemanden kennen, von dem sie noch nicht weiß, ob er Freund oder Feind ist. Plötzlich ist sie auf fremde Hilfe angewiesen, muss hinter Masken sehen, verstehen wie korrupt das Land ist, in dem sie lebt und auf schmerzhafte Weise Stück für Stück erfahren, wie tief ihr Vater in die Ereignisse verstrickt war. Sie muss Entscheidungen treffen, von denen sie glaubte, so etwas niemals tun zu müssen. Aber wie weit muss sie gehen um Schmerzen und Verlust zu überwinden?
GeschichteDrama, Krimi / P16 / Gen
23.02.2018
25.11.2021
129
578.228
7
Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
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01.06.2018
3.756
Kapitel 15 – Der Mann in Schwarz
>Kann ich dir vielleicht helfen? < will ich wissen, als er mit einer Hand auf seinem Handy herumtippt und mit der anderen in der Einkaufstüte verharrt.
>Klar doch. Die Sachen müssen in den Kühlschrank. <
Er geht ein Stück weg, sodass ich einbeinig neben ihn hüpfen kann. Jetzt tippt er mit beiden Daumen, während ich einen Blick in die Tüte werfe. Nebenbei stelle ich den Backofen aus. Die ganze Zeit schiele ich immer wieder zu seinem Smartphone rüber und frage mich, ob er es immer am Mann hat oder es auch mal unbeaufsichtigt lässt. Sobald alles eingeräumt ist, sehe ich mich in seiner Küche um und entdecke Topflappen. Sam steckt sein Handy soeben weg und funkt mir dazwischen.
>Setz dich lieber, ich mach das. Eine heiße Auflaufform und eine hinkende Person sind keine gute Kombination. Außerdem ist das Keramikding zu schwer für deinen Arm. <
Ich schmunzle und setze mich auf einen Stuhl. Was glaubt er eigentlich, wie ich die Form hineinbekommen habe? Mir fällt auf, dass ich soeben zum ersten Mal wieder mein Gesicht zu einem Lächeln verzogen habe aber es schwindet auch sofort wieder.
Er stellt das kochend heiße Essen in die Mitte des Tisches, holt zwei Teller heraus und verteilt es für uns beide darauf. Da es allerdings so heiß zu sein scheint, dass es noch niemand essen kann, öffnet Sam die Luke in seinem Küchenboden und bringt ein paar Dinge nach unten in den Keller. Ich höre ihn da unten herumpoltern und kurz darauf schweren Fußes wieder nach oben stampfen.
>Das sieht gut aus … riecht auch gut. Was ist das? < will er wissen und nickt zu dem Essen, als er sich mir gegenübersetzt.
>Eine Mischung als allem was ich finden konnte. Meistens nenne ich sowas „Kühlschrank aufräumen“. Ich musste früher schon oft improvisieren. <
Er nimmt einen ersten Bissen und reagiert mit einem hochgezogenen Mundwinkel. Offenbar soll das heißen, dass es ihm schmeckt.
Stillschweigend, wie es offenbar normal bei ihm zu sein scheint, sitzen wir uns gegenüber und starren gedankenverloren auf unseren Teller, bis er leer ist.
Ich nehme mir immer nur eine Portion, so wie ich es gewohnt bin und blicke dann mit verschränkten Hände in meinem Schoß zum Fenster.
>Was ist los? Du hast ziemlich wenig bisher gegessen – du kannst doch nicht schon satt sein. <
>Oh schon gut. Der Rest ist für dich, das macht mir nichts. <
>Jetzt erzähl mir bitte nicht, dass du eine von denen bist, die nur an ihre Figur denken. < schnaubt er verächtlich.
>Was? Nein, natürlich nicht. Ich will dir nur nicht dein ganzes Zeug wegessen. <
Er blickt mich abschätzend an, zieht meinen Teller ran und klatscht noch etwas von dem Auflauf darauf.
>Ich finde dich schon ziemlich dünn. Du solltest in deinem derzeitigen Zustand nicht noch mehr abnehmen. Also hau rein! <
>Danke. < erwidere ich fast tonlos.
Während ich mich ziere, vertilgt er fast so viel wie meine Eltern zusammen und ich frage mich, wo er das hin isst.
Ich habe meinen zweiten Teller zur Hälfte aufgegessen, als er offenbar eine weitere Nachricht abschickt und sein verriegeltes Smartphone dann auf dem Tisch ablegt.
>Kann ich dich was fragen? < wende ich ein und kann nicht von dem Handy wegsehen.
>Kommt darauf an. <
>Besteht die Möglichkeit, dass ich mal dein Telefon benutzen kann? <
>Nein. Ich lasse dich nicht mit der Polizei reden. Ich habe dir bereits erklärt was ich denke. <
>Ich will gar nicht mit der Polizei reden. <
Verwundert zieht er die Augenbrauen hoch.
>So? Mit wem willst du dann reden? Hast du noch andere Verwandte? <
>Naja… das schon aber meine Großmutter lebt schon seit einigen Jahren im Pflegeheim. Sie ist dement und erkennt mich inzwischen nicht mehr. <
>Und sonst niemanden? <
>Der Bruder meines Vaters lebt soweit ich weiß irgendwo in Alabama. Sie hatten allerdings keinen guten Draht zueinander. Die Familie meiner Freundin ist für mich dagegen so etwas wie ein Ersatz. Meg macht sich sicherlich totale Sorgen und ich würde wirklich gern mit jemandem reden. < beim letzten Satz bricht meine Stimme und ich räuspere mich. Ich kann nicht schon wieder weinen.
>Und du glaubst, sie nimmt dir ab was passiert ist? <
Ungläubig starre ich ihn an. Was glaubt dieser Typ eigentlich wer er ist? Ich habe niemanden mehr und diese Tatsache sorgt dafür, dass sich nun doch gegen meinen Willen meine Augen verschleiern. Er scheint nicht gerade die Person zu sein, der ich so etwas erzählen könnte. Im Gegenteil, er wirkt teilnahmslos – fast kaltherzig, sobald ich so melancholisch werde. Da ich nichts sage und ihn einfach nur mit offenem Mund anstarre, setzt er erneut an:
>Ich glaube das gefällt mir nicht. Wenn sie deine Freundin ist, dann wird sie von dir wissen wollen, wo du bist und ob du mit der Polizei geredet hast. Und wenn du es verneinst, dann wird sie es für dich tun. <
>Du hast keinen besonders guten Draht zu den Cops, oder? < murmle ich, da ich befürchte den Kampf bereits verloren zu haben.
>Es geht so. Ein paar wenige zähle ich zu meinen näheren Bekannten aber durch sie weiß ich, dass es auch andere Kollegen gibt, die korrupt sind. <
>Dann lass mich doch mit denen reden, die du kennst. <
>Nein! Schluss Nayeli. Ich sagte, dass wir erstmal warten. <
>Okay, dann eben nur mit Megan. Sie soll sich nur keine Sorgen um mich machen. Ich sage ihr, dass es mir gut geht. Mehr nicht. <
Er hat aufgehört zu essen und schaut mich nachdenklich an. Innerlich bete ich, dass er endlich zustimmt, aber ich kann ihn nicht einschätzen. Nach wie vor finde ich ihn irgendwie seltsam, verschlossen und unbehaglich.
Sam seufzt und legt sein Besteck weg, um die Ellenbogen auf dem Tisch abzulegen. Sein Blick durchbohrt mich, aber ich halte ihm stand.
>Na schön. Rede nach dem Essen mit ihr. Aber ich bleibe während des Telefonats dabei und gebe dir ein Prepaidhandy zum Wegwerfen. Ich will nicht, dass du eine Nummer mitsendest. <
Ich nicke und schlucke schwer aber trotzdem fällt mir ein Stein vom Herzen. Endlich kann ich ihre Stimme hören.
Nachdem ich das Geschirr und das Besteck einarmig in seinen Geschirrspüler geräumt habe, hat Sam bereits irgendwelche Einstellungen in einem anderen Telefon geändert. Wahrscheinlich damit ich anonym anrufen kann. Er legt es entsperrt und zu mir gedreht auf den Tisch.
>Welche Nummer soll ich raussuchen? < will er wissen.
>Keine. Ich habe sämtliche Nummern im Kopf. <
>Gut, dann mach den Lautsprecher an! < befiehlt er.
>Ich würde gern etwas privat mit ihr reden. < erwidere ich mit flehender Stimme.
>Nein. <
Sein Ton ist viel eindrucksvoller als dieses Wort. Und bevor er es sich anders überlegt, nehme ich das Gerät und tippe hastig Megs Handynummer ein.
>Mache es kurz. Rede nicht zu viel über Details und schon gar nicht über deinen derzeitigen Verbleib. Höre vor allem ganz genau hin – sobald du knackende Hintergrundgeräusche wahrnimmst, legst du sofort auf ohne zu zögern. < erklärt er und ich runzle irritiert die Stirn. Es läutet bereits am anderen Ende.
>Was für knackende Geräusche? < flüstere ich über den Piepton hinweg.
>Abhörgeräusche. Du wirst wissen was ich meine, wenn du sie erst einmal gehört hast. <
Wieso sollte man ein Gespräch von zwei jungen Frauen abhören? Es läutet … und läutet … und läutet, bis ihre Voicemail rangeht.
„Hi, hier ist der Anschluss von Meg. Ihr kennt ja das Spiel.“ ertönen ihre Stimme und dann der Piepton. Sam ist allerdings schneller als ich und schnappt sich das Telefon, um sie wegzudrücken.
Ich werfe ihm einen ungläubigen Blick zu.
>Wieso hast du das getan? Ich hätte ihr raufsprechen können. <
>Um damit zu riskieren, dass du auf einem immer wieder abspielbarem Band aufgezeichnet wirst? Ein noch auffälligerer Weg fällt dir wohl nicht ein. Ich weiß überhaupt nicht was mich gerade geritten hat, dir das zu erlauben - das ist doch Wahnsinn. <
>Um ihr zu sagen, dass es mir gut geht und ich vorerst sicher bin. < mit zittriger Stimme breche ich kurz ab, aber ich will noch mehr sagen. >Sie weiß, dass ich das niemals getan hätte. Ich liebte meinen Bruder so sehr. Niemand wusste das besser als Meg. <
Schluchzend lasse ich mein Gesicht in meine Hände fallen, um den harten Blick von Sam nicht sehen zu müssen. Ich weiß nicht, weshalb er mich jedes Mal so ansieht, sobald mir die Tränen kommen.
>Hör auf zu weinen. < unterbricht er mein Wimmern eine Spur wärmer. >Das wird sie nicht zurückholen. <
Ich nehme die Hände von meinem Gesicht und sehe ihn nur verschwommen durch meine Tränen.
>Nichts holt sie zurück. Ich bin jetzt vollkommen allein und wenn man es genau nimmt, dann bin ich auf der Flucht. Ich kann doch nicht einfach untertauchen. Wie stellst du dir das vor? < schluchze ich.
>Du bist nicht allein. Ich habe dir gesagt, ich lasse mir was einfallen. <
Genauso habe ich ihn die ganze Zeit schon eingeschätzt. Er schwingt keine großen Reden, er hält sich nicht lange an einem Thema auf und er hat irgendwie nicht so richtig Mitleid. Ich frage mich die ganze Zeit schon ernsthaft, ob seine Art dafür sorgt, dass ich mich schneller wieder zusammenreiße oder ich mich eher nicht verstanden fühle. Ich kann mich noch nicht entscheiden, ob mir das Ganze auf eine verquere Art guttut oder mir ein noch größeres Loch in mein Herz reißt.
>Ich zeige dir jetzt ein paar Sachen, die du mit deiner Schulter tun solltest. Dein Knochen muss ausheilen aber trotzdem musst du die Hand, den Ellenbogen und die Schulter weiterbewegen, sonst verlierst du zu viel Muskelmasse auf einmal - nicht, dass du besonders viel davon hättest. < erklärt er und lenkt mich mit dem Themenwechsel erneut ab.
>Danke wie taktvoll. < zische ich.
Inzwischen quält mich Sam seit einer viertel Stunde. Das tut echt weh, was er da mit meinem Arm macht, aber ich lasse es zähneknirschend über mich ergehen, als er ihn vorsichtig in sämtliche Richtungen bewegt. Frustrierend ist es, dass ich meinen Arm gar nicht so weit nach oben anheben kann, ohne eine komische Ausweichbewegung dabei zu machen. Der Schmerz schießt mir sofort durch mein Schulterblatt und ich fluche innerlich auf. Gleich danach macht er sich an meinem Bein zu schaffen, was auch nicht viel angenehmer ist. Aber ich weigere mich hierbei nur einen einzigen Mucks von mir zu geben.
>Also eines muss ich dir ja lassen Pocahontas. Du hältst körperlich mehr aus als man es dir zutraut. <
>Im Vergleich zu allem anderen willst du damit sagen?! < mutmaße ich trocken und ignoriere seine Stichelei mit meinem Namen.
>Ich habe nichts gesagt. < grinst er unschuldig.
>Ich muss dich noch etwas fragen. Als du mich aus dem Wasser geholt hast und du mich ausziehen musstest, ist dir da auch ein goldener Kamm in die Hände gefallen? Er hat eine Vogelfeder obendrauf und er steckte eigentlich in meinen Haaren drin. <
>Nein, deine Haare waren offen als ich dich fand. Eine einzige Klammer steckte noch an deinem Hinterkopf. Sonst nichts. <
Ermattet sinke ich etwas auf dem Bett zusammen und lasse meinen Kopf hängen. Das einzige Schmuckstück, das ich von meiner Mutter hatte, ist verschwunden.
>War er denn wertvoll? < will er wissen.
>Für mich schon. < hauche ich zurück und denke an den Moment, als ich ihn bekam.
Etwa eine weitere halbe Stunde doktert er an mir herum und ich merke, wie die Bewegungen etwas besser werden. Danach wickelt Sam um meine frisch verbundenen Wunden etwas Frischhaltefolie. So kann ich mal ganz in Ruhe duschen und dieses Wort klingt in meinen Ohren wie Musik. Er gibt mir etwas Privatsphäre und sagte, er müsse sowieso noch etwas am Laptop arbeiten. Ich schließe mich derweil im Bad ein und sehe mir genauer an, was er mir am Vormittag noch mitgebracht hat. Schon für die Kleidung bin ich ihm sehr dankbar aber nun durchsuche ich noch die Tüte mit den Hygieneartikeln. Dort drin finde ich ein Duschgel, Shampoo, Zahnbürste und Paste, Haarbürste, Haargummis - das volle Programm eben. Ich denke nur, dass es die kleinen Probepackungen, die man auf Flugreisen mitnimmt, auch getan hätten. Schließlich will ich hier nicht lange bleiben und am liebsten direkt zu Megan verschwinden.
Ich genieße es, mir im Bad gleich dreimal die Zähne zu putzen und lasse mir dabei alle Zeit der Welt. Dann gehe ich unter die Dusche und fühle mich – abgesehen von den belastenden Dingen in meinem Kopf und verletzten Körperteilen, langsam wieder wie ein Mensch. Ich fühlte mich zuvor furchtbar schmutzig und das, obwohl ich mit meiner Katzenwäsche über dem Waschbecken, schon einiges aufbessern konnte.
Da mir die ganzen Sachen aber nun mal nicht gehören, will ich nicht seinen Föhn und solche Dinge benutzen. Ich weiß nicht mal, ob er oben vielleicht sogar noch ein weiteres Bad hat oder ich das einzige versperre. Dort war ich bisher schließlich noch nicht. Ich will seine Freundlichkeit nicht zu sehr ausnutzen … wobei „Freundlichkeit“ vielleicht etwas übertrieben ist. Er scheint ziemlich mürrisch zu sein, besonders dann, wenn es mir wieder schlechter geht.
Als ich fertig geduscht und wieder angezogen bin, schleiche ich mich in sein Gästezimmer zurück und sitze mit starrem Blick gegen die Wand gerichtet und mit gefalteten Händen im Schoß, auf dem Bett. Man könnte denken, dass ich versteinert wäre, wenn ich nicht ab und zu blinzeln würde. Ich hätte es wirklich dringend nötig gehabt, Megans Stimme zu hören und es wäre mir sicher wie ein kleiner Lichtblick vorgekommen.
Es klopft an der Tür und Sam steht bereits im Rahmen, ohne ein Wort von mir abzuwarten.
>Willst du die ganze Zeit allein hier herumsitzen? <
>Ich schätze schon. Eine wirkliche Beschäftigung habe ich ja nicht. <
>Genau das ist ja das Problem. Dann denkst du nämlich zu viel nach. Na los, komm schon! Leiste mir ein bisschen Gesellschaft. Ich glaube, das tut uns beiden ganz gut. <
Er geht bereits vor, aber ich zögere noch einen kurzen Augenblick. Es ist eigenartig, weil ich gar nicht unbedingt in seiner Nähe sein will. Aber ich will nicht unhöflich sein und schließlich stehe ich etwas später auf, greife mir die Stütze und gehe in sein Wohnzimmer. Dort hat er den Fernseher zu laufen aber von Sam ist hier allerdings keine Spur. Auf dem Couchtisch steht ein gesperrter Laptop.
Ich lasse mich auf sein helles und weiches Sofa fallen, stelle meine Gehhilfe seitlich ab und schaue nach vorn, wo er gerade eine Serie schaut. Nach ein paar Sekunden ist mir klar, dass er „breaking bad“ sieht. Ich weiß gar nicht, wo er so lange bleibt, immerhin wollte er doch, dass ich hier bin. Am liebsten würde ich ihm so viele Fragen wie möglich stellen. Vielleicht bekomme ich ja jetzt am Abend mehr über ihn heraus.
Seitlich von mir höre ich eine Bewegung und drehe mich danach um. Da kommt Sam mit zwei Gläsern und einer Flasche Pepsi an.
>Ist in der Zwischenzeit irgendwas passiert? < fragt er und nickt zum Fernseher.
>Jip. Walter hat Jesse und Jane eben im Zimmer gefunden. Beide sind total zugedröhnt und Jane stirbt an der Überdosis. Anstatt ihr zu helfen, steht Walter daneben und sieht zu. Jesse pennt stattdessen weiter und hat es gar nicht mitbekommen. <
>Na toll. Da ist man mal zwei Minuten nicht da und dann sowas. < murrt er und stellt die Gläser ab. >Da scheint sich jemand auszukennen. Wehe du spoilerst! Ich bin wahrscheinlich der einzige Mensch, der diese Serie zu spät entdeckt hat. <
>Ich habe sie auch erst recht spät mit meiner Freundin gefunden und von da an gab es nur noch den Staffelmarathon. <
>Du meinst mit dieser Megan? < will er wissen.
Ich nicke wehmütig als er ihren Namen nennt. Sam gießt mir etwas ins Glas ein und lässt sich neben mich fallen.
Er greift sich lässig seinen Laptop vom Tisch. Allerdings wirft er mir dann einen kurzen Seitenblick zu und setzt sich dann mehr in die Ecke hinein, als wolle er nicht, dass ich etwas zu sehen bekomme.
>Du hast gesagt, du würdest dir wegen meines Problems etwas einfallen lassen. < setze ich an und beiße mir auf die Lippen. Er klickt sich stattdessen durch die Bildschirmfenster und antwortet mir nicht sofort. Dann viel später als ich mit einer Antwort schon gar nicht mehr gerechnet habe, schaut er schließlich auf und beteuert:
>Ja das werde ich. Aber du solltest erst mal wieder auf dem Damm sein, bevor du weitere Schritte gehst. <
>Was denn für Schritte? <
>Wir müssen entweder relativ schnell beweisen, dass du es nicht warst oder dafür sorgen, dass du dort draußen vorerst nicht mehr erkannt werden kannst. Es gibt da Methoden, indem man dir eine andere Identität gibt. Ersteres ist im Moment ziemlich aussichtslos und ehrlich gesagt, solange du nicht den Mund aufmachst und sagst was da passiert ist, kann ich dir nicht helfen. <
Ich schlucke schwer, denn ich weiß, dass ich das alles immer noch nicht über meine Lippen bringe. Verzweifelt versuche ich wieder und wieder die Bilder aus meinem Kopf zu verdrängen und sie durch irgendetwas Schönes zu ersetzen.
>Na schön. < sagt Sam aufgrund meines Schweigens. >Dann warten wir eben, bis deine Wunden in Ordnung sind und sehen dann weiter. <
Er wendet sich wieder seinem Laptop zu und tippt. Ich schaue stupide zum Fernseher und traue mich einfach nicht meine Fragen zu stellen. Wenn ich eines nicht bin, dann ist es schüchtern zu sein aber in seiner Nähe bin ich das aus irgendeinem Grund. Vielleicht bin ich aber gar nicht schüchtern, sondern eingeschüchtert. Das ist ein Unterschied.
Die beiden letzten Folgen, die eben liefen, kannte ich bereits und dennoch schlagen sie mir bei all der Gewalt, die dort herrscht, auf den Magen.
Für einen kleinen Moment kann ich mich mal aus dem Staub machen und unter dem Vorwand eine Waschmaschine fertigzumachen, mal alleine sein.
Ich werfe ein paar seiner Klamotten mit den neuen von mir hinein, da sie teilweise noch ziemlich nach Chemie riechen. Aus Höflichkeit setze ich mich wieder zu Sam aber es ist nicht besonders spannend mit ihm. Er redet immer noch nicht viel. Wenn ich ihn etwas frage, dann antwortet er einsilbig und wenn ich etwas Persönliches frage, wirft er mir meistens nur einen Blick zu, der mich offensichtlich zum Schweigen bringen soll. Er ist nur am Laptop und schaut sich nebenbei eine Folge nach der anderen im Fernsehen an. Ich frage mich, ob das ernsthaft sein ganzer Lebensinhalt ist.
Wir sitzen bis zum späten Abend so da und Sam macht sich noch einmal einen Teller mit Essen voll, als ich bereits immer müder werde. Irgendwann vibriert sein Handy auf dem Couchtisch und er bringt es mit einem Wisch zum Verstummen.
>Ich muss los. < verkündet er schmatzend und fährt seinen Laptop schnell runter.
>Zur Arbeit? < will ich wissen.
>Ja. Ich werde die Tür abschließen so lange ich weg bin. Bekomme also nicht gleich wieder Panik. Du bist hier sicher. <
Ich versuche dabei nicht beleidigt auszusehen aber was denkt er sich eigentlich?
>Als was arbeitest du denn nun überhaupt? < frage ich stattdessen.
Ein Muskel zuckt in seinem Gesicht und er sieht mich eindringlich an.
>Falsche Frage. <
>Was soll das immer mit „falsche Frage“? Warum gibst du mir keine Antworten? <
>Weil es manchmal besser ist, nicht alles zu wissen. <
Aus irgendeinem Grund sorgt dieser Satz dafür, dass ich mich in die Sofalehne hineinpresse.
>Okay… wie lange wirst du denn weg ein? < frage ich und weiche seinem intensiven Blick aus.
>Mal sehen. Vielleicht nur ein paar Stunden aber in der Dämmerung gehe ich manchmal noch jagen oder fischen. So habe ich dich ja immerhin auch gefunden. Wenn du wach wirst, werde ich aber wieder hier sein. <
Soll mich das jetzt beruhigen? Wieso kann er mir nicht genau sagen, wie lange er arbeitet?
>Hat dein Job etwas mit dem Behandeln von Verletzten zu tun? <
Immerhin hat er meine Schusswunden so professionell versorgt und meine Frage so eigenartig beantwortet hat, als ich wissen wollte, ob er Sanitäter ist.
Er grinst nur und klappt wortlos seinen Laptop zu.
>Ich muss jetzt wirklich los. Ich bin ziemlich an die Zeit gebunden. <
Kaum hat er das gesagt, verschwindet er auch schon im oberen Zimmer und kommt wenig später umgezogen wieder heraus. Von der Holzfälleroptik mit seinen karierten Hemden ist nicht mehr viel zu sehen. Als er die Treppe hinunterkommt, trägt er eine schwarze Hose und ein schwarzes Shirt. Der dunklen Strickmütze ist er allerdings treu geblieben.
>Willst du eine Bank ausrauben? < frage ich, als er zu mir in den Flur kommt.
>Nicht heute. < grinst er.
Dann greift er zur Garderobe und zieht eine schwarze Lederjacke über. Er öffnet einen Hochschrank und zieht dort einen Rucksack heraus. Mit einem knappen „Bis morgen“ verschwindet er auch schon, schließt die Tür ab und begibt sich in seinen Wagen.
Ich schaue ihm noch einen Moment verdutzt nach, denn jetzt schien er es wirklich eilig zu haben. Für einen kurzen Moment gehe ich zurück in sein Wohnzimmer und zappe noch für ein paar Minuten durch die Programme, bis ich es nicht mehr ertrage. Ich bin so unglaublich müde aber ich traue mich nicht zu schlafen. Wenn ich einschlafe, dann kommen die Alpträume – ich weiß es. Trotzdem schalte ich in dem Zimmer alles aus und bringe Sam's Teller und unsere Gläser in die Küche, um alles sinnloserweise mit der Hand abzuspülen. Ich lasse mir ewig Zeit die Wäsche aufzuhängen und könnte noch viel länger versuchen, auf krampfhafte Weise wachzubleiben. Allmählich bekomme ich davon hingegen Kopfschmerzen. Nach ewigem Gehader beschließe ich endlich ins Bett zu gehen.
Wahrscheinlich bekomme ich eh kein Auge zu. Als ich im Badezimmer fertig bin und die Tür des Gästezimmers hinter mir schließe, empfinde ich die Dunkelheit hier drin als unerträglich. Drum muss ich wie ein kleines Kind ernsthaft ein Nachtlicht anlassen. Ich will sehen, wenn etwas oder jemand auf mich zukommt.
>Kann ich dir vielleicht helfen? < will ich wissen, als er mit einer Hand auf seinem Handy herumtippt und mit der anderen in der Einkaufstüte verharrt.
>Klar doch. Die Sachen müssen in den Kühlschrank. <
Er geht ein Stück weg, sodass ich einbeinig neben ihn hüpfen kann. Jetzt tippt er mit beiden Daumen, während ich einen Blick in die Tüte werfe. Nebenbei stelle ich den Backofen aus. Die ganze Zeit schiele ich immer wieder zu seinem Smartphone rüber und frage mich, ob er es immer am Mann hat oder es auch mal unbeaufsichtigt lässt. Sobald alles eingeräumt ist, sehe ich mich in seiner Küche um und entdecke Topflappen. Sam steckt sein Handy soeben weg und funkt mir dazwischen.
>Setz dich lieber, ich mach das. Eine heiße Auflaufform und eine hinkende Person sind keine gute Kombination. Außerdem ist das Keramikding zu schwer für deinen Arm. <
Ich schmunzle und setze mich auf einen Stuhl. Was glaubt er eigentlich, wie ich die Form hineinbekommen habe? Mir fällt auf, dass ich soeben zum ersten Mal wieder mein Gesicht zu einem Lächeln verzogen habe aber es schwindet auch sofort wieder.
Er stellt das kochend heiße Essen in die Mitte des Tisches, holt zwei Teller heraus und verteilt es für uns beide darauf. Da es allerdings so heiß zu sein scheint, dass es noch niemand essen kann, öffnet Sam die Luke in seinem Küchenboden und bringt ein paar Dinge nach unten in den Keller. Ich höre ihn da unten herumpoltern und kurz darauf schweren Fußes wieder nach oben stampfen.
>Das sieht gut aus … riecht auch gut. Was ist das? < will er wissen und nickt zu dem Essen, als er sich mir gegenübersetzt.
>Eine Mischung als allem was ich finden konnte. Meistens nenne ich sowas „Kühlschrank aufräumen“. Ich musste früher schon oft improvisieren. <
Er nimmt einen ersten Bissen und reagiert mit einem hochgezogenen Mundwinkel. Offenbar soll das heißen, dass es ihm schmeckt.
Stillschweigend, wie es offenbar normal bei ihm zu sein scheint, sitzen wir uns gegenüber und starren gedankenverloren auf unseren Teller, bis er leer ist.
Ich nehme mir immer nur eine Portion, so wie ich es gewohnt bin und blicke dann mit verschränkten Hände in meinem Schoß zum Fenster.
>Was ist los? Du hast ziemlich wenig bisher gegessen – du kannst doch nicht schon satt sein. <
>Oh schon gut. Der Rest ist für dich, das macht mir nichts. <
>Jetzt erzähl mir bitte nicht, dass du eine von denen bist, die nur an ihre Figur denken. < schnaubt er verächtlich.
>Was? Nein, natürlich nicht. Ich will dir nur nicht dein ganzes Zeug wegessen. <
Er blickt mich abschätzend an, zieht meinen Teller ran und klatscht noch etwas von dem Auflauf darauf.
>Ich finde dich schon ziemlich dünn. Du solltest in deinem derzeitigen Zustand nicht noch mehr abnehmen. Also hau rein! <
>Danke. < erwidere ich fast tonlos.
Während ich mich ziere, vertilgt er fast so viel wie meine Eltern zusammen und ich frage mich, wo er das hin isst.
Ich habe meinen zweiten Teller zur Hälfte aufgegessen, als er offenbar eine weitere Nachricht abschickt und sein verriegeltes Smartphone dann auf dem Tisch ablegt.
>Kann ich dich was fragen? < wende ich ein und kann nicht von dem Handy wegsehen.
>Kommt darauf an. <
>Besteht die Möglichkeit, dass ich mal dein Telefon benutzen kann? <
>Nein. Ich lasse dich nicht mit der Polizei reden. Ich habe dir bereits erklärt was ich denke. <
>Ich will gar nicht mit der Polizei reden. <
Verwundert zieht er die Augenbrauen hoch.
>So? Mit wem willst du dann reden? Hast du noch andere Verwandte? <
>Naja… das schon aber meine Großmutter lebt schon seit einigen Jahren im Pflegeheim. Sie ist dement und erkennt mich inzwischen nicht mehr. <
>Und sonst niemanden? <
>Der Bruder meines Vaters lebt soweit ich weiß irgendwo in Alabama. Sie hatten allerdings keinen guten Draht zueinander. Die Familie meiner Freundin ist für mich dagegen so etwas wie ein Ersatz. Meg macht sich sicherlich totale Sorgen und ich würde wirklich gern mit jemandem reden. < beim letzten Satz bricht meine Stimme und ich räuspere mich. Ich kann nicht schon wieder weinen.
>Und du glaubst, sie nimmt dir ab was passiert ist? <
Ungläubig starre ich ihn an. Was glaubt dieser Typ eigentlich wer er ist? Ich habe niemanden mehr und diese Tatsache sorgt dafür, dass sich nun doch gegen meinen Willen meine Augen verschleiern. Er scheint nicht gerade die Person zu sein, der ich so etwas erzählen könnte. Im Gegenteil, er wirkt teilnahmslos – fast kaltherzig, sobald ich so melancholisch werde. Da ich nichts sage und ihn einfach nur mit offenem Mund anstarre, setzt er erneut an:
>Ich glaube das gefällt mir nicht. Wenn sie deine Freundin ist, dann wird sie von dir wissen wollen, wo du bist und ob du mit der Polizei geredet hast. Und wenn du es verneinst, dann wird sie es für dich tun. <
>Du hast keinen besonders guten Draht zu den Cops, oder? < murmle ich, da ich befürchte den Kampf bereits verloren zu haben.
>Es geht so. Ein paar wenige zähle ich zu meinen näheren Bekannten aber durch sie weiß ich, dass es auch andere Kollegen gibt, die korrupt sind. <
>Dann lass mich doch mit denen reden, die du kennst. <
>Nein! Schluss Nayeli. Ich sagte, dass wir erstmal warten. <
>Okay, dann eben nur mit Megan. Sie soll sich nur keine Sorgen um mich machen. Ich sage ihr, dass es mir gut geht. Mehr nicht. <
Er hat aufgehört zu essen und schaut mich nachdenklich an. Innerlich bete ich, dass er endlich zustimmt, aber ich kann ihn nicht einschätzen. Nach wie vor finde ich ihn irgendwie seltsam, verschlossen und unbehaglich.
Sam seufzt und legt sein Besteck weg, um die Ellenbogen auf dem Tisch abzulegen. Sein Blick durchbohrt mich, aber ich halte ihm stand.
>Na schön. Rede nach dem Essen mit ihr. Aber ich bleibe während des Telefonats dabei und gebe dir ein Prepaidhandy zum Wegwerfen. Ich will nicht, dass du eine Nummer mitsendest. <
Ich nicke und schlucke schwer aber trotzdem fällt mir ein Stein vom Herzen. Endlich kann ich ihre Stimme hören.
Nachdem ich das Geschirr und das Besteck einarmig in seinen Geschirrspüler geräumt habe, hat Sam bereits irgendwelche Einstellungen in einem anderen Telefon geändert. Wahrscheinlich damit ich anonym anrufen kann. Er legt es entsperrt und zu mir gedreht auf den Tisch.
>Welche Nummer soll ich raussuchen? < will er wissen.
>Keine. Ich habe sämtliche Nummern im Kopf. <
>Gut, dann mach den Lautsprecher an! < befiehlt er.
>Ich würde gern etwas privat mit ihr reden. < erwidere ich mit flehender Stimme.
>Nein. <
Sein Ton ist viel eindrucksvoller als dieses Wort. Und bevor er es sich anders überlegt, nehme ich das Gerät und tippe hastig Megs Handynummer ein.
>Mache es kurz. Rede nicht zu viel über Details und schon gar nicht über deinen derzeitigen Verbleib. Höre vor allem ganz genau hin – sobald du knackende Hintergrundgeräusche wahrnimmst, legst du sofort auf ohne zu zögern. < erklärt er und ich runzle irritiert die Stirn. Es läutet bereits am anderen Ende.
>Was für knackende Geräusche? < flüstere ich über den Piepton hinweg.
>Abhörgeräusche. Du wirst wissen was ich meine, wenn du sie erst einmal gehört hast. <
Wieso sollte man ein Gespräch von zwei jungen Frauen abhören? Es läutet … und läutet … und läutet, bis ihre Voicemail rangeht.
„Hi, hier ist der Anschluss von Meg. Ihr kennt ja das Spiel.“ ertönen ihre Stimme und dann der Piepton. Sam ist allerdings schneller als ich und schnappt sich das Telefon, um sie wegzudrücken.
Ich werfe ihm einen ungläubigen Blick zu.
>Wieso hast du das getan? Ich hätte ihr raufsprechen können. <
>Um damit zu riskieren, dass du auf einem immer wieder abspielbarem Band aufgezeichnet wirst? Ein noch auffälligerer Weg fällt dir wohl nicht ein. Ich weiß überhaupt nicht was mich gerade geritten hat, dir das zu erlauben - das ist doch Wahnsinn. <
>Um ihr zu sagen, dass es mir gut geht und ich vorerst sicher bin. < mit zittriger Stimme breche ich kurz ab, aber ich will noch mehr sagen. >Sie weiß, dass ich das niemals getan hätte. Ich liebte meinen Bruder so sehr. Niemand wusste das besser als Meg. <
Schluchzend lasse ich mein Gesicht in meine Hände fallen, um den harten Blick von Sam nicht sehen zu müssen. Ich weiß nicht, weshalb er mich jedes Mal so ansieht, sobald mir die Tränen kommen.
>Hör auf zu weinen. < unterbricht er mein Wimmern eine Spur wärmer. >Das wird sie nicht zurückholen. <
Ich nehme die Hände von meinem Gesicht und sehe ihn nur verschwommen durch meine Tränen.
>Nichts holt sie zurück. Ich bin jetzt vollkommen allein und wenn man es genau nimmt, dann bin ich auf der Flucht. Ich kann doch nicht einfach untertauchen. Wie stellst du dir das vor? < schluchze ich.
>Du bist nicht allein. Ich habe dir gesagt, ich lasse mir was einfallen. <
Genauso habe ich ihn die ganze Zeit schon eingeschätzt. Er schwingt keine großen Reden, er hält sich nicht lange an einem Thema auf und er hat irgendwie nicht so richtig Mitleid. Ich frage mich die ganze Zeit schon ernsthaft, ob seine Art dafür sorgt, dass ich mich schneller wieder zusammenreiße oder ich mich eher nicht verstanden fühle. Ich kann mich noch nicht entscheiden, ob mir das Ganze auf eine verquere Art guttut oder mir ein noch größeres Loch in mein Herz reißt.
>Ich zeige dir jetzt ein paar Sachen, die du mit deiner Schulter tun solltest. Dein Knochen muss ausheilen aber trotzdem musst du die Hand, den Ellenbogen und die Schulter weiterbewegen, sonst verlierst du zu viel Muskelmasse auf einmal - nicht, dass du besonders viel davon hättest. < erklärt er und lenkt mich mit dem Themenwechsel erneut ab.
>Danke wie taktvoll. < zische ich.
Inzwischen quält mich Sam seit einer viertel Stunde. Das tut echt weh, was er da mit meinem Arm macht, aber ich lasse es zähneknirschend über mich ergehen, als er ihn vorsichtig in sämtliche Richtungen bewegt. Frustrierend ist es, dass ich meinen Arm gar nicht so weit nach oben anheben kann, ohne eine komische Ausweichbewegung dabei zu machen. Der Schmerz schießt mir sofort durch mein Schulterblatt und ich fluche innerlich auf. Gleich danach macht er sich an meinem Bein zu schaffen, was auch nicht viel angenehmer ist. Aber ich weigere mich hierbei nur einen einzigen Mucks von mir zu geben.
>Also eines muss ich dir ja lassen Pocahontas. Du hältst körperlich mehr aus als man es dir zutraut. <
>Im Vergleich zu allem anderen willst du damit sagen?! < mutmaße ich trocken und ignoriere seine Stichelei mit meinem Namen.
>Ich habe nichts gesagt. < grinst er unschuldig.
>Ich muss dich noch etwas fragen. Als du mich aus dem Wasser geholt hast und du mich ausziehen musstest, ist dir da auch ein goldener Kamm in die Hände gefallen? Er hat eine Vogelfeder obendrauf und er steckte eigentlich in meinen Haaren drin. <
>Nein, deine Haare waren offen als ich dich fand. Eine einzige Klammer steckte noch an deinem Hinterkopf. Sonst nichts. <
Ermattet sinke ich etwas auf dem Bett zusammen und lasse meinen Kopf hängen. Das einzige Schmuckstück, das ich von meiner Mutter hatte, ist verschwunden.
>War er denn wertvoll? < will er wissen.
>Für mich schon. < hauche ich zurück und denke an den Moment, als ich ihn bekam.
Etwa eine weitere halbe Stunde doktert er an mir herum und ich merke, wie die Bewegungen etwas besser werden. Danach wickelt Sam um meine frisch verbundenen Wunden etwas Frischhaltefolie. So kann ich mal ganz in Ruhe duschen und dieses Wort klingt in meinen Ohren wie Musik. Er gibt mir etwas Privatsphäre und sagte, er müsse sowieso noch etwas am Laptop arbeiten. Ich schließe mich derweil im Bad ein und sehe mir genauer an, was er mir am Vormittag noch mitgebracht hat. Schon für die Kleidung bin ich ihm sehr dankbar aber nun durchsuche ich noch die Tüte mit den Hygieneartikeln. Dort drin finde ich ein Duschgel, Shampoo, Zahnbürste und Paste, Haarbürste, Haargummis - das volle Programm eben. Ich denke nur, dass es die kleinen Probepackungen, die man auf Flugreisen mitnimmt, auch getan hätten. Schließlich will ich hier nicht lange bleiben und am liebsten direkt zu Megan verschwinden.
Ich genieße es, mir im Bad gleich dreimal die Zähne zu putzen und lasse mir dabei alle Zeit der Welt. Dann gehe ich unter die Dusche und fühle mich – abgesehen von den belastenden Dingen in meinem Kopf und verletzten Körperteilen, langsam wieder wie ein Mensch. Ich fühlte mich zuvor furchtbar schmutzig und das, obwohl ich mit meiner Katzenwäsche über dem Waschbecken, schon einiges aufbessern konnte.
Da mir die ganzen Sachen aber nun mal nicht gehören, will ich nicht seinen Föhn und solche Dinge benutzen. Ich weiß nicht mal, ob er oben vielleicht sogar noch ein weiteres Bad hat oder ich das einzige versperre. Dort war ich bisher schließlich noch nicht. Ich will seine Freundlichkeit nicht zu sehr ausnutzen … wobei „Freundlichkeit“ vielleicht etwas übertrieben ist. Er scheint ziemlich mürrisch zu sein, besonders dann, wenn es mir wieder schlechter geht.
Als ich fertig geduscht und wieder angezogen bin, schleiche ich mich in sein Gästezimmer zurück und sitze mit starrem Blick gegen die Wand gerichtet und mit gefalteten Händen im Schoß, auf dem Bett. Man könnte denken, dass ich versteinert wäre, wenn ich nicht ab und zu blinzeln würde. Ich hätte es wirklich dringend nötig gehabt, Megans Stimme zu hören und es wäre mir sicher wie ein kleiner Lichtblick vorgekommen.
Es klopft an der Tür und Sam steht bereits im Rahmen, ohne ein Wort von mir abzuwarten.
>Willst du die ganze Zeit allein hier herumsitzen? <
>Ich schätze schon. Eine wirkliche Beschäftigung habe ich ja nicht. <
>Genau das ist ja das Problem. Dann denkst du nämlich zu viel nach. Na los, komm schon! Leiste mir ein bisschen Gesellschaft. Ich glaube, das tut uns beiden ganz gut. <
Er geht bereits vor, aber ich zögere noch einen kurzen Augenblick. Es ist eigenartig, weil ich gar nicht unbedingt in seiner Nähe sein will. Aber ich will nicht unhöflich sein und schließlich stehe ich etwas später auf, greife mir die Stütze und gehe in sein Wohnzimmer. Dort hat er den Fernseher zu laufen aber von Sam ist hier allerdings keine Spur. Auf dem Couchtisch steht ein gesperrter Laptop.
Ich lasse mich auf sein helles und weiches Sofa fallen, stelle meine Gehhilfe seitlich ab und schaue nach vorn, wo er gerade eine Serie schaut. Nach ein paar Sekunden ist mir klar, dass er „breaking bad“ sieht. Ich weiß gar nicht, wo er so lange bleibt, immerhin wollte er doch, dass ich hier bin. Am liebsten würde ich ihm so viele Fragen wie möglich stellen. Vielleicht bekomme ich ja jetzt am Abend mehr über ihn heraus.
Seitlich von mir höre ich eine Bewegung und drehe mich danach um. Da kommt Sam mit zwei Gläsern und einer Flasche Pepsi an.
>Ist in der Zwischenzeit irgendwas passiert? < fragt er und nickt zum Fernseher.
>Jip. Walter hat Jesse und Jane eben im Zimmer gefunden. Beide sind total zugedröhnt und Jane stirbt an der Überdosis. Anstatt ihr zu helfen, steht Walter daneben und sieht zu. Jesse pennt stattdessen weiter und hat es gar nicht mitbekommen. <
>Na toll. Da ist man mal zwei Minuten nicht da und dann sowas. < murrt er und stellt die Gläser ab. >Da scheint sich jemand auszukennen. Wehe du spoilerst! Ich bin wahrscheinlich der einzige Mensch, der diese Serie zu spät entdeckt hat. <
>Ich habe sie auch erst recht spät mit meiner Freundin gefunden und von da an gab es nur noch den Staffelmarathon. <
>Du meinst mit dieser Megan? < will er wissen.
Ich nicke wehmütig als er ihren Namen nennt. Sam gießt mir etwas ins Glas ein und lässt sich neben mich fallen.
Er greift sich lässig seinen Laptop vom Tisch. Allerdings wirft er mir dann einen kurzen Seitenblick zu und setzt sich dann mehr in die Ecke hinein, als wolle er nicht, dass ich etwas zu sehen bekomme.
>Du hast gesagt, du würdest dir wegen meines Problems etwas einfallen lassen. < setze ich an und beiße mir auf die Lippen. Er klickt sich stattdessen durch die Bildschirmfenster und antwortet mir nicht sofort. Dann viel später als ich mit einer Antwort schon gar nicht mehr gerechnet habe, schaut er schließlich auf und beteuert:
>Ja das werde ich. Aber du solltest erst mal wieder auf dem Damm sein, bevor du weitere Schritte gehst. <
>Was denn für Schritte? <
>Wir müssen entweder relativ schnell beweisen, dass du es nicht warst oder dafür sorgen, dass du dort draußen vorerst nicht mehr erkannt werden kannst. Es gibt da Methoden, indem man dir eine andere Identität gibt. Ersteres ist im Moment ziemlich aussichtslos und ehrlich gesagt, solange du nicht den Mund aufmachst und sagst was da passiert ist, kann ich dir nicht helfen. <
Ich schlucke schwer, denn ich weiß, dass ich das alles immer noch nicht über meine Lippen bringe. Verzweifelt versuche ich wieder und wieder die Bilder aus meinem Kopf zu verdrängen und sie durch irgendetwas Schönes zu ersetzen.
>Na schön. < sagt Sam aufgrund meines Schweigens. >Dann warten wir eben, bis deine Wunden in Ordnung sind und sehen dann weiter. <
Er wendet sich wieder seinem Laptop zu und tippt. Ich schaue stupide zum Fernseher und traue mich einfach nicht meine Fragen zu stellen. Wenn ich eines nicht bin, dann ist es schüchtern zu sein aber in seiner Nähe bin ich das aus irgendeinem Grund. Vielleicht bin ich aber gar nicht schüchtern, sondern eingeschüchtert. Das ist ein Unterschied.
Die beiden letzten Folgen, die eben liefen, kannte ich bereits und dennoch schlagen sie mir bei all der Gewalt, die dort herrscht, auf den Magen.
Für einen kleinen Moment kann ich mich mal aus dem Staub machen und unter dem Vorwand eine Waschmaschine fertigzumachen, mal alleine sein.
Ich werfe ein paar seiner Klamotten mit den neuen von mir hinein, da sie teilweise noch ziemlich nach Chemie riechen. Aus Höflichkeit setze ich mich wieder zu Sam aber es ist nicht besonders spannend mit ihm. Er redet immer noch nicht viel. Wenn ich ihn etwas frage, dann antwortet er einsilbig und wenn ich etwas Persönliches frage, wirft er mir meistens nur einen Blick zu, der mich offensichtlich zum Schweigen bringen soll. Er ist nur am Laptop und schaut sich nebenbei eine Folge nach der anderen im Fernsehen an. Ich frage mich, ob das ernsthaft sein ganzer Lebensinhalt ist.
Wir sitzen bis zum späten Abend so da und Sam macht sich noch einmal einen Teller mit Essen voll, als ich bereits immer müder werde. Irgendwann vibriert sein Handy auf dem Couchtisch und er bringt es mit einem Wisch zum Verstummen.
>Ich muss los. < verkündet er schmatzend und fährt seinen Laptop schnell runter.
>Zur Arbeit? < will ich wissen.
>Ja. Ich werde die Tür abschließen so lange ich weg bin. Bekomme also nicht gleich wieder Panik. Du bist hier sicher. <
Ich versuche dabei nicht beleidigt auszusehen aber was denkt er sich eigentlich?
>Als was arbeitest du denn nun überhaupt? < frage ich stattdessen.
Ein Muskel zuckt in seinem Gesicht und er sieht mich eindringlich an.
>Falsche Frage. <
>Was soll das immer mit „falsche Frage“? Warum gibst du mir keine Antworten? <
>Weil es manchmal besser ist, nicht alles zu wissen. <
Aus irgendeinem Grund sorgt dieser Satz dafür, dass ich mich in die Sofalehne hineinpresse.
>Okay… wie lange wirst du denn weg ein? < frage ich und weiche seinem intensiven Blick aus.
>Mal sehen. Vielleicht nur ein paar Stunden aber in der Dämmerung gehe ich manchmal noch jagen oder fischen. So habe ich dich ja immerhin auch gefunden. Wenn du wach wirst, werde ich aber wieder hier sein. <
Soll mich das jetzt beruhigen? Wieso kann er mir nicht genau sagen, wie lange er arbeitet?
>Hat dein Job etwas mit dem Behandeln von Verletzten zu tun? <
Immerhin hat er meine Schusswunden so professionell versorgt und meine Frage so eigenartig beantwortet hat, als ich wissen wollte, ob er Sanitäter ist.
Er grinst nur und klappt wortlos seinen Laptop zu.
>Ich muss jetzt wirklich los. Ich bin ziemlich an die Zeit gebunden. <
Kaum hat er das gesagt, verschwindet er auch schon im oberen Zimmer und kommt wenig später umgezogen wieder heraus. Von der Holzfälleroptik mit seinen karierten Hemden ist nicht mehr viel zu sehen. Als er die Treppe hinunterkommt, trägt er eine schwarze Hose und ein schwarzes Shirt. Der dunklen Strickmütze ist er allerdings treu geblieben.
>Willst du eine Bank ausrauben? < frage ich, als er zu mir in den Flur kommt.
>Nicht heute. < grinst er.
Dann greift er zur Garderobe und zieht eine schwarze Lederjacke über. Er öffnet einen Hochschrank und zieht dort einen Rucksack heraus. Mit einem knappen „Bis morgen“ verschwindet er auch schon, schließt die Tür ab und begibt sich in seinen Wagen.
Ich schaue ihm noch einen Moment verdutzt nach, denn jetzt schien er es wirklich eilig zu haben. Für einen kurzen Moment gehe ich zurück in sein Wohnzimmer und zappe noch für ein paar Minuten durch die Programme, bis ich es nicht mehr ertrage. Ich bin so unglaublich müde aber ich traue mich nicht zu schlafen. Wenn ich einschlafe, dann kommen die Alpträume – ich weiß es. Trotzdem schalte ich in dem Zimmer alles aus und bringe Sam's Teller und unsere Gläser in die Küche, um alles sinnloserweise mit der Hand abzuspülen. Ich lasse mir ewig Zeit die Wäsche aufzuhängen und könnte noch viel länger versuchen, auf krampfhafte Weise wachzubleiben. Allmählich bekomme ich davon hingegen Kopfschmerzen. Nach ewigem Gehader beschließe ich endlich ins Bett zu gehen.
Wahrscheinlich bekomme ich eh kein Auge zu. Als ich im Badezimmer fertig bin und die Tür des Gästezimmers hinter mir schließe, empfinde ich die Dunkelheit hier drin als unerträglich. Drum muss ich wie ein kleines Kind ernsthaft ein Nachtlicht anlassen. Ich will sehen, wenn etwas oder jemand auf mich zukommt.