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Fingerabdrücke bleiben

von Lynnix
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Krimi / P16 / Gen
23.02.2018
25.11.2021
129
578.228
7
Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
1 Review
 
14.08.2020 3.294
 
Kapitel 48 – Belastende Worte

Mir schwirrt der Kopf von all den Fragen und ich bekomme allmählich eine Migräne. Die Luft in dem Saal wird schlechter und ich werde müde. Als jedoch meine beste Freundin Megan in den Zeugenstand geht und unsere Blicke einander finden, durchströmt mich Wärme. Sie hat Angst – das sehe ich ihr an und trotzdem lächelt sie zu mir. Sie hat ein erdrückendes Geheimnis für sich behalten – viel zu lange und es wird Zeit, dass sie es loswird.
Megan nimmt neben dem Richter Platz und sagt nach ihrem Eid, dass sie mich seit zwanzig Jahren kennt und niemand einen besseren Einblick in mein Familienleben hätte, als sie. Meine Freundin erklärt allen in diesem Saal, dass ich niemals imstande dazu wäre, meiner Familie etwas anzutun und dass ich meinen Bruder geliebt habe wie niemanden sonst. Selbstverständlich wird sie nur Sekunden nach ihrem Statement von den Juristen attackiert und sie tut mir wirklich leid, da ich inzwischen weiß, wie anstrengend das ist. Eines muss ich ihr jedoch lassen – sie lässt mich in einem sehr guten Licht dastehen und reagiert wirklich gut auf die Fragen der Staatsanwältin. Mir fällt wieder ein, dass sie inzwischen meinen Job hat. Sie ist PR-Agentin und es ist ihre Aufgabe, das Image anderer aufzupolieren. Einer der vier Anwälte meiner Gegner fragt Megan nach meinem Alkoholkonsum aus und ganz offenbar riechen sie nur hierbei die Möglichkeit, mich dranzukriegen. Meine Freundin ist von dieser Frage allerdings anfangs verwirrt und fragt in welchem Zusammenhang das stünde, aber auch bei diesem Thema könnte sie nicht professioneller reagieren und macht deutlich, dass ich durch die Geldprobleme seltener auf Partys ging und im Allgemeinen eher wenig Alkohol konsumierte. Am Tag unseres Abschlusses betont sie, dass wir selbstverständlich etwas tranken, aber dass ich von mir aus irgendwann nur noch Wasser zu mir nahm. Sie konnte mich später nicht mehr finden und hörte nur Stunden nach der Party die furchtbare Nachricht, dass es in der Unnamed Road Tote gab. Was Megan danach preisgibt, kenne ich schon, denn das sagte sie mir damals in Maple Hill. Sie fuhr vor lauter Panik zu dem Haus und traf dort neben den Schaulustigen auch auf die Polizisten und die Spurensicherung. Unter anderem begegnete sie Gale Hendrics, der zwei Reihen hinter mir auf der Zeugenbank sitzt und dem Richter in diesem Moment bezeugt, dass er tatsächlich am Morgen des Mordes mit Megan geredet habe. Als drei Personen in schwarzen Säcken hinausgetragen wurden und meine Freundin seelisch zusammenbrach, leistete der Polizist die erste psychologische Hilfe bei ihr und erfuhr, dass ich die Anruferin war, die nicht gefunden wurde. Sein Verdacht, dass ich fliehen konnte, wurde somit immer deutlicher. Gale Hendrics war sich sicher, dass mir etwas zugestoßen sei. All das stand in dem Bericht, der verschwand. Seine und Megs Aussagen decken sich und ich bin erleichtert, da nun wieder etwas zu meinen Gunsten spricht. Doch da habe ich die Rechnung wieder nicht mit Holly Preston gemacht, die skeptisch einwirft:
>Miss Nara, Sie nahmen also an, dass Ihre beste Freundin gestorben sei. Immerhin wurde das wenige Tage nach dem Mord von offizieller Seite her bestätigt. Das muss Sie schlimm getroffen haben – immerhin musste Officer Hendrics Sie am Tatort betreuen. Nun, da Ihre Freundin allerdings quicklebendig vor Ihnen sitzt, scheinen Sie keineswegs fassungslos darüber zu sein. Man sollte doch meinen, wenn man jemand Totgeglaubtes wiedersieht, dann reagiert man emotionaler, als Sie es gerade tun. <
>Ich war am Boden zerstört und dachte, meine ganze Welt würde zusammenbrechen. < bestätigt Meg und scheint sich nur ungern daran zurückzuerinnern. >Aber sechs Tage später erhielt ich einen Anruf. Erst dachte ich, da spielt mir jemand einen verdammt schlechten und makabren Streich, aber es war Nayeli und sie sagte mir so kurz und knapp es ging, dass sie es geschafft hätte zu überleben und mich treffen will, um mir alles zu erklären. Noch am selben Abend saßen wir in einem Diner und sie erzählte mir alles. <
>Sie wussten also die ganze Zeit, dass Miss Misra am Leben ist? Das ist Behinderung der Justiz. < fragt die Staatsanwältin mit schockierter Stimme nach. Megan verstummt einen Moment, schluckt schwer und nickt dann.
Ich kneife meine Augen zusammen und atme schwer aus. Oh Gott, bitte lass Meg nicht dafür büßen, bete ich inständig.
Veronica erhebt sich und ehe die Staatsanwältin die nächste Behauptung in den Raum werfen kann, wendet sich meine Verteidigung direkt an den Richter.
>Euer Ehren, mir ist klar, wie sich das jetzt anhören muss, aber ich möchte hierbei zu bedenken geben, dass eine falsche Tatwaffe ins Spiel gebracht wurde. Des Weiteren ist der Rechtsmediziner verschwunden, der angeblich Miss Misras Leichnam obduzierte, während der erste Befund von Doktor Eric Spencer – dem eigentlichen Mediziner, verloren ging. Ebenso wie der Bericht von Officer Gale Hendrics nicht mehr aufzufinden war. Hätte Miss Nara sich nach dem Treffen mit ihrer Freundin an die Polizei gewandt, hätte diese Information an eine falsche Informationskette weiter gelangen können. Wir haben es hier mit einem Justizskandal der grausamsten Art zu tun. Wäre Miss Nara ihrer Meldepflicht nachgekommen, dann kann sich jeder in diesem Gericht ausmalen, dass wir höchstwahrscheinlich heute mindestens eine Zeugin weniger und eine Leicht mehr hätten. <
Daraufhin wird Megan ziemlich blass. Sicher hat sie immer wieder überlegt, sich jemandem anzuvertrauen. Aber anstatt das zu tun, ließ sie sich von einem Geheimnis beinahe erdrücken.
Ich kann verstehen, dass vielen Personen in diesem Raum große Fragezeichen auf der Stirn stehen und ich hoffe, dass sich die Puzzleteile noch Stück für Stück fügen.
>Miss Nara, vielleicht können Sie uns bei einer anderen Sache helfen. < sagt die Staatsanwältin spitz. >Wenn Sie die Angeklagte vor Monaten persönlich antrafen, wussten Sie von ihren angeblichen Schusswunden? <
>Ob ich es wusste? Ich habe sie sechs Tage später gesehen. Sie konnte ja kaum laufen und am Abend habe ich sie noch verbunden. Das müssen höllische Schmerzen gewesen sein. <
Der Richter nickt vorsichtig und mustert Megan. Dann wendet er sich an mich:
>Laut Ihrer Anwältin befanden Sie sich in einer lebensbedrohlichen Lage. Wie konnten Sie das überleben? <
Und nun kommt Sam ins Spiel. Natürlich kann ich es nur so weit berichten, wie es mein Bewusstseinszustand damals zuließ. Es gibt Zeitfenster, in denen ich nichts mitbekam.
Nun sehe ich das wachsende Interesse bei den Geschworenen und den Juristen. Der Mann, der die Fremde aus dem Lake zog und ihr das Leben rettete, scheint eine gewisse Faszination zu haben. Doch Veronica besteht darauf, nicht erst Sam in den Zeugenstand zu holen, sondern Doktor Eric Spencer – den Rechtsmediziner, der meine Familie tatsächlich obduzierte. Er wirkt souverän und entspannt, als er sich mit verschränkten Fingern neben dem Richter setzt. Vermutlich ist er andauernd bei solchen Verhandlungen dabei.
Als Veronica den amtlichen Bericht von Doktor Lecter – dem zweiten Leichenbeschauer, laut vorliest, berichtet Doktor Spencer, dass er gänzlich anderer Meinung war und damals schon schrieb, dass das gefundene Messer mit meinen Fingerabdrücken nicht zu den Wunden der Familie passte und es stattdessen zwei andere Tatwaffen gegeben haben muss, die bis dato nicht auffindbar waren. Veronica zeigt ihm daraufhin das beschlagnahmte Messer von Madjid und der Arzt ist sich sicher, dass diese Klinge zu den Wunden passt, die meiner Mutter und meinem Bruder den Tod brachten. Sam´s Kontakt – ein weiterer Mediziner namens Doktor Lennart Parker, scannte dieses Messer ein und konnte die Klinge digital mit den Wunden auf den Fotos abgleichen. Sie passt!
Mein Vater hat wiederum eine andere Klinge in seinem Körper gehabt, doch diese Mordwaffe ist weiterhin verschwunden. Ich nehme an, dass McCurdy sie noch hat. Es ist nervenaufreibend und die reiste Folter für mich. Andauernd greife ich zu der Taschentuchbox und muss die aufsteigenden Tränen eindämmen, aber immer wieder sehe ich in die Gesichter meiner Peiniger. Allerdings fällt mir eine Sache dabei auf. Zu Anfang vergriffen sie sich oft im Ton und wiesen laut alles von sich, aber nun verfliegt diese Haltung. Das lernte ich bei Henry: Wer schuldig ist, ist anfangs laut, wird dann aber immer ruhiger, hört genau zu und macht dann vollkommen dicht, wenn die Beweislast erdrückend ist.
Erneut kommt Doktor Lecter zur Sprache, der angeblich meine Leiche auf dem Tisch hatte. Meine Anwältin zückt ein Stück Papier und es ist zum wiederholten Male die Gehaltsliste von Mischa De Angelis. Darauf steht dieser dubiose Mediziner, der seitdem verschwunden ist. Veronica ist fantastisch und sie kann in nur wenigen Sekunden die Leiche aus dem Keller holen. Es gelang ihr, den zweiten Befund von diesem Dr. Lecter in der Luft zu zerreißen. Sie fand heraus, dass bereits fertiggestellte Beurteilungen anderer Kollegen, von diesem Leichenbeschauer auffällig oft umgeschrieben wurden und zu einem Sichtwechsel führten. Häufig war sein schlechteres Gutachten ausschlaggebend für eine Entscheidung vor Gericht – zugunsten seines Auftraggebers, der nur einige Reihen hinter mir sitzt.
Daher wird sein Bericht gleich aus mehreren Gründen angezweifelt und selbst die Staatsanwältin stimmt dieses Mal mit uns überein.
Erneut wird De Angelis dazu befragt, aber sein Anwalt hält dagegen und betitelt diese Gehaltsliste als Fälschung. Er lehnt außerdem den Bericht von Doktor Parker ab, da Sam ihn beauftragte und von keiner offiziellen Stelle wie dem Kriminallabor stammt. Allerdings ist Doktor Spencer immer noch im Zeugenstand und ist clever genug, um einzuwenden, dass er diesen digitalen Prozess zum Abgleich der Klinge von Madjids Messer und den Stichwunden zum morgigen Tag wiederholen könne, damit das Gutachten offiziell ist. Das bringt die Anwälte zur Weißglut, als der Richter diesem Angebot einwilligt.
Veronica hat offenbar keinen anderen Einwand von diesen Männern erwartet und äußert sich nicht dazu. Sie bittet den Richter stattdessen, sich dem Zeugen nähern zu dürfen und legt Doktor Spencer dann einiges an Beweismaterial vor. An alle Anwesenden gerichtet, erklärt sie:
>Mister Sam Wilson ist vertraut mit der Arbeit einiger Behörden. Er hatte im Gefühl, dass etwas nicht stimmte, als er Miss Misra fand und es gelang ihm nicht nur sie zu retten, sondern er konnte uns einige Beweise sichern. Doktor Spencer, wären Sie so freundlich und würden uns erklären, ob diese Munition so eine Wunde verursachen kann? <
Veronica legt ihm die Fotos von mir hin und auch die Patrone, die Sam aus meinem Körper holte. Der Arzt greift zu der Tüte und dreht und wendet das Geschoss.
>Ja die Munition ist aufgespalten wie eine Blüte. Sie wurde zuvor von Hand eingeritzt, das ist eigentlich streng verboten. <
>Was tut so eine Munition üblicherweise? < fragt meine Anwältin.
Daraufhin nimmt der Rechtsmediziner ein Bild von meinem Bein hoch und zeigt es den Anwesenden.
>Diese Geschosse reißen eigentlich alles mit sich und hinterlassen sehr große und oft tödliche Wunden. Das Opfer hatte hierbei sehr großes Glück. Ganz offenbar war der Einschusswinkel günstig und es gab genug Entfernung zum Schützen. <
>Könnte man sich diese Wunden selbst zufügen oder gar einbilden? < fragt sie provokant dümmlich, da offenbar immer noch an meinem Geisteszustand gezweifelt wird.
>Nein das kann man sich auf keinen Fall selbst antun. Und schon gar nicht das hier. Das sieht aus, als wäre die Munition mit erheblicher Wucht auf die Knochenplatte geprallt. Ein Wunder, dass der Knochen standhielt und die Kugel nicht durch den Körper ging. < Er verweist auf das Foto meines Schulterblattes. >Das Opfer hätte ansonsten keine weitere Minute mehr zu leben gehabt. Selbst der Zustand, den ich hier sehe, war mehr als nur kritisch. Der Blässe nach zu urteilen, fehlten sicher schon 40 % des Blutes. <
>Danke Doktor Spencer. Keine weiteren Fragen. <
Veronica wendet sich von dem Zeugen ab und erklärt, dass nachträglich eine Blutprobe von mir in ein Labor geschickt wurde, um diese mit dem Blut an der abgefeuerten Patrone abzugleichen, die Sam entfernte. Ein Befund belegt, dass beides identisch ist und auch das Blut auf den Holzsplittern – die Sam aus meinen Händen und Füßen zog, zu mir gehört. Eine ältere Analyse belegt, dass diese Holzsplitter von dem Rankgitter meines alten Hauses stammen.
Doch dann greift einer der vier Anwälte empört ein und sagt:
>Das sind keine offiziellen Fotos und Beweismaterialien einer Behörde, sondern sie waren im Privatbesitz dieses Mannes. < er zeigt auf Sam. >Heutzutage kann man sehr leicht Fotos retuschieren, daher lehne ich sie als Beweismittel ab und auch die aufgespaltene Munition kann vorher auf ein anderes Ziel getroffen haben und nachfolgend mit Miss Misras Blut beschmiert worden sein. Es gibt lediglich eine involvierte und womöglich manipulierte Freundin, die bezeugen will, dass die Angeklagte kaum laufen konnte. Und das, Euer Ehren, bezeugt keineswegs, dass mein Mandant diese Frau verletzt habe oder dass sie überhaupt tatsächlich eine Wunde hat. Man kann sich Verletzungen auch einreden und sich dort hineinsteigern. <
>Auch gut. Wollen Sie, dass ich Ihnen meine Narben zeige? < frage ich wütend und werde von John Houston ermahnt, weil ich ungefragt etwas sagte. Dennoch bekräftigt er den Einwand des Anwaltes. Es ist gut möglich, dass die Bilder gefälscht wurden. Meine Anwältin schlägt jedoch sofort zurück.
>Miss Misra hat es eben angeboten und vielleicht sollten wir in Betracht ziehen, dieses Angebot zu nutzen. Doktor Spencer, wenn Sie alte Schusswunden sehen, die inzwischen vernarbt sind, könnten Sie uns sagen, ob diese zu den Fotos passen? <
>Selbstverständlich. < entgegnet er auf ihre Frage.
Es ist einfach unglaublich, was diese Anwälte hier versuchen. Erst sollen meine Wunden von einem Sturz kommen, dann selbst zugefügt worden sein und nun sind sie plötzlich gänzlich erfunden oder eingebildet? Ich kann verstehen, weshalb viele vor Gericht zusammenbrechen, weil Ihnen jedes Wort im Mund herumgedreht wird. Doch der Einwand von Veronica wird glücklicherweise akzeptiert.

              Ich werde in einen Nebenraum geführt, in dem ich gebeten werde, mein Schulterblatt zu präsentieren, damit die Narbe für alle sichtbar ist. In diesem Raum befinden sich ausschließlich der Richter, die Anwälte und der Mediziner. Das Oberteil ziehe ich mir über den Kopf, aber lasse es vor meinem Brustkorb, um nicht alles preiszugeben. Ebenso der Streifschuss an meinem Oberarm wird unter die Lupe genommen. Ich zeige schließlich auch die letzte Schusswunde, die mich zum Stürzen brachte und ziehe das Hosenbein mit etwas Schwierigkeiten durch die Fußfessel nach oben. Doktor Spencer bestätigt, dass diese Narben von der gezeigten Munition stammen und die Fotos von Sam alle echt sind. Die Anwälte der vier Täter gucken dabei doof aus der Wäsche und scheinen schon ihre nächsten Schritte zu planen.
>Danke Miss Misra. < sagt der Richter sanft und verweist darauf, wieder in den Gerichtssaal zu gehen.
Wir ziehen wieder in den benachbarten Raum zurück und John Houston klärt alle in dem Saal darüber auf, dass die Fotos zugelassen sind und deren Echtheit bestätigt wurde. Sam, Meg, Veronica und ich atmen einen Moment durch – ebenso wie ein paar Geschworene. Die Puzzleteile, die sich nun zusammenfügen, kann niemand mehr leugnen. Und dennoch versuchen die Anwälte es immer weiter. Sie leugnen einfach alles und zweifeln den Wahrheitsgehalt jedes Beweisstücks an. Sind die eigentlich vollkommen wahnsinnig? Wie viel Geld wird diesen Männern gezahlt, um so eine Dummheit von sich zu geben? Wie kann ein einzelner Mann wie Mischa De Angelis nur so viel Macht haben?
Auch wenn ich vollkommen mit den Nerven am Ende bin und glücklich über eine kurze Pause wäre, wurmt es mich enorm, als der Richter den Fall erneut vertagt.
Bis morgen wird das Tagebuch meines Vaters geprüft und Doktor Spencer soll mit einem digitalen Messverfahren Madjids Messerklinge den Stichwunden zuweisen, die mit einem Maßband auf den Fotos dokumentiert wurden.
Die Verhandlung wird am nächsten Tag fortgesetzt. Mischa, Phillipe, Raphael und Madjid gehen erneut in die Untersuchungshaft zurück, während ich weiterhin die Fußfessel behalte. Ihren Unmut darüber kann man deutlich in ihren Gesichtern sehen. Zum wiederholten Male ist es Madjid, der sich nicht unter Kontrolle hat und wieder gegen einen der Sicherheitsleute rebelliert.
Ich bleibe noch einen Moment sitzen, trinke mein Wasserglas leer und massiere dann angestrengt meine Schläfen.
>Das war gut heute. < sagt Veronica leise zu mir. >Sie haben das Tagebuch fantastisch in den Prozess gebracht. Ruhen Sie sich aus Miss Misra. Morgen wird es wieder anstrengend. <
Ich seufze nur und nicke. Als die meisten Zeugen den Saal verlassen haben, erhebe ich mich. Sam wartet an der Tür und erschöpft lasse ich mich von ihm umarmen.
>Wenn sich das über mehrere Wochen hinzieht, halte ich das nicht aus. < murmle ich.
>Das wird es nicht. Und ich bin stolz auf dich, wie gut du dich schlägst. Lass uns zurückfahren, du brauchst Ruhe. <
Auf dem Gang kann ich Megan nur zulächeln, da ich keinen Kontakt zu den sonstigen Zeugen haben darf. Sie schaut mich etwas bedrückt an und ich kann mir vorstellen, dass es nicht leicht ist, in ihrer Haut zu stecken. Ihre Eltern und unsere Freunde wissen nun durch die Medien, dass ich lebe und dass Megan hier aussagen muss, da sie ebenfalls durch das Bild gelaufen ist. Ich kann mir vorstellen, dass sie zu Hause mit Fragen gelöchert wird, aber bis zum Ende des Prozesses wird sie weiterhin über alles schweigen. Das weiß ich.
Es tut mir wahnsinnig leid, worin ich sie hineingezogen habe und inzwischen weiß ich nicht, ob ich sie damals lieber hätte trauern lassen sollen. Vielleicht wären die letzten sieben Monate für sie dann weniger sorgenvoll gewesen. Damals dachte ich nur daran, dass ich mit irgendjemanden reden musste. Wegen dieses Verlangens habe ich Megan womöglich in eine furchtbare Sache verstrickt und ich weiß nicht, welche Konsequenzen das für sie haben wird.
              So wie gestern komme ich heil in das Auto hinein und das Sicherheitspersonal hält die Presse in Schach.
Heute sind die Reporter zu meiner Verblüffung allerdings mehr an den vier Männern, anstatt an mir interessiert. Sie haben das Gericht zwar kurz vor mir verlassen, aber der Gefangenentransport steht immer noch vor dem Gebäude und die Justizvollzugsbeamten sind noch damit beschäftigt, die Sträflinge mit den Handschellen an den Fußriemen zu befestigen, ehe sie in ihre jeweiligen Einrichtungen zurückgebracht werden.
Es ist gut, dass sie nun mehr ins Visier geraten – denn so will ich es. Diese Männer sollen der Bevölkerung auf die Netzhaut gebrannt werden.
Dennoch fühle ich mich schrecklich. Ich bekomme den Kopf nicht frei und sehe Bilder vor meinem inneren Auge, die ich verdrängen will. Officer Hendrics, Megan und Doktor Spencer mussten viel zu detailliert sprechen, wodurch ich meine Familie vor mir sehen kann, obwohl ich bei den brutalen Fotos nicht hinsah.

              Sobald wir wieder in dem Hotel sind, versucht Sam mich abzulenken, aber ich kann einfach nicht abschalten. Teilweise antworte ich ihm gar nicht, wenn er etwas zu mir sagt, da ich es nicht mitbekomme. Er bestellt mir alles zu essen, was ich liebe und dennoch bekomme ich nichts hinunter. Keinesfalls will ich ihm das Gefühl geben,
dass es falsch war, diesen Prozess zu beginnen, aber ich kann im Moment nicht die für ihn sein, die er so liebt. Selbst dann, als er meinen Nacken küsst und mich mit einer Innigkeit berührt, die mich normalerweise erschaudern lässt, kann ich mit den Gedanken nicht bei ihm sein. Er gibt seine Versuche schließlich auf, da ich wohl so wirken muss, als wäre ich eine lebende Tote und es wäre verständlich für mich, wenn er nun frustriert von Dannen zieht. Doch stattdessen nimmt er mich hoch, setzt sich zusammen mit mir auf das Sofa und hält mich einfach nur stillschweigend in seinem Arm. Es ist so wie damals in seinem Pick-up, als wir von dem Friedhof zurückkamen und ich einen der schlimmsten Zusammenbrüche erlebte, die ich mir vorstellen kann. Sam weiß immer, was ich brauche und seine Geste beruhigt mich endlich. Anders als früher, beginne ich nicht heillos loszuschluchzen, sondern ich schlucke meine Tränen hinunter und sage mir, dass alles erst schlimmer werden muss, bevor es besser wird und dass das alles bald vorbei sein wird – auf welche Weise auch immer.
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