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Fingerabdrücke bleiben

von Lynnix
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Krimi / P16 / Gen
23.02.2018
25.11.2021
129
578.228
7
Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
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31.07.2020 4.768
 
Kapitel 46 - Überwachung auf Schritt und Tritt

Die nächste halbe Stunde ist noch weitaus schlimmer, als das, was ich in den letzten Monaten ertragen habe. Es dauert ziemlich lange, bis ich alles in allen Einzelheiten erzählt habe und sollte ich doch etwas vergessen, dann fragt der Richter oder die Staatsanwaltschaft nach, wobei Veronica sehr darauf achtet, dass die Fragen zulässig sind und jedes Mal Einspruch einlegt, falls es nicht so sein sollte.
Das Vergangene wird komplett auseinandergenommen und es ist wirklich nicht leicht für mich. Trotzdem schaffe ich es, meine Fassung zu bewahren und bleibe sachlich. Ich weigere mich schluchzend und hyperventilierend in Tränen auszubrechen, aber wenn ich über den Anblick rede, der mir vor die Augen kam, als ich in dieser Nacht die Treppe hochlief, laufen mir stumm die Tränen runter. Trotzdem werde ich nicht schreien, jammern oder herumfluchen. Zum ersten Mal spreche ich laut aus, wie ich meinen toten Bruder vorfand und das zerreißt mich beinahe. Mehrfach muss ich deshalb neu ansetzen und um Fassung ringen. Sam schaut so, als wenn er sich gerade genau für diesen Moment hassen würde und auch drei der Geschworenen scheinen ziemlich bei meiner Erklärung mitzuleiden.
Ich komme nur bis zu dem Teil, als ich an Iyes Fenster stand. Kurz darauf bombardiert mich Holly Preston schon wieder mit zwei Gegenfragen und nur wenige Augenblicke später, kommt es zu einer plötzlichen Änderung der Sachlage durch die anderen Anwälte in diesem Saal.
Die drei Männer, die ich nun öffentlich des Mordes und Mischa De Angelis als Auftraggeber beschuldigt habe, sitzen hier ohne juristische Vorbereitung. Sie haben zwar Anwälte bei sich, jedoch war ihnen nicht klar, was hier und heute passieren würde. Das Recht ist auf ihrer Seite und sie müssen sich nicht sofort äußern. Stattdessen schieben sie jegliche Vorwürfe von sich, da sie nichts anderes tun können. Im Moment verstehe ich noch nicht, was hier läuft, aber der Richter vertagt den Fall, damit sie sich mit ihren Anwälten absprechen können.
Die vier Männer müssen aufgrund ihres dicken Vorstrafenregisters und meiner Beschuldigung bis zum nächsten Verhandlungstag zurück in die Haftanstalt. Das nehmen sie nicht einfach so hin und besonders Madjid sagt lautstark, was er davon hält – allerdings auf Arabisch, was niemand versteht. Er springt auf und ruft etwas in meine Richtung. Doch die Polizisten sorgen dafür, dass er sich wieder hinsetzt.
Was plötzlich passiert, geht so unglaublich schnell, dass ich die Handlungen überhaupt nicht verstehe. Der Richter schlägt mit seinem Hammer auf das Pult und aufgrund von Madjids Fluchen höre ich nur die Hälfte der Anweisung. Er randaliert gegen einen der Polizisten, weshalb ein Zweiter und Dritter einschreitet.
John Houston bittet um Ruhe und schlägt mit dem Hammer wieder auf das Pult.
Plötzlich sagt er auch etwas zu mir, aber Madjids Rufe übertönen alles, obwohl er gerade von drei Wachleuten aus dem Saal gezerrt wird. Die anderen drei Täter wehren sich deutlich weniger und dennoch werfen mir Raphael und Phillipe einen vernichtenden Blick zu.
Es herrscht sofort Bewegung im Gerichtssaal und andere Gespräche beginnen.
Ich warte darauf, was mir gleich gesagt wird und spanne mich an. Dabei riskiere ich einen Blick zu meiner Anwältin, deren Gesichtsausdruck so wirkt, als hätte sie ebenfalls kein Wort verstanden.
>Miss Misra, Sie folgen jetzt bitte dem Beamten. < verlangt der Richter.
Ich weiß gar nicht, wo der Polizist so urplötzlich herkam. Er zieht mich so schnell von meinem Platz weg und legt mir Handschellen an, dass ich Sam nur geschockt ansehen kann, ohne mich noch einmal von ihm zu verabschieden. Was passiert hier? Warum hat John Houston nichts gesagt? Oder hat er etwas gesagt und Madjids Brüllen nahm mir die Möglichkeit zu erfahren, was mir nun blüht?
>Nein, Moment… < ruft meine Anwältin in den Raum, doch ich werde schon aus dem Gerichtssaal herausgeschoben und auf den Gang gebracht. Das andere Wachpersonal, das dafür zuständig ist, dass es im Saal gesittet zugeht, lässt die anderen Personen hinter mir offenbar nur einzeln heraus.
Bitte ein Antrag auf Kaution, bitte ein Antrag auf Kaution, denke ich fieberhaft.
>Was ist mit einem Kautionsantrag? < keuche ich zu dem Polizisten, der mich mitnimmt. >Der Richter sagte doch nichts von einer Ablehnung, oder? <
>Sie brauchen keine Kaution. < erklärt er mir ruhig, aber mit gerunzelter Stirn.
>Ich komme in Haft? < wispere ich.
Veronica kommt aus dem Saal herausgelaufen und folgt uns mit ihren schnellen Schritten. Auch Sam kommt jetzt erst an dem Personal vorbei. Ich sehe nach hinten und erkenne, wie er die Augen aufreißt und dieselbe Panik verspürt wie ich.
>Sie dürfen mit rein. < sagt der Polizist zu meiner Anwältin und wendet sich dann an Sam, der schon angelaufen kommt. >Sie nicht! <
Veronica ist so schnell mit mir in einem Raum verschwunden, dass ich überhaupt nicht reagieren kann. Die Tür geht hinter mir zu und mein Herz wummert noch mehr als vorher.

            Etwa zehn Minuten später werde ich wieder herausgelassen. Sam sieht mich und stößt sich hektisch von der Wand ab. Offenbar hat er sich in der Zwischenzeit seine Fingernägel vor Nervosität abgekaut. Meg steht neben ihm und sie redeten offensichtlich miteinander.
>Habe ich irgendwas nicht mitbekommen? Was ist hier los? < fragt er Veronica, da ich noch immer in Handschellen bin.
>Es ist alles in Ordnung. Wir haben die Veranlassung auch vorher nicht gehört. < beruhigt sie ihn sofort. Der Polizist nimmt mir die Handschellen ab und verabschiedet sich.
>Ich darf Minnesota nicht verlassen. < erkläre ich Sam und stelle mein linkes Bein etwas vor. Sein Blick geht dort hin und er sieht ein kleines, blinkendes, elektrisches Gerät über meinem Knöchel.
>Oh Gott sei Dank, eine Fußfessel. < keucht er und rauft sich die Haare.
>Ich habe doch versprochen, dass sie nicht in Haft kommt. <  beteuert Veronica.
Meine Freundin kommt plötzlich auf mich zu und wirkt ziemlich neben der Spur.
>Meg. < hauche ich und grinse sie an. Als sie mich sieht, läuft sie schneller und wir laufen beide in die Umarmung der Anderen hinein. Fassungslos keucht meine Freundin:
>Ich will nicht mal erahnen, was du gerade durchmachst. Da wurden vier komische Typen auf den Gang gezogen, als ich das Zeugenzimmer verlassen durfte. Einer von denen hat einen ziemlichen Aufstand gemacht. Sam sagte, dass das die Männer in deinem Haus waren. Allein ich habe Herzrasen und mir ist schlecht – da muss es dir doch fürchterlich gehen. Wie kommt es, dass diese Typen plötzlich hier sind? <
>Tja, das frage ich mich auch. < sage ich monoton und sehe zu Sam. Er hat mich glauben lassen, sie wären tot. Und Veronicas Blick nach zu urteilen, wusste sie über seinen Plan Bescheid.
>Kein Kontakt zu Zeugen! < ruft mir ein Polizist entgegen, der uns so sieht. >Ich muss Sie jetzt bitten zu gehen, sonst kommen Sie wegen möglicher Zeugenbeeinflussung doch noch in Haft. <
Sofort gehen wir beide auseinander und ich komme mir wieder so vor, als wäre ich eine Kriminelle.
Sam legt mir beruhigend eine Hand auf die Schulter.
>Komm schon Kleines. Ihr seht euch zur nächsten Verhandlung wieder. <
Hier drin herrschen sehr strenge Regeln und ich darf tatsächlich keine zwei Minuten mit Megan reden. Sehnsüchtig schaue ich ihr hinterher und sie dreht sich immer wieder während des Laufens um. Es ist ewig her, als wir uns das letzte Mal wirklich sahen und umarmen konnten.
>Wie schnell bekommen wir die Presse da weg? < zischt Sam zu Veronica.
>Heute sicher gar nicht mehr. Am Hinterausgang, wo meistens die Sträflinge herausgebracht werden, stehen sie sicher auch. <
Sam wirkt deswegen zwar genervt, aber gleichzeitig ist er unfassbar erleichtert, da ich nur eine Fußfessel bekam. Sie sorgt dafür, dass ich geortet werden kann und gibt eine Meldung ab, wenn ich mich zu weit entferne. Der Polizist in dem Raum war sehr deutlich zu mir. Verlasse ich den Bundesstaat, dann piept sie und es wird sofort als Fluchtversuch gewertet und ich gehe in Haft. Fummele ich daran herum und versuche sie zu manipulieren oder zu öffnen, blüht mir dasselbe.
Wir gehen zu der Empfangsdame, von der ich meine Sachen zurückbekomme. Ich setze wieder die Sonnenbrille auf und ziehe meine Jacke mit der Kapuze an.
>Sie sind eine riesige Story wert, Miss Misra. Es kommt nicht jeden Tag vor, dass totgeglaubte, verdächtige Mörder wieder auftauchen und ihre Unschuld beweisen wollen. Einige Reporter werden Ihnen vermutlich folgen wollen. < beschwört meine Anwältin.
>Ich hänge sie schon ab. < sagt Sam kühl zu ihr.
>In Ordnung. Ich drehe eine Ablenkungsrunde mehr durch die Stadt und komme dann in das Hotel. Wir müssen darüber reden, wie es weitergeht. <  
Sam nickt und schiebt mich vorwärts. Sobald die Türen des Gerichts aufgehen, springen auch die Reporter auf und laufen direkt zu der Absperrung. Die Polizisten, die draußen herumstehen, sehen das wieder aufkeimende Chaos und schreiten zumindest ein, dass ich heil in das Auto einsteigen kann. Sam läuft vor mir und versucht mich abzuschirmen, damit sie mich nicht in ihr Visier nehmen können. Ich fühle mich völlig bedrängt und belagert. In diesem Moment tun mir die Promis leid, die sich keinen Zentimeter bewegen können, ohne dass es ein Foto davon gibt. Wir schaffen es zum Auto und Sam schiebt mich überstürzt auf den Sitz. Er knallt die Wagentür zu und ich schnalle mich an. Damit diese aufdringlichen Menschen gar nicht erst dazu kommen, sich auch noch vor den Wagen zu stellen, steigt mein Freund eilig auf der Fahrerseite ein und gibt Gas.
So schnell es geht, rast er mit mir davon. Ich drehe mich nach hinten um und sehe tatsächlich, dass die Reporter alles schleunigst in ihre Wagen verstauen, um uns folgen zu können.
Vor Schreck halte ich mir die Hände vors Gesicht, als ich wieder nach vorn blicke.  Sam muss einem anderen Auto die Vorfahrt nehmen, nur damit er sofort auf die Hauptstraße kommt. Als wir immerhin keinen Unfall gebaut haben, traue ich mich noch einmal nach hinten zu schauen.
>Was stimmt mit denen nicht? < zische ich und meine damit die Presseleute, die Sam gern als „Hyänen“ bezeichnet.
>Jeder will der Erste sein, der einen Artikel darüber schreibt und ein gutes Bild von dir bekommt. Das gibt mehr Geld. <
Sam ist allerdings schneller und er biegt immer wieder ab und fährt die Querstraßen entlang. Soweit ich es sehen kann, kam niemand schnell genug hinterher und ich beginne mich etwas zu entspannen. Zumindest genug, um endlich nach Antworten zu fragen.
>Warum saßen dort diese Männer, Sam? <
>Ich erkläre dir das später. Es tut mir leid, dass ich dir das zumuten musste. Aber das war ausschlaggebend, dass ihr alle geschockt voneinander wart. <
>Was war ausschlaggebend? Der Prozess dauerte höchstens eine Stunde und er wurde vertagt, ohne dass überhaupt ein einziger Zeuge aufgerufen wurde. <
>Das schon, aber die ersten 30 Sekunden haben sofort für unsere Seite entschieden. Die Juristen und Geschworenen sind nicht blind. Es herrschte Totenstille im Saal, als sich eure Augenpaare trafen. Deswegen wollte ich, dass du dich so schminkst und frisierst, wie dich Madjid, Phillipe und Raphael damals in der Nacht gesehen haben. Sie sollten nicht lange überlegen, ob sie dich kennen. Und da das nun klar ist, dass ihr euch schon begegnet seid, packen wir beim nächsten Mal alle schmutzigen Dinge aus und vernichten sie. Ich erkläre dir das alles genauer, wenn wir im Hotel sind und Veronica bei uns ist. <
>Die ganze Zeit hast du mich in dem Glauben gelassen, sie wären alle tot. <
>Ja, aber zu meiner Verteidigung ... gesagt habe ich das nie. < meint er etwas kleinlaut und schielt kurz zu mir rüber. >Es war lediglich Detectiv Archer, der zu dir gesagt hat, dass sie fast alle „verschwunden“ sind. Zu dem Zeitpunkt hatte ich De Angelis, Dimech und McCurdy in Gewahrsam, während ich noch auf der Suche nach ihm und Madjid war. <
>Und damit dein Plan heute aufgehen konnte, durfte ich Madjid damals in der Mall nicht umbringen.  < wende ich monoton ein, da sein Verhalten nun Sinn ergibt. Er verhinderte es für den heutigen Zweck und nicht – so wie ich damals dachte, um mein Seelenheil zu bewahren.
>Ja, wir brauchen ihn und die anderen noch. Wenn es nicht so wäre, hättest du damals mit ihm machen können, was du wolltest. <
>Du hättest mir deinen Plan verraten können. <
In meiner Stimme klingt eindeutig Verbitterung mit. Ich kann es nicht abstellen, dass ich mich in einer gewissen Weise hintergangen fühle.
>Nein. Es musste echt wirken, wenn ihr euch begegnet. Und das tat es. <
>Warst du deswegen seit Wochen so durch den Wind? <
>Ja, ich wusste nicht wie du reagieren würdest, aber du hast es besser weggesteckt, als ich es vermutete. Es gleicht wohl der reinsten Folter, jemandem die Mörder der eigenen Familie vorzusetzen und du warst das Versuchskaninchen. Es tut mir leid. <
>Allerdings… < nuschle ich leise. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Am liebsten würde ich ihn anschreien, auch wenn ich zugeben muss, dass mal wieder alles sehr durchdacht von ihm war. Er hat immer sein Ziel vor Augen und tut alles dafür. Mit den Händen fahre ich mir durch mein Gesicht und versinke seufzend im Sitz.
>Und wo sind die anderen Mafiaclanmitglieder? < will ich wissen.
>Die habe ich tatsächlich umgebracht. <
Als Antwort gebe ich nur ein Schnaufen von mir. Wir erreichen gerade das Hotel und Sam parkt den Wagen davor. Ehe wir aussteigen, sieht er sich nach allen Seiten um und drängt mich dann dazu, mich zu beeilen.

            Wenige Minuten später sind wir in unserer Hotelsuite und ich laufe genauso unruhig wie heute Morgen im Zimmer hin und her, ehe es endlich an unserer Tür klopft. Sam geht dicht heran, fragt, wer da ist und lässt Veronica schließlich herein.
Sie wirkt etwas durch den Wind und atmet tief durch, als sie auf dem Sofa Platz nimmt.
>Es hat ewig gedauert, bis ich sicher war, dass mir niemand hinterherkommt. < japst sie.
>Haben Sie die Nachrichtensperre schon angesetzt oder soll ich das machen? < fragt Sam und hat schon sein Telefon in der Hand und den Laptop unter dem Arm.
>Genau darüber wollte ich mit Ihnen beiden reden. Wir haben einen guten Start hingelegt. Jetzt geht es darum, taktisch klug zu handeln. Ich finde, wir sollten die Presse berichten lassen. <
>Was? < zischen Sam und ich gleichzeitig. Meine Anwältin schmunzelt.
>Dass Sie beide so reagieren würden, dachte ich mir schon, aber gehen wir das mal logisch an. Es wurde gesehen und live aufgenommen, wie vier Männer mit einem Justizbus in das Gericht hinein und danach zurück in Haft gebracht wurden. Sie Miss Misra durften hingegen gehen – zwar mit einer Fußfessel, aber für einen Bürger ist das ein Zeichen, dass Sie nicht als potenziell gefährlich eingestuft werden. Sie galten als tot und anstatt weiterhin unterzutauchen und woanders ein sicheres Leben zu führen, suchen Sie bewusst nach Ihrer Gerechtigkeit und prangern nun Täter an, von denen bisher noch nie die Rede war. Das erregt Aufsehen und alles steht und fällt mit dem Urteil der Geschworenen. Wir müssen also dafür sorgen, dass uns der Normalbürger glaubt und die Jury es trotzdem mitbekommt, auch wenn sie innerhalb des Geschworenendienstes von allen Medien abgeschottet werden. Lenken wir also die Presse auf unsere Seite. <
Das ist etwas, was Veronica von Anfang an immer wieder sagte. Ich muss die zwölf Personen aus der Jury überzeugen, denn sie entscheiden darüber, ob der Angeklagte schuldig oder unschuldig ist. Der Staatsanwalt und der Richter entscheiden jedoch über das Strafmaß.
>Und da sehen Sie keinen anderen Weg, als der Presse einen Freifahrtschein zu geben? < zischt Sam, der seinen Unmut darüber Luft macht. >Was glauben Sie eigentlich, wie schnell das auch ins Gegenteil umschwenken kann und zu Falschnachrichten führt? <
>Wir können bis zur Urteilsverkündung eine Nachrichtensperre greifen lassen mit Ausnahme für ein oder zwei Sender, die seriös sind. Ich kann das klarmachen, aber ich benötige natürlich Ihre Einwilligung. < sagt Veronica nur an mich gewandt.
Sam sieht aus als würde er jeden Moment an die Decke gehen, aber er steht mit verschränkten Armen neben mir und mischt sich nicht weiter ein. Wahrscheinlich, weil er denkt, ich würde es ohnehin ablehnen.
Was meine Anwältin sagt, stimmt allerdings und wir müssen das Ganze taktisch klug angehen. Als ich im Wagen auf Sam warten musste, konnte ich beobachten, welche Aufnahmen die Reporter vorher machten und auch ich nahm den Gefangenentransport wahr.
>Na gut. < stimme ich schließlich zu. >Nur ein oder zwei Sender. Aber ich will nicht, dass sie die Zeugen belästigen oder mich interviewen. Ich werde nichts zu ihnen sagen. <
>Sehr gut, das ist alles was ich wollte. < bestätigt meine Anwältin etwas erleichtert. Sam schaut nicht gerade angetan und setzt sich wie erschlagen neben Veronica auf das Sofa. Es ist meine Entscheidung und dagegen kann er nichts tun.
Da das nun geklärt ist, beginnt meine Anwältin damit, mich auf den morgigen Tag vorzubereiten. Endlich erhalte ich auch die Antworten, die ich brauche.
Die vier Männer vor Gericht zu bringen, war von Anfang an Sam´s Plan. Er hat mir im wahrsten Sinne des Wortes den Weg freigeschossen und dafür gesorgt, dass mir immer weniger Personen gefährlich werden konnten. Als ich in Angora lebte, sorgte er auf seine Weise dafür, dass mehr Beweise auftauchten und er hätte auch ohne mich einen Prozess begonnen. Doch da ich verschleppt und beinahe am Palisade Head getötet wurde, änderte sich alles.
Mischa De Angelis, Phillipe Dimech und Raphael McCurdy waren bereits in Gewahrsam, als Madjid noch auf freiem Fuß war. Diese Männer haben ein unglaubliches Vorstrafenregister und Sam schaffte es, sie in Untersuchungshaft zu bringen. Dort sitzen sie seit drei Monaten oder länger fest und durch Sam´s Kontakte kommen sie dort aktuell nicht heraus. Mir wird immer mehr klar, wie viel Macht mein Freund in dieser Szene hat, obwohl er sich so bedeckt hält.
Noch immer kann ich es nicht fassen, wie clever Sam das angestellt hat. Trotzdem befürchte ich, dass es nicht der legale Weg war, die Männer unter anderen Anklagepunkten in eine Untersuchungshaft zu stecken. Aus diesem Grund waren die Anwälte vorhin wohl genauso perplex wie die Täter und ich. Dadurch konnten sie nicht auf die Anklage reagieren. Daher leuchtet es mir ein, dass der heute Tag kein Ergebnis einbringen konnte. Es ist ihr gutes Recht gewesen, eine Vertagung zu erwirken, um sich auf den Fall vorbereiten zu können.
Veronica erklärt mir den Moment unseres Aufeinandertreffens beinahe genauso wie Sam:
>Miss Misra. Sie können mir glauben, dass wir lange überlegt haben, ob wir Ihnen das wirklich antun sollen, aber haben Sie eigentlich die geringste Ahnung, was in diesem Moment des Aufeinandertreffens in diesem Raum passierte? Sie haben einen Großteil der Geschworenen bereits jetzt auf Ihrer Seite. Ihnen stand das blanke Entsetzen ins Gesicht geschrieben und die Männer bekamen sichtlich Schweißperlen auf der Stirn, als Sie im Gang stehen geblieben sind. Ich begann mit meinem Eröffnungsplädoyer und die Blicke der Jury wurden immer entschiedener und dann haben Sie auch noch sehr gut die Fragen beantwortet, die Ihnen gestellt wurden. Morgen werden Ihnen die Verteidiger aber sicher zusetzen und Sie unglaubhaft erscheinen lassen wollen. Für dieses Ereignis möchte ich gern beispielhaft ein paar Situationen mit Ihnen durchgehen. Es werden die Zeugen befragt und es werden die Beweise vorgelegt. Vielleicht mag dieses kurze Zeitfenster im Gericht heute nicht sehr eindrucksvoll für Sie ausgesehen haben, aber auch nur, weil Sie nicht gesehen haben, was wir gesehen haben. <
>Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. < erwidere ich knapp, denn Sam erklärte es mir bereits. >Aber jetzt werden die Kerle doch sicher ihr Alibi miteinander abstimmen. <
>Das können sie gar nicht. < erklärt die Anwältin lächelnd. >Mister Wilson sorgte dafür, dass alle in unterschiedliche Einrichtungen gekommen sind. Niemand hatte eine Ahnung, dass sich alle Täter in derselben Lage befanden und heute gemeinsam für den gleichen Fall vor Gericht stehen würden. Stattdessen war jeder Einzelne der Annahme, dass alle Mitglieder, die bereits verschwunden waren, tot seien. Die Männer haben sich erst heute wiedergesehen und können sich also nicht gemeinsam abstimmen – nur einzeln mit ihren Anwälten. Sie dürfen nicht einmal Briefe schreiben. <
>Das bedeutet aber auch, dass sie ihre Anwälte jetzt förmlich auf die Jagd nach anderen Dingen schicken werden. Morgen kommen sie mit irgendeiner Gegenwehr und vermutlich irgendwelchen Zeugen, die sie aus dem Hut gezaubert haben. < wende ich ein.
>Wir bekommen das hin. < verdeutlicht mir meine Anwältin.
              Die nächste Stunde malträtiert sie mich mit Fragen, die wahrscheinlich kommen werden. Sie empfiehlt mir, mit dem Richter so gesprächig wie möglich zu sein und falls mich meine Emotionen einholen, dann soll ich sie zulassen. Allerdings soll ich immer bei den Fakten bleiben. Als Veronica denkt, dass mein Kopf mehr als voll ist und ich erschöpft sein muss, erklärt sie mir beruhigend, dass ich mich für den Rest des Tages entspannen sollte.
Morgen um Punkt 8:00 Uhr wird es weitergehen. Meine Anwältin verabschiedet sich mit einem aufbauenden Lächeln von uns und verlässt die Hotelsuite.
Ich komme mir vor, als hätte mich eine Dampflok überrollt und ich werfe mich auf das große Bett.
>Es gibt da etwas, das ich dir jetzt sagen kann. < haucht Sam von der anderen Seite des Raumes, worauf ich meinen Kopf zu ihm drehe. Er sieht nachdenklich aus.
>Was denn jetzt noch? < frage ich bang. Ich weiß nicht, wie viel ich noch hören will.
>Damals, als du Dimitrij das erste Mal trafst und die drei Männer beschrieben hast, sagtest du mir hinterher, dass wir so wirkten, als würden wir sie kennen. Ich stritt es ab, aber das war gelogen. Als ich auf Dimechs Zeichnung starrte, da wusste ich, dass ich ihn schon irgendwo gesehen hatte. Zuerst war ich mir nicht ganz sicher, aber am Abend als du im Bett lagst, ging ich meine Datenbank durch. Phillipe Dimech stand auf meiner schwarzen Liste. Er war nur zu uninteressant für mich – jedenfalls bis zu dem Tag. Und von da an wusste ich, ich würde alles tun, um ihn dir vom Hals zu schaffen. Ebenso wie die anderen, die dort mit drinhängen. <
>Warum sagst du mir das jetzt erst? <
>Keine Ahnung. Damals konnte ich es dir auf keinen Fall sagen und in den vergangenen Monaten hattest du keinen Gedanken mehr an diese Typen verschwendet. Es gefiel mir, dass du wieder glücklich warst – so sehr wie du es eben nach all dem Geschehenden sein konntest. Irgendwie ergab sich nie der richtige Zeitpunkt. <
Nach dem, was ich am heutigen Tag erfahren habe, ist das, was Sam mir vor wenigen Sekunden gestand, der am wenigsten schlimme Teil. Irgendwie merkte ich ihm damals an, dass Dimech ihm nicht gänzlich unbekannt war. Viel interessanter finde ich, dass er von diesem Moment an beschloss, mir mit allem zu helfen, was in seiner Macht stand. Er richtet immer noch seinen Blick auf mich und schaut so, als wenn er erwarten würde, dass ich jeden Augenblick an die Decke gehe. Jedoch stehe ich vom Bett auf und laufe zu ihm. Er sitzt noch auf dem Sofa und ich lasse mich neben ihn sinken.
>Ich weiß nicht, was ich ohne dich getan hätte. < hauche ich. >Ohne dich wäre ich tot. Und auch wenn ich nicht immer einer Meinung mit dir bin, kann ich verstehen, weshalb du die Dinge auf deine Weise tust. <
Er seufzt und greift sich meine Hand. Sam haucht mir einen Kuss auf die Fingerknöchel und zieht mich dann zu sich in seine Arme.

             Am liebsten würde mir mein Freund einen ähnlich normalen Abend wie gestern bescheren, aber jetzt kann ich die Hotelsuite nicht mehr so einfach verlassen. Der Roomservice hat uns unser Abendessen gebracht und nun sehen wir uns an, was meine Anwältin mit blitzartiger Geschwindigkeit in die Wege geleitet hat.
Sam zappt durch das Fernsehprogramm und bleibt bei einem Sender stehen, der jeden Moment seine News Time hat. Ob ich den Report wirklich sehen will oder doch lieber das Zimmer verlassen möchte, weiß ich noch nicht, aber meinem Freund scheint es genauso zu gehen. Als die typische Melodie des Senders ertönt, zieht es mich dennoch zum Fernseher hin. Mit starrer Miene und verschränkten Armen stehe ich neben Sam und höre zu. Die Moderatorin begrüßt ihre Zuschauer, stellt sich vor und beginnt ohne Umschweife mit den Tagesthemen. Es wundert mich kein bisschen, dass mein Fall an erster Stelle kommt und als der Einspieler von mir gezeigt wird, versteife ich mich automatisch. Es ist eine Aufnahme vom heutigen Morgen und es wurde der Moment festgehalten, als mir das Base-Cap und die Kapuze wegflogen.
>Na klasse. Du schaust auch noch direkt hinein. < seufzt Sam. Dennoch höre ich zu, was die Sprecherin sagt:
>Mehr als ein halbes Jahr lang galt sie als Mörderin ihrer Familie und wurde nur wenige Tage nach der Tat tot aus dem Wasser geborgen. So jedenfalls die damalige Berichterstattung vom Juli 2018. Dennoch kam es heute zu einer Neuverhandlung und dort tauchte zum Unverständnis aller Anwesenden die totgeglaubte Nayeli Misra persönlich auf. Vier Inhaftierte, die offenbar in das Geschehen verwickelt waren, wurden nur wenige Minuten vor ihrem Eintreffen in das Gerichtsgebäude gebracht und nach der Verhandlung zurück in die jeweiligen Haftanstalten gefahren. Die vermeintliche Täterin durfte das Gebäude jedoch nach dem ersten Prozesstag mit einer Fußfessel verlassen. Eine beachtliche Menge an Zeugen wurde für diesen Fall vorgeladen, die laut Insiderberichten noch nicht zu Wort kamen. Das Verfahren wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit gehalten und es bleibt abzuwarten, wie es ausgeht. Dieser unglaubliche und verwirrende Fall geht morgen im Bundesgericht Winona weiter. <
>Na klar, weshalb schreibt ihr nicht gleich noch die Adresse darunter? < zischt Sam genervt. Aber immerhin war es eine sehr neutrale Berichtserstattung, so wie Veronica es wollte. Und dennoch stehe ich aus der Sicht eines Normalbürgers sofort besser dar, weil die inhaftierten Personen wieder eingesperrt wurden, während ich gehen durfte. Das nächste Tagesthema bekommt seine Einspielzeit und ohne meinen Blick von dem Fernseher abzuwenden, setze ich mich vorsichtig und hauche:  
>Nun weiß jeder in Duluth, dass ich lebe. Auf eine eigenartige Weise ist das beruhigend. <
Sam´s finstere Gesichtszüge werden sanfter und er lässt seine angespannten Schultern sinken.
>Tut mir leid Kleines. Ich habe einen Moment lang vergessen, was das alles mit dir macht und nicht ein einziges Mal gefragt, wie es dir damit geht. Ich habe dich einfach diesen vier Kerlen vorgesetzt und somit auf unseren Erfolg gehofft. <
>Wie ich dich inzwischen kenne, hast du mich nicht einfach vorgesetzt, sondern deine Idee genauso oft verworfen, wie du sie wieder zum Leben erweckt hast. <
>So ungefähr. < murmelt er.
>Denkst du wirklich, dass das heute etwas ausgemacht hat? <
>Eindeutig. Du hast diese Nacht sehr gut und detailliert beschrieben. Die morgigen Zeugen können daran anschließen. <
>Mischa De Angelis hat Geld. Ich schätze, sein Anwalt fasst unter 25.000 $ keine Akte an. Und solche Topanwälte sind brutal. Sie werden irgendeine Leiche im Keller ausgraben. <
>Veronica ist auch eine Topanwältin. < erwidert er beruhigend. >Außerdem sitzen die Kerle schon seit Monaten fest, was sofort ein schlechteres Licht auf sie wirft. Ich habe sie ausgeliefert und ein Antrag auf Kaution wurde immer wieder abgelehnt. Dafür habe ich akribisch gesorgt, sonst wären sie schon längst wieder draußen. Das war wirklich nicht einfach, sie so lange dort drin schmoren zu lassen, deswegen wurde es Zeit, dass dieser Prozess endlich begann. Man kann Verdächtige nicht ewig ohne Gerichtsurteil einsperren. Nur gut, dass sie vorher schon so viel Mist bauten und ich sie genau darauf festnageln konnte. <
>Denkst du, sie haben dich heute erkannt? <
>Madjid auf jeden Fall. Er starte mich beinahe so bösartig an, wie dich. Bei den anderen Typen war es mitten in der Nacht als ich sie damals aufgriff und ich hatte Hilfe von den Russen. Sie hatten also keine Ahnung wer ich bin. <
Das finde ich irgendwie gut. Vielleicht schweigen sie bewusst zu dem Thema, wie sie geschnappt wurden, da sie sich sonst in etwas hineinreiten könnten. Mit etwas Glück muss sich Sam nicht allzu sehr belasten. Das würde mich wirklich beruhigen.  
Morgen geht es in die zweite Runde und dieses Mal weiß ich, wem ich begegnen werde.
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