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Fingerabdrücke bleiben

von Lynnix
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Krimi / P16 / Gen
23.02.2018
25.11.2021
129
578.228
7
Alle Kapitel
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17.07.2020 4.726
 
Kapitel 44 - Eine abgenommene Entscheidung

Im Pick-up angekommen sehe ich, dass es bereits 17 Uhr ist. Um das Licht in der Tiefgarage noch einen Moment auszunutzen, nehme ich die Klarsichtfolie vor mein Gesicht und sehe mir die Lizenz an. Henry nuschelte mir zu, dass ich sie mir genauer ansehen soll, aber ich entdecke darauf nichts Erwähnenswertes.
Dann nehme ich das Dokument aus der Folie heraus und sehe, dass hinter der von Kimberly Grant eine weitere Lizenz ist. Eine, die für Nayeli Misra ausgestellt wurde und mit einem Post-it versehen ist, auf dem steht: „Für den Weg zurück.“ Die Handschrift sieht aus wie die von Lukaz.
>Herzlichen Glückwunsch, Kleines. < sagt Sam sanft neben mir und küsst mich auf die Stirn.
>Danke, mir fällt deswegen ein Stein vom Herzen. <
>Mir war klar, dass du das schaffst. Schau mal in das Handschuhfach hinein! Ich habe etwas für dich. <
Bedeutungsvoll nickt er dorthin. Deshalb wollte er also unbedingt mit dem Pick-up anstatt mit dem Mustang fahren.
>Oh nein, was hast du schon wieder gekauft? < murre ich. Sam rollt mit den Augen und nickt dann wieder zu dem Handschuhfach. Ich öffne es und nehme eine schwarze Schachtel heraus, die gerade so in das Fach hineinpasste.
>Das? < frage ich, worauf mein Freund bejaht. Die Schachtel geht nach oben aufzuklappen und mir zeigt sich ein Satz Handschellen und eine Pistole. Eine Glock 19 um genau zu sein. Überwältigt nehme ich sie heraus und schaue, wie sie in der Hand liegt.
Ich kann es nicht fassen, dass ich mich darüber freue, eine Waffe geschenkt zu bekommen. Etwas schräg halte ich die Pistole vor mein Gesicht und neige meinen Kopf, weil ich am Lauf etwas lesen kann.
Dort steht: „Dostavlen volkam i vozvrashchen v kachestve vozhaka stai.“
>Wow, vielen Dank. Ich habe noch nie gesehen, dass jemand eine Gravur in der Waffe hat. <
>Nicht? Meine hat auch eine. < er zieht seine lässig aus dem Seitenfach der Tür heraus und zeigt sie mir. Im Gegensatz zu meiner Pistole, ist jedoch sofort klar, was dort steht. Es sind nur drei Buchstaben und sie sind so schlicht, dass ich sie tatsächlich immer übersehen habe. Ich sehe zu Sam hoch und frage verwundert:
>Zoe? <
Er grinst und nickt.
>Als den Soldaten damals die Waffen ausgeteilt wurden, sagte man uns, dass es Glück bringt, der Waffe einen Namen zu geben. Die der Männer hatten meistens eine weibliche Benennung. Zoe hat mir Glück gebracht – immerhin bin ich dreimal wieder aus dem Kriegsgebiet zurückgekehrt. Und als ich mich für den heutigen Weg entschieden habe, habe ich meine private Waffe auch so genannt. <
>Bisher scheint der Aberglaube ja zu funktionieren. < lächle ich matt. >Und ehm … Zoe war damals deine Freundin? <
Ich befürchte schon, dass ich damit alte Wunden aufreiße, aber seine Gesichtszüge werden ungemein sanft.
>Nein. Das ist der Name meiner Mutter. <
Ich ziehe unwillkürlich eine Schnute. Da wiegt das Herz gleich doppelt so schwer. Er hat sich niemals mit seinen Eltern zerstritten, sondern er sieht sie nur zu ihrer eigenen Sicherheit nicht mehr. Für einen Außenstehenden sind seine Entscheidungen manchmal nicht nachvollziehbar, aber genau dann weiß man, dass Sam jemanden liebt. Bedingungslos.
Es ist dieselbe Situation wie bei mir vor einigen Monaten, als er keinen Kontakt mehr zu mir wollte und nur die Umstände haben ihn umgestimmt. Seitdem hat er nicht nur mich wieder an seiner Seite, sondern auch Sophia. Aber so etwas mit seinen Eltern kann nicht einmal ich reparieren.
>Was steht auf meiner Waffe? Mein Russisch ist noch grottenschlecht. <
>Da steht: „Den Wölfen vorgeworfen und als Rudelführer zurückgekehrt.“ <
Sam mustert meine Gesichtszüge genau.
>Das … ist ziemlich cool. < hauche ich. >Vielen Dank. <
>Ich fand es treffend für dich. Du hast dich schließlich überall durchgebissen. Nur durch eine letzte Sache musst du noch durch. Heute Morgen rief Veronica gar nicht bei mir an, weil sie etwas wissen wollte, sondern weil sie mir den Gerichtstermin nannte. Ich wollte es dir nur nicht sofort sagen, weil ich dachte, du bist dann zu nervös und kannst dich auf deine Prüfung nicht mehr konzentrieren. <
Ich reiße erschrocken die Augen auf. Auf diese Nachricht warten wir nun schon seit Tagen und trotzdem wird mir allein bei dem Gedanken daran schlecht.
>Oh Gott. Und? Wie lange habe ich noch? <
>Wir müssen bis zum 18. Februar im nächsten Jahr warten. Also noch zwei Monate. Schneller ging es nicht, aber immerhin sind es nicht mehrere Jahre. <
Ein hysterisches Lachen kommt aus meiner Kehle. Ich danke Sam in diesem Moment tatsächlich dafür, dass er mir das nicht heute Morgen gesagt hat. Das macht mich eindeutig nervös. Veronica sagt zwar immer wieder, sie sei gut vorbereitet und Sam hat noch ein Ass im Ärmel – das er mir nicht verraten will, um mich nicht „aus der Bahn zu werfen“, aber dennoch besteht die Möglichkeit, dass das schiefgeht.
>Mach dir keine Sorgen. Wir haben noch eine Menge Vorbereitungszeit und das, was Veronica bisher hat, ist wasserdicht. Vorerst gilt diese Lizenz für dich. <
Er greift zu der, die für Kim ausgestellt wurde. >Und danach nehmen wir das in Angriff. < dann nimmt er die andere für Nayeli.
Ich grinse zögernd und würde wirklich gern wieder meinen wahren Namen in der Öffentlichkeit tragen.
>Schau nicht so betrübt, Kleines. Du kannst wirklich stolz auf dich sein und wir haben was zu feiern, also schenk mir ein Lächeln. <
Bei den Worten ist es schwierig den Mund nicht zu verziehen, also gebe ich ihm sein gewünschtes Lächeln. Immerhin habe ich allen Grund dazu. Endlich konnte ich meinen Abschluss an dieser Schule machen. Sam macht den Motor an und rollt schließlich zum letzten Mal mit mir zum Tor. Es fühlt sich so an, als wäre ich zum wiederholten Male ein kleines Stück mehr Ballast losgeworden. Momentan sind es zwar noch kleine Schritte in die Normalität, aber dafür steht mir nur noch ein Schritt bevor. Es ist allerdings der Größte.
Sobald wir aus dem Schulgebäude heraus sind, breitet er einen Arm aus, damit ich mich näher zu ihm setze. Ich tue es sofort und verstaue mein Geschenk wieder in das Handschuhfach.
>Was hältst du davon, wenn wir etwas essen gehen? Nicht so ein Schnellimbiss wo wir sonst manchmal anhalten, sondern im romantischen Sinne – wie ein ganz normales Paar. < schlägt Sam vor.
>Du meinst so wie ein Date? <
>Wenn du es so nennen willst. < lacht er.
Selbstverständlich will ich. Momente wie diese sind kostbar für mich und Sam. Es ist nicht abzustreiten, dass wir beide nicht die typischen Dates hatten, um einander kennenzulernen. Die Romantik ist meist überschattet durch Mord und Totschlag und aus diesem Grund finde ich es schön, mit Sam einen gewöhnlichen Abend zu planen.

            Es kommt mir so vor, als könnten wir beide seit langem wieder durchatmen. Wir schauen nicht auf die Uhr, lassen uns nicht von einem Handyklingeln stören und reden auch nicht über die Schrecken in dieser Welt.
Wir sind in einem Restaurant, das wirklich schön ist. Es ist nicht zu aufgemotzt, sodass ich befürchten müsste underdressed zu sein, sondern es ist in einem mir angenehmen Maß elegant und hebt sich von den sonstigen Lokalen ab, in denen wir für gewöhnlich manchmal sind. Ab und zu war es auch ein Drive-in, wenn es schnell gehen musste. Solange es nicht den Charme des Angora Diners versprühte, hat es mich allerdings nie gestört.
Heute fühlt es sich jedoch besonders an. Sam bestellt uns Wein und besteht darauf, dass ich mir mit ihm zusammen drei Gänge gönne. Im Hintergrund spielt jemand leise und beruhigend am Klavier und ich muss zugeben, dass es ein wunderschöner Abend ist, den Meg durch und durch als „kitschig“ bezeichnen würde, aber es gefällt mir.
Zum Ende bestellt Sam die Rechnung, die die Kellnerin diskret in einer Rechnungsmappe zu uns bringt und sofort wieder verschwindet.
Ich werfe einen kurzen Blick darauf, sehe, dass mein Freund das Essen und die Getränke zahlt, dann sein Portmonee wieder zuklappt und es gleich in die Gesäßtasche der Jeans zurückpacken will. Ich beuge mich etwas zu ihm vor und sage eindringlich:
>Hey Sam. <
>Was ist? <
Ich nicke zu der Rechnung und den Scheinen. Die Kellnerin macht sich gerade auf den Weg und kommt zu uns zurück.
>Die Gastronomie ist ein wirklich undankbares Geschäft. Gib ihr bitte mehr Trinkgeld, die Kellner leben davon. <
Mit aufgerissenen Augen klappt er die Rechnungsmappe erneut auf und schaut hinunter zu dem Ausdruck. Offenbar hat er gar nicht so genau hingesehen, was er dort hinlegte. Geizig ist Sam nun wirklich nicht.
>Ja hast recht. < bestätigt er mir sofort, ohne es mir übelzunehmen. Da gerade er weiß, wie sehr ich die letzten Monate als Kellnerin um jeden Penny gekämpft habe, klappt er sein Portmonee wieder auf und legt noch etwas extra hin.
Für gewöhnlich mag ich es überhaupt nicht, wenn Sam mehr als nötig für mich ausgeben muss, aber den Schein mehr musste ich ihm einfach aus den Rippen leiern.
Er steht auf, greift dann zu meiner Hand, um mich hochzuziehen und gibt mir meine Jacke. Seine Finger verschränkt er mit meinen und führt mich dann zum Ausgang, damit wir heimfahren können. Wir sind nicht weit weg von Grand Portage und die Fahrt wird schnell gehen.
              Kaum sind wir zurück, entledige ich mich meiner Outdoorkleidung und laufe in die Küche. Dort hängt ein Wandkalender und da wir in gerade mal zwei Wochen den Jahreswechsel haben, hängt der neue Kalender für das Jahr 2019 bereits darunter. Ich blättere weiter bis zum Februar und kreise schließlich den 18.02. rot ein.
Erst als ich einen Schmerz spüre und Blut schmecke, merke ich wie sehr ich mir gerade auf die Innenseite meiner Wange gebissen habe. Dieses Datum wird ganz sicher alles andere als ein Katzensprung, aber es wird eine riesige Erlösung sein, falls das gut geht. Und falls nicht, hat Sam mit ziemlicher Sicherheit einen Plan B – auch wenn er sicher illegal ist.
Er kommt gerade in die Küche und sieht mich mit verschränkten Armen vor dem Kalender stehen.
>Hätte ich es dir lieber nicht sagen sollen?  < fragt er unsicher.
>Doch, es war richtig so. Jetzt habe ich einen Countdown. <
Er kommt zu mir, legt von hinten die Arme um mich und faltet die Hände über meinem Bauch zusammen. Sein Kinn legt er auf meiner Schulter ab und starrt genauso wie ich auf das eingekreiste Datum.
>Vergiss niemals wie viel wir bisher geschafft haben. Es sind vielleicht viele kleine Schritte, aber sie führen irgendwann zum Ziel, da bin ich sicher. <
Ich nicke und lächle matt. Selbstverständlich haben wir viel geschafft. Das letzte halbe Jahr glich der reinsten Achterbahnfahrt und dennoch hat mich nichts davon umgebracht.

              Wir ziehen uns schließlich nach nebenan ins Wohnzimmer zurück. So schön unser Date auch war, muss es leider auch schon wieder ein Ende nehmen. Sam muss sich wieder seiner Arbeit widmen und noch einige Dinge am Laptop in Erfahrung bringen. Ich nutze die Gelegenheit ebenfalls und suche mir die nächsten Kautionsbüros in der Umgebung heraus. Hoffentlich haben sie ein paar gute Fälle für mich. Aber um realistisch zu bleiben, weiß ich, dass ich klein anfangen muss und wohl erst nur ein paar hundert Dollar für meine Arbeit bekommen werde. Bei guten Bounty Huntern gehen zum Glück viele Schecks über den Tisch und sie sind ihr eigener Boss – ich muss nur einen passenden Auftraggeber finden.
Als ich fündig geworden bin, schreibe ich mir zwei Adressen auf und werde morgen mein Glück versuchen. Sam wirft mir einen Seitenblick zu und sieht, was ich da mache, aber brav wie er manchmal ist, schaut er wieder weg und lässt mich das alleine machen. Dann drehe ich mich ein klein wenig von ihm weg und schaue in meinen E-Mail-Account hinein, den ich mir erst gestern angelegt habe.
Ich sehe, dass ich eine Antwort auf meine gestrige Mail erhalten habe. Das ging schneller als gedacht. Also lese ich mir die Nachricht durch und schreibe prompt zurück. So verschlüsselt wie es nur geht, hinterlasse ich keinerlei Hinweise auf meinen Namen oder sonstigem und schätze es, anonym zu bleiben.
In der Mail geht es um Cody und ich weiß noch nicht wohin meine fixe Idee führen wird. Ich weiß nur, dass ich ihm helfen will – nicht zuletzt, weil er mich so sehr an Iye erinnert. Als ich den Laptop herunterfahre, muss ich grinsend daran zurückdenken, wie mir meine Eltern damals sagten, dass sie ungeplant noch ein Kind erwarten würden. Mir ist gar nicht mehr im Gedächtnis, wer geschockter war.
Aber apropos Schock … dieser überkommt mich gerade und ich bekomme Schweißausbrüche, als ich an heute Morgen zurückdenke. Meine Augen werden schmaler, als ich noch einmal alles in meinem Kopf durchgehe. Sam und ich haben uns beide ziemlich von der Lust übermannen lassen und da ich aus dem Bett abgehauen bin, hatten wir den Sex in der unteren Etage.
>Was ist denn mit dir los? < gluckst Sam, weil ich so stocksteif dasitze.
>Ehm … mir ging gerade etwas durch den Kopf. < murmle ich und überlege welches Datum wir heute haben und beginne leise zu zählen. Mein Freund sieht mich irritiert an, da ich nicht weiterrede und erneut die Tage zähle, ehe mich der richtige Schlag trifft.
>Ich weiß zwar meistens ziemlich gut was in dir vorgeht, aber jetzt siehst du aus, als hättest du einen Geist gesehen. Was ist denn? < will er wissen.
Sofort schießt mir etwas in den Kopf, da noch nicht zu viel Zeit vergangen ist.
>Du hast doch mal gesagt, dass du so eine Art „Dealer“ hast… <
>Ja Paul. Ziemlich verpeilter Typ, aber immerhin besorgt er mir sogar C4 und Ammoniumnitrat, wenn es sein muss. Warum fragst du? <
>Kann er mir „die Pille danach“ besorgen? Ich glaube, ich müsste normalerweise zu einem Arzt, um die zu bekommen, aber ohne Krankenversicherung wird das nichts. <
>Was? Wie kommst du jetzt darauf? < fragt er stirnrunzelnd.
>Na ja ... < beginne ich vorsichtig. >Heute Morgen hat niemand von uns beiden an ein Kondom gedacht und ich stehe zwei Wochen vor meinen Tagen, also schreit mein Körper geradezu danach befruchtet zu werden. <
Sein anfangs verwirrter Blick klärt sich nun auf.
>Stimmt, haben wir vergessen. < erwidert er lässig. Zu lässig, wie ich finde.
>Ehm ... und? Kommt er da ran? <
>Soweit ich weiß, bekommst du sie ganz leicht in der Apotheke, aber du brauchst die Pille danach nicht. Du wirst nicht schwanger. <
>Sam ich bin 22 – ein Mann muss mich praktisch nur angucken und ich werde schwanger. <
Daraufhin feixt er, aber ich finde das ganz und gar nicht witzig. Doch er merkt sofort, dass ich bei diesem Thema nicht zu Scherzen auferlegt bin. Drum hebt er beschwichtigend die Hände.
>Sorry Kleines, ich wollte das nicht ins Lächerliche ziehen. Aber ich meinte es ernst. Du brauchst die Pille nicht, weil du nicht schwanger werden kannst. Jedenfalls nicht von mir. <
Ich starre ihn mit offenem Mund an.
>Bist du sicher? Ich meine d... du, du kannst nicht? Also es funktioniert bei dir nicht? Scheiße, wie fragt man sowas? < meine Stimme wird irgendwie immer höher, weil ich vollkommen perplex bin.
Sam‘s Belustigung weicht allmählich, weil er meinen schockierten Gesichtsausdruck sieht. Er seufzt und offenbar findet er es nun doch nicht mehr so komisch.
>Wir sind so frisch zusammen, da dachte ich um ehrlich zu sein nicht, dass das aktuell ein Thema wird. Ich hätte es dir sicher irgendwann gesagt, aber vermutlich nicht so. Was ich allerdings andeutete, als du wieder hier eingezogen bist, war, dass ich dir niemals mehr geben kann als mich. Und in Angora habe ich dir versucht zu erklären, dass ich dir niemals das Leben bieten kann, das du auch nur annähernd verdienst. Ich habe vor knapp 1 ½ Jahren nachgeholfen, denn Leute wie ich pflanzen sich nicht fort und eine Freundin sollten sie eigentlich auch nicht haben. <
Mir scheinen meine Gesichtszüge zu entgleiten, was Sam ganz eindeutig bemerkt. Seufzend stellt er seinen Laptop auf den Couchtisch und stützt seine Ellenbogen auf den Knien ab.
>Du hast „nachgeholfen“? <
>Ja ich habe eine Vasektomie machen lassen. Das war ein schneller Eingriff und das Thema Kinder war für mich durch. <
Plötzlich stehe ich auf, lache los und denke, dass er mich verarscht. Er hat zugegeben ein verdammt gutes Pokerface. Ich streiche mir die Haare aus dem Gesicht und drehe mich zurück zu ihm.
>Der war gut Sam. Das ist so ähnlich wie damals, als du mir sagtest, ich muss mir die Haut an den Fingern wegätzen. Aber jetzt im Ernst, ich brauche diese doofe Pille wirklich, denn ich bin gerade voll im Eisprung, wenn meine Kopfrechnung richtig ist. <
Er sagt einfach nichts. Ich lenke meinen Blick auf seinen angespannten Kiefer. Hektisch trommelt er mit seinem Finger auf seinem anderen Handrücken herum und dadurch wirkt Sam nicht so, als würde er mich auf den Arm nehmen, sondern er erzählt mir verdammt noch mal die Wahrheit.
Ich hole noch einmal tief Luft und keuche dann:
>A… aber wird dabei nicht etwas bei einem Mann durchgeschnitten? Wir haben schon so häufig miteinander geschlafen. Du kommst doch dabei völlig normal – das merke ich doch. Was kapiere ich hier gerade nicht? <
>Was das angeht, gibt es nach diesem Eingriff keinen Unterschied. Ejakulat besteht aus mehr als nur Sperma. Es ist nicht so, als wären es bloß Platzpatronen. <
Dabei zieht er verschmitzt für einen kurzen Moment den Mundwinkel hoch. Dass er immer noch voll und ganz ein Mann ist, weiß er selbst.
Erschlagen lasse ich mich zurück auf das Sofa sinken. Ich kann es nicht unterdrücken und in meiner Stimme schwingt etwas Schwermütiges mit.
>Warum hast du das getan? <
>Aus demselben Grund, weshalb ich damals wollte, dass du von hier fortgingst. Es ist besser so, denn mit mir ist man immer in Gefahr und das wird vermutlich auch niemals aufhören. <
Ich weiß, dass auch Lukaz einmal zu mir sagte, dass viele in dieser Branche bewusst keine Kinder und keine Partner haben. Es ist nicht so, dass ich es nicht verstehen könnte, aber deswegen ist es nicht weniger schockierend für mich.
>Wow. < hauche ich. Mehr fällt mir einfach nicht ein und um ehrlich zu sein, habe ich nicht sonderlich viel Ahnung von dieser Art Eingriff. Während ich überlege, ob es jetzt besser ist die Klappe zu halten oder ich es detaillierter von Sam hören will, schürzt er die Lippen. Umso länger ich ruhig bin, desto unglücklicher wird sein Blick von Sekunde zu Sekunde.
>Das war keine Kurzschlussreaktion von mir. Nur weil ich mit niemandem jemals wieder zusammen sein wollte, hatte ich nicht vor, für immer enthaltsam zu sein. Ich dachte, wenn ich mal eines Morgens neben einer anderen Frau aufwachen sollte und etwas bei der üblichen Verhütung schiefging, muss ich mir zumindest keine Gedanken machen, dass sie von einer Nacht ein Kind bekommen könnte. Eine feste Freundin war sowieso nicht mehr in meinem Sinne und ich wollte keine Schwachstellen in meinem Privatleben zulassen. Keine Familie zu haben, heißt auch, kein Feind zu haben, der sie mir nehmen kann. <
>Ich finde es nur sehr … radikal. Mir war nicht klar, dass du so vehement gegen ein normales Leben steuern würdest. Aber ganz offensichtlich sollte ich lernen, dich genauer beim Wort zu nehmen. Du hast immer mit offenen Karten gespielt. Als du in Angora sagtest, ich soll mir einen netten Kerl suchen, der mich heiratet und Kinder mit mir bekommt, hast du das absolut ernst gemeint und ich dachte die ganze Zeit, du bist einfach nur verrückt. <
>Kleines … < wispert er. >Ich bin der Letzte, der dir einen Vorwurf macht, wenn das für dich jetzt das Ende bedeutet. Vielleicht hätte ich es dir eher sagen sollen. <
>Hör auf! Ich werde deswegen nicht gehen. <
>Aber wenn ich jetzt dein geschocktes Gesicht sehe, dann weiß ich, dass ich dir auf keinen Fall in ein paar Jahren dabei zusehen will, wie du unglücklich daran zugrunde gehst, weil deine Träume platzen. <
Sein Einwand mag berechtigt sein, allerdings frage ich mich grübelnd, ob ich jemals ein Kind unter diesen derzeitigen Bedingungen wollen würde. Ich habe bald einen gefährlichen Job und ich verstehe, worum es Sam geht. Nie im Leben könnte ich es ertragen, mein Kind jemals so daliegen zu sehen, wie Iye, weil sich jemand an mir gerächt hat. Darüber habe ich mir zuvor nie den Kopf zerbrochen, aber ganz offensichtlich ist es genau jetzt an der Zeit, das zu tun. Sam seufzt erneut, da ich wegen meiner Gedankengänge wieder nichts sage. Drum setzt er erneut an:
>Du bist noch so jung und musst so eine Lebensentscheidung nicht fällen wie ich. Kinder zu bekommen ergibt bei dir so viel Sinn. Ich habe gesehen wie du mit Nora umgehst … <
>Willst du mir jetzt allen Ernstes erzählen, ich soll dich verlassen und mir jemand Potenten suchen? < unterbreche ich ihn.
>Es wäre verständlich für mich. <     
>Dann versuche ich dir mal etwas verständlich zu machen. Ich liebe dich und wenn du auch nur eine Sekunde glaubst, dass ich mich wieder von dir entferne, nur weil du diesen Eingriff wolltest, dann hast du dich geschnitten. Ich habe mich entschieden mit dir zusammen zu sein und dabei bleibt es. < zicke ich energisch zurück. Was glaubt er eigentlich wer ich bin?
>Vielleicht bleiben wir sowieso nicht zusammen. < nuschelt er und plötzlich erschreckt er sich eindeutig davor, dass er es laut gesagt hat.
>Wow … < schäume ich und stehe wütend auf.
>Nein, so habe ich das nicht gemeint! <
>Spare es dir! < ich verlasse den Raum und will in das Gästezimmer gehen. Er hätte mir genauso gut einen Schlag verpassen können. Keine Kinder zu wollen ist ja die eine Sache, aber davon auszugehen, dass ich deswegen Schluss machen würde, tut ziemlich weh.
>Hey nein Kleines ernsthaft, ich habe es nicht so gemeint wie es rauskam. < er läuft mir hinterher, als ich gerade den Flur betrete und hält mich am Arm zurück. >Schau mir ins Gesicht und sag mir ganz ernsthaft, dass du dir nicht auch diese Dinge wünschst. <
>Ja, nein also … keine Ahnung, vielleicht schon. < fuchtle ich mit meinen Händen herum. >Darüber habe ich nie genauer nachgedacht. Selbst wenn ich einen festen Freund hatte, haben wir nie über so ein Thema geredet. Und jetzt muss ich sowas nach einem Monat beantworten? <
>Da das Thema gerade aufkam und wir uns deswegen anbrüllen, finde ich schon, dass du dir nach einem Monat Gedanken machen solltest. Verdammt, was ist wenn dir eines Tages etwas fehlt und ich dir nicht mehr genug bin? <
>Keine Ahnung, dann holen wir uns eben einen Hund oder so. < schreie ich wütend und entreiße ihm meinen Arm. Wir starren uns beide wortlos an. Aber plötzlich zucken seine Mundwinkel bei meinem Einwand und irgendwie muss ich selbst dabei grinsen.
>Ein Hund würde klar gehen. < erklärt Sam trocken, als sich unsere strenge Mimik etwas legt. Dennoch stehen wir beide einen Meter auseinander und scheinen irgendwie unsicher zu sein. Das Thema Familienplanung ist vielleicht eher etwas, was ich nach einigen Jahren angesprochen hätte, aber doch nicht jetzt.
Und dennoch …, wenn ich mit Sam ein gemeinsames Leben führen will, dann wird es immer nur uns beide geben.
>Vielleicht sollten wir nicht über ein Ende sprechen, wenn es gerade erst angefangen hat. < hauche ich. >Es ist unfair von dir, zu denken, dass ich dich deswegen verlassen würde. <
Inzwischen sage ich es deutlich ruhiger, aber dennoch bin ich ziemlich verletzt über seinen Einwand.
>Dieser Spruch gerade war das Allerletzte von mir und es war schneller ausgesprochen, als ich es zurückhalten konnte. Ich hoffe du weißt, dass das nicht meine wahren Gedanken sind. <
>Du denkst, dass ich irgendwann vielleicht deshalb unglücklich werden könnte, aber was ist, wenn du es stattdessen eines Tages wirst? <
Verwundert sieht er mich an.
>Kleines, hast du eine Ahnung, wie unglücklich ich bereits war? Seitdem du in meinem Leben bist, habe ich das Gefühl, wieder atmen zu können. Ich habe nichts mehr vom Leben erwartet und dachte, wenn mich irgendwann ein Auftrag umbringt, dann würde es nicht einmal jemandem auffallen. Was würde ich mehr wollen als das, was wir jetzt haben? Ich muss aber nun mal damit rechnen, dass du dich nicht nur damit zufriedengeben wirst, dass es immer nur dich und mich geben wird. Und da du das nun auf so unkonventionelle Weise erfahren musstest, hast du mein absolutes Verständnis, wenn … <
>Hör auf! Ich will das nicht hören. Du wolltest, dass wir beide es miteinander versuchen und keiner hat gesagt, dass das einfach wird. Ich hatte keine Ahnung auf was ich mich eingelassen habe und es gibt offenbar viele Opfer, die man bringen muss. Aber du wirst immer derjenige sein, der mich gerettet hat und ich liebe dich. Ich weiß genauso wenig wie du, wohin sich meine Gedanken mit den Jahren entwickeln werden, aber wenn ich die Wahl habe zwischen dir – und nur dir, oder ohne dich zu sein, dann entscheide ich mich trotzdem noch für dich. <
Ich bin etwas außer Atem, als ich fertig bin. Sam´s Mund öffnet sich leicht, so als wollte er etwas sagen, aber er schließt die Lippen wieder und schluckt. Schließlich bildet sich ein erleichtertes Lächeln auf seinem Gesicht.
>Manchmal bist du einfach viel zu gut und verständnisvoll. Bis heute kann ich nicht begreifen, weshalb du mir so manches Mal nicht sofort den Kopf abreißt. <
>Oh an die Ohrfeige in Angora kann ich mich noch gut erinnern. Das tat irgendwie gut. < sage ich trocken.
>Nur zu. Die hätte ich jetzt auch verdient. < er breitet seine Arme links und rechts aus, so als wäre das eine Aufforderung. Ich rolle mit den Augen und gehe näher heran. Anstatt ihm aber eine überzubraten, küsse ich ihn flüchtig.
>Du bist ein Blödmann. < motze ich trotzdem noch.
>Damit kann ich leben. <
              Dachte ich nicht noch vor ein paar Tagen, dass ich es schön finde, dass es in meinem Leben aktuell etwas ruhiger wird? Von Normalität oder Ruhe bin ich an manchen Tagen meilenweit entfernt. Normal scheint bei Sam und mir praktisch nichts zu sein. Das aufgekommene Thema ist keines, das man einfach abtun kann, aber es ist dennoch eines, das einfach zu uninteressant für uns ist, da wir uns doch eigentlich erst seit Kurzem so nahestehen. Es ist allerdings gut, dass ich meine Möglichkeiten mit ihm nun kenne und ich allein entscheide, ob ich damit klarkomme kinderlos zu sein oder nicht. Bei meinem künftigen Job wäre ich vielleicht sogar eines Tages aus denselben Gründen wie Sam davon abgekommen. Vielleicht hat er mir vorab aber auch eine wichtige Entscheidung abgenommen …

              Als es spät in der Nacht ist, macht sich Sam wieder bereit für seinen Job. Er ist ausgestattet mit Waffe, Schalldämpfer, Gift, Clicktracker, Bleiche und anderen Chemikalien – eben allem, was er immer dabei hat.
Zum Abschied küsst er mich. Allerdings auf eine andere Weise als sonst. Darin steckt eine unausgesprochene Dankbarkeit und Sehnsucht, die ich kaum beschreiben kann und ich will ihn schon beinahe fragen, ob alles in Ordnung ist.
Aber dann lächelt er, sobald er sich einige Zentimeter von mir löst und sieht mich an – länger als es nötig wäre und streicht mit seinem Daumen über meine Unterlippe. Ich schmiege meine Wange in seine warme Hand und will eigentlich nicht, dass er schon wieder geht.
>Ich schwöre dir, dass ich dich auf Händen tragen werde, solange du bei mir bleiben willst. <
>Tust du doch jetzt schon. < hauche ich. Er platziert einen weiteren Kuss, dieses Mal auf meine Stirn und zieht mich ein letztes Mal in seine Arme.
Dann verlässt er schließlich das Haus und wirft mir dabei noch einen letzten sehnsüchtigen Blick zu.
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