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Fingerabdrücke bleiben

von Lynnix
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Krimi / P16 / Gen
23.02.2018
25.11.2021
129
578.228
7
Alle Kapitel
102 Reviews
Dieses Kapitel
2 Reviews
 
15.05.2020 5.325
 
Hallo Ihr Lieben,

das heutige Kapitel ist wieder nichts für schwache Nerven. Habt bitte Verständnis dafür, dass ich Euch nun öfter ein paar Cuts präsentieren muss, aber ich benötige einfach die vielen Seiten.
Ich hoffe, dass das Kapitel für alle lesbar ist und besonders, dass die mobile Version auf Euren Handys die Links- und Rechtsbündigkeit so zeigen kann, wie ich mir das vorstelle.
Jetzt wünsche ich Euch jedenfalls viel Spaß und einen schönen Start in das kommende Wochenende.
LG Lynn
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Kapitel 35 – Im Datennetz

*TRIGGERWARNUNG!*
Der Inhalt des folgenden Kapitels kann bei vereinzelten Personen eventuell emotional aufwühlend wirken.


Am heutigen Donnerstag begleitet mich Nazar. Zum Glück hat Sam Winterreifen auf den Mustang gezogen, denn der Wetterdienst hatte recht. Eine dichte Schneedecke ist hinabgefallen und es gibt für mich keinen schöneren Anblick, als hinaus in den Wald zu schauen und dieses Panorama zu sehen. Auch wenn ich kein Wintermensch bin, genieße ich es, mit meinem Kaffee in der Hand nach draußen zu stieren, ehe Nazar eintrifft, vor der Tür hupt und mir damit signalisiert, dass er mich abholt. Ich habe ihn schon längst gesehen und auch Sam´s Alarm gehört, also gieße ich mir den letzten Schluck des Kaffees in die Kehle und schnappe mir für unterwegs meinen Kaloriendrink. Zum Glück ist die Packung fast leer und ich hoffe, dass Sam keine Weitere mehr besorgt.
Im Flur wickle ich mir einen Schal um den Hals, packe mich in meine Jacke ein und trage die Lederhandschuhe, die mir Sam vor einigen Tagen geschenkt hat.
Sobald ich das Haus verlasse, knirscht der Schnee unter meinen Stiefeln und ich bin noch nicht einmal bei dem Auto angekommen, als ich schon zu zittern beginne. Gleich nachdem der Motor läuft, muss ich die Scheiben von Schnee und Frost befreien. Sam hat meine Misere schon gesehen und offenbar Mitleid mit mir.
Er hilft mir mit den Seitenfenstern, ehe ich noch festfriere und Nazar scheint das Ganze eher amüsant zu finden. Klar, bei ihm läuft schon seit einer Weile die Heizung im Wagen.
>So ein Mist, mir fallen gleich die Finger ab. < fluche ich, worauf Sam auch nur Spott für mich übrig hat.
>Wozu habe ich eigentlich eine Garage? < feixt er.
>Ich wollte dir Sophia gestern so schnell wie möglich herbringen. Da habe ich nicht daran gedacht, dass eine Schneewarnung herausgegeben wurde. Und jetzt mal ehrlich, das sagen die doch schon seit einer Woche und es kam nicht eine Schneeflocke runter. < erwidere ich und ärgere mich über mich selbst.
Mit etwas Hilfe ist der Wagen schlussendlich frei von Schnee und Frost und ich kann mich endlich in die vorgeheizte Fahrerkabine setzen.
>Fahr bitte vorsichtig. < wendet Sam liebevoll ein, als die Tür noch offen steht. Das ist definitiv auch eine Art seinem Partner zu sagen, dass man ihn liebt.
>Klar mach ich. Und weißt du was? Ich hab es im Gefühl, dass heute ein guter Tag wird. <
>Tja es heißt doch, alle guten Dinge sind drei. < feixt er und küsst mich, damit wir endlich verschwinden können.

            Heute brauchen wir deutlich länger, um zu unserem Zielort zu kommen. Es liegt nicht an den Straßen, denn die sind tadellos geräumt und gestreut, aber manche Autofahrer machen mich wahnsinnig und fahren so langsam, dass ich sie beinahe um die Ecke tragen möchte.
Ich bin für gewöhnlich niemand, der am Steuer flucht, aber heute verliere ich meine gute Erziehung, als ein Jeepfahrer kurz vor dem leeren Kreisverkehr so sehr abbremst und weiter rutscht, dass er damit beinahe eine Reihe an Auffahrunfällen auslöst. Dann tuckert er in Schrittgeschwindigkeit im Kreis herum und ich hoffe inständig, dass er eine andere Ausfahrt nimmt, damit ich ihn loswerde.
Nach fünfundvierzig Minuten kommen wir endlich an und auch Nazar sieht total genervt aus. Als er seine Autotür zuknallt, nuschelt er sauer:
>Nelepyy! Eto nasha vesna v Rossiya. (Lächerlich! In Russland ist das unser Frühling.) < und stampft vor mir durch den Schnee. Mein Russisch ist noch zu schlecht und ich verstehe kein Wort. Er hält mir netterweise die Tür auf und ich gehe zu meinem Stammtisch, um mich dort mit meinen Sachen breitzumachen.
Ein paar Tische diagonal von mir sitzen bereits meine anderen Bodyguards Louis und Max.
Ich habe heute dieselbe Kellnerin, wie an den letzten beiden Tagen und muss schon nichts mehr sagen, denn sie bringt mir das, was ich seit Dienstag bestelle.
Lachend bedanke ich mich bei ihr und mache mich wie immer gleich an die Arbeit.
Ich hake gedanklich meine Checkliste im Kopf ab und mache jeden Vorgang der Reihe nach, damit mir nichts entgehen kann. Hier geht es einfach um zu viel.
            Nach einer Weile scanne ich die Umgebung um mich herum ab und muss beinahe losprusten, als ich zu dem Tisch von Max und Louis schaue. Bekommen sie im Penthouse nichts mehr zu essen? Es ist noch am Morgen als sie sich die dicken Sahnetorten und XXL-Cookies einverleiben. Mein Blick wandert hinüber zu Nazar. Auch er blickt kurz zu mir, aber wirkt dann wieder desinteressiert, wie ein ganz gewöhnlicher Kunde. Langsam frage ich mich, ob es auffällt, dass ich jeden Tag zusammen mit drei anderen Personen so lange in dem Café sitze und wir relativ gleichzeitig verschwinden. Anders können wir es aber nicht machen – das lässt Sam nicht zu. Es wurmt ihn, dass er nicht einen Tisch neben mir sitzen kann, aber bei ihm sieht es nun einmal zu sehr nach einem Cyberkriminellen aus, wenn er alles aufgebaut hat. Zu Hause hat er alle Gerätschaften zur Verfügung und kann besser und schneller darauf reagieren.
Seufzend lasse ich mein Kinn in meine Handfläche sinken und starre auf den Bildschirm. Ich zupfe an meinem Blaubeermuffin herum und esse ihn gelangweilt Krümel für Krümel.
Das Handy von Sam ziehe ich aus meiner Jackentasche und sehe darauf. Keine eingegangenen Nachrichten.
Allmählich habe ich keine Lust mehr jeden Tag Stunden über Stunden hier zu sein.
Sam und ich haben kaum Zeit füreinander und ich wäre so wahnsinnig gern mehr bei ihm, statt vor meinem Laptop.
Plötzlich öffnet sich ein Fenster und ich bin nur froh, dass ich gerade dort hingeschaut habe, denn es ist nach drei Sekunden wieder verschwunden.
Das Hackerwarnprogramm schlägt an und mein Herz sackt mir in die Hose. Ich habe nur einen winzigen Moment Zeit, um abzuchecken, ob mich der richtige Mensch hackt – nicht so wie letztens der 13-jährige. Ich tippe wild drauflos, um meine gewohnten Tastenkombinationen durchzuführen und habe plötzlich die Sicht auf einen Mann. Die Webcam des anderen Laptops hat für einen Sekundenbruchteil ein unauffälliges Bild geschossen und ich blicke in diese hasserfüllten und dunklen Augen von Madjid Haaleh und zu einem jüngeren Mann neben ihm. Ich keuche auf, als ich ihn sofort erkenne. Vor einigen Monaten stand er vor mir. Bewaffnet, gefährlich und zum Töten bereit.
„Lass dich jetzt nicht lähmen und erledige deinen verdammten Job!“ ruft mich meine innere Stimme wieder zur Ordnung.
Ich beiße mir auf meine Wangeninnenseite und werde dadurch immerhin wieder zurück ins Hier und Jetzt geholt. Eilig lösche ich alle Indizien seiner Person, die er jeden Moment sehen könnte, sobald er vollständig in meinem System steckt.
Keine Sekunden zu spät, sehe ich, dass das Lämpchen meiner Webcam angeht und schnell schaue ich wieder weg, so als hätte ich es nicht bemerkt. Nun bin ich vollkommen nackt und angreifbar. Er hat sich hineingehackt, beobachtet mich und kennt meinen Standort. Ich darf keine Zeit verlieren, denn ab jetzt ist es wirklich gefährlich, was ich tue. Seinen Standort konnte ich soeben nicht herausbekommen, weil ich zu schnell aus seinem System herausmusste.
Ich zücke das Telefon und schreibe Sam:
>Komm online. Ich habe ihn! <
Plötzlich geht alles ganz schnell. Ich bin schon die ganze Zeit in dem Chatportal eingeloggt und sehe, dass kurz nach meiner SMS ein neuer Name in der Leiste aufleuchtet.
Ich warte bis ich von MoonHunter angeschrieben werde, damit es nicht zu auffällig wirkt. Bei diesem Nicknamen muss ich schmunzeln, denn den habe ich Sam verpasst.

M: „Hey Kimberlit.
Ich habe gehofft, dass du hier bist.
Wie geht’s dir?“


K: „Gut. Ich habe nur schon so
lange auf dich gewartet.
Du hast mir gefehlt.“


M: „Du mir auch.
Lass mich dich sehen.“


Ich klicke auf einen Button, um einen Camchat starten zu können. Sam hingegen lehnt seinen Webcamzugang ab, wodurch nur ich gesehen werden kann und er mich auf seinem Bildschirm hat. Madjid sieht jetzt das, was ich sehe. Ein offenes Chatfenster und mich, die verträumt in die Webcam zu ihrem Chatpartner grinst.
Er muss sich nun nicht mehr beeilen und in Sorge sein, dass mir das leuchtende Lämpchen auffällt. Er kann mich nun nach Herzenslust ausspionieren. Jedenfalls soweit ich es zulasse und steuern kann. Es ist ein kleines, kaum wahrnehmbares Symbol rechts unten in meiner Taskleiste, das mir sagt, dass Madjid immer noch in meinem System ist. Sam meint, es ist unwahrscheinlich, dass er sich so genau damit auskennt und damit etwas anfangen könnte. Außerdem starren seine hasserfüllten Augen nun nur mich an und bekommt das auf dem Silbertablett serviert, was er haben will. Solange dieses Symbol angezeigt ist, müssen Sam und ich in die Vollen gehen. Also tippe ich schnell:

K: „Wir schreiben doch schon seit Wochen miteinander
und immer schließt du dein Cam-Fenster.
Wann kann ich dich endlich sehen?“


M: „Ich bin eigentlich kein Fan von diesen Webcams.
Aber dich sehe ich gern an. Du bist wirklich hübsch.“


Daraufhin muss ich schmunzeln, denn ich weiß, dass nichts in seiner Aussage gelogen ist.

K: „Danke.
Dann schick mir doch ein Bild von dir.
Meine E-Mail-Adresse hast du.“


M: „Nein, ich würde lieber deine Reaktion sehen.
Ich hätte nichts gegen ein Treffen mit dir.
Was hältst du davon, wenn wir es endlich wagen?
Dann weißt du wie ich aussehe.
Ich würde mich freuen.“


K: „Das heißt, ich gehe auf ein blind Date.
Aber du nicht.“


M: „Genau!“

Ich schaue auf das Symbol rechts unten. Madjid ist immer noch in meinem System und liest mit. Sehr gut. Jetzt oder nie. Die nächste Entscheidung überlasse ich zu einhundert Prozent Sam, denn ich weiß nicht, wie viel Vorbereitung er braucht. Wir müssen alle einweihen und jedes Detail durchgehen.

K: „Okay.
Ich will dich endlich kennenlernen.
Wann hast du Zeit?“


M: „Am Wochenende. Samstag 14 Uhr in der Mall of America?
Dort gibt es ein kleines französisches Café.
Ich lade dich liebend gern ein.
Und falls es gut läuft … vielleicht ein Abendessen?“


K: „Gern. Aber wie soll ich dich in einer Mall finden?
Ich habe doch keine Ahnung wie du aussiehst.“


M: „Nimm die Rolltreppe zur dritten Etage.
Dort ist ein Springbrunnen und da warte ich auf dich.
Du kannst mich nicht verfehlen.
Ich bin der, mit der roten Rose.“


Grinsend lese ich diesen Text und überlege die ganze Zeit, wie cool es gewesen wäre, wenn ich Sam auf so einem Weg kennengelernt hätte. Ganz sicher hätte ich noch ein Abendessen mit ihm gehabt und wäre dahingeschmolzen, wenn er an einem Springbrunnen mit einer Rose auf mich gewartet hätte. Aber im Moment ist keine Zeit für ein Traumdate in meiner Vorstellung, sondern wir müssen Madjid zu dem Ort locken, den Sam nannte. So eben habe ich eine leise Nachricht auf mein Handy bekommen und hebe es unauffällig an, ohne dass es in den Sichtbereich des Laptops kommt. Sam hat mir geschrieben, was ich als Nächstes antworten soll. Und bevor Madjid weg ist, weil er fürs Erste genug Informationen hat, tippe ich schnell ein:

K: „Dann bin ich die im roten Mantel.
Du kannst mich auch nicht verfehlen.“


M: „Ich freue mich auf dich.
Leider muss ich jetzt gehen und weiterarbeiten.
Mein Boss bringt mich sonst um.
Ich habe mich im 10-Minuten-Takt eingeloggt
und immer gehofft, dass du hier sein würdest. “


K: „Das habe ich auch.
Dann haben wir uns wohl immer verpasst.“


M: „Vielleicht bin ich am Abend noch einmal online.
Am Wochenende verpassen wir uns jedenfalls nicht.“


K: „Auf keinen Fall =).
Machs gut.“

M: „Tschau Kleine.
Samstag 14:00 Uhr!
Ich kann es kaum erwarten.“

*MoonHunter hat den Chat verlassen.*


Meine Camaufnahme geht zusammen mit dem Chatfenster zu. Am liebsten würde ich laut aufjapsen, aber noch beobachtet mich jemand. Das war nun die absolute Steilvorlage und es besteht im Grunde kein Zweifel, dass Madjid nicht ebenfalls zu unserem Date kommt. Leichter könnte er seine Beute nicht erwischen. Das Symbol rechts unten ist immer noch da, also mache ich etwas, was viele Frauen eben so machen.
Ich shoppe online – zumindest tue ich so.
Zum einen wird Madjid es stinklangweilig finden und zum zweiten wirkt es nicht auffällig. Wenn ich sofort nach dem Chat aufspringen würde und er von jetzt auf gleich keinen Zugriff mehr auf meine Systeme hat, dann würde er den Braten vielleicht riechen. Außerdem würde er es aktuell sehen, wenn ich Einstellungen vornehme.
Ich schaue über den Laptop hinweg und versuche mit meinem Blick nicht bei dem leuchtenden Lämpchen hängenzubleiben. Nun bekommt Madjid aber sicher Muffensausen, denn er will nicht auffliegen und ich muss jetzt dringend von hier verschwinden, da er meinen Aufenthaltsort kennt und ich nicht weiß, wie nah er bereits an mir dran ist. Endlich beendet er seine Spionage und mein Hackerwarnsystem geht aus. Nun drehe ich den Spieß um. Ich aktiviere alle meine Sicherheitssysteme, verschwinde aus dem Internet und rutsche hinein ins Darknet. Sollte Madjid nun doch noch einmal versuchen irgendwelche Daten aus meinem Laptop ziehen zu wollen, wird es nicht funktionieren. Jetzt ist er blind, beziehungsweise wird er denken, mein Laptop sei aus. Ich habe eine Hintertür eingebaut und in dem Moment als er auf mein System zugegriffen hat, fraß sich mein Hackerprogramm durch seine IP-Adresse und jetzt kann ich endlich das sehen, was ich vorhin unter seiner Beobachtung nicht sehen konnte. Seine Daten, sein Gesicht, seine tiefen und verschlüsselten Geheimnisse. Wenn ich wollte, dann könnte ich jetzt theoretisch seinen gesamten Laptop cracken und lahmlegen. Nun bin ich diejenige, die weiß, was er tut. So wie Sam es sagte, dass alle guten Dinge drei seien, hat es endlich geklappt.
Als ich fürs Erste sicher bin, dass ich zu einem späteren Zeitpunkt jederzeit Madjids Rechner angreifen kann, fahre ich den Laptop runter und ziehe wie immer den Akku heraus – sicher ist sicher.
Den ganzen Kram packe ich zusammen und lege das Geld für meine Bestellung auf den Tisch, ohne überhaupt die Rechnung gesehen zu haben. So oder so ist das ein saftiges Trinkgeld.
Nazar wird auf mich aufmerksam und da ich viel zu früh zusammenpacke, runzeln auch Louis und Max die Stirn. Als sie unauffällig zu mir sehen, nicke ich leicht und sie wissen, dass wir nun im Angriffsmodus sind. Ich verschwinde mit langsamen Schritten und nur wenige Meter hinter mir gehen die Anderen. Sobald die Tür des Cafés zugeht und die kalte Luft in meinen Lungen brennt, sage ich keuchend in beiden Sprachen:
>Eto byl on. Er war es. <
Alle nicken und sind nun in Alarmbereitschaft, denn Nazar, Louis und Max sind jetzt mein Schutz. Niemand kann sagen wie weit Madjid von uns entfernt ist, oder wie viele Komplizen er hat. Das werde ich erst herausfinden müssen. Ich will in Richtung des Mustangs gehen, aber Nazar hält mich am Arm fest.
>Net. (Nein.) < sagt er und zieht mich zum Mietwagen. Ohne mich zu widersetzen, folge ich ihm, aber er lässt mich nicht mal vorne sitzen, sondern platziert mich auf der Rücksitzbank. Er nickt zu Max, der zusammen mit Louis in dem Hummer einsteigen will und macht ihnen deutlich, dass sie uns folgen sollen.
Nazar rast mit mir los, um mich schleunigst von hier wegzubringen. Aber er fährt in die vollkommen falsche Richtung. Stirnrunzelnd sehe ich nach hinten, wo der Hummer fährt. Mein Fahrer klemmt sein Handy in die Halterung hinein und wählt eine Nummer. Ich kann erkennen, wie er auf die Freisprechanlage zugreift und die Lautstärke hochregelt.
Es klingelt genau einmal und schon höre ich Sam´s ruhige Stimme.
>YA v puti. Ona v tvoyey mashine? (Ich bin auf dem Weg. Ist sie in deinem Auto?) <
>Da. Tvoya printsessa vyglyadit nervnoy. (Ja. Deine Prinzessin sieht nervös aus.) <
>Otvezite yeye v pentkhaus. Ya idu tuda. (Bring sie ins Penthouse. Ich komme auch dorthin.) <
>Vse v poryadke boss. (In Ordnung Boss). <
>Kleines hörst du mich? < fragt Sam nun an mich gewandt.
>Hören tu ich dich, aber ich habe kein Wort von dem verstanden, das du vorher gesagt hast. <
Ich höre ihn lachen.
>Nazar bringt dich jetzt zu den Anderen. Wir treffen uns dort. Du warst super und bist wirklich cool geblieben, obwohl du wusstest, dass Madjid dich sehen kann. <
>Danke. < nuschle ich nur, denn etwas anderes fällt mir dazu nicht ein.
>Entspann dich. Wir sehen uns gleich. <
Und schon legt er auf. Seufzend rutsche ich weiter in meinen Sitz hinein.
Jetzt gibt es kein Zurück mehr, denn nun habe ich den Taliban angefixt. Selbst wenn ich jetzt den Schwanz einziehe, wird er mich trotzdem weiter jagen. Das müssen wir jetzt durchziehen, auch wenn mir in diesem Moment unfassbar übel wird. In meinem Kopf suche ich die passenden Worte zusammen, um Nazar für den Ernstfall irgendwie begreiflich zu machen, dass er rechts ranfahren muss, damit ich mich übergeben kann.
Seufzend kralle ich meine Hände in die Haare und sehe aus dem Fenster.
>Vse budet khorosho printsessa. (Alles wird gut Prinzessin.) < versichert mir mein Fahrer mit mehr Gefühl, als man es ihm bei seinem düsteren Aussehen zutrauen würde.

            Dreißig Minuten später fährt er den Wagen in das Parkhaus. Sam´s Pick-up steht bereits dort und ich frage mich wie viele Blitzer ihn getroffen haben müssen, damit er vor uns hier sein konnte.
Mein Freund steht mit verschränkten Armen neben dem Fahrstuhl und wartet auf uns. Bei seinem Anblick ist mir sofort wohler zumute. Nazar hat noch nicht einmal den Motor ausgestellt, da ziehe ich schon meine Kapuze über den Kopf, klemme mir all mein Zeug unter den Arm und steige aus.
Keuchend laufe ich in seine Richtung. Ich renne beinahe und es fällt mir kaum auf.
>Hey Kleines. Du siehst aus als hättest du einen Geist gesehen. < wendet er ein.
>Wenn er ein Geist wäre, würde ich mich besser fühlen. <
>Atme durch, es wird alles gut. Wir haben ihn bald. <
Er nimmt mein Gesicht in seine Hände und ich nicke zittrig. Wir reden hier nicht einfach von irgendeinem Kriminellen, sondern wir reden hier von einem der Mörder, der meine Familie umgebracht hat. Sam greift zum Boden und hat offenbar seinen Laptop in der Tasche dabei. Mit der anderen Hand nimmt er mir einen Teil meiner Sachen ab. Auch Nazar, Louis und Max kommen dazu und wir gehen in den Fahrstuhl hinein. Mein Herz hämmert wie verrückt in meiner Brust.
>Bist du ganz sicher, dass er es war? < will Louis wissen.
>Absolut. < erwidere ich monoton.
Die Fahrt nach oben kommt mir wie eine ganze Ewigkeit vor und ich habe das Gefühl, dass jeder seinen Blick auf mich gerichtet hat. Ich hingegen starre auf meine Füße.
Der Fahrstuhl verkündet die 17. Etage und öffnet die Türen. Louis schließt auf und dort stehen sie alle. Meine Hälfte des Teams und Sam´s Hälfte.
>Dimitrij und Lukaz kommen später. < verkündet Sam, baut meinen Laptop zusammen und fährt ihn hoch. Ruby kommt auf mich zu, sieht mich mitleidig an und fragt, ob es mir gut geht.
Ich nicke lediglich und versuche mir ein Lächeln abzugewinnen.
Sam verbindet meinen Laptop mit dem HDMI-Kabel des riesigen Plasma-TVs und alles, was auf dem Bildschirm des Rechners zu sehen ist, ist nun in Bild und Ton auf dem großen Fernseher für alle sichtbar.
Er tippt eilig darauf herum.
>Brauchst du das WLAN-Passwort? < fragt Ivan.
>Nein auf keinen Fall. Ich habe einen mobilen Hotspot dabei. <
Als Sam alles eingestellt hat, ruft er mich zu sich heran. Er will, dass ich die „Hintertür“ öffne, um nun auch auf Madjids Geräte zugreifen zu können. Ich schlucke den Kloß in meiner Kehle hinunter und mache stumpf das, was ich bei Rob gelernt habe. Im Gegensatz zu meinem Laptop, wird bei Madjid keine Webcamlampe leuchten, die mich verraten könnte und wir werden viel unauffälliger sein. Er hingegen war ein totaler Amateur und machte bereits Fehler.
Von jetzt auf gleich ändert sich die Ansicht meines Laptops und wir alle haben den direkten Blick in sein Zimmer hinein. Dort hängen Wandteppiche im Hintergrund und die Einrichtung sieht mit den Lampen und den Schränken orientalisch aus.
Mir ist kotzübel, als ich einen Oberkörper und ein Paar Beine wütend durch das Zimmer laufen sehe, weil der Laptop nicht voll aufgeklappt ist.
>Kann er uns hören? < fragt Ruby sehr leise.
>Nein. Aber wir ihn. < japse ich. Der Mann, der derzeit durch das Bild läuft, könnte sonst wer sein, da sein Gesicht nicht zu sehen ist. Dennoch sagt mein Bauchgefühl, dass es Madjid ist.
>Ich fasse es nicht, dass es geklappt hat. Das war super. < jubelt Max zu mir und legt seine Hände hinter mir auf meine Schultern. Aus meinem Mund kommt kein Ton heraus. Ich wollte ihn finden und ich wollte, dass es schnell geht, aber jetzt da es funktioniert hat, bin ich irgendwie mit der Situation überfordert.
Wie ferngesteuert stehe ich noch in meinen Schuhen und meiner Jacke mitten im Raum hinter dem Kingsizesofa, stütze meine Hände auf der Lehne ab und starre auf den Plasma-TV. Die meisten Anderen nehmen Platz, so als säßen sie in einem Kino und würden jeden Augenblick einen guten Film sehen.
Sam erklärt seinen Männern auf Russisch wie der aktuelle Stand ist und Ruby taucht plötzlich neben mir auf, um mir wortlos einen heißen Tee in die Hände zu drücken, so als würde mich das jetzt beruhigen. Ich werfe ihr trotzdem einen dankenden Blick zu und schaue dann wieder zum Fernseher. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass sie mich ansieht und womöglich versucht, meine Gefühlswelt zu verstehen. Der Kerl in meinem Laptop wirft genervt ein Telefon auf seinen Schreibtisch und verlässt dann das Zimmer.
            Zwanzig Minuten lang passiert nichts. Wir hören keinen Ton und niemand geht durch den Raum. Sam hat derweil Madjids Standort lokalisiert und plant ihn in der Nacht anzugreifen, damit ich gar nicht erst den Lockvogel spielen muss, aber er will zuvor noch herausfinden, wie viele Personen ihn schützen. Bisher weiß ich, dass er von einem jüngeren Kerl umgeben war. Nach derzeitigem Stand sind die Männer in Towner, North Dakota und somit 9 Autostunden von uns entfernt.
Aber dann plötzlich hören wir eine Tür knallen, als kaum noch jemand zu dem Fernseher hingesehen hat. Nach dem Türknallen kommt jemand wutentbrannt hineingerannt und schimpft offenbar auf Arabisch. Hinter diesem Jemand läuft irgendwer hinterher und sein unterwürfiger Ton deutet darauf hin, dass es ein Handlanger ist. Ich erkenne die Klamotten wieder und es ist eindeutig der junge Kerl, den ich schon im Café auf dem Bildschirm sah.
Der wütende Mann läuft zum Laptop, klappt den Bildschirm hoch und setzt sich hart auf seinen Stuhl.
>Oh Mann. < keuche ich, worauf alle sofort über die Sofalehne zu mir sehen. Diese Worte ließen sich nicht zurückhalten, denn ich stehe nur zweieinhalb Meter vor einer Großaufnahme des Kerls, der mir vor vier Monaten mit denselben blutrünstigen Augen ins Gesicht starrte, wie jetzt. Es fühlt sich an, als würde mir das Blut gefrieren.
Sam kommt links neben mich und verschränkt seine Finger mit meinen.
>Du musst dir das hier auf keinen Fall ansehen. Das übernehmen wir. < flüstert er.
>Nein schon gut. < hauche ich. Außerdem brauchen sie mich noch.
Wie im Wahn hämmert Madjid etwas in seinen Laptop ein und da ich seine Geräte nicht nur gehackt, sondern gecrackt habe, mache ich mich an meinen Einstellungen zu schaffen und kann mit wenigen Klicks später sehen, was er auf seinem Laptop tut.
Innerhalb von nur fünfzehn Minuten wissen wir, dass er seit Detectiv Archers Tod drei neue und noch sehr junge Leute angeheuert hat, die für ihn arbeiten. Er wird unterstützt von Arif Al Asmari – er ist der Einzige von ihnen, der etwas Arabisch spricht und ein wenig Verständnis vom Hacking hat, weshalb Madjid nur mit seiner Hilfe an meinen ungeschützten Laptop herankam und er somit in meine Falle tappte. Das ist aber auch schon nahezu alles, was er ihm bisher gebracht hat. Und dann sind da noch die anderen beiden Handlanger Benjamin Fox und Logan Khalet.
Alle anderen Clanmitglieder, denen Madjid vertraute, sind nicht mehr da. Offiziell sind sie verschwunden, aber ihm ist klar, dass sie tot sein müssen und er denkt außerdem, dass ich sie alle umgebracht haben muss. Bisher war es relativ ruhig und wir haben eine gute Ansammlung von Informationen zusammenbekommen. Madjid rief die restlichen Männer vor knapp zehn Minuten zu sich, die nun auf dem Weg zu ihm sind und uns ist klar, dass wir jeden Moment alles erfahren werden, das wir brauchen.
Mein Freund hat auf jeden Fall vor, den Taliban und die anderen Männer heute Nacht zu finden. Er ist der Meinung, dass er zusammen mit Lukaz und den angeheuerten Russen die Lage ein für alle Mal entschärfen kann, wenn es nur drei unerfahrene Lakaien gibt, die Madjid schützen.
Ich bin total dagegen, aber Sam ist nicht davon abzubringen, denn sein Plan bedeutet einen außerordentlichen Schutz für mich.
Im Moment kann ich Madjids Aktivitäten an seinem Rechner genau verfolgen. Soeben schaut er nach, wo genau diese Mall of America ist. Er sucht sich eine Route heraus und er will mich auf jeden Fall dort vor Ort erwischen.
Jemand Neues kommt plötzlich dazu und stellt sich neben ihn. Dieser Jemand sieht noch so schmächtig und jung aus, dass ich mich frage, warum er für so einen Mann wie diesen Taliban arbeitet.
>Entschuldige, es hat länger gedauert. Was machst du denn da? < fragt der junge Kerl, von dem ich glaube, dass er Benjamin Fox ist. Zeitgleich lasse ich sein Gesicht durch die Datenbank fließen und werde gleich sehr genau wissen, wer vor uns steht.
>Na was wohl? Ich hole mir das Miststück, nach dem ich schon seit zwei Wochen suche. Sie ist noch dümmer als sie aussieht, aber leider beißt sie einfach nicht ins Gras. Ich muss das selbst in die Hand nehmen. < zischt er verächtlich zu seinem Verbündeten im Hintergrund. >Sie hat mir praktisch alles gesagt, was ich wissen wollte. <
>Was denn? <  fragt sein kleines Anhängsel.
>Arif und ich konnten sie ausspionieren. Das liebestolle Mädchen hat am Samstag ein Date mit irgendeinem Typen in diesem Einkaufscenter. Am liebsten würde ich sie in diesen verdammten Springbrunnen ertränken, an dem sie sich treffen will. Wir fangen sie allerdings ein und nehmen sie mit. Keiner außer mir rührt sie an, damit das klar ist. <
Ich schlucke mehrfach meine aufsteigende Galle hinunter und spüre die unheilvollen Blicke von elf Personen auf mir. Sam steht immer noch zu meiner Linken und versichert mir:
>Das wird nicht passieren. Wir warten noch einen Moment auf genauere Informationen und dann mache ich mich mit meinen Männern auf den Weg, um ihn zu holen. <
Ich spanne meine Kiefer aufeinander, denn schließlich wollte ich diejenige sein, die Madjid zur Strecke bringt. Obwohl mir von seinem Anblick übel wird, weiß ich, dass ich nicht will, dass Sam diesen Mann kalt macht.
Schon seit einer Weile sage ich wenig oder gar nichts mehr. Ich habe Angst, dass ein Schrei herauskommen würde, sobald ich den Mund aufmache. Stattdessen stehe ich einfach nur mit verschränkten Armen da und nicke ab und zu, wenn jemand etwas zu mir sagt.
Meistens höre ich die Gespräche der Anderen nur ganz dumpf in meinem Ohr, aber auch darauf reagiere ich nicht. Sam checkt bereits seine Waffen, genauso wie die anderen seiner Männer. Ich soll bei den Huntern bleiben, die nun nicht allzu erfreut sind, nichts mehr zu tun zu haben. Auch der Letzte von Madjids Handlangern taucht in Bild und Ton vor der Laptop auf und es muss dieser Logan Khalet sein. Nun sind sie alle vollzählig und Madjid wirkt fuchsteufelswild.
>Weshalb willst du diese Frau denn entführen? < fragt Madjids Handlanger Arif. >Du willst sie doch loswerden, also mach es lieber schnell. Dann ist das Thema erledigt. Wenn sie nicht weiß wie der Typ aussieht, mit dem sie sich trifft, dann kann ich mich doch für diesen Kerl ausgeben und sie irgendwo hinlocken. Dann kannst du sie immer noch killen. <
>Du Idiot hast doch keine Ahnung davon. Ich will sie genauso beseitigen wie ihre Mutter, aber dieses Mal lasse ich mir mehr Zeit, weil ich das genießen will. Und vorher werde ich auch noch ein bisschen Spaß mit ihr haben, da sie mich das letzte Mal sogar darum gebracht hat. Damals war auch noch ein Schulkind im Zimmer gegenüber. Ich dachte erst, dass dort ein Mädchen schläft und hatte mich schon gefreut, aber es war bloß ein Junge. Der hat mich nicht interessiert. <
Dieses Mal kommt tatsächlich etwas aus meiner Kehle. Ich habe diesen Ton noch nie zuvor von mir gehört und es klang wie eine Mischung aus Wimmern, einem Nein-Ruf, einem Keuchen und so, als würde ich versuchen, vor Schmerz nicht zu schreien. Ehe ich überhaupt verstehen kann, wie ich mich so schnell in Bewegung setzen konnte, um von hier wegzukommen, höre ich noch den Dialog zwischen Madjid und seinem Handlanger:
>Packt zusammen, was nötig ist und lasst uns hier abhauen. Wir nehmen uns ein Hotel vor Ort. Ich will vorbereitet sein, wir haben nur eineinhalb Tage. <
>Was sollen wir denn zusammenpacken? < fragt Logan Khalet.
>Bist du Idiot ein Anfänger? Besorgt mir einen Transporter, Kabelbinder, Klebeband …<
Mehr höre ich nicht mehr, denn keuchend reiße ich die Vorhänge beiseite und renne hinaus auf die Dachterrasse. Ich bin nur auf Socken im Schnee, aber das ist mir egal. Ich laufe etwas weiter und klammere mich – mit vor Entsetzen aufgerissenen Augen, ans Geländer. Das Panorama vor mir könnte wunderschön sein, aber ich nehme die Aussicht kaum wahr. Mich verschlingt in diesem Moment eine Dunkelheit, die mich hinunterzieht.
Ich kriege selbst hier draußen kaum Luft und japse verzweifelt, weil es sich anfühlt, als würden meine Lungenflügel zusammenfallen.
>Kleines? < ruft  Sam und folgt offenbar meinen Fußspuren, denn die Terrasse ist groß und geht rings um die Etage. >Scheiße, hier bist du. Verdammt, ich wollte nicht, dass du sowas hörst. Weshalb bist du auch immer so stur? <
Ich stehe da, mit den Armen um meinen Körper geschlungen und sehe Sam mit aufgerissenen Augen an. Weil ich nichts sage, kommt er näher zu mir und nimmt mich in seine Arme. Es ist eiskalt hier draußen und mir frieren gleich die Füße ab, aber ich brauche diese kurze Auszeit. >Ich könnte an die Decke gehen, dass er gerade jetzt seinen Standort ändert. Das hätte heute Nacht vorbei sein können. Aber wir bewachen ihn weiter. Ich schwöre dir, er wird dich weder entführen, noch wird er dir auch nur ein Haar krümmen. Ich beschütze dich mit meinem Leben. <
>Wenn du auch noch draufgehst oder irgendeiner von euch, dann hat niemand etwas gewonnen. <
>Niemandem von uns passiert etwas und am wenigsten dir. <
>Ich mache mir keine Sorgen meinetwegen. < hauche ich und kneife verzweifelt meine Augen zusammen, wegen dieses Satzes, den ich hören musste. >Er brachte Iye um und meine Mum. < wimmere ich.
>Es tut mir leid, dass du das gehört hast. <
>Ich wollte es immer wissen, wer von den Dreien es war. < erwidere ich. Und dennoch fühlt es sich schrecklich an, es nun erfahren zu haben. Egal wie sehr mich gerade meine Gefühle übermannen, es gibt ein Gefühl das verzehrender und unbändiger denn je ist. Und es ist eiskalte Mordlust.
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