Fingerabdrücke bleiben
von Lynnix
Kurzbeschreibung
Nayeli genießt ihre letzte Woche als Studentin und lebt mit ihrer indianisch stämmigen Familie in einem alten Haus neben den Klippen des Superior Lakes. Sie kann es kaum erwarten ihren künftigen Job anzutreten, mit dem ihr eine aussichtsreiche Zukunft bevorsteht. Trotz Strapazen empfindet sie ihr Leben als perfekt aber was sie bis zu dem Zeitpunkt noch nicht weiß ist, dass ihr Vater eine große Last mit sich herumschleppt, dessen Folgen ihr den Boden unter den Füßen wegreißen werden. Die junge Frau lernt jemanden kennen, von dem sie noch nicht weiß, ob er Freund oder Feind ist. Plötzlich ist sie auf fremde Hilfe angewiesen, muss hinter Masken sehen, verstehen wie korrupt das Land ist, in dem sie lebt und auf schmerzhafte Weise Stück für Stück erfahren, wie tief ihr Vater in die Ereignisse verstrickt war. Sie muss Entscheidungen treffen, von denen sie glaubte, so etwas niemals tun zu müssen. Aber wie weit muss sie gehen um Schmerzen und Verlust zu überwinden?
GeschichteDrama, Krimi / P16 / Gen
23.02.2018
25.11.2021
129
578.228
7
Alle Kapitel
102 Reviews
102 Reviews
Dieses Kapitel
1 Review
1 Review
08.05.2020
5.138
Kapitel 34 - Vergebung
Ein neuer Tag, ein neuer Versuch, ein neuer Hoffnungsschimmer.
Wie so oft in letzter Zeit schlief ich in Sam´s Armen ein und wachte mit mindestens einer Hand an meinem Körper wieder auf.
Ich richte mich lediglich auf, weil sein Wecker es von mir verlangt. Immerhin gehen wir im Moment zu normalen Zeiten schlafen, denn der Mann neben mir macht keine externen Aufträge, da er nicht Gefahr laufen will, Madjid zu verpassen.
Er sagt, dass es manchmal eigenartige Zufälle gibt. Da sucht man Ewigkeiten nach einem Verbrecher und in genau der einen Nacht, in der man das nicht tut, zeigt er sich plötzlich woanders. So in etwa ging es ihm auch mit diesem Detectiv Archer.
Dieser Maulwurf ging dann in die Offensive, um mich zu finden, als Sam gerade auf der anderen Seite des Bundesstaates war.
Ich frage mich, ob man das wirklich immer als Zufall abtun kann.
Aber um solcher Art von Zufällen – egal ob es nun welche sein mögen oder nicht, aus dem Weg zu gehen, erledigt der Profikiller aktuell niemanden von seiner schwarzen Liste. Insgeheim frage ich mich, wie viele furchtbare Taten bisher geschehen sind, die Sam schon längst hätte verhindern können, wenn ich nicht den Betrieb aufhalten würde. Noch ein Grund mehr, Madjid schneller dingfest zu machen.
Müde seufzend löse ich Sam´s sehnigen Unterarm von meiner Hüfte, rolle mich über seinen Körper, küsse den noch murrenden Mann unter mir und stehe schließlich auf.
Ich brauche nicht lange, denn ich bürste mir nur das Vogelnest auf meinem Kopf in Form, wasche mir das Gesicht, schrubbe mir die Zähne und bin bereits startklar, als ich den Alarm auf Sam´s Handy höre. Ich schaue aus dem Fenster und sehe, dass meine Eskorte schon vor der Tür steht.
Eilig gehe ich noch hoch zu meinem Liebsten. In der einen Hand hält er sein Telefon und den anderen Arm hat er sich über das Gesicht gelegt.
>Ich muss los. <
>Dann auf ein Neues. < sagt er und nimmt den Arm von seinen Augen. Ich gebe ihm einen Kuss zum Abschied, höre noch ein unverständliches „ich liebe dich“ von ihm und sause nach unten. Lauter ruft er mir allerdings hinterher, dass ich mir meinen Shake mitnehmen soll. Ich rolle mit den Augen und laufe in die Küche, um diesen Kaloriendrink mitzunehmen. Meine anderen Utensilien liegen schon bereit und ich klemme sie mir unter den Arm. Kurzerhand lasse ich die Tür ins Schloss fallen und grinse Nikolaj an, der rauchend an dem Leihwagen gelehnt steht und auf mich wartet.
Ich laufe zu ihm.
>Dobroye utro. (Guten Morgen.) < sage ich, als ich vor ihm stehe.
>Privet printsessa. YA prines tebe koye-chto. (Hallo Prinzessin, ich habe dir etwas mitgebracht.)
Ich bin so stolz auf mich, dass ich ihn überhaupt verstanden habe und muss schallend lachen, als er hinter sich durch das geöffnete Seitenfenster greift und mir ein gelbes Buch von dem Beifahrersitz hinüberreicht.
Ein Langenscheidt mit Russisch – Englisch, Englisch – Russisch.
>Spasibo. (Danke.) < erwidere ich grinsend.
Nikolaj nickt mit dem Kopf in Richtung des Pfades und will nun losfahren. Mimik und Gestik verstehe ich zumindest in jeder Sprache.
Ich laufe zu Sam´s Garage, steige in den Mustang ein und verlasse Grand Portage, dicht gefolgt von meiner Eskorte.
Bei dem auserwählten Café laufe ich wieder direkt zu einer der Kellnerinnen, sage, dass ich auf „Westwood“ reserviert habe und bitte darum, dass sie mir gleich für den Rest der Woche diesen Platz freihalten soll.
Am selben Tisch wie gestern, packe ich mein Zeug aus und setze den Akku wieder in den Laptop ein.
>Schreiben Sie ein Buch oder so? < fragt mich die Bedienung, als sie mit ihrem Zettelblock zu mir kommt.
>Das nicht, aber ich muss arbeiten und hier habe ich mehr Ruhe als im Großraumbüro. < lüge ich.
>Das kann ich verstehen. Viele kommen zum Arbeiten her. Offenbar ist man hier bei uns kreativer. < lacht sie. >Und was kann ich Ihnen bringen? <
Ich nehme einen Muffin, weil ich bis auf diesen ekelhaften Shake noch nichts zum Frühstück hatte und einen Milchkaffee. Es ist dieselbe Kellnerin wie gestern und offenbar erinnert sie sich noch gut an mich. Zum Ersten, weil ich wirklich lange hier war und zum Zweiten, weil ich ihr ein großzügiges Trinkgeld gab. Mag sein, dass ich am Ende der Woche das Geld verprasst habe, das ich in Angora verdiente, aber ich hoffe, dass ich nach meiner Lizenz endlich an höhere Geldsummen herankomme und Sam somit seine Kreditkarte nicht mehr zum Glühen bringen muss. Okay … genaugenommen tut er es nicht, denn er zahlt jede Summe immer in bar und da ich nun weiß, wie schnell man an eine Kreditkartenabrechnung kommt, weiß ich auch weshalb er alles in bar tätigt.
Ruby und Nigel betreten nur wenige Minuten nach meinem Eintritt das Café und setzen sich an einen Tisch für Pärchen. Wir sehen uns einen kurzen Moment an, aber wenden dann auch schon die Blicke ab. Nikolaj hält eine Zeitung vor sein Gesicht, aber ich sehe genau, wie er dennoch die Tür im Blick hat.
Das, was er liest, ist für mich nicht zu entziffern. Die russische Schrift besteht für mich aus Hieroglyphen und ich schaue in das Übersetzungsbuch hinein, das er mir vor knapp 30 Minuten gab. Das ist für mich immerhin in der normalen Schrift und somit lesbar.
Ich falte meine Hände zusammen, knackse meine Finger und beginne damit, den Laptop mal wieder komplett schutzlos zu machen.
Ich warte und warte und warte. Dennoch passiert nichts. In der Zwischenzeit habe ich die nächsten Tassen Kaffee geleert, die Kellnerin um einen Zettel und einen Kugelschreiber gebeten und Nikolaj mithilfe des Übersetzungsbuchs eine Nachricht zukommen lassen, in der steht, dass bald noch eine weitere Frau mit einem Kind herkommt und sie keine Gefahr für mich bedeuten. Ich musste mir das Lachen verkneifen, als er versuchte, einen Sinn aus meiner Nachricht herauszulesen. Immerhin habe ich nur eins zu eins die Wörter übersetzt, aber sicherlich ist die Satzstellung vollkommen falsch. Die russische Sprache hat sechs Fälle und ich rede noch totales Kauderwelsch.
Punkt 14 Uhr kommt eine Grazie von Frau hinein, die ein kleines Mädchen an der Hand hat. Nora hat links und rechts kleine Zöpfe, die noch so kurz sind, dass es aussieht wie ein ausgefranster Pinsel. Sophia sieht umwerfend aus wie immer. Sie trägt ein elegantes Businessoutfit mit einer dunklen Röhrenhose, schwarzen knöchelhohen Stilettos und einen hellen Mantel, den sie offen trägt. Außerdem ist sie aufwändig geschminkt, trägt offene, gewellte Haare und roten Lippenstift. Ihr Blick ist ruhelos, als ihre Augen den Raum abscannen. Sobald ihr Blick an mir hängenbleibt, grinse ich sie von Weitem an. Mit leicht geöffnetem Mund schaut sie an mir herab. Ich bin nur froh, dass ich noch sitze und sie nicht meinen gesamten Körper anstarren kann, der ja immerhin schon wieder etwas mehr Fülle bekommen hat. Während ihre Absätze bei jedem Schritt klackern, sehe ich Nigel, der Sophia unbehelligt abcheckt und ihm zu gefallen scheint, was er sieht.
>Oh mein Gott Süße, was zur Hölle ist denn nur passiert? < fragt sie in einem besorgten Ton. Ich stehe auf, um sie zu umarmen. Als ich mich von ihr löse, sage ich seufzend:
>Lange Geschichte. <
Ich begrüße auch Nora, der ich auf ihre kleine Nase stupse. Sophia zieht ihren Mantel aus und legt ihn über die Stuhllehne. Ihre kleine Tochter ist bei dieser Eiseskälte genauso dick eingepackt und wird von ihrer Mutter aus den Stoffschichten geschält.
>Na da bin ich ja gespannt. Ich bin gestern aus allen Wolken gefallen, als ich deine Stimme erkannt habe. <
>Hat man gar nicht gemerkt. < gluckse ich.
Sie bittet bei der Kellnerin um einen Kinderstuhl und setzt Nora darauf. Nachdem sie einen Muffin und Tee für die Kleine und einen Cappuccino für sich bestellt hat, lehnt sie sich auf ihre Ellenbogen und blickt mich unverhohlen an.
>Als ich dich das letzte Mal sah, hattest du sicher gute fünf Kilo mehr. <
>Glaub mir, das hat mir auch besser gefallen, aber ich bin dabei, es wieder hinzukriegen. <
>Hat dir Sam so zugesetzt? < will sie mitfühlend wissen.
>Nicht so sehr. Er hatte recht schnell Hausverbot in meinem Kopf, auch wenn er sich trotzdem manchmal durchgedrängt hat. < versuche ich lustig zu klingen. >Es waren eher mein vorheriger Wohnort und die Arbeit, die mir zugesetzt haben. Ich wusste nicht mehr weiter, bis Sam schließlich vor zwei Wochen vor mir auftauchte. <
>Na Gott sei Dank. Ich habe diesem Trottel schon vor Monaten gesagt, er soll dich zurückholen. Was sollte der Mist von ihm? Manchmal da könnte ich ihn bei den Eiern packen und … < sie starrt aus dem Augenwinkel zu ihrer Tochter hinüber, die mit ihrem Plüschhasen spielt. >Ich meine, ich fand das nicht in Ordnung, was er gemacht hat. <
Ich gluckse, da Sophia sich eilig zur Ordnung gerufen hat, um vor ihrem Kind nicht zu fluchen. Die Kellnerin kommt mit ihrer Bestellung und als sie verschwunden ist, rede ich weiter.
>Wie viel weißt du denn? <
>Im Grunde kaum etwas. Er redet doch nicht viel über solche Dinge, aber er sagte, du seist weg und nahm an, dass du in der Schule wärst. An dem Abend, als ich das von ihm hörte, kam alles nur durch Zufall heraus. Ich habe weiter nachgebohrt und ihm praktisch alles aus der Nase ziehen müssen – was echt nicht viel war. Aber schlimmer als die Tatsache, dass du weg warst, war, dass es auch noch der nächste Morgen nach eurem gemeinsamen Auftrag war. Süße, jetzt mal ehrlich, was war los? Du wolltest ihm doch unbedingt bei diesem Job helfen. <
>Oh, geholfen habe ich ihm auch, es lief gut … nein eigentlich lief es besser als gut. <
>Aber was war es dann? Das muss ja holterdiepolter in seinem Kopf umgeschlagen sein. <
Kann ich ihr so etwas wirklich sagen? Eigentlich will ich nur, dass sie Sam nicht mehr so behandelt. Sophia ist nicht mit mir befreundet, wir kennen uns nur aufgrund schwerer Umstände und eigentlich habe ich sie erst dreimal gesehen. Aber andererseits hat sie mir in einer Nacht-und-Nebel-Aktion einen falschen Pass zusammen mit Dimitrij gedruckt und dafür gesorgt, dass ich mich wieder unter Leuten bewegen konnte. Sie ist nicht einfach irgendein dahergelaufener Kontakt und ich weiß, dass ich sie wirklich gern habe. Sam hat sie ebenfalls gern, also sollte ich es ihr wohl erzählen, damit sie immerhin auch die andere Sichtweise kennt.
>Was du mir am Abend über ihn sagtest, als du mich gestylt hast, habe ich einfach ignoriert. < hauche ich und sehe schließlich zu ihr hoch. >Du meintest, er sei nicht einer dieser Männer, die ein Abenteuer oder eine Beziehung suchen und ich solle auch nichts davon von ihm erwarten. Ich habe ihn überrumpelt, glaube ich. Es war meine Schuld und nicht seine. Der perfekte Fehler zur falschen Zeit sozusagen. <
>Fehler? Warte mal, du meinst, ihr hattet … < wieder schaut Sophia zu ihrer Tochter hinab und bevor sie noch länger überlegt, wie sie das in Gegenwart eines Kindes fragen will, nicke ich einfach und rede weiter.
>Am nächsten Morgen war er ziemlich seltsam drauf und wollte, dass ich gehe. Sein Plan war eigentlich, dass ich zur Schule zurückgehe, aber das tat ich nicht. Stattdessen versauerte ich in einem Vorort von Angora und kellnerte dort. Aber fast drei Monate später war Sam plötzlich dort, schlug einen Kerl zu Boden, der mir etwas antun wollte und gab zu, die meiste Zeit ein Auge auf mich gehabt zu haben. Er erklärte mir, weshalb er damals diese Entscheidung getroffen hat, aber glücklicherweise sieht er die Sache nun ein wenig gelassener und ich bin wieder bei ihm. <
Sophia sieht mich an, als verstünde sie nur Bahnhof.
>Und jetzt? Ich meine, wie ist er denn zu dir? Muss ich mir das als peinliches Schweigen vorstellen oder geht ihr euch aus dem Weg? Immerhin hattest du damals wenigstens das Zimmer unten. <
Ich grinse.
>Die ersten beiden Tage war es wirklich seltsam, weil ich ihn einfach nicht einschätzen konnte, aber nach eingehendem In-sich-Gehens hat Sam beschlossen, sich mir zu öffnen und das Risiko einzugehen. Ich brauche kein eigenes Zimmer, denn ich fühle mich in seinem Zimmer ziemlich wohl. <
>Ihr seid zusammen. < flüstert sie mit aufgerissenen Augen. Das war keine Frage von ihr, das war eine völlig monotone Feststellung, die erst bei ihr durchsickert, als ich nicke. Plötzlich quietscht Sophia auf und ballt vor Freude die Fäuste vor ihrem Körper.
>Sophia! Geht es auch weniger auffällig? < zische ich zwischen meinen Zähnen hindurch, als alle zu uns herübersehen. Auch Ruby, Nigel und Nikolaj checken erst einmal die Lage ab.
>Ich fasse es nicht, dieser Griesgram hat sich verliebt. Na klar, er denkt doch immer, dass man das bei seinem Job nicht tun darf, um keinen Racheakt zu riskieren. <
>Du würdest staunen wie oft dieser Griesgram inzwischen am Tag lächeln kann. <
>Aber was machst du dann hier so völlig allein? Wieso lässt er dich hier? <
>Ich bin nicht allein. Dreh dich jetzt nicht um, aber hinter dir sitzen zwei Bounty Hunter und einer von Sam´s Leuten. <
Nora ist zu klein um das alles zu verstehen und zu verarbeiten. Aus ihrem Mund kommen noch nicht einmal vollständige Sätze oder mehr als 20 verständliche Wörter. Dennoch versuche ich mich gewählt auszudrücken und nichts von Mord und Totschlag zu berichten. Allerdings erkläre ich Sophia in dieser hintersten Ecke so grob wie es nur geht was passiert ist, wie ich Sam vor knapp zwei Wochen wiedertraf und weshalb wir mittlerweile ein Team aus mehreren Leuten sind. Am liebsten würde ich ihr mehr sagen, aber ich lasse bewusst die Hälfte wegfallen und erwähne keine Beinahevergewaltigung oder Körperverletzung in Angora, kein Suizidversuch, keine Festnahme und keinen Mord an einem Cop. Wir sind immer noch in einem öffentlichen Café. Es gibt zwar keine Kameras und wir reden im Flüsterton, aber dennoch will ich vorsichtig sein.
An den wichtigen Stellen stellt sie Fragen, keucht ab und zu auf oder starrt mich nur mit offenem Mund an. Sobald ich fertig bin, sagt sie seufzend:
>Ich hätte im Leben nicht damit gerechnet, dass es solche Ausmaße annimmt. Wie kann eine unschuldige Collegeabsolventin wie du in sowas hineingeraten? Es ist einfach nicht fair, dass du das alles durchmachen musstest und es ist auch nicht fair, dass Sam so gebrandmarkt ist. Ich komme mir gerade ziemlich schäbig vor, denn ich habe ihn ganz schön angeblafft. Aber ich war so wütend, weil ich irgendwie wusste, dass er es versauen würde. <
>Er hat es nicht versaut … er ehm … hat immer mit sich gerungen und ich bin irgendwann einfach zu weit gegangen. Vielleicht hätte ich ihm mehr Zeit geben müssen und die Dinge wären anders gelaufen. Ich kann ihm nicht an allem die Schuld geben. <
Sophia lehnt sich grinsend, mit verschränkten Armen gegen die Stuhllehne.
>Junge, Junge du bist wirklich so süß. So wie du das sagst, könnte man denken, du hast ihm seine Tugend genommen. Ich glaube, du hast ihn um den Verstand gebracht und das war dringend nötig. Und wenn du mir jetzt erzählst, dass der Griesgram ziemlich viel lächeln kann, seitdem du wieder bei ihm bist, hätte er wohl nur mal mehr vögeln müssen. < Daraufhin sieht Nora an die Decke und dreht ihren Kopf hin und her. Sophia reißt die Augen auf, da ihr jetzt erst bewusst ist, was sie gerade sagte. >Oh nein Schatz, den Vogel hast du gerade verpasst, er ist schon wieder rausgeflogen. <
Ich pruste los und halte die Luft an, damit ich nicht die Aufmerksamkeit auf uns ziehe. Beiläufig sehe ich immer wieder auf den Laptop. Jetzt sitze ich schon wieder eine geschlagene Stunde länger hier und es ist immer noch nichts passiert.
>Oh Mann, wenn du Kinder hast, dann musst du aufpassen was du sagst. <
>Ja das kenne ich von meinem Bruder auch noch. <
Wieder sehe ich auf meinen Laptop und trinke den Rest meiner Kaffeepfütze aus.
>Wieso macht ihr das eigentlich hier? < fragt Sophia und nickt zu dem Laptop.
>Ein öffentlicher Ort mit öffentlichem WLAN-Zugang ist perfekt. Sobald ich hier bin, stelle ich die Sicherheitsprogramme aus, lasse aber das Hackerwarnsystem an und treibe mich ganz bewusst in Chats herum, in denen er mich hoffentlich durch sämtliche gesetzte Tags findet. Würde ich das in Sam´s Haus tun, dann wäre der Standort für Madjid schnell klar und der Kerl könnte nachts kommen und direkt uns beide umlegen. Leichter ginge es nicht. <
>Wieso sucht ihr ihn nicht über das Darknet? Dann weiß er nicht wo du steckst. <
>Über das Darknet hängen Sam und die Anderen drin. Ich hingegen soll süß sein und unschuldig im Internet surfen. Der Kerl soll nicht denken, dass ich in irgendeiner Weise eine Gefahr darstelle, sondern ich bin die kleine naive Göre, an der er sich rächen will. <
>Verstehe. < seufzt sie. >Wow, ich kann es echt nicht fassen, dass Sam so viele Leute angeheuert hat. Ich dachte immer, er ist durch und durch ein Einzelgänger aber offensichtlich muss nur die richtige Frau in sein Leben kommen und er muss eindeutig mehr vögeln, dann ist er wohl besser zu handhaben. Oh … nein Schatz, nun hast du schon wieder den Vogel verpasst. < sagt Sophia eilig hintendran, als Nora bei dem Wort „vögeln“ mal wieder an das Tier dachte. Diese Unschuld ist einfach noch zu süß und Sophia muss sich wirklich schon mal an eine andere Wortwahl gewöhnen.
>Wie lange bist du denn noch hier? < will Sophia wissen.
Ich seufze und hole das Handy aus meiner Tasche um darauf zu schauen.
>Keine Ahnung. Gestern haben wir einfach irgendwann abgebrochen. Es sind inzwischen schon wieder fünf Stunden. Vielleicht ist das auch total bescheuert was wir hier machen. Wir haben nicht einmal darüber geredet, wie lange wir das überhaupt durchziehen wollen. Ich kann mich doch nicht für einen Monat hier einmieten. <
>Na ja … aber ich kann dich verstehen. Es fühlt sich zumindest so an, als würde man einer Spur nachgehen. <
Irgendwie hat sie damit recht. Zumindest legt man nicht einfach die Hände in den Schoß. Sophia bestellt für Nora einen warmen Pudding und sich selbst noch einen Cappuccino. Die Kleine ist erstaunlich entspannt und spielt mit ihrem Plüschtier herum, während wir uns unterhalten. Ich nahm nicht an, dass Sophia so lange mit ihr hier bleiben würde, aber ganz offenbar ist Nora zufrieden, sobald sie etwas zu essen bekommt und ein Spielzeug dabei hat.
Nach einer weiteren Stunde, in der es bereits nach vier Uhr am Nachmittag und beinahe dunkel ist, bekomme ich eine Kurznachricht.
>Das ist Sam. Er meint, wir sollen es gut sein lassen. Seine Insider im Darknet sind bisher auch erfolglos. Das nervt echt. <
>Glaubst du, es ist okay, wenn wir mitkommen? Ich habe das Gefühl, mich bei ihm entschuldigen zu müssen. < fragt Sophia mit hängenden Mundwinkeln.
Nach einer dreißigminütigen Fahrt trudeln drei Fahrzeuge vor Sam´s Haus ein. Nikolaj gebe ich aus nächster Nähe ein Handzeichen, dass er Feierabend machen kann und grinsend nickt er mir zu. Den Lagebericht kann ebenso ich an Sam weitertragen – es gibt nämlich keinen. Als ich aus dem Mustang aussteige und Sophia ebenso ihre Fahrertür öffnet, glotzt sie mich mit großen Augen an. Eiskalte Luft umgibt uns und das Thermometer im Auto sagte etwas von – 5° C. Sobald ich draußen bin, beginne ich zu schlottern und laufe schneller zu dem Jeep.
>Ich dachte vorhin, dass ich meinen Augen nicht traue als du in den eingestiegen bist. Ihm muss es ja wirklich schrecklich leidtun, wenn er dich damit fahren lässt. < keucht sie.
Natürlich ist ihr klar, dass er Sam gehört – den könnte ich mir nie leisten. Und ja es tut ihm leid, aber dass ich diese 450 PS bewegen darf, ist seiner Freude darüber geschuldet, dass ich begeistert wie ein Schulmädchen am ersten Tag herumspringe, wenn ich hinter dem Steuer sein kann.
Ich werfe ihr ein Grinsen zu und warte bis sie Nora aus ihrem Kindersitz geholt hat. Die Kleine tapst uns mit ihrem Kuscheltier im Arm einfach hinterher.
Normalerweise empfängt mich Sam schon an der Tür, aber allmählich wird er hoffentlich entspannter – immerhin habe ich ihm gleich auf seine Nachricht geantwortet und mich auf den Weg gemacht. Trotz seines Handyalarms sollte ihm klar sein, dass nur ich hier angekommen sein kann.
>Übrigens hat er keine Ahnung, dass ich mich mit dir getroffen habe. Ich habe das heimlich gemacht, weil er so niederschlagen wirkte, als er mir erzählte, dass ihr Zwei nicht wirklich miteinander redet. <
Sophia nickt nur und schürzt die Lippen.
Die Haustür ist nicht abgeschlossen und ich gehe hinein, mache das Licht im Flur an, streife meine Schuhe ab, aber lasse meine Jacke noch an, um direkt durchzulaufen.
Er hat Musik im Hintergrund zu laufen, die eindeutig aus dem Wohnzimmer kommt.
Ich blicke um die Ecke und ohne von seinem Laptop aufzusehen, sagt er:
>Hey Kleines. Das ging ja schnell. <
Dann tippt er etwas ein, drückt die Entertaste und kommt schließlich grinsend zu mir gelaufen.
>Tja der Mustang ist ja auch schnell. < grinse ich zurück und lasse mich von ihm küssen. Aus dem Flur hört er Geräusche wie Schuhe ausgezogen werden und das Rascheln von einer Jacke.
>Ich habe dir jemanden mitgebracht. < hauche ich grinsend und höre die Schritte, die näher kommen.
>Nikolaj soll dich ja schließlich heil zurückbringen – dafür bezahle ich ihn ja immerhin. < feixt er.
>Visagisten können aus einem Gesicht zwar alles Mögliche machen, aber ein Mann bin ich noch nicht. < flötet Sophia keck, die Nora auf dem Arm hat. Sie steckt ihren Kopf durch die offene Wohnzimmertür, sieht wie Sam mich in seinem Arm hält und macht noch ein leises „Aww“, samt verzückter Schnute hintendran.
Sam hingegen scheint eingefroren zu sein und starrt sie mit offenen Augen an.
>Das ist auf meinen Mist gewachsen. < erkläre ich sofort. >Ich habe sie angerufen und Nikolaj habe ich eben schon weggeschickt. <
Ich löse mich aus seinem Griff und mache Platz für Sophia. Sie lässt ihre Tochter runter, aber energiegeladen wie sie noch zu sein scheint, rennt sie bereits durch das Wohnzimmer und will am liebsten gleich zu Sam´s Laptop watscheln und am Kabel ziehen, aber ich schnappe sie mir eilig, ziehe meine Jacke aus und setze die Kleine auf meine Schultern.
>Jetzt komm schon her, du Grummelkopf! < meckert Sophia nicht ganz ernstgemeint, reißt ihn theatralisch in ihre Arme und küsst sein Gesicht. Ich glaube, sie hat im Auto mit Absicht noch einmal den roten Lippenstift neu aufgelegt. Sam sieht jetzt aus wie eine Tomate.
>Ehm … Sophia. Hi, schön dich zu sehen, aber was machst du hier? < fragt er steif und ohne jede Melodie in seiner Stimme. Er scheint sichtlich baff zu sein.
>Na ja, wie Nayeli schon sagte, kam das von ihr. Sie hat mich gestern Abend angerufen und wir haben uns vorhin in dem Café getroffen und geredet. Ich weiß nun Bescheid. <
>Gestern Abend? < fragt Sam verwundert und blickt über seine Schulter zu mir, als es ihm einfällt. >Hey warte mal … gestern Abend, da hattest du doch mein Handy als ich duschen war. <
>Jop. Nenn mich 007. < gebe ich trocken zurück.
>Deswegen warst du so gut gelaunt, als du noch nachgekommen bist. < feixt er.
>Oh Leute bitte. < keucht Sophia. >Keine detaillierten Storys vom Vögeln. <
>Nein wir hatten nicht …< beginne ich, aber noch ehe ich für meine Antwort Luft holen konnte, hat sie bereits ihre Hände auf die Ohren gelegt und sagt:
>La, la, la, la. <
>Warum hast du sie angerufen? < fragt mich Sam und ich komme mit Nora zurück neben ihn.
>Na deinetwegen. Du warst alles andere als glücklich damit, dass ihr kaum noch miteinander geredet habt. <
Daraufhin nimmt Sophia ihre Hände von den Ohren, legt schon wieder ihre Arme um Sam, um all ihre Schuldgefühle loszuwerden und sagt an ihn gewandt:
>Es tut mir schrecklich leid, dass ich dich so doof angemacht habe. Du hättest ja auch mal was sagen können. <
>Ich wusste nicht was. Es klang ja schon in meinem Kopf immer bescheuert. <
>Na immerhin hattest du genug Eier, deine Kleine zu suchen. <
Sam und ich werfen uns einen kurzen Blick zu. Das zweite Treffen hatte nicht wirklich etwas mit Eiern zu tun, sondern es war eine der schlimmsten Paniksituationen für ihn, als er nach mir suchte.
>Auch wenn wir in der hintersten Ecke ohne Kameras in diesem Café saßen, konnte ich dir nicht alles sagen. Deine Reaktion wäre einfach zu auffällig gewesen. < beginne ich.
Da Nora noch gut gelaunt zu sein scheint, spiele ich im Wohnzimmer mit ihr, während Sophia und Sam auf dem Sofa sitzen und wir ihr das ganze Ausmaß des Schreckens erklären und das ausgerechnet ich jemanden erschießen musste. Sie ist emotionaler als ich angenommen habe und fängt nur innerhalb der ersten zehn Minuten damit an Rotz und Wasser zu heulen. Hut ab, denn ihr Make-up hält dem Ganzen ziemlich lange stand. Sam tut mir aber allmählich etwas leid. Denn immer, wenn der nächste Gefühlsausbruch kommt, wirft sie sich ihm wieder in die Arme und ich gebe mir die größte Mühe, nicht zu lachen, weil Sam ihr unbeholfen den Rücken tätschelt. Mit meinen Emotionen konnte er irgendwie immer besser umgehen.
Sobald wir jedes Detail an Sophia weitergetragen haben, kann sie sowohl Sam als auch mich verstehen. Sie tat es schon in dem Café, aber es noch einmal aus seiner Sicht zu hören, ändert ihre gesamte Meinung der letzten Monate und es tut ihr leid, dass sie nicht für ihn da war. Sam hingegen tut es wie immer mit einer lässigen Handbewegung ab. Auch für mich ist es gut, das Thema auf so eine Weise noch einmal durchzugehen und auch abzuhaken. Jetzt kann ich viele meiner Grollgefühle außen vor lassen und die Sache aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Sophia scheint es nun genauso zu gehen.
Auch wenn sich die Zwei in den vergangenen Monaten ein paar Mal gesehen haben, war es offensichtlich sehr kalt zwischen ihnen und Sam sagte mir bereits, dass Sophia im Grunde nur das Nötigste für ihn machte, falls er sie wirklich einmal brauchte. Aber auch diese Dinge stellte er schnell ein, denn er meldet sich für gewöhnlich nicht nur dann bei einem Menschen, wenn er einen Gefallen benötigt.
Er schaut hinab zu ihren rot lackierten Fußnägeln in den Feinstrümpfen und schmunzelt, als er einwendet:
>Dieses Mal konntest du wenigstens nicht wieder deinen Schuh nach mir werfen. <
>Was? Du wirfst deine High Heels nach ihm? < erwidere ich stirnrunzelnd, aber bevor sie antworten kann, sagt Sam an mich gewandt:
>Ja vor etwa zwei Monaten, aber keine Sorge, sie kann nicht mal mit Dartpfeilen treffen. <
Wir alle prusten los. Nora und ich haben ein Haus aus leeren CD-Hüllen gebastelt, das soeben wieder einstürzt – also ich baue und Nora bringt es zum Einsturz.
Nachdem unser Gelächter wieder verstummt, lässt sich Sophia das Besprochene wohl noch einmal durch den Kopf gehen und sagt in die Stille hinein:
>Das ist doch einfach nicht zu fassen. Wie kann eine Person allein nur so viel Pech haben? <
Ich zucke mit den Achseln, beginne wieder das CD-Hüllen-Haus zu stapeln und entgegne:
>Ach, ich rede mir ein, dass man in seinem Leben nur eine bestimmte Anzahl von Pechsituationen zur Verfügung hat und meine langsam aufgebraucht sind. Irgendwann muss doch mal ein Ende sein. <
Ein Mord hat für mich zwar nichts mit Pech zu tun, sondern mit dem größten Schicksalsschlag, den ich mir vorstellen kann, aber ich will nicht alles jedes Mal thematisieren und ich will vor allem nicht mehr traurig sein.
>Könnt ihr bei eurem Vorhaben noch Hilfe gebrauchen? < will Sophia wissen. >Ich meine, ich begleite dich mit deinem Problem fast von Beginn an und ich würde gern mehr tun und es auch zu Ende bringen. <
>Danke. Wir finden sicher etwas für dich. < beteuert Sam grinsend in meinem Namen. Ohne zu murren, willigt er einfach ein. Sophia hat recht. Inzwischen ist er besser zu handhaben. Mit zusammengepressten Lippen versuche ich mein Grinsen zu verstecken und baue Noras kleines Haus weiter.
Später
Irgendwann wird Sophias Tochter müde und für so ein kleines Kind ist es bald Zeit ins Bett zu gehen. Zum wiederholten Male küsst Sophia Sam und sagt immer wieder, wie leid ihr ihre Reaktion täte, aber Sam beteuert ebenfalls abermals, dass es vollkommen in Ordnung gewesen sei und sie nur das sagte, was er doch selbst schon längst wusste.
An der Tür beobachten wir die beiden noch, bis sie endlich weggefahren sind. Am Ende des Tages hat Nora übrigens ein neues Wort gelernt. Zum Glück nur „Vögel“ …
Sam blickt mich so an, als wäre die Welt plötzlich ein kleines Stück besser für ihn geworden.
>Danke Kleines. < haucht er.
>Kein Ding. Ich habe doch gesagt, ich biege das wieder gerade. Aber ich hatte auch etwas Angst, dass du sauer auf mich sein könntest. Ich war einfach an deinem Handy. <
>Die erste Minute als Sophia im Türrahmen stand, war ich das auch. Aber ich weiß, du bist professionell genug, um am Telefon keine wichtigen Dinge preiszugeben und vor Ort in dem Café ebenfalls hinter dem Berg gehalten hast. <
Ich nicke, denn ich habe mir letzte Nacht neben Sam ernsthaft den Kopf darüber zerbrochen, wie ich das Gespräch beginnen und welche Themen ich meiden sollte. Dass Sophia noch hinterher mit zu Sam fuhr, hatte ich mir zwar erhofft, aber nicht daran geglaubt. Ich bin mehr als froh darüber, dass ein Plan auch mal funktionieren kann. Mir war klar, dass es besser ist, wenn die beiden miteinander reden würden.
>Und was stellen wir morgen so an? < frage ich voller Sarkasmus.
>Wir versuchen es wieder. <
Ich nicke und gehe mit Sam rein, da es ohne Jacke an der Tür wirklich kalt ist. Es ist mittlerweile stockdunkel, inzwischen sind die Temperaturen noch weiter gefallen und wenn man dem Wetterdienst glauben kann, dann überrollt uns der Winter in den nächsten Stunden mit aller Gewalt. Ich glaube, ich hole schon mal Feuerholz für den Kamin.
Ein neuer Tag, ein neuer Versuch, ein neuer Hoffnungsschimmer.
Wie so oft in letzter Zeit schlief ich in Sam´s Armen ein und wachte mit mindestens einer Hand an meinem Körper wieder auf.
Ich richte mich lediglich auf, weil sein Wecker es von mir verlangt. Immerhin gehen wir im Moment zu normalen Zeiten schlafen, denn der Mann neben mir macht keine externen Aufträge, da er nicht Gefahr laufen will, Madjid zu verpassen.
Er sagt, dass es manchmal eigenartige Zufälle gibt. Da sucht man Ewigkeiten nach einem Verbrecher und in genau der einen Nacht, in der man das nicht tut, zeigt er sich plötzlich woanders. So in etwa ging es ihm auch mit diesem Detectiv Archer.
Dieser Maulwurf ging dann in die Offensive, um mich zu finden, als Sam gerade auf der anderen Seite des Bundesstaates war.
Ich frage mich, ob man das wirklich immer als Zufall abtun kann.
Aber um solcher Art von Zufällen – egal ob es nun welche sein mögen oder nicht, aus dem Weg zu gehen, erledigt der Profikiller aktuell niemanden von seiner schwarzen Liste. Insgeheim frage ich mich, wie viele furchtbare Taten bisher geschehen sind, die Sam schon längst hätte verhindern können, wenn ich nicht den Betrieb aufhalten würde. Noch ein Grund mehr, Madjid schneller dingfest zu machen.
Müde seufzend löse ich Sam´s sehnigen Unterarm von meiner Hüfte, rolle mich über seinen Körper, küsse den noch murrenden Mann unter mir und stehe schließlich auf.
Ich brauche nicht lange, denn ich bürste mir nur das Vogelnest auf meinem Kopf in Form, wasche mir das Gesicht, schrubbe mir die Zähne und bin bereits startklar, als ich den Alarm auf Sam´s Handy höre. Ich schaue aus dem Fenster und sehe, dass meine Eskorte schon vor der Tür steht.
Eilig gehe ich noch hoch zu meinem Liebsten. In der einen Hand hält er sein Telefon und den anderen Arm hat er sich über das Gesicht gelegt.
>Ich muss los. <
>Dann auf ein Neues. < sagt er und nimmt den Arm von seinen Augen. Ich gebe ihm einen Kuss zum Abschied, höre noch ein unverständliches „ich liebe dich“ von ihm und sause nach unten. Lauter ruft er mir allerdings hinterher, dass ich mir meinen Shake mitnehmen soll. Ich rolle mit den Augen und laufe in die Küche, um diesen Kaloriendrink mitzunehmen. Meine anderen Utensilien liegen schon bereit und ich klemme sie mir unter den Arm. Kurzerhand lasse ich die Tür ins Schloss fallen und grinse Nikolaj an, der rauchend an dem Leihwagen gelehnt steht und auf mich wartet.
Ich laufe zu ihm.
>Dobroye utro. (Guten Morgen.) < sage ich, als ich vor ihm stehe.
>Privet printsessa. YA prines tebe koye-chto. (Hallo Prinzessin, ich habe dir etwas mitgebracht.)
Ich bin so stolz auf mich, dass ich ihn überhaupt verstanden habe und muss schallend lachen, als er hinter sich durch das geöffnete Seitenfenster greift und mir ein gelbes Buch von dem Beifahrersitz hinüberreicht.
Ein Langenscheidt mit Russisch – Englisch, Englisch – Russisch.
>Spasibo. (Danke.) < erwidere ich grinsend.
Nikolaj nickt mit dem Kopf in Richtung des Pfades und will nun losfahren. Mimik und Gestik verstehe ich zumindest in jeder Sprache.
Ich laufe zu Sam´s Garage, steige in den Mustang ein und verlasse Grand Portage, dicht gefolgt von meiner Eskorte.
Bei dem auserwählten Café laufe ich wieder direkt zu einer der Kellnerinnen, sage, dass ich auf „Westwood“ reserviert habe und bitte darum, dass sie mir gleich für den Rest der Woche diesen Platz freihalten soll.
Am selben Tisch wie gestern, packe ich mein Zeug aus und setze den Akku wieder in den Laptop ein.
>Schreiben Sie ein Buch oder so? < fragt mich die Bedienung, als sie mit ihrem Zettelblock zu mir kommt.
>Das nicht, aber ich muss arbeiten und hier habe ich mehr Ruhe als im Großraumbüro. < lüge ich.
>Das kann ich verstehen. Viele kommen zum Arbeiten her. Offenbar ist man hier bei uns kreativer. < lacht sie. >Und was kann ich Ihnen bringen? <
Ich nehme einen Muffin, weil ich bis auf diesen ekelhaften Shake noch nichts zum Frühstück hatte und einen Milchkaffee. Es ist dieselbe Kellnerin wie gestern und offenbar erinnert sie sich noch gut an mich. Zum Ersten, weil ich wirklich lange hier war und zum Zweiten, weil ich ihr ein großzügiges Trinkgeld gab. Mag sein, dass ich am Ende der Woche das Geld verprasst habe, das ich in Angora verdiente, aber ich hoffe, dass ich nach meiner Lizenz endlich an höhere Geldsummen herankomme und Sam somit seine Kreditkarte nicht mehr zum Glühen bringen muss. Okay … genaugenommen tut er es nicht, denn er zahlt jede Summe immer in bar und da ich nun weiß, wie schnell man an eine Kreditkartenabrechnung kommt, weiß ich auch weshalb er alles in bar tätigt.
Ruby und Nigel betreten nur wenige Minuten nach meinem Eintritt das Café und setzen sich an einen Tisch für Pärchen. Wir sehen uns einen kurzen Moment an, aber wenden dann auch schon die Blicke ab. Nikolaj hält eine Zeitung vor sein Gesicht, aber ich sehe genau, wie er dennoch die Tür im Blick hat.
Das, was er liest, ist für mich nicht zu entziffern. Die russische Schrift besteht für mich aus Hieroglyphen und ich schaue in das Übersetzungsbuch hinein, das er mir vor knapp 30 Minuten gab. Das ist für mich immerhin in der normalen Schrift und somit lesbar.
Ich falte meine Hände zusammen, knackse meine Finger und beginne damit, den Laptop mal wieder komplett schutzlos zu machen.
Ich warte und warte und warte. Dennoch passiert nichts. In der Zwischenzeit habe ich die nächsten Tassen Kaffee geleert, die Kellnerin um einen Zettel und einen Kugelschreiber gebeten und Nikolaj mithilfe des Übersetzungsbuchs eine Nachricht zukommen lassen, in der steht, dass bald noch eine weitere Frau mit einem Kind herkommt und sie keine Gefahr für mich bedeuten. Ich musste mir das Lachen verkneifen, als er versuchte, einen Sinn aus meiner Nachricht herauszulesen. Immerhin habe ich nur eins zu eins die Wörter übersetzt, aber sicherlich ist die Satzstellung vollkommen falsch. Die russische Sprache hat sechs Fälle und ich rede noch totales Kauderwelsch.
Punkt 14 Uhr kommt eine Grazie von Frau hinein, die ein kleines Mädchen an der Hand hat. Nora hat links und rechts kleine Zöpfe, die noch so kurz sind, dass es aussieht wie ein ausgefranster Pinsel. Sophia sieht umwerfend aus wie immer. Sie trägt ein elegantes Businessoutfit mit einer dunklen Röhrenhose, schwarzen knöchelhohen Stilettos und einen hellen Mantel, den sie offen trägt. Außerdem ist sie aufwändig geschminkt, trägt offene, gewellte Haare und roten Lippenstift. Ihr Blick ist ruhelos, als ihre Augen den Raum abscannen. Sobald ihr Blick an mir hängenbleibt, grinse ich sie von Weitem an. Mit leicht geöffnetem Mund schaut sie an mir herab. Ich bin nur froh, dass ich noch sitze und sie nicht meinen gesamten Körper anstarren kann, der ja immerhin schon wieder etwas mehr Fülle bekommen hat. Während ihre Absätze bei jedem Schritt klackern, sehe ich Nigel, der Sophia unbehelligt abcheckt und ihm zu gefallen scheint, was er sieht.
>Oh mein Gott Süße, was zur Hölle ist denn nur passiert? < fragt sie in einem besorgten Ton. Ich stehe auf, um sie zu umarmen. Als ich mich von ihr löse, sage ich seufzend:
>Lange Geschichte. <
Ich begrüße auch Nora, der ich auf ihre kleine Nase stupse. Sophia zieht ihren Mantel aus und legt ihn über die Stuhllehne. Ihre kleine Tochter ist bei dieser Eiseskälte genauso dick eingepackt und wird von ihrer Mutter aus den Stoffschichten geschält.
>Na da bin ich ja gespannt. Ich bin gestern aus allen Wolken gefallen, als ich deine Stimme erkannt habe. <
>Hat man gar nicht gemerkt. < gluckse ich.
Sie bittet bei der Kellnerin um einen Kinderstuhl und setzt Nora darauf. Nachdem sie einen Muffin und Tee für die Kleine und einen Cappuccino für sich bestellt hat, lehnt sie sich auf ihre Ellenbogen und blickt mich unverhohlen an.
>Als ich dich das letzte Mal sah, hattest du sicher gute fünf Kilo mehr. <
>Glaub mir, das hat mir auch besser gefallen, aber ich bin dabei, es wieder hinzukriegen. <
>Hat dir Sam so zugesetzt? < will sie mitfühlend wissen.
>Nicht so sehr. Er hatte recht schnell Hausverbot in meinem Kopf, auch wenn er sich trotzdem manchmal durchgedrängt hat. < versuche ich lustig zu klingen. >Es waren eher mein vorheriger Wohnort und die Arbeit, die mir zugesetzt haben. Ich wusste nicht mehr weiter, bis Sam schließlich vor zwei Wochen vor mir auftauchte. <
>Na Gott sei Dank. Ich habe diesem Trottel schon vor Monaten gesagt, er soll dich zurückholen. Was sollte der Mist von ihm? Manchmal da könnte ich ihn bei den Eiern packen und … < sie starrt aus dem Augenwinkel zu ihrer Tochter hinüber, die mit ihrem Plüschhasen spielt. >Ich meine, ich fand das nicht in Ordnung, was er gemacht hat. <
Ich gluckse, da Sophia sich eilig zur Ordnung gerufen hat, um vor ihrem Kind nicht zu fluchen. Die Kellnerin kommt mit ihrer Bestellung und als sie verschwunden ist, rede ich weiter.
>Wie viel weißt du denn? <
>Im Grunde kaum etwas. Er redet doch nicht viel über solche Dinge, aber er sagte, du seist weg und nahm an, dass du in der Schule wärst. An dem Abend, als ich das von ihm hörte, kam alles nur durch Zufall heraus. Ich habe weiter nachgebohrt und ihm praktisch alles aus der Nase ziehen müssen – was echt nicht viel war. Aber schlimmer als die Tatsache, dass du weg warst, war, dass es auch noch der nächste Morgen nach eurem gemeinsamen Auftrag war. Süße, jetzt mal ehrlich, was war los? Du wolltest ihm doch unbedingt bei diesem Job helfen. <
>Oh, geholfen habe ich ihm auch, es lief gut … nein eigentlich lief es besser als gut. <
>Aber was war es dann? Das muss ja holterdiepolter in seinem Kopf umgeschlagen sein. <
Kann ich ihr so etwas wirklich sagen? Eigentlich will ich nur, dass sie Sam nicht mehr so behandelt. Sophia ist nicht mit mir befreundet, wir kennen uns nur aufgrund schwerer Umstände und eigentlich habe ich sie erst dreimal gesehen. Aber andererseits hat sie mir in einer Nacht-und-Nebel-Aktion einen falschen Pass zusammen mit Dimitrij gedruckt und dafür gesorgt, dass ich mich wieder unter Leuten bewegen konnte. Sie ist nicht einfach irgendein dahergelaufener Kontakt und ich weiß, dass ich sie wirklich gern habe. Sam hat sie ebenfalls gern, also sollte ich es ihr wohl erzählen, damit sie immerhin auch die andere Sichtweise kennt.
>Was du mir am Abend über ihn sagtest, als du mich gestylt hast, habe ich einfach ignoriert. < hauche ich und sehe schließlich zu ihr hoch. >Du meintest, er sei nicht einer dieser Männer, die ein Abenteuer oder eine Beziehung suchen und ich solle auch nichts davon von ihm erwarten. Ich habe ihn überrumpelt, glaube ich. Es war meine Schuld und nicht seine. Der perfekte Fehler zur falschen Zeit sozusagen. <
>Fehler? Warte mal, du meinst, ihr hattet … < wieder schaut Sophia zu ihrer Tochter hinab und bevor sie noch länger überlegt, wie sie das in Gegenwart eines Kindes fragen will, nicke ich einfach und rede weiter.
>Am nächsten Morgen war er ziemlich seltsam drauf und wollte, dass ich gehe. Sein Plan war eigentlich, dass ich zur Schule zurückgehe, aber das tat ich nicht. Stattdessen versauerte ich in einem Vorort von Angora und kellnerte dort. Aber fast drei Monate später war Sam plötzlich dort, schlug einen Kerl zu Boden, der mir etwas antun wollte und gab zu, die meiste Zeit ein Auge auf mich gehabt zu haben. Er erklärte mir, weshalb er damals diese Entscheidung getroffen hat, aber glücklicherweise sieht er die Sache nun ein wenig gelassener und ich bin wieder bei ihm. <
Sophia sieht mich an, als verstünde sie nur Bahnhof.
>Und jetzt? Ich meine, wie ist er denn zu dir? Muss ich mir das als peinliches Schweigen vorstellen oder geht ihr euch aus dem Weg? Immerhin hattest du damals wenigstens das Zimmer unten. <
Ich grinse.
>Die ersten beiden Tage war es wirklich seltsam, weil ich ihn einfach nicht einschätzen konnte, aber nach eingehendem In-sich-Gehens hat Sam beschlossen, sich mir zu öffnen und das Risiko einzugehen. Ich brauche kein eigenes Zimmer, denn ich fühle mich in seinem Zimmer ziemlich wohl. <
>Ihr seid zusammen. < flüstert sie mit aufgerissenen Augen. Das war keine Frage von ihr, das war eine völlig monotone Feststellung, die erst bei ihr durchsickert, als ich nicke. Plötzlich quietscht Sophia auf und ballt vor Freude die Fäuste vor ihrem Körper.
>Sophia! Geht es auch weniger auffällig? < zische ich zwischen meinen Zähnen hindurch, als alle zu uns herübersehen. Auch Ruby, Nigel und Nikolaj checken erst einmal die Lage ab.
>Ich fasse es nicht, dieser Griesgram hat sich verliebt. Na klar, er denkt doch immer, dass man das bei seinem Job nicht tun darf, um keinen Racheakt zu riskieren. <
>Du würdest staunen wie oft dieser Griesgram inzwischen am Tag lächeln kann. <
>Aber was machst du dann hier so völlig allein? Wieso lässt er dich hier? <
>Ich bin nicht allein. Dreh dich jetzt nicht um, aber hinter dir sitzen zwei Bounty Hunter und einer von Sam´s Leuten. <
Nora ist zu klein um das alles zu verstehen und zu verarbeiten. Aus ihrem Mund kommen noch nicht einmal vollständige Sätze oder mehr als 20 verständliche Wörter. Dennoch versuche ich mich gewählt auszudrücken und nichts von Mord und Totschlag zu berichten. Allerdings erkläre ich Sophia in dieser hintersten Ecke so grob wie es nur geht was passiert ist, wie ich Sam vor knapp zwei Wochen wiedertraf und weshalb wir mittlerweile ein Team aus mehreren Leuten sind. Am liebsten würde ich ihr mehr sagen, aber ich lasse bewusst die Hälfte wegfallen und erwähne keine Beinahevergewaltigung oder Körperverletzung in Angora, kein Suizidversuch, keine Festnahme und keinen Mord an einem Cop. Wir sind immer noch in einem öffentlichen Café. Es gibt zwar keine Kameras und wir reden im Flüsterton, aber dennoch will ich vorsichtig sein.
An den wichtigen Stellen stellt sie Fragen, keucht ab und zu auf oder starrt mich nur mit offenem Mund an. Sobald ich fertig bin, sagt sie seufzend:
>Ich hätte im Leben nicht damit gerechnet, dass es solche Ausmaße annimmt. Wie kann eine unschuldige Collegeabsolventin wie du in sowas hineingeraten? Es ist einfach nicht fair, dass du das alles durchmachen musstest und es ist auch nicht fair, dass Sam so gebrandmarkt ist. Ich komme mir gerade ziemlich schäbig vor, denn ich habe ihn ganz schön angeblafft. Aber ich war so wütend, weil ich irgendwie wusste, dass er es versauen würde. <
>Er hat es nicht versaut … er ehm … hat immer mit sich gerungen und ich bin irgendwann einfach zu weit gegangen. Vielleicht hätte ich ihm mehr Zeit geben müssen und die Dinge wären anders gelaufen. Ich kann ihm nicht an allem die Schuld geben. <
Sophia lehnt sich grinsend, mit verschränkten Armen gegen die Stuhllehne.
>Junge, Junge du bist wirklich so süß. So wie du das sagst, könnte man denken, du hast ihm seine Tugend genommen. Ich glaube, du hast ihn um den Verstand gebracht und das war dringend nötig. Und wenn du mir jetzt erzählst, dass der Griesgram ziemlich viel lächeln kann, seitdem du wieder bei ihm bist, hätte er wohl nur mal mehr vögeln müssen. < Daraufhin sieht Nora an die Decke und dreht ihren Kopf hin und her. Sophia reißt die Augen auf, da ihr jetzt erst bewusst ist, was sie gerade sagte. >Oh nein Schatz, den Vogel hast du gerade verpasst, er ist schon wieder rausgeflogen. <
Ich pruste los und halte die Luft an, damit ich nicht die Aufmerksamkeit auf uns ziehe. Beiläufig sehe ich immer wieder auf den Laptop. Jetzt sitze ich schon wieder eine geschlagene Stunde länger hier und es ist immer noch nichts passiert.
>Oh Mann, wenn du Kinder hast, dann musst du aufpassen was du sagst. <
>Ja das kenne ich von meinem Bruder auch noch. <
Wieder sehe ich auf meinen Laptop und trinke den Rest meiner Kaffeepfütze aus.
>Wieso macht ihr das eigentlich hier? < fragt Sophia und nickt zu dem Laptop.
>Ein öffentlicher Ort mit öffentlichem WLAN-Zugang ist perfekt. Sobald ich hier bin, stelle ich die Sicherheitsprogramme aus, lasse aber das Hackerwarnsystem an und treibe mich ganz bewusst in Chats herum, in denen er mich hoffentlich durch sämtliche gesetzte Tags findet. Würde ich das in Sam´s Haus tun, dann wäre der Standort für Madjid schnell klar und der Kerl könnte nachts kommen und direkt uns beide umlegen. Leichter ginge es nicht. <
>Wieso sucht ihr ihn nicht über das Darknet? Dann weiß er nicht wo du steckst. <
>Über das Darknet hängen Sam und die Anderen drin. Ich hingegen soll süß sein und unschuldig im Internet surfen. Der Kerl soll nicht denken, dass ich in irgendeiner Weise eine Gefahr darstelle, sondern ich bin die kleine naive Göre, an der er sich rächen will. <
>Verstehe. < seufzt sie. >Wow, ich kann es echt nicht fassen, dass Sam so viele Leute angeheuert hat. Ich dachte immer, er ist durch und durch ein Einzelgänger aber offensichtlich muss nur die richtige Frau in sein Leben kommen und er muss eindeutig mehr vögeln, dann ist er wohl besser zu handhaben. Oh … nein Schatz, nun hast du schon wieder den Vogel verpasst. < sagt Sophia eilig hintendran, als Nora bei dem Wort „vögeln“ mal wieder an das Tier dachte. Diese Unschuld ist einfach noch zu süß und Sophia muss sich wirklich schon mal an eine andere Wortwahl gewöhnen.
>Wie lange bist du denn noch hier? < will Sophia wissen.
Ich seufze und hole das Handy aus meiner Tasche um darauf zu schauen.
>Keine Ahnung. Gestern haben wir einfach irgendwann abgebrochen. Es sind inzwischen schon wieder fünf Stunden. Vielleicht ist das auch total bescheuert was wir hier machen. Wir haben nicht einmal darüber geredet, wie lange wir das überhaupt durchziehen wollen. Ich kann mich doch nicht für einen Monat hier einmieten. <
>Na ja … aber ich kann dich verstehen. Es fühlt sich zumindest so an, als würde man einer Spur nachgehen. <
Irgendwie hat sie damit recht. Zumindest legt man nicht einfach die Hände in den Schoß. Sophia bestellt für Nora einen warmen Pudding und sich selbst noch einen Cappuccino. Die Kleine ist erstaunlich entspannt und spielt mit ihrem Plüschtier herum, während wir uns unterhalten. Ich nahm nicht an, dass Sophia so lange mit ihr hier bleiben würde, aber ganz offenbar ist Nora zufrieden, sobald sie etwas zu essen bekommt und ein Spielzeug dabei hat.
Nach einer weiteren Stunde, in der es bereits nach vier Uhr am Nachmittag und beinahe dunkel ist, bekomme ich eine Kurznachricht.
>Das ist Sam. Er meint, wir sollen es gut sein lassen. Seine Insider im Darknet sind bisher auch erfolglos. Das nervt echt. <
>Glaubst du, es ist okay, wenn wir mitkommen? Ich habe das Gefühl, mich bei ihm entschuldigen zu müssen. < fragt Sophia mit hängenden Mundwinkeln.
Nach einer dreißigminütigen Fahrt trudeln drei Fahrzeuge vor Sam´s Haus ein. Nikolaj gebe ich aus nächster Nähe ein Handzeichen, dass er Feierabend machen kann und grinsend nickt er mir zu. Den Lagebericht kann ebenso ich an Sam weitertragen – es gibt nämlich keinen. Als ich aus dem Mustang aussteige und Sophia ebenso ihre Fahrertür öffnet, glotzt sie mich mit großen Augen an. Eiskalte Luft umgibt uns und das Thermometer im Auto sagte etwas von – 5° C. Sobald ich draußen bin, beginne ich zu schlottern und laufe schneller zu dem Jeep.
>Ich dachte vorhin, dass ich meinen Augen nicht traue als du in den eingestiegen bist. Ihm muss es ja wirklich schrecklich leidtun, wenn er dich damit fahren lässt. < keucht sie.
Natürlich ist ihr klar, dass er Sam gehört – den könnte ich mir nie leisten. Und ja es tut ihm leid, aber dass ich diese 450 PS bewegen darf, ist seiner Freude darüber geschuldet, dass ich begeistert wie ein Schulmädchen am ersten Tag herumspringe, wenn ich hinter dem Steuer sein kann.
Ich werfe ihr ein Grinsen zu und warte bis sie Nora aus ihrem Kindersitz geholt hat. Die Kleine tapst uns mit ihrem Kuscheltier im Arm einfach hinterher.
Normalerweise empfängt mich Sam schon an der Tür, aber allmählich wird er hoffentlich entspannter – immerhin habe ich ihm gleich auf seine Nachricht geantwortet und mich auf den Weg gemacht. Trotz seines Handyalarms sollte ihm klar sein, dass nur ich hier angekommen sein kann.
>Übrigens hat er keine Ahnung, dass ich mich mit dir getroffen habe. Ich habe das heimlich gemacht, weil er so niederschlagen wirkte, als er mir erzählte, dass ihr Zwei nicht wirklich miteinander redet. <
Sophia nickt nur und schürzt die Lippen.
Die Haustür ist nicht abgeschlossen und ich gehe hinein, mache das Licht im Flur an, streife meine Schuhe ab, aber lasse meine Jacke noch an, um direkt durchzulaufen.
Er hat Musik im Hintergrund zu laufen, die eindeutig aus dem Wohnzimmer kommt.
Ich blicke um die Ecke und ohne von seinem Laptop aufzusehen, sagt er:
>Hey Kleines. Das ging ja schnell. <
Dann tippt er etwas ein, drückt die Entertaste und kommt schließlich grinsend zu mir gelaufen.
>Tja der Mustang ist ja auch schnell. < grinse ich zurück und lasse mich von ihm küssen. Aus dem Flur hört er Geräusche wie Schuhe ausgezogen werden und das Rascheln von einer Jacke.
>Ich habe dir jemanden mitgebracht. < hauche ich grinsend und höre die Schritte, die näher kommen.
>Nikolaj soll dich ja schließlich heil zurückbringen – dafür bezahle ich ihn ja immerhin. < feixt er.
>Visagisten können aus einem Gesicht zwar alles Mögliche machen, aber ein Mann bin ich noch nicht. < flötet Sophia keck, die Nora auf dem Arm hat. Sie steckt ihren Kopf durch die offene Wohnzimmertür, sieht wie Sam mich in seinem Arm hält und macht noch ein leises „Aww“, samt verzückter Schnute hintendran.
Sam hingegen scheint eingefroren zu sein und starrt sie mit offenen Augen an.
>Das ist auf meinen Mist gewachsen. < erkläre ich sofort. >Ich habe sie angerufen und Nikolaj habe ich eben schon weggeschickt. <
Ich löse mich aus seinem Griff und mache Platz für Sophia. Sie lässt ihre Tochter runter, aber energiegeladen wie sie noch zu sein scheint, rennt sie bereits durch das Wohnzimmer und will am liebsten gleich zu Sam´s Laptop watscheln und am Kabel ziehen, aber ich schnappe sie mir eilig, ziehe meine Jacke aus und setze die Kleine auf meine Schultern.
>Jetzt komm schon her, du Grummelkopf! < meckert Sophia nicht ganz ernstgemeint, reißt ihn theatralisch in ihre Arme und küsst sein Gesicht. Ich glaube, sie hat im Auto mit Absicht noch einmal den roten Lippenstift neu aufgelegt. Sam sieht jetzt aus wie eine Tomate.
>Ehm … Sophia. Hi, schön dich zu sehen, aber was machst du hier? < fragt er steif und ohne jede Melodie in seiner Stimme. Er scheint sichtlich baff zu sein.
>Na ja, wie Nayeli schon sagte, kam das von ihr. Sie hat mich gestern Abend angerufen und wir haben uns vorhin in dem Café getroffen und geredet. Ich weiß nun Bescheid. <
>Gestern Abend? < fragt Sam verwundert und blickt über seine Schulter zu mir, als es ihm einfällt. >Hey warte mal … gestern Abend, da hattest du doch mein Handy als ich duschen war. <
>Jop. Nenn mich 007. < gebe ich trocken zurück.
>Deswegen warst du so gut gelaunt, als du noch nachgekommen bist. < feixt er.
>Oh Leute bitte. < keucht Sophia. >Keine detaillierten Storys vom Vögeln. <
>Nein wir hatten nicht …< beginne ich, aber noch ehe ich für meine Antwort Luft holen konnte, hat sie bereits ihre Hände auf die Ohren gelegt und sagt:
>La, la, la, la. <
>Warum hast du sie angerufen? < fragt mich Sam und ich komme mit Nora zurück neben ihn.
>Na deinetwegen. Du warst alles andere als glücklich damit, dass ihr kaum noch miteinander geredet habt. <
Daraufhin nimmt Sophia ihre Hände von den Ohren, legt schon wieder ihre Arme um Sam, um all ihre Schuldgefühle loszuwerden und sagt an ihn gewandt:
>Es tut mir schrecklich leid, dass ich dich so doof angemacht habe. Du hättest ja auch mal was sagen können. <
>Ich wusste nicht was. Es klang ja schon in meinem Kopf immer bescheuert. <
>Na immerhin hattest du genug Eier, deine Kleine zu suchen. <
Sam und ich werfen uns einen kurzen Blick zu. Das zweite Treffen hatte nicht wirklich etwas mit Eiern zu tun, sondern es war eine der schlimmsten Paniksituationen für ihn, als er nach mir suchte.
>Auch wenn wir in der hintersten Ecke ohne Kameras in diesem Café saßen, konnte ich dir nicht alles sagen. Deine Reaktion wäre einfach zu auffällig gewesen. < beginne ich.
Da Nora noch gut gelaunt zu sein scheint, spiele ich im Wohnzimmer mit ihr, während Sophia und Sam auf dem Sofa sitzen und wir ihr das ganze Ausmaß des Schreckens erklären und das ausgerechnet ich jemanden erschießen musste. Sie ist emotionaler als ich angenommen habe und fängt nur innerhalb der ersten zehn Minuten damit an Rotz und Wasser zu heulen. Hut ab, denn ihr Make-up hält dem Ganzen ziemlich lange stand. Sam tut mir aber allmählich etwas leid. Denn immer, wenn der nächste Gefühlsausbruch kommt, wirft sie sich ihm wieder in die Arme und ich gebe mir die größte Mühe, nicht zu lachen, weil Sam ihr unbeholfen den Rücken tätschelt. Mit meinen Emotionen konnte er irgendwie immer besser umgehen.
Sobald wir jedes Detail an Sophia weitergetragen haben, kann sie sowohl Sam als auch mich verstehen. Sie tat es schon in dem Café, aber es noch einmal aus seiner Sicht zu hören, ändert ihre gesamte Meinung der letzten Monate und es tut ihr leid, dass sie nicht für ihn da war. Sam hingegen tut es wie immer mit einer lässigen Handbewegung ab. Auch für mich ist es gut, das Thema auf so eine Weise noch einmal durchzugehen und auch abzuhaken. Jetzt kann ich viele meiner Grollgefühle außen vor lassen und die Sache aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Sophia scheint es nun genauso zu gehen.
Auch wenn sich die Zwei in den vergangenen Monaten ein paar Mal gesehen haben, war es offensichtlich sehr kalt zwischen ihnen und Sam sagte mir bereits, dass Sophia im Grunde nur das Nötigste für ihn machte, falls er sie wirklich einmal brauchte. Aber auch diese Dinge stellte er schnell ein, denn er meldet sich für gewöhnlich nicht nur dann bei einem Menschen, wenn er einen Gefallen benötigt.
Er schaut hinab zu ihren rot lackierten Fußnägeln in den Feinstrümpfen und schmunzelt, als er einwendet:
>Dieses Mal konntest du wenigstens nicht wieder deinen Schuh nach mir werfen. <
>Was? Du wirfst deine High Heels nach ihm? < erwidere ich stirnrunzelnd, aber bevor sie antworten kann, sagt Sam an mich gewandt:
>Ja vor etwa zwei Monaten, aber keine Sorge, sie kann nicht mal mit Dartpfeilen treffen. <
Wir alle prusten los. Nora und ich haben ein Haus aus leeren CD-Hüllen gebastelt, das soeben wieder einstürzt – also ich baue und Nora bringt es zum Einsturz.
Nachdem unser Gelächter wieder verstummt, lässt sich Sophia das Besprochene wohl noch einmal durch den Kopf gehen und sagt in die Stille hinein:
>Das ist doch einfach nicht zu fassen. Wie kann eine Person allein nur so viel Pech haben? <
Ich zucke mit den Achseln, beginne wieder das CD-Hüllen-Haus zu stapeln und entgegne:
>Ach, ich rede mir ein, dass man in seinem Leben nur eine bestimmte Anzahl von Pechsituationen zur Verfügung hat und meine langsam aufgebraucht sind. Irgendwann muss doch mal ein Ende sein. <
Ein Mord hat für mich zwar nichts mit Pech zu tun, sondern mit dem größten Schicksalsschlag, den ich mir vorstellen kann, aber ich will nicht alles jedes Mal thematisieren und ich will vor allem nicht mehr traurig sein.
>Könnt ihr bei eurem Vorhaben noch Hilfe gebrauchen? < will Sophia wissen. >Ich meine, ich begleite dich mit deinem Problem fast von Beginn an und ich würde gern mehr tun und es auch zu Ende bringen. <
>Danke. Wir finden sicher etwas für dich. < beteuert Sam grinsend in meinem Namen. Ohne zu murren, willigt er einfach ein. Sophia hat recht. Inzwischen ist er besser zu handhaben. Mit zusammengepressten Lippen versuche ich mein Grinsen zu verstecken und baue Noras kleines Haus weiter.
Später
Irgendwann wird Sophias Tochter müde und für so ein kleines Kind ist es bald Zeit ins Bett zu gehen. Zum wiederholten Male küsst Sophia Sam und sagt immer wieder, wie leid ihr ihre Reaktion täte, aber Sam beteuert ebenfalls abermals, dass es vollkommen in Ordnung gewesen sei und sie nur das sagte, was er doch selbst schon längst wusste.
An der Tür beobachten wir die beiden noch, bis sie endlich weggefahren sind. Am Ende des Tages hat Nora übrigens ein neues Wort gelernt. Zum Glück nur „Vögel“ …
Sam blickt mich so an, als wäre die Welt plötzlich ein kleines Stück besser für ihn geworden.
>Danke Kleines. < haucht er.
>Kein Ding. Ich habe doch gesagt, ich biege das wieder gerade. Aber ich hatte auch etwas Angst, dass du sauer auf mich sein könntest. Ich war einfach an deinem Handy. <
>Die erste Minute als Sophia im Türrahmen stand, war ich das auch. Aber ich weiß, du bist professionell genug, um am Telefon keine wichtigen Dinge preiszugeben und vor Ort in dem Café ebenfalls hinter dem Berg gehalten hast. <
Ich nicke, denn ich habe mir letzte Nacht neben Sam ernsthaft den Kopf darüber zerbrochen, wie ich das Gespräch beginnen und welche Themen ich meiden sollte. Dass Sophia noch hinterher mit zu Sam fuhr, hatte ich mir zwar erhofft, aber nicht daran geglaubt. Ich bin mehr als froh darüber, dass ein Plan auch mal funktionieren kann. Mir war klar, dass es besser ist, wenn die beiden miteinander reden würden.
>Und was stellen wir morgen so an? < frage ich voller Sarkasmus.
>Wir versuchen es wieder. <
Ich nicke und gehe mit Sam rein, da es ohne Jacke an der Tür wirklich kalt ist. Es ist mittlerweile stockdunkel, inzwischen sind die Temperaturen noch weiter gefallen und wenn man dem Wetterdienst glauben kann, dann überrollt uns der Winter in den nächsten Stunden mit aller Gewalt. Ich glaube, ich hole schon mal Feuerholz für den Kamin.