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Fingerabdrücke bleiben

von Lynnix
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Krimi / P16 / Gen
23.02.2018
25.11.2021
129
578.228
7
Alle Kapitel
102 Reviews
Dieses Kapitel
1 Review
 
27.03.2020 4.561
 
Kapitel 28 – Träume

*TRIGGERWARNUNG!*
Dieses Kapitel beinhaltet blutige Details.

Es dauert bis in die Nacht hinein, bis unser Plan endlich Form annimmt und ich Sam so weit habe, dass er mich an ein paar Dingen teilhaben lässt. Ich greife nach jedem Strohhalm, den er mir reicht und das sind wirklich nicht viele. Meinen Grundgedanken findet er gut – richtig gut sogar, denn bisher klingt es am Erfolgversprechendsten. Aber die ganze Zeit sagt er mir, dass ich zu schwach bin, um Madjid persönlich gegenüberzustehen. Ich habe zu viel Gewicht verloren, bin nicht im Training und habe nie bis zum Schluss meine Kampftechniken lernen können. Er macht keinen Hehl daraus, dass er mir einen Nahkampf im Augenblick nicht zutraut, was mich ehrlich gesagt niedergeschlagen stimmt, aber leider hat er damit wohl recht. Andererseits tue ich unter Angst erschreckende Dinge, egal wie viel Kraft sie kosten.
>Lass uns ins Bett gehen Kleines. < schlägt Sam müde vor und küsst mich auf den Scheitel. Ich nicke nur, denn ich bin auch erledigt. Es ist weit nach 1 Uhr als wir beide nach oben in sein Zimmer gehen. Dort zückt er sein Handy und um seine Paranoia zu beruhigen, kontrolliert er noch einmal, ob alle Kameras aktiv sind. Dann legt er es von sich weg, setzt sich auf seine Bettkante und stellt nur das schummrige Lämpchen daneben an.
>Willst du die ganze Zeit dort stehenbleiben? < fragt er amüsiert, als er sich sein Hemd aufknöpft. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich noch mitten im Raum stehe und bis eben gedankenverloren aus dem dunklen Fenster sah.
Dann gehe ich auf ihn zu und lege meine Arme auf seinen Schultern ab.
>Wenn wir ihn haben, dann kann ich wieder auf die Schule gehen, richtig? < frage ich ihn explizit.
>Ja, vorausgesetzt er hat keine neuen Anhänger. Denn die müssen wir dann auch kaltmachen. <
Ich grinse leicht. Der Gedanke, endlich ein Hunter zu werden, ist wundervoll.
>Ich will das unbedingt machen. < beteure ich aus tiefster Überzeugung. >Ich will keine PR-Agentin mehr sein, auf keinen Fall. Mein Diplom habe ich nur geholt, weil ich lieber das machen wollte, als in einem Diner zu kellnern, aber mein Herz hängt dort nicht mehr dran. <
Sam´s Augen lodern bei meiner Aussage und er nickt.
>Dann wirst du das. Auch wenn ich dir die Ohren dafür langziehen könnte, dass du genau das Gegenteil von dem getan hast, das du machen solltest – nämlich nicht zurück nach Duluth zu fahren, bin ich froh, dass du es getan hast. Ohne diese Kette von Ereignissen die danach losgerissen wurde, hätten wir weniger in der Hand – viel, viel weniger. Es musste alles so kommen, wie es kam. <
>Das heißt, indirekt findest du es eigentlich toll, dass ich genauso starrköpfig bin wie du. Du weißt es nur noch nicht. <
Jetzt lacht er, greift mit beiden Händen zu meiner Taille und schleudert mich lässig auf sein Bett. Sam war für meinen Geschmack viel zu lange weg und die Nähe zu ihm finde ich nun mehr als überfällig. Jetzt will ich so viel davon kriegen wie es nur geht. Ich bin regelrecht süchtig nach ihm und streife sein offenes Hemd von seinen Schultern, um es in die nächstbeste Ecke zu befördern – genauso wie den Rest unserer Klamotten …

Später in der Nacht
(geänderte Erzählweise)

Mit Nayeli zu debattieren ist, als würde man ohne Helm mit dem Kopf gegen eine Metalltür rennen – immer und immer wieder. Sie hat gute Gegenargumente, die viel Spielraum für eine angeheizte Diskussion geben. Dennoch gibt es auch trotz guter Argumente Dinge, die Sam nicht will und nicht zulassen wird.
Er wird sie nicht in Gefahr bringen und er wird für sie so lange da sein und an ihrer Seite stehen, solange sie ihn in ihrem Leben haben will. Er weiß, er wird sie nicht mehr von sich stoßen und er will auch weiterhin eine schützende Hand über sie halten – auch dann noch, wenn sie eine perfekte Ausbildung hinter sich hat. Sie ist seine Kleine – komme was wolle. Er hält ihren nackten, warmen Körper in seinem Arm und hat sein Gesicht seitlich neben ihrer Halskuhle vergraben. So könnte er jede Nacht einschlafen und langsam dämmert er weg.

Rückblende
Es ist so unerträglich heiß in Sam´s Schlafzimmer, dass er sich seit zwei Stunden nur hin- und herwälzt. Seine Decke hat er schon vor einer Weile aus dem Bett geworfen und versucht krampfhaft einzuschlafen. Eigentlich ist er hundemüde, da sein Auftrag so lange dauerte, aber sein Körper kühlt partout nicht herunter. Der Juli ist der heißeste Monat in Minnesota und seit einer Woche wird Grand Portage tagsüber von der Hitzewelle heimgesucht. Wenn Sam mitten in der Stadt leben würde, anstatt im Wald und so nah am Lake, dann wäre es wohl noch schlimmer.
Na klar, der Lake! Hellwach öffnet Sam seine Augen und starrt wieder an die Decke.
>Ach scheiß drauf. < murrt er entnervt und schwingt sich auf die Seite, um aufzustehen. Den Kampf ums Einschlafen hat er wohl verloren. Es beginnt zu dämmern und diese Uhrzeit ist die Beste um zu angeln. Er muss ohnehin wieder seinen Tiefkühler auffüllen und jagen gehen wollte er auch schon seit ungefähr zwei Wochen. Das sollte er endlich einmal wieder tun. Vom anderen Ende des leeren Bettes greift er sich die herumliegende Hose und zieht sie über seine Shorts.
Er geht die Stufen nach unten, holt sich aus der Küche ein kaltes Bier aus dem Kühlschrank und schnappt sich im Flur seinen Schlüssel vom Tisch. Mit einem gekonnten Hebel öffnet er damit seine Flasche, springt in seine Boots hinein und verschwindet nach draußen.
Sofort umgibt ihn die kühlere Luft und seufzend atmet er auf, da er die stickige Atmosphäre in der Hütte kaum noch ertrug. Wie er das Klima hier gewohnt ist, wird er vielleicht nächste Woche schon wieder den Kamin anwerfen müssen, da nachts die Temperatur normalerweise hinunter sackt. Das Wetter ist hier verrückt und manchmal kommt es ihm so vor, als würden alle vier Jahreszeiten innerhalb einer Woche auftauchen.
Er läuft hinter sein Haus zu seiner Garage, schließt auf und sucht dort nach seinem Angelzubehör. Wenn ihn jetzt jemand zu dieser Zeit sehen könnte – in Jeans und Boots, oberkörperfrei, zwischen 4 und 5 Uhr morgens mit einem Bier in der Hand, dann würde jede potenzielle Schwiegermutter die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Bei diesem Gedanken muss er verbittert auflachen. Als wenn in seinem Leben noch einmal eine Frau auftauchen würde. Sollen sie ihn ruhig alle in Frieden lassen.
Er mag die Stille an diesem Ort und die Abgeschiedenheit. Niemand geht ihm auf den Wecker, niemand erwartet etwas von ihm.
Mit dem Angelbedarf in seiner Hand geht er hinunter zum Lake.
>So ein Mist. < zischt er und sucht das Ufer nach seinem kleinen Boot ab. Es ist nicht mehr da. Vorhin kam ein ziemliches Unwetter von Richtung Westen herüber, wodurch die Luft hier draußen ionisiert ist. Womöglich hat er das Boot nicht richtig befestigt und es ist weggetrieben. Nun muss er vom Land aus sein Glück versuchen, das ist weniger erfolgreich. Genervt stellt er die Kiste auf dem Boden ab und nippt an seinem Bier. Aus seinem Augenwinkel sieht er eine Bewegung und blickt dorthin. Etwa fünfzig Meter weiter – innerhalb der Bucht und dort wo das Wasser ruhiger ist, schwappt ein Stück Holz bei jeder kleinen Welle immer wieder an den Rand des Gesteins. Er will schon fast wieder wegsehen, als sein Kopf erneut ruckartig in diese Richtung zurückgeht. Mit gerunzelter Stirn geht er näher an das Ufer heran.
Das ist doch ein Mensch darauf und er bewegt sich nicht. Er lässt seine Flasche abrupt fallen und rennt sofort los in den Wald hinein. Dicht neben der Gesteinswand – die an dieser Stelle nicht hoch ist, rennt er vorbei und hält die Augen nach diesem schwimmenden Treibholz offen. Als es schließlich in sein Blickfeld gerät, sieht er eine Frau darauf liegen. Ohne groß darüber nachzudenken, springt Sam mit Anlauf in das Wasser hinein und ist mit zwei langen Schwimmzügen bei ihr.
>Hey, hörst du mich? < fragt er, als er bei ihr ist. Er dreht ihren Kopf zu sich, was sehr leicht geht. Gut, also schon mal keine Leichenstarre. Ihr Gesicht ist verdeckt von nassen Strähnen und er streicht sie aus ihrem Gesicht.
Er hält inne, da sie noch so jung aussieht. Sofort greift er an das Holz und schwimmt los, um sie an Land zu bringen.
Sam zieht sie die letzten Meter hinaus, greift dann zu seiner Angelkiste und sucht nach einem Messer, um den Stoff zu durchtrennen. Sie hat sich selbst fixiert, um nicht herunterzufallen – ziemlich clever. Erst dann kann er sie genauer ansehen. Sie ist eine Indianerin, aber dafür ziemlich blass. In Minnesota gibt es noch sehr viele alte Indianerreservate. Vielleicht ist sie eine von ihnen.
Doch dann sieht er den Grund für ihre Blässe. Sein Blick fällt auf ihr Bein. Das sieht übel aus und es ist ein glatter Durchschuss. Das, was sie trägt, hat sie in Fetzen gerissen um das Bein abzubinden, damit der Blutverlust nicht noch stärker wird. Sam legt zwei Finger auf ihre Halsvene, um zu überprüfen, ob sie überhaupt noch lebt, denn sie zeigt bisher keine Regung.
Der Puls ist schwach aber immerhin vorhanden. An ihrem Oberarm entdeckt er einen Streifschuss.
Was ist da nur passiert? Er greift unter ihren Oberkörper und unter ihre Beine, um sie so schnell wie möglich ins Haus zu bringen. So wie er die Lage einschätzt, hat sie nicht mehr lange. Klitschnass wie sie beide sind, stürmt er mit ihr in die Küche. Mit seinem Bein räumt er in einem Rutsch alles ab, was auf seinem Küchentisch steht und lässt es scheppernd zu Boden fallen. Er legt die Verletzte auf dem Tisch ab und als er seinen Arm unter ihrem Oberkörper wegzieht, sieht er, dass ihm das Blut den Ellenbogen hinunterläuft. Verwirrt dreht er sie auf die Seite und sieht, dass sie noch eine weitere Schusswunde hat.
>Scheiße, das krieg ich nie hin. < faucht er. Sam ist nun einmal kein Arzt, auch wenn er auf dem Gebiet recht gut informiert ist und schon viele ähnliche Wunden versorgen konnte, aber das übersteigt sein Können. Da muss ein Notarzt ran. Gerade als er sich umdreht und sein Handy suchen will, ringt sie plötzlich nach Luft und erschrocken dreht er sich zu ihr. Er greift ihr an die Schulter und sie verkrallt sich mit beiden Händen an seinem Handgelenk.
>Verfolgen sie mich noch? < sie atmet heftig und hat sichtlich Angst.
>Wer? < fragt Sam und sieht die Frau eindringlich an, der das Entsetzen in den Augen steht und dennoch schaut sie durch Sam hindurch.
>S…sie sind alle tot. < ihre Stimme bricht und ihm ist klar, dass es verdammt starke Schmerzen sein müssen, die wohl kaum zu ertragen sind. Dann verdreht sie ihre Augen und entgleitet ihm wieder so wie zuvor.
>Hey! Wer ist hinter dir her? <
Doch die Verletzte antwortet nicht. Sam lässt sie so liegen, sucht auf die Schnelle sein Handy und läuft zurück, um nach unten in den Keller zu kommen. Hier stimmt etwas nicht. Wenn sie nicht fantasiert hat, dann wurde irgendjemand umgebracht und bei ihr hat man es versucht. Grand Portage ist nur ein 557-Seelen-Ort, zu dem ein Notarzt jetzt zu lange braucht und er denkt, dass ein Krankenhaus der falsche Ort ist. Sein Gefühl trügt ihn in der Regel nie. Irgendetwas ist da im Busch, also muss er es selbst in die Hand nehmen. Sam muss sich beeilen und macht mit dem Handy schnell ein paar Aufnahmen von ihren Wunden. Dann wählt er eine Nummer, tippt auf den Lautsprecher und legt das Handy auf den Tisch.
Währenddessen breitet er alles auf seinem Tisch aus, zieht sich Handschuhe über und bereitet alles vor, um ihr einen Zugang in der Ellenbeuge zu legen.
Zum Desinfizieren ist keine Zeit. Falls sie das überlebt, wird er ihr einfach für zwei oder drei Tage einen Antibiotikatropf geben.
Das Telefon läutet und läutet. Allmählich wird Sam ungeduldig.
>Komm schon geh ran, du Idiot. < zischt er.
>Ja? < tönt es völlig verschlafen aus dem Hörer.
>Ich brauche sofort Blut. Null negativ – so viel wie du hast. <
>Was? Hast du mal auf die Uhr gesehen? <
>Hast du welches da – ja oder nein? < brüllt Sam eindringlicher.
>Ja, aber nicht viel – vielleicht zwei oder drei Blutkonserven. <
>Scheiße, mehr nicht? <
>Tut mir leid Mann, aber im Moment passieren bei dem Wetter wieder so viele Motorradunfälle, da gibt’s nicht viel Spenderblut und schon gar kein null negativ. <
>Dann bring mir das, was du hast! Und gib Gas! <
Sam legt auf und hat in der Zeit schon alles Mögliche bereitgelegt, um sich an ihrem Bein zu schaffen zu machen - das von allen Wunden den größten Blutverlust zu verantworten hat. Da die Verletzte jetzt aus dem kalten Wasser heraus ist und sich ihre Gefäße in der warmen Blockhütte weiten, ist es förmlich spürbar, wie sie stärker zu bluten beginnt. Hinzu kommt, dass ihr Blut auch noch ziemlich dünn ist, was verdammt ungünstig ist. Vermutlich war sie auf einer Party und trank dort Alkohol. Sie hätte schon längst tot sein können. Er hat keine Ahnung wie lange sie in dem Wasser lag, aber nur das hat sie bisher vor dem sicheren Tod bewahrt. Der Blutstrom wird bei Kälte nun einmal verlangsamt.
Schicht für Schicht und so schnell er kann, versucht er ihre Wunde am Bein zu vernähen. Zu ihrem Glück wurde keine ungünstige Struktur getroffen. Die Austrittswunde an der Vorderseite ist größer, also wurde sie von hinten attackiert. Was ist das nur für eine Welt geworden?
Es dauert ihm eindeutig zu lange, bis sein Händler das notwendige Blut bringt, der gleich im Nachbarort wohnt. Sam hat die Blutgruppe, die er benötigt und drum desinfiziert er seine eigene Ellenbeuge, um die Kanüle zu legen. Er hasst es, das bei sich selbst zu tun, aber immerhin gelingt es auf Anhieb. Damit das Blut schneller in ihren Kreislauf kommt, lässt er ihren Arm hinunterhängen und öffnet den Durchgang des Infusionsschlauchs, damit ihr Körper mit dem Lebenssaft versorgt wird.
Während das Blut von seinem in ihrem Leib übergeht, versucht er den linken Arm möglichst stillzuhalten und macht lediglich immer wieder eine Faust, damit es schneller gepumpt wird.
Als er mit ihrem Bein fertig ist, sieht er sich ihren Oberarm an. Der Streifschuss ist nicht so schlimm. Es ist ihr Rücken, der ihm Sorge bereitet, aber da die Kugel noch steckt, blutet es weniger stark, als das Bein. Um besser arbeiten zu können, zieht er ihr das Kleid herunter. Sie ist ohnehin kaum noch davon bedeckt. Das nasse und blutgetränkte Stück lässt er einfach auf den Boden fallen.
Die Wunde an ihrem Arm muss er nur mit vier Stichen nähen und als er gerade das letzte Stück Faden kappt, klopf es träge an seiner Tür.
Er dreht seine Kanüle zu, lässt noch schnell das restliche Blut aus dem Schlauch und schließt dann ebenfalls den Venenzugang der Verletzten, um die Verbindung zu kappen. Sam zieht sich die Handschuhe herunter, rennt zur Tür und öffnet sie hektisch.
>Wie viele hast du? < schnauft er.
>Zwei. Wie schon gesagt, im Sommer ist Flaute und in der Ferienzeit erst recht. <
>Kommst du im Laufe des Tages an mehr ran? <
>Ich kann´s versuchen. Was ist denn das Problem? <
Er versucht an Sam vorbeizuschauen, aber er kann an der Haustür eh nichts sehen. Sam greift zu der Styroporbox, in der die beiden Vollblut-Konserven sind, die zusammen gerade einmal einen Liter ergeben und schnappt sich aus seiner Lederjacke im Flur einen Geldschein.
Als er ihn in Pauls Hand drückt und ihn loslässt, sieht er, dass er ihm gerade aus Versehen 200 $ gegeben hat. Was soll´s …
>Danke. < sagt er kurz angebunden und knallt dann die Tür zu.
Wieder zurück in der Küche, holt er das kalte Blut aus der Box, legt eine Konserve in den Kühlschrank, damit der Inhalt bis zu seinem Einsatz nicht gerinnt und überlegt, wie er an einen provisorischen Infusionsständer rankommt. Aus lauter Verzweiflung legt er die Konserve in den Obstkorb, der über seinem Kopf von der Decke hängt und verbindet den Schlauch, der aus ihrem Arm kommt, mit dem Blutbeutel.
Sam legt sie etwas auf die Seite, um an ihr Schulterblatt heranzukommen. Er wählt eine weitere Nummer. Bei diesem Gesprächspartner klingelt es nur zweimal.
>Hi. Was gibt’s? < will Doktor Lennart Parker wissen. Das ist seine Arbeitszeit und ihn holt Sam nicht so aus dem Bett wie Paul.
>Ich brauche deinen fachlichen Rat. Wie entferne ich ein festsitzendes Projektil? <
>Wie groß?
>9 x 19 mm <
Das ist zumindest das, was Sam auf den ersten Blick erkennt.
>Wie tief sitzt es? <
>Ein Stück schaut sogar raus, aber es sitzt bombenfest im Knochen. <
>Moment mal, machst du das etwa jetzt gerade oder ist das nur eine rhetorische Frage? <
>Unwichtig. Also, was soll ich machen? <
>Einen Notarzt rufen. <
>Lennart! < zischt Sam, denn er will Antworten und kein Geplauder.
>Schon gut, schon gut. Ist die Kugel im Becken oder in der Nähe des Oberschenkels drin? <
>Nein sie steckt von hinten im Schulterblatt. <
>Gut, dann ist keine Hauptarterie im Weg. Also man schneidet die Seiten der Schusswunde leicht ein und macht sie in gewisser Weise noch etwas größer, aber nur so kommt man besser ran, um greifen zu können und dann zieht man für gewöhnlich mit einer großen Pinzette. <
Ein Skalpell hat Sam nicht, also muss es ein Messer sein. Er sucht in seiner Küche nach dem Schärfsten und schüttet das flüssige Jod darüber und ebenso über ihre Wunde. Er streift sich ein neues Paar Handschuhe über und ist bereit, für das, was kommt.
>Was ist, wenn ich das Projektil draußen haben? < fragt Sam, der die Wunde nun etwas weiter einschneidet.
>Nimm Mulltücher und drücke sie in die Wunde, bis das Blut etwas aus dem Weg ist. Eine Fontäne kann dir in diesem Gebiet nicht entgegenkommen, aber bluten wird es, sobald die Kugel raus ist. Dann musst du es schichtweise nähen. Erst den Muskel, dann die Haut. <
>Und was passiert mit dem Knochen? <
>Die Osteoblasten durchbauen den Knochen wieder, das ist nichts anderes als bei einer Fraktur. Das schafft der Körper allein. Es sei denn, das Schulterblatt hat auch noch eine Spaltung durch den Aufprall bekommen, aber dann würde sich das Projektil leichter entfernen lassen. <
Sam packt sämtliche steril verpackte Tücher aus den Schachteln und schneidet bereits weiter in die Haut ein.
>Bist du noch dran? < fragt Lennart, weil Sam nichts sagt, aber er versucht sich zu konzentrieren.
>Ja, was mache ich bei einem zu großen Blutverlust, außer Konserven zu geben? <
>Was heißt groß? <
>Lennart! < zischt Sam. >Groß eben! Der Puls ist kaum tastbar. <
>Verdammt Sam, das geht doch böse aus. < keucht er, aber redet weiter. >Es kann zu einem hypovolämischen Schock kommen. Die Person braucht eine Schocklage, einen Venenzugang und eine Volumen - oder Flüssigkeitstherapie. Ich weiß, du bist besser ausgestattet als so mancher Notarzt - hast du einen Beutel mit Kochsalzlösung und Glukose da? <
Sam rennt sofort in den Keller, während Doktor Parker immer noch am Hörer ist. Er sucht alles ab und hat noch etwas da. Schnell kehrt er wieder zurück und legt der Frau vor sich, einen zweiten Zugang im anderen Arm, um ihr auch die Lösungen zu verabreichen.
In seiner Küche steht ein Stapel alter Zeitungen herum, die er auf den Tisch packt und unter ihre Beine schiebt, damit diese für die gewünschte Schocklage erhöht sind. Sie liegt noch auf der Seite, weshalb es sicher nicht den Effekt hat, der wünschenswert wäre, aber alles ist besser, als nicht alles zu versuchen.
>Hallo? < ruft Lennart, da Sam ihm nicht geantwortet hat.
>Ja, ich habe alles da. <
>Drück mal auf den Fingernagel bis das Gewebe darunter blutleer und weiß ist! <
Sam runzelt die Stirn, aber tut, was er eben sagte.
>Mache ich und nun? <
>Lass wieder los. Wenn es länger als eine Sekunde dauert, bis es wieder rötlich wird, dann deutet das auf einen Volumenmangelschock hin. <
>Es dauert eindeutig länger. < keucht Sam. Sie wird ihm unter seinen Händen wegsterben. Selbst wenn sich Lennart jetzt sofort auf den Weg machen würde, wäre er erst in frühestens einer halben Stunde hier. Hätte Sam doch lieber den Notarzt rufen sollen?
>Am besten wäre noch eine blutvolumensteigernde Lösung mit Makromolekülen und bei Überleben Eisentabletten. < ergänzt der Arzt am Telefon.
>Das war alles oder gibt es noch mehr? <
>Mehr kann man nicht tun. < erklärt er bedauernd.
>Danke, mehr wollte ich nicht. <
Schon legt Sam auf und denkt, dass er den Rest selbst hinbekommt. Sein Blick geht nach oben, die erste Blutkonserve ist soeben leer geworden. Bevor er die Kugel endgültig herauszieht, holt er die zweite Blutkonserve aus dem Kühlschrank und tauscht sie aus, damit das, was die Verletzte eben bekommen hat, nicht gleich wieder verloren geht. Er spritzt ihr sofort noch die Glukose. Diese blutvolumensteigernde Lösung die Parker meinte, hat Sam nicht da und er hofft, dass es daran jetzt nicht scheitert.
>Stirb mir nicht weg, hörst du? < sagt er eindringlich zu ihr. Wer auch immer sie ist.
Dann schnappt er sich eine medizinische Pinzette aus der Tasche, gießt Jod darüber und versucht die Kugel zu entfernen. Eines ist klar, das Schulterblatt ist mit Sicherheit nicht in zwei Teile gespalten, so fest wie das Metall in ihrem Körper steckt, aber sicherlich kam es zu mehreren Rissen in der Struktur. Er rutscht mit der Pinzette ab und versucht es noch einmal in einem anderen Winkel. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als leicht an der Kugel herumzurütteln, da sie sich einfach nicht bewegt. Auf diese Knochenplatte ist eine enorme Gewalt eingewirkt und diese Frau vor ihm hatte Glück, dass die Munition nicht bis zu ihrer Lunge durchgeschossen ist.
Wobei…, Glück hatte sie bisher noch nicht. Keuchend bekommt Sam die Kugel endlich heraus und diese junge Frau rutscht ihm in die Arme.
Er positioniert sie wieder neu und drückt die Mulltücher in die Wunde hinein, um die Blutung zu stoppen. Da er niemanden hat, der ihm assistiert, hat er immer zwei Hände zu wenig und muss schnell die Nadel mit dem Faden bereit machen.
Er nimmt die Tupfer weg und verschließt Stich um Stich ihre Wunde.
              Mit einem Schnaufen lehnt er sich gegen seinen Küchenschrank und sieht zu der Frau. Um ihn herum sieht es aus wie auf einem Schlachtfeld. Überall ist Blut und die orange Jodflüssigkeit. Erst jetzt sieht er sich die Munition an, die er herausgeholt hat und sein Atem stockt. Das Projektil wurde vorn von Hand einmal eingeritzt. Das hat zur Folge, dass das Geschoss aufgesprengt wird, sobald es mit Wucht auf sein Ziel trifft und hinterher aussieht wie eine Blume, um einen möglichst großen Schaden zu verursachen. Früher gab es die bekannte Dum Dum Munition, die oft bis zu fünfmal eingeritzt war und sie riss alles mit sich, was in ihre Nähe kam.
Aufgrund der grässlichen Wunden, die sie zur Folge hatte, wurde sie 1899 verboten und sie zu benutzen gilt heute als Kriegsverbrechen.
Die Kugel, die Sam zwischen der Pinzette hält, zeigt allerdings eine Handschrift, da sie eindeutig selbst präpariert und nicht gekauft wurde. Eine Handschrift, die üblich ist bei Mafiabanden. Schockiert sieht er zu der Indianerin vor sich und hat eine ungefähre Ahnung, was das für Schmerzen waren, als sie noch bei Bewusstsein war.
Er wirft die Kugel in einen Behälter und verschwindet im Bad, um sich das Blut abzuwaschen und einen Moment lang einen klaren Gedanken zu fassen. Denn kalt lässt ihn das ganz sicher nicht.
               Wieder sauber kehrt er zurück zur Küche und tastet nach ihrem Puls. Er ist eindeutig wieder besser zu fühlen – wenn auch noch weit entfernt davon, optimal zu sein. Erneut führt er auch den Drucktest mit dem Fingernagel durch. Es ist nicht so wie es sein sollte, aber ebenfalls besser als zuvor. Als er wieder etwas zur Ruhe kommt, lässt er sie so liegen und bezieht in seinem Gästezimmer ein Kissen und eine Decke. An seinen Dealer tippt er eine Nachricht und schreibt ihm eine Liste der Mittel auf, die er noch für später benötigt. In den nächsten vierundzwanzig Stunden sollte er seinen ungebetenen Gast nicht allein lassen. Zurück in der Küche befreit er sie von den Blutresten, klebt große Pflaster auf die Wunden oder verbindet sie mit Mull. Sam zieht ihr ein Shirt von sich an und nimmt sie vorsichtig vom Tisch hoch. Er trägt sie in das Gästezimmer – in dem bisher noch nie ein Gast war, um sie sanft in das Bett zu legen. Ihm ist zuvor gar nicht aufgefallen wie wenig sie wiegt. Damit die frisch genähte Wunde auf ihrem Rücken keinen dauerhaften Druck bekommt, legt er sie auf die Seite und sieht in ihr kraftloses, aber dennoch anmutiges Gesicht.
>Mehr kann ich nicht für dich tun. Den Rest musst du allein schaffen. < flüstert er ihr zu.


Keuchend reißt Sam die Augen auf und setzt sich aufrecht im Bett hin. Er starrt durch sein dunkles Zimmer und schließlich zu seiner linken Seite.
Um sich zu vergewissern, dass er wieder wach ist, tastet er auf der Matratze herum und fasst zu einer anderen warmen Hand. Er fährt an einem Unterarm und schließlich an einem Oberarm hoch. Knurrend dreht sich Nayeli zu ihm und rollt sich in seinen Arm hinein.
>Alles okay? < fragt sie müde.
>Ja. < hechelt er. >Schlaf weiter. <
Das entspricht der Wahrheit. Bis auf seinen beschleunigten Herzschlag ist wirklich alles okay, denn er hat sie damals nicht sterben lassen. Er umarmt sie und küsst sie auf die Stirn.
Damals hatte er keinen blassen Schimmer wie sie hieß oder ob sie überhaupt volljährig war, da sie so jung und schwach wirkte. Niemals hätte er es für möglich gehalten, dass sie jetzt wohlbehalten in seinen Armen liegen würde.
>Hast du was Schlechtes geträumt? < will sie wissen.
>Nicht so wichtig. <
>Ja schon klar. Du bist ja ein Kerl und so. < erwidert sie müde. Daraufhin feixt Sam. Das will er tatsächlich nicht an die große Glocke hängen. Zum einen, weil er nicht will, dass sie erfährt, wie schrecklich es selbst für ihn war und zum anderen, wie knapp für sie. Nayeli hat nur eine geringe Vorstellung davon, doch er würde ihr niemals die genauen Details erzählen wollen. Sie weiß schon viel zu viel von diesem Morgen.
Er schließt sie fest in seiner Umarmung ein und er weiß nur eines – im Falle von Madjid will er seine beruflichen, astreinen Methoden über den Haufen werfen. Wozu sollte dieser Schlächter einen schnellen und sauberen Tod verdienen, nach dem was er und die anderen Nayeli angetan haben? Wie kann man nur so einen Job in Auftrag geben und das gegen eine so unschuldige Familie? Sam und Mischa De Angelis sind wie zwei Seiten derselben Münze und jeder würde den anderen sofort töten, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
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