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Der Gesang der Möwen

von Kantorka
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Humor / P16 / Het
Akane Tendo Ranma Saotome Ryouga Hibiki
24.01.2018
04.05.2021
5
18.282
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24.01.2018 3.888
 
„Ranmaaaaa!!!!“, tönte ein wütender Schrei durch die Straßen Nerimas. Der Gerufene zuckte im Lauf zusammen und wich kurz darauf einem fliegenden Schirm mit messerscharfen Schirmrändern aus. Er verlor beinahe das Gleichgewicht und ruderte mit den Armen, um nicht von dem Bauzaun zu stürzen, über den er gerade zu entkommen versuchte.
„Ryoga hat einen Orientierungssinn wie ein Stück Brot, aber wehe er ist einmal wütend auf mich!“, fluchte Ranma vor sich hin und versuchte aus dem Augenwinkel nach Ryoga zu spähen, der hartnäckig die Verfolgung aufgenommen hatte. Dabei breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus. „Was ist, P-Chan, brauchst du ne Brille? Du hast auch schonmal besser getroffen!“, rief er seinem Lieblingsrivalen entgegen, woraufhin dieser vor Wut und Scham rot anlief und brüllte: „Du sollst endlich aufhören, mich so zu nennen!“
Ranma hopste im Rennen über ein Straßensperrschild und rief lachend zurück: „Tut mir Leid, Charlotte, ich gelobe Besserung – AUA!“
Das Schild, über das er soeben noch gesprungen war, von seinem Verfolger als nützliches Wurfgeschoss zweckentfremdet bremste seinen Lauf ziemlich unsanft, sodass er im nächsten Moment leise stöhnend den blauen Himmel über sich sah.
„Oh Mann…“, stöhnte er sich die schmerzende Stirn reibend und kam wieder auf die Beine – Ryoga erreichte ihn im selben Moment und blieb mitten auf der Straße, den Schirm in Händen in seine Richtung ausgestreckt stehen.
„Na … endlich…“, keuchte Ryoga außer Atem. „Wegen dir musste ich nachsitzen!“
„Alter, du gehst nichtmal auf unsere Schule!“, lachte Ranma ihm entgegen.
„Darum geht es doch gar nicht!“, fauchte Ryoga mit dezenter Röte um die Nase, „Du machst mir einfach ständig das Leben schwer!“
„Ach, wenn du mal wieder verdroschen werden willst, sag das doch gleich, ich dachte, du verfolgst mich nur, weil du den Weg nachhause wieder nicht gefunden hast.“
Ranma wusste auch nicht, warum er Ryoga ständig aufzog. Es war einfach zu komisch, wie der andere Junge sich so leicht auf die Palme bringen ließ. Dann jedoch lenkte er ein.
„Ach komm, jetzt hör auf zu schmollen. Du machst dir schon selbst das Leben schwer, P-chan.“
Soviel zum Thema Einlenken. Dann jedoch merkte er auf. Ryoga schien wirklich wütend zu sein. Also so richtig wütend. Wütender als sonst.
Ryoga sah ihn auf einmal direkt an und der Blick ließ ihn aus einem unerfindlichen Grund schauern. Er war kalt. Kalt und hasserfüllt.
„Ich hasse dich, Ranma Saotome“, presste er hervor, „Ich hasse dich so sehr, das kannst du dir gar nicht vorstellen.“
Dabei kam er langsam auf ihn zu. In der Ferne blitzte etwas auf, die Reflexion eines Autofensters oder Spiegels.
Ranma biss sich auf die Unterlippe. Vielleicht hatte er es etwas übertrieben dieses Mal. Ryoga hatte es wirklich nicht leicht, musste man fairerweise einräumen. Und von Hass… hatte er noch nie gesprochen. Hass war ein scharfes Wort. Selbst Akane hatte es erst einmal ihm gegenüber verwendet und da war es ihm eiskalt den Rücken herunter gelaufen. Ranma wollte eigentlich nicht, dass die Leute ihn hassten. Und er wollte vor allem nicht, dass Ryoga ihn hasste. Irgendwie war der doch sowas wie sein Freund. Sein einziger Freund. Und der hasste ihn.
„Ryoga…“, begann er mit etwas sanfterer Stimme zu sprechen. Völlig untypisch für ihn, weshalb Ryoga einen Moment inne hielt und stehen blieb. Mitten auf der Straße. In der Ferne schrien die Möwen. Waren sie wirklich quer durch die halbe Stadt gelaufen, dass sie jetzt am Meer waren? Warum vergaßen sie eigentlich immer gleich alles um sich herum, wenn sie Zeit miteinander verbrachten?

Was dann passierte… passierte sonst nur in höchstdramatischen Hollywoodfilmen. Sogar der Hintergrund stimmte. Ein glutroter Sonnenuntergang, das Rauschen des Meeres, das Schreien der Möwen und zwei Kontrahenten, deren beider Leben sich in wenigen Sekunden unwiderruflich verändern würde.

Ein aggressives Hupen ließ die beiden Jungen aufschrecken und sie sahen den LKW, der mit völlig überhöhter Geschwindigkeit um die S förmige Kurve schoss beinahe gleichzeitig.
„Pass auf!“, schrie Ranma und als er bemerkte, mit Schrecken bemerkte, dass der andere Junge irgendwie in eine Art Starre gefallen war wie ein Reh im Scheinwerferlicht, setzten sich seine Füße wie von selbst in Bewegung.
„Ryoga, du Vollidiot!“ Er sprang und nutzte den Schwung um Ryoga von der Straße wegzustoßen, denn das Fahrzeug würde nie im Leben noch rechtzeitig bremsen können.

Ryoga prallte so hart gegen die Mauer auf der anderen Straßenseite, dass es ihm die Luft aus den Lungen presste und er einen Moment grelle Blitze vor Augen sah. Erst der Schmerz und das Geräusch von berstendem Metall und quietschenden Bremsen rissen ihn aus seiner Trance. Als er die Augen öffnete starrte er entsetzt auf das sich ihm bietende Szenario. Was war da eben geschehen? Der Sattelschlepper hatte sich in dem Versuch, den beiden Jugendlichen auszuweichen quer gestellt und war aufgrund der überhöhten Geschwindigkeit gekippt und noch etwa 100 Meter weiter über die Straße geschliddert. Gut nur, dass der Schlepper nicht beladen gewesen war.
Er schluckte trocken und meinte mit leicht zittriger Stimme: „Das war ganz schön knapp, was?... Ranma?“
Ryoga blickte sich suchend um. Doch sein Rivale war fort. „R-Ranma?“, murmelte er und konnte noch keine so rechte Verbindung herstellen zwischen dem, was eben geschehen war und dem plötzlichen Verschwinden des anderen Jungen.
Das Begreifen begann einzusetzen, als er einen einzelnen Schuh auf der Straße liegen sah. Und Blut. Blut auf der Straße. In ihm drin wurde es eiskalt, als ihn eine grauenhafte Vorahnung beschlich. Er wollte nicht sehen, was auf der anderen Seite des gekippten Lastwagens auf ihn wartete und ein paar Mal wären ihm seine Beine weggesackt, doch er musste… er musste…

Und dann sah er ihn. Reglos. Leblos. Eingeklemmt zwischen Metallteilen und der Leitplanke, ein besonders scharfkantiges Teil hatte sich tief in den Oberschenkel des rechten Beines gebohrt, das Gesicht, die Arme aufgeschürft und rußig.
„R… Ranma…?“, stammelte der verlorene Junge erneut, der sich zum ersten Mal in seinem Leben wirklich verloren fühlte.
„Ranma? Ranma?“ Er sackte neben seinem Rivalen auf die Knie und sah das ganze Blut und konnte nur auf dieses intensive Rot starren. Der Fahrer hatte sich inzwischen aus der Kabine befreit und kam nun panisch auf Ryoga zugerannt. Er war sehr bleich und blutete an der Stirn aus einer großen Platzwunde, schien aber ansonsten unverletzt.
„Oh mein Gott, oh mein Gott, Junge, das wollte ich nicht, was habt ihr denn auf der Straße gemacht, oh Gott!“
Ryoga war nicht in der Lage zu antworten. Wenn er den Mund aufmachte, dann würde er garantiert kotzen. Außerdem hatte er irgendwie vergessen, wie man sprach. Was sollte er denn jetzt tun, was…

Inzwischen waren auch weitere Passanten zur Unfallstelle geeilt. Polizei und Rettungskräfte wurden alarmiert.
Ryoga wurde etwas später von einem der Sanitäter auf die Beine gezerrt. „Geht es Ihnen gut, junger Mann?“
Er brachte immer noch kein Wort hervor. In seinem Kopf herrschte gähnende Leere.
„Er hat einen Schock“, sagte der Sanitäter zu seinem Kollegen, „wir sollten ihn vorsichtshalber auch mitnehmen.“
Im Krankenhaus ließ Ryoga sich willenlos durchchecken. Er fühlte sich taub und tot. Das alles fühlte sich so unwirklich an. Wie mochte es nur sein… dass sich innerhalb von Sekunden ein Leben veränderte? Zwei Leben. Drei. Mehr. Er wusste es nicht. War er denn am Leben? War Ranma, sein Ranma am Leben?
„Entschuldigung“, sprach der Arzt ihn sanft an, nachdem er seine Untersuchung abgeschlossen hatte. „Sie sind beide noch minderjährig, wir sind verpflichtet, einen Erziehungsberechtigten oder Vormund zu benachrichtigen.“ Ryoga sah auf und den Mann an als hätte er ihn gefragt, wo der heilige Gral versteckt war. Dann sickerte es in seinen Versand, langsam und zähfließend wie Teer. Ranmas Familie war ahnungslos. Akane… oh, Akane… sie würde ihn hassen, er würde ihr nie wieder in die Augen sehen können. Immerhin war es doch seine Schuld, wenn er nicht so verbohrt auf seine kindische Rache…
„Hibiki-san?“, hakte der Arzt nach. Ryoga blinzelte, seine Augen brannten.

~*~

„Also das ist wirklich eigenartig, Ranma weiß doch, dass ich heute sein Lieblingsessen gekocht habe. Er sollte doch vor drei Stunden schon zuhause sein“, sagte Kazumi ratlos, wobei sie auf die große Küchenuhr sah.
„Akane, bist du sicher, dass er nur eine Stunde nachsitzen musste, nicht mehr?“
„Ja, ziemlich“, erwiderte die junge Frau mit dem indigofarbenen Haar, „er meinte, er kommt sofort heim, sobald er das hinter sich gebracht hat. Wahrscheinlich hat er sich wieder mit Ryoga geprügelt und die Zeit vergessen, der lernts einfach nicht.“
Auch Genma und Soun sahen auf und blickten sich dann gegenseitig ratlos an. „Dieser Junge“, brummte Genma dann schließlich missbilligend, „ständig treibt der sich irgendwo rum, anstatt seinen Pflichten nachzugehen“, und Soun seufzte theatralisch: „Also zu unserer Zeit wäre das nicht vorgekommen, wir-“
„-wurden von Happosai durch die Gegend gescheucht und haben mit ihm Unterwäsche geklaut, wolltest du das sagen?“, vollendete Akane zynisch den Satz ihres Vaters. Allerdings fragte sie sich natürlich auch, wo Ranma blieb. Zu spät zu kommen, wenn es sein Lieblingsessen gab, sah ihm nun wirklich gar nicht ähnlich, auch wenn er sonst nicht gerade mit Zuverlässigkeit gesegnet war. Und sie konnte sich nicht helfen, aber irgendwie hatte sie ein ganz mieses Gefühl. So eine seltsame, unerklärliche, innere Anspannung.
Akane kaute nachdenklich auf der Innenseite ihrer Wangentasche herum, als sie das Schrillen des Telefons plötzlich zusammenzucken ließ.
Kazumi legte das Geschirrtuch beiseite, das sie eben noch in der Hand gehabt hatte und sagte in die Runde: „Ich geh mal eben ran.“
Kurz darauf drang die gedämpfte Stimme der ältesten Tendo Schwester aus dem Flur herüber. Dann schwieg sie eine ganze Weile. Und irgendwann waren nur noch einsilbige, gemurmelte Antworten zu hören wie „Ahja… verstehe… danke … vielen Dank… ja… ja, wir kommen sofort.“
Als Kazumi zurückkam, bemerkte Akane sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Ihre ältere Schwester war totenbleich im Gesicht und das Lächeln, das sie sonst immer vor sich hertrug, wie eine strahlende Frühlingssonne war erloschen.
„Kazumi…?“, murmelte Akane verunsichert. Durch ihren Tonfall sahen auch Soun und Genma von ihrem Go-Spiel auf.
„Das… das war die … Stadtklinik…“, begann sie mit belegter Stimme, „Ranma… Ranma hatte einen schweren Unfall…“

~*~

Akane fühlte sich während der Fahrt zum Krankenhaus wie betäubt. Kazumi hatte irgendetwas gesagt von einem Autounfall, ein Sattelschlepper oder sowas. Wie hatte das nur passieren können, Ranma war doch sonst nicht so unaufmerksam: Leichtsinnig manchmal ja, aber niemals so unaufmerksam, dass er einem auf der Straße fahrenden Auto nicht mehr hätte ausweichen können. Irgendetwas musste ihn gewaltig abgelenkt haben. Sie presste eine Faust gegen ihre Brust. Ein flaues Gefühl von Übelkeit lag ihr im Magen und kroch langsam die Kehle hoch. Sie sah aus dem Fenster des fahrenden Autos. Das Auto der Familie Tendo wurde nur in seltenen Fällen benutzt wegen der Benzinkosten, aber für alle Fälle hatte ihr Vater vor ein paar Jahren mal eines angeschafft.
Es wurde gerade dunkel. „Ranma…“, murmelte sie und fuhr im nächsten Moment auf: „Wie lange brauchen wir denn noch, verdammt nochmal?!“
Ihr Vater am Steuer schien sie gar nicht gehört zu haben. Dann spürte sie eine Hand, die sich in ihre schob, wandte sich zur Seite und sah Nabiki an, die sie aufmunternd anlächelte. „Ich bin ganz sicher, es ist nicht halb so schlimm, wie es sich angehört hat“, versuchte sie ihr mit gedämpfter Stimme Mut zu machen, aber ihre Augen waren sorgenvoll. Nabiki, die sich immer so desinteressiert gab, gleichgültig, berechnend, fast schon gefühlskalt – wenn es darauf ankam, hielten sie als Schwestern zusammen. Akane war ihr plötzlich dankbar, dass sie mitgekommen war. Kazumi war zuhause geblieben um die Stellung zu halten.
Sie nickte nur und erwiderte den Handdruck. Bitte, dachte sie und schluckte schwer, lass ihm nichts Schlimmes zugestoßen sein.
Als sie im Krankenhaus angekommen waren und die nötigen Informationen erhalten hatten, wohin sie mussten, bemerkte Akane überrascht Ryoga auf einem der Plastikstühle im Wartebereich sitzen. Er wirkte irgendwie in sich zusammengesunken und er ließ den Kopf so weit hängen, dass die Ponyfransen den Großteil seines Gesichts verdeckten. In seinem Schoß zerfriemelten seine Hände abwesend ein Taschentuch, das bereits in unzählige Einzelteile zerlegt war.
„Ryoga!“, rief Akane atemlos und überrascht. Der junge Mann sah nichtmal auf. Sie musste ihn noch zweimal ansprechen, ehe er den Kopf hob und sie schließlich mit glasigem Blick ansah.
„Akane…“, murmelte er, „es tut mir so leid…“
„Was? Was ist denn passiert? Nun sag schon!“
„Das ist alles meine Schuld…“
Nicht nur die Tatsache, dass Ryoga so in Rätseln sprach, sondern dass er nicht wie üblich völlig nervös wurde, wenn er mit ihr sprach, waren höchst beunruhigend.
Während sie sich vorsichtig neben ihn setzte, wurde Genma von dem behandelnden Arzt zu sich gebeten. Akane wäre am liebsten mitgekommen, aber sie wusste, dass in solchen Fällen nur direkte Familienangehörige zugelassen waren. Deshalb konzentrierte sie sich nun erstmal auf Ryoga. Der wirkte ja völlig neben der Spur. Akane legte ihre Hände über seine, um ihn am dem nervös machenden Gefummel zu hindern. Erst jetzt schien die Leere aus seinem Blick zu weichen und er registrierte ihre Anwesenheit. Dann begann er stockend zu erzählen.
Wie er Ranma nach dem Nachsitzen, in das sie beide hineingeraten waren verfolgt hatte, um mit ihm zu kämpfen und sie dabei irgendwie durch die halbe Stadt gerannt waren. Glaubte er zumindest, für ihn sah das ohnehin alles gleich aus. Wie sie sich gegenübergestanden hatten. Und was für hässliche… Worte er zu Ranma gesagt hatte. Verschwieg den Gedanken, was wäre, wenn es die letzten Worte gewesen wären. Wenn sein Feindfreund durch seine Schuld ums Leben gekommen war, dann…
„Es ging alles so … so schnell… ich meine, wir standen da… und im nächsten Moment stand er nicht mehr da und ich…“
Er hörte auf zu sprechen und fiel wieder ein Stück in sich zusammen. Er hatte Akane mit den hässlichen Details des Unfallortes verschont, aber er selbst sah sie noch zu deutlich vor sich. Nichtmal ein trainierter Kampfsportler wie Ranma würde da noch mit lediglich ein paar Kratzern rauskommen. Nicht bei diesen Kräften, die da so gnadenlos auf den Körper eingewirkt hatten. Und alles nur, weil er… weil er…
Und nichtmal Akanes Berührung, die ihm sonst solches Herzklopfen gemacht hätte, konnte ihn trösten. Da war nur Schuldgefühl. Und Leere.
Akanes Augen schimmerten verdächtig, doch sie blinzelte ein paar Mal. Sie musste stark sein. Einer musste doch stark sein. Wer, wenn nicht sie?
„Hör mir mal zu!“, sagte sie mit fester Stimme, „das war ein Unfall. Das war nicht deine Schuld, du … du kennst Ranma doch. Er benimmt sich zwar manchmal wie die Axt im Walde, aber er würde niemals zulassen, dass jemand, der ihm wichtig ist, verletzt wird… er wird bestimmt wieder gesund.“
Der ihm wichtig war? War er Ranma wichtig? Sie hassten sich doch, oder? Aber warum hätte er das sonst tun sollen? Warum hätte er Ryoga das Leben retten und seines in Gefahr bringen sollen, wenn er ihm egal war? Immerhin, wäre er aus dem Weg gewesen, dann wäre eine Person weniger da gewesen, die ihm Akane hätte ausspannen wollen. Im nächsten Augenblick schämte er sich für diesen Gedanken.

~*~

Als Genma Saotome die Nachricht erhalten hatte, dass Ranma etwas zugestoßen war… etwas Schlimmes zugestoßen war, hatte es eine Weile gedauert. Erst als sie schon im Auto saßen und Kazumis Stimme längst verklungen war, sickerte langsam die Bedeutung ihrer Worte in seinen Geist. Ein schwerer Unfall. Keine genauen Informationen. Und eine grauenvolle Angst beschlich ihn. Eine Angst, die er in dieser Form zuvor noch nicht gespürt hatte. Die Angst um das Leben seines Sohnes. Sein einziges Kind. Dessen Mutter er versprochen hatte, es mit seinem Leben zu beschützen.
Hatte er einen Fehler gemacht? Hatte er Ranma irgendwie vorgelebt, ein Kampfsportler war auch höheren Mächten gegenüber unverwundbar? Was war nur passiert?
Er knirschte unbewusst mit dem Kiefer, während sie warteten. Plötzlich spürte er eine Hand auf der Schulter und sah in das ernste Gesicht seines Jugendfreundes.
„Glaub mir, ich weiß, wie du dich fühlst, mein Freund“, sagte Soun gedämpft und nahm schließlich neben ihm Platz. „Als meine geliebte Naoko damals ihren Unfall hatte…“ Er brach ab, als ihm bewusst wurde, was er da sprach. Naoko war gestorben als Akane gerade vier Jahre alt gewesen war. Der Nachbar hatte sie mit dem Auto mit in die Stadt genommen, weil sie etwas für den bevorstehenden Geburtstag der Kleinsten hatte einkaufen wollen und es hatte in Strömen geregnet. Der LKW hatte die Beifahrerseite direkt gerammt dort auf der Kreuzung. Naoko war sofort tot gewesen. Und jetzt bangte sein Freund um das Leben seines Sohnes und Soun um seinen Schwiegersohn in spe. Ihm war bis heute gar nicht bewusst gewesen, wie sehr der Bengel ihm ans Herz gewachsen war. Und Akane… wie mochte sie sich erst fühlen? Soun warf einen Blick zu seiner Tochter, die gerade mit dem Hibiki-Jungen sprach. Sie war stark. Vermutlich die Stärkste von ihnen allen.

Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis endlich der behandelnde Arzt zu ihnen kam.
„Saotome-san? Bitte kommen Sie mit.“
Genma und Soun nickten sich mit ernsten Mienen zu, dann folgte Genma dem Arzt. Kurz bevor sie bei der Intensivstation angelangt waren, blieb dieser stehen.
„Ihr Sohn hat überlebt, Saotome-san“, sagte er mit ernster Miene, „aber es war knapp, er hat sehr viel Blut verloren.“
„Aber er lebt“, murmelte Genma. Der Arzt nickte.
„Ja, allerdings…“
Genma merkte auf. Irgendetwas im Tonfall des Mannes gefiel ihm nicht. „Das rechte Bein ist sehr stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Ein offener, sehr komplizierter Bruch und heftige Quetschungen. Wir haben operiert und mussten eine Fixatur anbringen zur Stabilisierung. Stellen sie sich auf einen sehr unangenehmen Anblick ein. Zwei Rippen sind weiterhin gebrochen, eine dritte angeknackst, ein Milzriss, den wir rechtzeitig entdeckt haben und flicken konnten, ein mittelschweres Schädel-Hirn-Trauma, sowie Aufschürfungen und Prellungen in verschiedenen Schweregraden. Allerdings… Das Metallteil, das so tief ins Fleisch eingedrungen ist, war sehr verschmutzt. Wir haben unser Bestes gegeben, aber es besteht das Restrisiko einer Sepsis…“
„Das… bedeutet, dass…“, presste Genma zwischen den Zähnen hervor.
„… dass wir im allerschlimmsten Fall amputieren müssen.“
Es zu denken und zu hören waren zwei völlig unterschiedliche Dinge. Genma starrte den Arzt an und schüttelte dann ungläubig den Kopf.
„Das müssen Sie unter allen Mitteln verhindern, das … das würde sein Leben zerstören“, kam es leicht hilflos, „er ist Kampfsportler mit Leib und Seele, er könnte nie wieder…“
„Saotome-san, ich verspreche Ihnen, wir tun unser Bestes, um sein Bein zu retten. Aber zum jetzigen Zeitpunkt ist es mir unmöglich, eine genaue Prognose treffen zu können… wenn Sie möchten können Sie jetzt kurz zu ihm.“
Reiß dich zusammen, dachte Genma, während er hinter dem Arzt herschlurfte. Wenn Ranma aufwachte, dann sollte das erste was er sah nicht sein verheultes oder besorgtes Gesicht sein.

Man hatte ihn zwar auf den Anblick vorbereitet, aber das zu sehen, war trotzdem nochmal etwas anderes. Das Gesicht war auf einer Hälfte komplett aufgeschürft und man hatte eine gelblichbraune Paste darüber geschmiert. Und sein Bein… das war das schlimmste. Genma sackte auf einen Rollhocker. Länger hätten ihn seine Beine auch nicht getragen. Gewaltige Metallstäbe ragten aus Ranmas rechtem Bein. Das sah hässlich aus und es gab kein anderes Wort dafür, denn das war es. Hässlich.
Wie schmal und jung Ranma mit einem Mal wirkte in diesem Krankenhausbett. Und wie blass. Genma traten Tränen in die Augen und er streckte die Hand aus um seinem Jungen sanft ein paar Ponyfransen aus der Stirn zu streicheln.
„Was hast du denn nur angestellt?“, flüsterte er erstickt, „dummer Junge…“

~*~

Ryoga hatte die Gelegenheit genutzt und war hinter dem Arzt und dem alten Saotome hergeschlichen. Er musste einfach wissen, was mit Ranma war. Trotzdem hatte er es irgendwie geschafft, in einen falschen Flur abzubiegen, denn plötzlich hatte er die beiden aus den Augen verloren.
„Oh verdammt, nicht jetzt“, entfuhr es ihm verzweifelt und leicht gestresst und er zog aufs Geratewohl die nächstbeste Tür auf. Das hätte er lieber gelassen, denn im nächsten Moment kam ihm ein hochhackiger Schuh entgegengeflogen begleitet von einem empörten Schrei, der ihn mit dem Absatz voran an der Stirn traf. Also der Schuh natürlich, nicht der Schrei.
„ARGH! Verzeihung!“, rief er hastig und zog die Tür zur Personalumkleide der Damen wieder zu, um sich kurz darauf den Schuh aus der Stirn zu ziehen.
„Autsch“, wimmerte er, „na wenigstens bin ich hier in einem Krankenhaus. Verdammt, wo geht’s jetzt lang?“
Von irgendwo hörte er die Stimmen von Saotome und dem Arzt. Allerdings hatte er bei der nächsten Tür genauso wenig Glück, denn er stand in der Besenkammer. Und hinter der übernächsten Tür fand er ein Treppenhaus.
„Okay, jetzt konzentrier dich mal“, brummte er leise zu sich selbst, wobei ihn eine vorbeilaufende Schwester etwas komisch ansah.
Irgendwie schaffte er es dann doch, den richtigen Weg zurück zu finden, wobei das wohl mehr an einen Zufall grenzte. Er blieb hinter einer Ecke stehen und linste herum – na bitte. Da waren die beiden wieder. Was er allerdings zu hören bekam, ließ das kurze Triumphgefühl sofort wieder verblassen.
„….Allerdings… Das Metallteil, das so tief ins Fleisch eingedrungen ist, war sehr verschmutzt. Wir haben unser Bestes gegeben, aber es besteht das Restrisiko einer Sepsis…“
„Das… bedeutet, dass…“
„… dass wir im allerschlimmsten Fall amputieren müssen.“

Ryoga wurde plötzlich schlecht. Hatte er richtig gehört? Ranma würde vielleicht sein Bein verlieren? Das war der Tod für jeden Kampfsportler. Er sackte gegen die Wand und fuhr sich durch die Haare.
Ranma lebte. Er lebte. Aber zu was für einem Preis?
„Das ist alles meine Schuld“, stöhnte er leise, „kann ich eigentlich nochwas anderes, außer überall Zerstörung anrichten, wo ich gehe und stehe…?“
Akanes Stimme ertönte in seinem Kopf.
Du kennst ihn doch… er würde niemals zulassen, dass jemandem, der ihm wichtig ist, was passiert…
Er war ihm wichtig. Wichtig. Wann hatte er das zum letzten Mal gehört? Und das, obwohl ihm eine Weile jedes Mittel Recht gewesen war um ihn wegen Akane aus dem Weg zu räumen. Trotz allem … und er… Ryogas Augen brannten und er wischte sich kurz darüber, nur um daraufhin nochmal um die Ecke zu spähen. Saotome verließ das Zimmer wieder. Das heißt… er könnte kurz nachsehen… sich einfach nur vergewissern…
Ryoga schlug das Herz aus irgendeinem Grund bis zum Halse, als er zu dem Zimmer schlich, in dem sein Freund offensichtlich untergebracht war. Ihm war im Grunde klar, dass er hier absolut keinen Zutritt hatte und dass es gewaltigen Ärger gab, wenn ihn jemand hier erwischte, aber darauf konnte er gerade keine Rücksicht nehmen.
Ryoga sah sich um, ob die Luft rein war und huschte dann in das Zimmer hinein, die Türe fiel lautlos hinter ihm zu. Das Herz pochte ihm bis zum Hals. Ein dezentes Piepsen war zu hören. Wann war er eigentlich das letzte Mal in einem Krankenhaus gewesen? Langsam ging er zu dem Bett, anders als Saotome, blieb er jedoch stehen und starrte seinen Freund an.
„Ranma…“, murmelte er immer noch fassungslos. Dann fiel sein Blick auf die Ausbeulung über dem Bein, man hatte eine Decke darüber geschoben. Ryogas Füße bewegten sich wie von selbst auf die andere Seite des Bettes, dann griff er nach der Decke, um sie hoch zu heben – nur um mit einem entsetzten Keuchen zurück zu weichen. Dabei stieß er irgendeine Metallschale von einem Tischchen, die Scheppernd zu Boden ging. Er registrierte es kaum. Sein Atem ging beschleunigt.
Er konnte hier keine Sekunde länger bleiben. Ryoga riss sich von dem Anblick los und stürzte aus dem Zimmer, wobei er eine Krankenschwester über den Haufen rannte, die aufgrund des Lärmes nach dem Rechten hatte sehen wollen.
Weg… er musste weg hier … am besten für immer.
 
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