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Freund oder Feind

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Fantasy / P18 / Gen
17.01.2018
17.01.2018
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                                         Freund oder Feind?
                                                      von
                                                Ingrid Klyk


Unruhig lag Vincent in seinem Bett. Schon seit Monaten plagten ihn verwirrende Alpträume. Er fühlte intensiv die Gegenwart eines fremden Wesens. Es war nicht Catherine, nein. Irgendetwas war in den Tunneln. Vater gegenüber hatte Vincent geschwiegen.
Im Gegensatz zu Vater hatte Catherine seine Veränderung bemerkt. Eines Abends, es war schon recht spät, stand Vincent gedankenverloren an der Brüstung von Catherines Balkon. Er schien sie nicht zu bemerken und starrte in die Nacht hinaus. Die Skyline von New York hatte eine beruhigende Wirkung. Langsam schlich Catherine an seine Seite, strich über seinen Oberarm und  seinen Rücken. Er zuckte leicht zusammen und nahm sie erleichtert in seine Arme.
Für die beiden gab es schon seit langem keine Grenzen mehr. Dem entsprechend begrüßte Catherine ihren Schatz. Doch Vincent war nicht ganz bei der Sache.

„Ist alles in Ordnung mit dir?“ Catherine sah in sein besorgtes Gesicht. Vincent musste nicht
antworten. Stattdessen starrte er wieder in die Nacht hinaus.
„Vincent...Bitte sag mir was dich bedrückt“, flüsterte Catherine ihm zu.
„Ich weiß es nicht, Catherine...Ich habe das eigenartige Gefühl, dass irgendetwas passieren wird.“ Sie schmiegte sich fest an ihn und lauschte seinen Worten.
„Schon seit Wochen geht das so...!“
„Hast du mit Vater darüber geredet?“ Vincent schüttelte kaum merklich den Kopf.
„Nein, er würde sich nur unnötig Sorgen machen.“
„Was sind das für Gefühle?“ Vincent suchte nach Worten. Leicht deprimiert sah er sie an.
„Was das für Gefühle sind, kann ich nicht sagen...Ich weiß es nicht.“
„Jetzt mache ich mir langsam Sorgen.“ Fürsorglich nahm er Catherine in die Arme.
„Das brauchst du nicht“, sagte Vincent, doch dachte er etwas anderes. Schließlich wollte er Catherine nicht noch mehr beunruhigen.
„Ich denke, du solltest trotzdem zu Vater gehen. Es ihm sagen. Vielleicht...vielleicht hilft es dir, wenn du nur darüber redest.“ Vincent überlegte kurz und willigte ein.
„Ich werde morgen mit ihm reden. Heute nicht mehr.“
„Bitte versprich mir, dass du mit Vater reden wirst.“
„Ja, ich verspreche es.“ Catherine wusste nur zu gut, dass er Mittel und Wege finden würde, um daran vorbei zu kommen.


„Ich habe morgen Nachmittag frei“, versuchte Catherine ihn abzulenken. Schmunzelnd blickte er sie an.
„Und was hast du vor?“
„Ich hatte mir gedacht, wir gehen vielleicht spazieren und machen es uns schön gemütlich.“
„Dann werde ich zusehen, dass Vater nicht zu viel Arbeit verteilt.“
Den Rest des Abends verbrachten sie vor dem offenen Kamin. Erst kurz vor Sonnenaufgang machte sich Vincent auf den Weg in seine Welt.

In den ersten Stunden des neuen Tages hatte Vincent keinen Schlaf gefunden. Die fremden Gefühle wurden deutlicher, intensiver. Bis um die Mittagszeit hatte er sich mit harter Arbeit beschäftigt, um sich abzulenken.
Nach getaner Arbeit und einer kräftigen Dusche stattete Vincent seinem Ziehvater einen Besuch ab. Vater war wie immer in der Bibliothek.
„Vincent...Schön, dass du da bist, mein Junge“, sagte Vater lächelnd.
„Du bist zurzeit so schweigsam. Was ist los?“
„Genau darüber möchte ich mit dir reden.“ Vincent sah leicht überrascht aus. Hatte er Vater etwa unterschätzt? Er hatte es also doch bemerkt.
„Ist es was Ernstes? Bist du krank?“ Vater überhäufte ihn mit Fragen.
„Nein, nein...mit mir ist alles in Ordnung. Es ist nur...Ich weiß nicht wie ich es sagen soll.“ In dem Moment kam Catherine herein und begrüßte die zwei, besonders Vincent. Vater sah verlegen zu, wie sie sich küssten.
„Und? Hast du?“ fragte Catherine.
„Ich bin gerade dabei.“, erwiderte Vincent beschwichtigend.
„Ihr macht es sehr spannend. Das muss ich schon sagen.“
„Es geht nicht um uns, Vater. Sondern...Seit  geraumer Zeit habe ich das seltsame Gefühl, dass etwas passieren wird und ich fühle die Anwesenheit einer Person oder was auch immer, die mir fremd ist. Mal mehr, mal weniger.“
„In wie fern?“ fragte Vater und machte ein nachdenkliches Gesicht.
„Es ist so ähnlich wie bei Catherine. Ich fühle ihre Gegenwart. Ich spüre, ob sie glücklich oder traurig ist. So etwa ist es mit dieser anderen Person. Anders kann ich es nicht beschreiben.“
„Was sind das genau für Gefühle, Vincent?“ In dem Moment, als er antworten wollte, überfiel ihn wieder ein Schwall verwirrender Gefühle und Eindrücke. Vincent wurde leicht schwindelig, schloss die Augen und ließ sich weit in den Sessel fallen.
„Vincent?“ Catherine und Vater reagierten sofort.
„Es geht schon wieder. Lasst nur...“
„War das...“, begann Vater und Vincent nickte stumm.
„So gewaltig und intensiv war es noch nie.“
„Was ist es genau?“ fragte Catherine.
„Jetzt habe ich das erste Mal ein Gesicht gesehen“, sagte Vincent tonlos und nachdenklich.
„Ein Gesicht?“ fragte sie weiter.
„Was für ein Gesicht?“ kam nun von Vater.
„Ich sah mich...aber...ich bin es nicht.“ Vater fragte nicht weiter, sondern dachte angestrengt nach. Jedoch nicht Catherine.
„Wie, du bist es nicht! Das verstehe ich nicht.“
„Es ist wie...wenn ich in den Spiegel sehe. Ich…ich sehe mich, weiß aber, dass ich es nicht bin. Als würde… mich derjenige rufen oder…sich bemerkbar machen.“
„Mit welchen Gefühlen macht er sich bemerkbar?“ fragte Catherine weiter.
„Das ist ganz unterschiedlich. Mal Furcht, Hass oder Demütigung. Aber auch Frieden und Ausgeglichenheit.“
„Vater?“ Catherine fiel auf, dass Vater die ganze Zeit geschwiegen hatte. Kurz schreckte er auf.
„Ist mit dir alles in Ordnung?“ Vincent schien besorgt. Ihm fiel es nun ebenfalls auf.
„Da bin ich mir nicht sicher“,  sagte Vater kleinlaut und drehte seine Brille hin und her.
„Aber es kann nicht sein...“ Leise redete Vater mit sich selbst. Misstrauisch sahen sich Catherine und Vincent an.
„Was ist los, Vater? Dir liegt etwas auf der Seele. Das sehe ich dir an.“,  sagte Vincent bestimmt.
„Da hast du wohl Recht. Und...es scheint an der Zeit zu sein mein Schweigen zu brechen...Obwohl ich nicht weiß, ob das eine etwas mit dem anderen zu tun hat.“
„Dann sollten wir es herausfinden.“ Catherine klang aufmunternd.
„Ich weiß nur nicht, wo ich beginnen soll.“ Der alte Mann klang verzweifelt.
„Fang am besten ganz von vorn an“,  schlug Vincent ihm vor.
„Gut. Doch bevor ich das tue, möchte ich noch sagen, dass es entscheidende Gründe für mein langjähriges Schweigen gibt.“ Gespannt hörten sie ihm zu.
„Als unsere junge Gemeinde noch ganz am Anfang stand, gab es hier ein junges, frisch verheiratetes Paar, Anna und John. Die beiden waren glücklich verheiratet und wünschten sich nichts sehnlicher als ein Kind. Viele Monate haben sie es mit allen erdenklichen Mitteln versucht, doch der Erfolg blieb aus. John war zu der Zeit ein begnadeter und genialer Wissenschaftler. Anna war überaus stolz auf ihn.“ Vincent stutzte ein wenig.
„Meinst du mit ´John`... Paracelsus?“ fragte er vorsichtig.
„Ja. John und ich waren einmal die besten Freunde. Wir hatten uns beim Studium kennen gelernt. Durch mich lernte er Anna kennen. Sie war wunderschön. Alle haben sich nach ihr umgedreht. Wenn John mit ihr die Strassen entlang ging, beneideten ihn die anderen Männer, doch sie hatte nur Augen für ihn. Zu ihrem vollkommenen Glück fehlte nur noch ein Kind. John wusste weder ein noch aus. Schließlich begann er zu experimentieren. Ungefähr ein halbes Jahr später wurde Anna schwanger. Beide waren überaus glücklich.“
„Wusste sie, was er mit ihr angestellt hatte?“ Catherine klang zaghaft. Vincent lag dieselbe Frage auf der Zunge.


„Anna wusste, dass er nachgeholfen hatte, ja. Aber in welchem Ausmaß, nein. John sagte ihr lediglich, dass er seine und ihre Gene mit fremden Genen kombiniert hatte, um einen Erfolg zu erzielen.“ Nun wurde Vincent leicht blass und hellhörig. Er richtete sich auf und sah fast nervös abwechselnd von Vater zu Catherine. Vater unterbrach sich. Er hielt mit Vincent Blickkontakt.
Beide schwiegen sich an. Vincent stand auf, lehnte sich gegen den Schreibtisch und ließ seinen Kopf  hängen. Besorgt sah Catherine zu ihm auf.
„Vincent? Alles in Ordnung mit dir?“ Catherines Frage klang wie ein Flüstern. Stumm nickte er. Sah sie jedoch nicht an. Vater räusperte sich und rieb sich verstohlen die Stirn.
„Fahr ruhig fort, Vater“, sagte Vincent leise aber bestimmt.
„Gut…wo war ich stehen geblieben? Ach ja...Die Schwangerschaft verlief ohne Probleme. John war stets bei ihr und umsorgte sie. Im siebten Monat kam John zu mir und meinte, es wäre besser bei Anna einen Kaiserschnitt zu machen, wenn es so weit sei. Als ich ihn daraufhin fragte, warum er sich so sicher sei, dass es Komplikationen geben könnte, sagte er mir, welche zusätzlichen Gene er verwendet hatte.“ Vater schwieg einen Moment.
„Und was waren es für Gene?“ fragte Vincent mit gedämpfter Stimme. Er lehnte immernoch am Schreibtisch. Ihre Blicke trafen sich. Vater kam von ihm nicht los.
„Es waren die Gene eines...Löwen.“ Vincent schloss gefasst die Augen. Er konnte das Blut in seinen Ohren rauschen hören. Catherine starrte Vater fassungslos an. Ihr Blick wechselte zu Vincent, der sich nicht bewegte.
„Und wie weiter...“ kam wieder tonlos von Vincent.
„Nun...wir wussten nicht, was uns erwarten würde. Folglich hielten wir es für das Beste, wenn man bei Anna eine Ultraschalluntersuchung machen würde. John brachte sie nach oben in die Klinik. Dort stellte man überraschend fest, dass es Zwillinge werden.“ Vater schmunzelte.
„Was ist?“ fragte Catherine ihn verwundert. Selbst Vincent blickte auf.
„Ich werde nie die glücklichen Gesichter von Anna und John vergessen. Freudestrahlend kamen sie runter und verkündeten allen die Neuigkeit. Jeder sollte es wissen. Ende des siebten Anfang des achten Monats war es dann so weit. Als bei Anna die ersten Wehen einsetzten, brachten  John und ich sie ins Hospital. Ein paar Ärzte, die eingeweiht wurden, haben dann die Zwillinge per Kaiserschnitt auf die Welt gebracht. Erst kam Viktor und dann...“ Vater blickte gezielt zu seinem Ziehsohn.
„...dann kam Vincent.“ Totenstille war in der Bibliothek. Catherine lächelte und ging zu Vincent. Er konnte es nicht recht fassen. Was hatte er da eben gehört? Er, Vincent, hatte einen Zwillingsbruder? Und sein Vater war `Paracelsus`? Was sollte er in diesem Augenblick tun? Was sollte er denken! Wie sollte er reagieren! Ungläubig schüttelte Vincent seinen Kopf. Er fand seine Sprache wieder.
„Ich...ich wurde nicht...gefunden?“ Jetzt sahen beide, Catherine und Vincent, zu Vater. Er versuchte ein kleines Lächeln hervor zu bringen.
„Nein, du wurdest nicht gefunden. Ganz im Gegenteil. Ihr zwei, du und Viktor, ihr wart Wunschkinder.“
„Das...das verstehe ich nicht. Warum diese Geschichte mit dem Findelkind? Und...und wo ist Viktor? Warum diese Geheimnistuerei!“ Vincent war vollkommen durcheinander. Er hatte so viele Fragen. In seinem Kopf hämmerte es gewaltig. Jacob sah, dass sein Ziehsohn um Fassung rang.

Er zog einen Stuhl an seine Seite und bat Vincent sich neben ihn zu setzen. Nur zögerlich willigte er ein. Catherine half ein wenig nach, indem sie ihm gut zuredete.
Als Vincent endlich neben Vater Platz nahm, wollte Catherine die zwei allein lassen.
„Ich lass euch allein. Dann könnt ihr in Ruhe reden.“ Sie war schon auf dem Sprung, als Vincent sie zurückhielt.
„Nein. Bitte bleib hier.“
„Bist du sicher?“ hakte sie nach. Vincent vergrub das Gesicht in seinen Händen und nickte.
„Ich brauche etwas seelische Unterstützung.“ Vater und Catherine huschte ein kleines Lächeln über die Lippen, da dieser Satz von Vincent etwas sarkastisch klang. So etwas hörte man äußerst selten.
„Was geschah dann?“ fragte Vincent, während sich Catherine einen Stuhl nahm und sich neben ihn setzte.
„Ihr vier habt zusammen hier unten gelebt. John und Anna haben euch nie aus den Augen gelassen. Eine perfekte Familie...“
„Was ist schief gelaufen?“
Vater lächelte gequält.
„Einiges passierte!“ Jacob machte ein trauriges Gesicht. Es fiel ihm sichtlich schwer darüber zu reden. Catherine legte ihre Hand auf die von Vater, um ihm Mut zu machen.
„Ist es so schlimm?“ fragte Vincent vorsichtig, aber bestimmt. Vater nickte und sah ihn an.
„Nach 1 ½ Jahren glücklichem Familienleben, hat das Schicksal bei euch zugeschlagen. Deine Mutter, Anna, wurde sehr krank und...starb ein paar Wochen später. Ihr zwei, du und Viktor, wart noch viel zu klein, um zu verstehen was passierte. Ihr habt immer nach ihr gerufen, aber sie kam nicht. John war am Boden zerstört. Er ist in ein tiefes seelisches Loch gefallen. All das, woran er geglaubt hatte, wurde zunichte gemacht. Er hat sich nie wieder von diesem Verlust und dem Schock erholt. Anna war seine erste und einzige große Liebe...John hatte sich innerhalb kürzester Zeit verändert. Auch ihr hattet euch verändert. Das fiel mir besonders bei dir auf, Vincent.“
„In wie fern!?“
Vater überlegte kurz.
„Es waren viele Kleinigkeiten. Bei einigen weiß ich bis heute nicht warum, wieso und weshalb. Nachdem Anna gestorben war, zog es John immer wieder nach oben. Er hielt es in den Tunneln nicht mehr aus. Alles erinnerte ihn an seine Frau. Darunter wart auch ihr zwei. Während John weg war, waren Viktor und du bei Mary und mir. Du wurdest von Woche zu Woche ruhiger, hast dich mit deinen 1 ½ Jahren von den anderen distanziert. Sogar von deinem Bruder. Wenn ich meine Arzttasche in der Hand hatte, bist du in Panik geraten. Mary musste dich stundenlang beruhigen. Mehrmals in der Nacht bist du hochgeschreckt und hast fürchterlich geweint.“ Vater machte eine Pause und fuhr dann fort.
„Einmal hatten wir euch wieder gebadet und Mary fiel auf, dass du am Arm winzig kleine blaue Flecke hattest. Als ich mir das genauer ansah, fand ich kleine Einstichstellen. Wie wenn man dir ständig Blut abgenommen hätte. Ebenso bei Viktor. Doch ihm merkte man nichts an. Ganz im Gegenteil. Du wurdest ruhiger und zurückhaltender, Viktor dagegen aufbrausender und dir gegenüber dominanter. Er hat dich auf der einen Seite beschützt und auf der anderen Seite hatte er das Sagen. Wahrscheinlich das Vorrecht des Älteren. Viktor war als erster auf der Welt, also pochte er auf sein Recht. Selbst als Kind.“ Vincent sagte nichts. Catherines Hand lag nun auf Vincents Arm.
„Und wie weiter?“ Vater rieb sich die Stirn.
„Nun...gleich am nächsten Tag wartete ich gezielt auf John. Er sollte mir Rede und Antwort stehen. Erst spät am Abend kam er. Ich bat ihn in die Bibliothek und sprach ihn darauf an. Doch er meinte, es ginge mich nichts an und wenn er es mir sagen würde, würde ich ihm nicht glauben...John und ich hatten uns heftig gestritten...Als wir sozusagen fertig waren mit unserem Streit, kam Mary mit euch beiden herein. Du hattest wieder heftig geweint. Mary dachte, ich sollte euch eine Geschichte vorlesen, damit ihr wieder einschlafen könnt. Doch als du John gesehen hast, fingst du plötzlich an zu zittern. Die panische Angst war dir buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Viktor stellte sich vor dich...“ Catherine und Vincent sahen sich verwundert an und schwiegen.
„Es schien fast so, als würde er dich vor eurem eigenen Vater beschützen wollen. Er sah John böse an und fauchte. Das hatte ich bis dahin von keinem von euch beiden gehört...Selbst John machte große Augen.“
Vincent stand auf und lief ziellos durch den Raum. Vater und Catherine wussten nicht wie sie reagieren sollten. Jacob wollte seinem Ziehsohn nahe sein, doch wich Vincent ihm ständig aus. Bedrückt und fassungslos über das eben Gehörte, folgte sie Vincent mit ihrem Blick. In der Hoffnung, dass sie ihn damit einfangen würde. Auch um zu verstehen, was er gerade dachte.
Vincents Gesichtsausdruck sprach Bände. Er war aschfahl und ohne jede Regung. Er schlug die Arme über dem Kopf zusammen, rieb sich sein Gesicht, fuhr mit seinen Händen durch seine Mähne, so dass die Haare ganz nach hinten gekämmt wurden.
Dann endlich bekam Vater ihn am Arm zu fassen. Sichtlich erschrocken sah er ihn an. Vater sah, wie es in ihm arbeitete. Seit Ewigkeiten hatte er Vincent nicht mehr so unruhig gesehen.

Als Catherine dazukam, half alles nichts...er musste raus!

Abrupt riss er sich von ihnen los. Er brauchte kein Mitleid, nicht er! Vincent war so verwirrt, dass er den Ausgang der Bibliothek suchte. Fast schien es so, als würde er in Panik geraten. Catherine machte ein ernstes und sogleich besorgtes Gesicht. So kannte sie ihn nicht.
„Vincent, bitte...rede mit uns. Sag etwas!“ flehte Catherine ihn an.
„Ich muss...hier raus! Ich...ich brauche jetzt frische Luft!“ presste er gequält hervor.
„Vincent!“ sagte Vater schnell.
„Es ist hell draußen. Du kannst jetzt nicht in den Park.“ Catherine sah schockiert zu Vincent.
„Vincent?“ kam leise und vorsichtig über ihre Lippen. Doch Vincent reagierte bei keinem von beiden und machte sich auf und davon. Catherine wollte ihm nachlaufen, aber Vater hielt sie zurück.
„Warte!“ sagte er mit gedämpfter Stimme. Fragend sah sie ihn an.
„Lass ihn, Catherine...Er muss erst mal alles verarbeiten. Gib ihm etwas Zeit.“ Nur schweren Herzens ließ Catherine ihn gehen.
Ziellos streifte Vincent durch die endlosen Tunnel. Viele Stunden war er bereits unterwegs. Vaters Stimme hallte in seinem Kopf. Als er aufbrach, war es unerträglich. So laut, dass sein Kopf furchtbar wehtat. Aber von Stunde zu Stunde wurde es leiser. Erst sehr spät nachts war Vaters Stimme wie ein Flüstern und er schaffte es, sich auszuruhen. Völlig übermüdet kam Vincent zu seinem Lieblingsplatz, dem Spiegelteich. Dies war ein unterirdischer See. Die Höhlendecke war genau über der Mitte des Sees nicht vorhanden. Folglich spiegelten sich die Sterne und der nächtliche Himmel darin. Oft beobachtete er den Sonnenauf- und Sonnenuntergang, ohne Gefahr zu laufen entdeckt zu werden. Das leise Plätschern des Wassers hatte auf ihn eine beruhigende Wirkung. Fast wie in Trance setzte sich Vincent in den weichen Sand am See und lehnte sich gegen die Felswand. Kurz darauf übermannte ihn der Schlaf.

Früh am Morgen erwachte Catherine in Vincents Bett. Sie hatte den ganzen Tag und die halbe Nacht auf seine Rückkehr gewartet. Schlaftrunken wanderte ihre Hand auf die andere Seite des Bettes. Doch die war leer! Catherine schreckte hoch und rief mehrmals seinen Namen, aber nichts! Halbwegs munter zog sich Catherine an und eilte in die Bibliothek. Vater sah sie erstaunt an.
„Guten Morgen, Catherine. So früh schon auf?“
„Guten Morgen, Vater. Ist Vincent hier bei dir gewesen?“
„Nein. Ist er gestern nicht zurückgekommen?“ fragte Vater verwundert. Catherine schüttelte traurig den Kopf.
„Nein..Deshalb mache ich mir ja solche Sorgen, Vater. Niemand hat ihn die letzten Stunden gesehen oder etwas gehört. Nichts!“ Catherine war verzweifelt. Vater rieb sich die Stirn und nahm seine Brille ab. Angestrengt dachte er nach.
„Ihn suchen bringt nichts. Vincent könnte überall sein. Die Tunnel erstrecken sich über viele Kilometer und sind weit verzweigt...Warte...Wenn er sehr durcheinander ist und Ruhe sucht, geht er entweder zu den Wasserfällen oder zum Spiegelteich.“
„Ich werde ihn dort suchen, Vater.“ Vater nickte ihr zustimmend zu. Gerade als Catherine die Treppe zum Ausgang betreten wollte, kam Vincent herein. Er hatte ihre Sorge gespürt.
„Vincent...“ war das Einzige was sie sagen konnte. Erleichtert warf sich Catherine in seine Arme und drückte ihn so fest es ging. Vincent verbarg sein Gesicht in ihrer Halsbeuge.
„Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht, Vincent.“ Catherine war kurz davor zu weinen.
„Tut mir leid...“ flüsterte Vincent ihr ins Ohr. Vater war diese `intime` Situation etwas unangenehm. Noch nie hatte er Catherine und Vincent so eng beieinander gesehen. Ein Kuss zur Begrüßung oder zum Abschied, ja. Aber so nicht! Vincent löste sich von Catherine und küsste sie auf die Stirn. Gemeinsam setzten sie sich zu Vater an den Tisch. Vater brach als erster das Schweigen.
„Wie geht es dir?“ musterte er ihn. Vincent lehnte sich zurück und zuckte wortlos mit den Schultern.
„Das alles hat dich mehr mitgenommen, als ich erwartet hatte.“
„Ja, da hast du wohl recht...Ich bin die ganze Zeit herumgelaufen. Wo ich überall war, weiß ich nicht. Das, was du mir gestern erzählt hattest, ging mir ununterbrochen durch den Kopf.“ Vincent klang müde und verzweifelt.
„Wenn ich irgendwo stehen blieb, herrschte so ein Durcheinander, dass ich dachte, mein Kopf zerspringt jeden Moment...Erst gegen 3 oder 4 Uhr früh wurde es allmählich besser. Am Spiegelteich muss ich dann wohl eingeschlafen sein.“ Catherine hielt Vincents Hand, während er sprach.
„Wie fühlst du dich sonst? Wie sieht es in dir aus?“ Interessiert wechselten Catherines Augen von Vater zu Vincent. Vincent atmete tief durch und suchte nach Worten.

„Genau weiß ich es nicht, Vater. Es scheint weniger das Problem für mich zu sein...zu wissen, dass ich einen Bruder und einen Vater habe, als zu wissen, wer mein richtiger Vater ist... und zwar Paracelsus…Vater, er hat mit Drogen gehandelt! Er hat fünfzig unschuldige Menschen auf dem Gewissen!“
„Ja, ich weiß. Das dachte ich mir. Aber du kannst an dieser Situation nicht das Geringste ändern, mein Junge.“ Vater schwieg einen Moment und dachte kurz an die Zeit, bevor sich alles zum Schlechten gewandelt hatte. Catherine sah, wie Vater angestrengt nachdachte.
„Vater? Alles okay?“ Völlig aus den Gedanken gerissen sah Vater beide an.
„Hm? Ach ja. Entschuldigt meine Abwesenheit, aber ich dachte gerade über John nach.“
„In wie fern?“ flüsterte Vincent.
„Im Grunde genommen ist oder war John ein herzensguter Mensch. Alle haben ihn gemocht. Bevor er Anna kennen lernte, war er zurückhaltend und ruhig…So wie du.“ Ein Schmunzeln konnte Vater seinem Ziehsohn entlocken.
„Doch dann lebte er förmlich auf, wurde selbstbewusster und hatte eine Aufgabe...Anna. Schon nach ¼ Jahr machte John ihr einen Antrag und die beiden heirateten.
Seit John mit ihr zusammen war, konnte er sich vorstellen Vater zu werden. Er wollte unbedingt eine Familie gründen. Das war sein größter Herzenswunsch. Als ihr zwei, du und Viktor, endlich auf der Welt wart, ging er mit Leib und Seele in seiner Vaterrolle auf. Er hat euch gewickelt, gebadet, gefüttert, gespielt, alles. Ist mit euch spazieren gegangen. Er hat euch beide gleichgestellt. Keiner wurde bevorzugt oder benachteiligt. Doch dann...“
Vater machte ein bestürztes Gesicht. Er sprach nicht weiter. Das musste er auch nicht. Catherine und Vincent kannten bereits das Ende des Dramas. Nun ergriff Catherine das Wort.
„Warum wurden Vincent und Viktor getrennt? Wo ist Viktor?“ Gespannt auf die Antwort sah Vincent zu Vater hinüber.
„Warum die beiden getrennt wurden, weiß selbst ich nicht. Ich weiß nur, dass Viktor bei John ist.“
„Du weißt nicht warum?“ fragte Vincent leise. Vater verneinte.
„Als ich dir gestern sagte, dass es Kleinigkeiten gäbe, die ich bis heute nicht verstanden habe, so ist eine davon diese. Aber ich habe hier einen Brief.“
Vater kramte in der Schublade seines Schreibtisches und zog einen Brief hervor. Vincent stockte der Atem.
„Was ist das für ein Brief?“ Bedächtig drehte Vater das Schriftstück hin und her.
„Dieser Brief ist von John...Er schrieb diese Zeilen kurz bevor er uns mit Viktor verließ.“ Vater reichte Vincent den Brief. Unsicher nahm er ihn in die Hände, öffnete und las...









                                                        Jacob, mein Freund

Es tut mir sehr leid, dass unsere letzte Begegnung ein so unschönes Ende gefunden hat. Ich wünschte ich wäre in der Lage, es dir ausführlicher zu erklären, aber dies ist unmöglich. Würde ich es versuchen, du könntest mich für einen Lügner halten. Das von mir Gesagte wäre für dich nicht glaubhaft. Ich werde mich mit Viktor zurückziehen. Warum nur mit ihm und nicht mit Vincent oder mit beiden, kann ich dir nicht sagen. Wie schon erwähnt, du würdest es mir nicht glauben.
Das ich Vincent zurücklassen muss, werde ich mir mein Lebtag nicht verzeihen können. Aber um seine Sicherheit willen lasse ich ihn bei dir. Ich bin mir sicher, du wirst mit meinem Jüngsten nicht die geringsten Schwierigkeiten haben. Er ist das ganze Gegenteil von Viktor. Ein großer Teil von ihm erinnert mich an Anna. Vincent hat viel von ihr. Ich hatte mir erhofft ihn weiter aufwachsen zu sehen. Auch um zu sehen, wie viel von seiner Mutter in ihm steckt. Vincent ist sehr intelligent. Manchmal glaube ich sogar, schlauer und gerissener als Viktor. Der Schalk steckt ihm im Nacken, also nimm dich in Acht.
Ihn in deiner Obhut zu wissen, Jacob, ist mein einziger Trost. Denn ich weiß, du wirst ein exzellenter Ersatzpapa und Mary die ideale Ersatzmama.
Ich möchte dich nur bitten, meinem Sohn Vincent nichts von Viktor zu erzählen. Würden die beiden in späteren Jahren zusammentreffen, kann ich nicht garantieren, dass dieses Ereignis harmlos verläuft. Das klingt für dich sicher seltsam, aber ich weiß wovon ich rede. Ich werde meinen kleinen Liebling nie vergessen. Bitte gib ihm jeden Morgen und jeden Abend einen Kuss und drücke ihn ganz fest von mir. Vincent allein erinnert mich noch an meine Anna. Genau wie an Anna werde ich jeden Tag an ihn denken.
Lieber Jacob, ich danke dir für alles, was du für uns getan hast und in Zukunft für meinen Sohn tun wirst.  Vincent, vergib mir...

                                                                           John



Vincent hatte einen dicken Kloß im Hals. Er rang mit sich selbst. Als er Catherine den Brief gab und sie ihn las, liefen ihr Tränen die Wangen herunter. Stumm sah er zu Vater, der ebenfalls Tränen in den Augen hatte.
„Oh Gott...“ Catherine war vollkommen aufgelöst. Vater war nicht fähig zu reden. Genauso wenig wie Vincent.
Als Mary urplötzlich herein kam, sah sie Catherine mit Tränen in den Augen dasitzen, Vater sah besorgt drein. Und Vincent? Er hatte sich eben von seinem Stuhl erhoben und war im Begriff zu gehen.
„Vincent?“ rief Vater ihm bedächtig hinterher. Sein Ziehsohn drehte sich zu ihm.
„Mach dir keine Sorgen. Ich lege mich nur hin. Das muss ich erst einmal alles verarbeiten.“
Mary stand sprachlos da und beobachtete die Szene.
„Ist alles in Ordnung, Vincent?“ fragte sie, als er an ihr vorbei ging. Vincent blieb vor ihr stehen, sah kurz zurück. Sein Blick wandte sich für einen Moment zu Boden.
„Vater hat mir gestern und heute erzählt, was sich hier vor vielen Jahren abgespielt hat...was auch mich betrifft.“ Marys Augen weiteten sich und wanderten zu Jacob, der schweigend nickte. Mary sagte nichts weiter, sondern nahm ihn einfach in den Arm und drückte ihn.
Vincent war etwas überrascht, aber es tat ihm sichtlich gut.
„Ich lege mich jetzt hin. Ich habe die Nacht nicht besonders gut geschlafen.“
„Wenn du mich brauchst...“ begann Mary
„...dann weiß ich wo ich dich finden kann, danke“,  vervollständigt Vincent den Satz und ging in seine Kammer. Er fiel in einen traumlosen Schlaf.

Catherine verbrachte den ganzen Tag mit den Kindern. Sie musste sich unbedingt ablenken und übernahm Vincents Unterrichtsstunde.
Vater dagegen sprach mit Mary. Er erzählte ihr von Vincents Vorahnung und den Gefühlen, die er von Viktor empfing.

Vincent wollte, nachdem er erwacht war, niemanden sehen, mit niemandem reden. Erst nach dem Abendessen saßen die vier gemeinsam in der Bibliothek. Kaum einer brachte ein Wort heraus.
„Könnt ihr zwei mir mehr über...meinen...Bruder erzählen?“ fragte Vincent leise. Verstohlen sah Mary zu Vater. Sie wusste nicht was sie sagen sollte und wollte Vater den Vortritt lassen.
„Nun, erst einmal...ihr seid keine eineiigen Zwillinge. Es gibt genügend Unterschiede. Zum Beispiel die Augenfarbe. Du hast leuchtende azurblaue Augen und Viktor hat stechende grüne Augen. Auch sein Verhalten, sein Charakter war das ganze Gegenteil von dir. Wie es jetzt ist weiß ich natürlich nicht. Auch was Größe und Statur angeht, kann ich dir nicht sagen, ob es genauso ist wie bei dir. Mir fällt gerade ein, dass Viktor Rechtshänder ist und du Linkshänder bist.“ Mary fand ihre Sprache wieder und erzählte, was sie alles mit den beiden erlebt hatte.
„Ich erinnere mich noch, als wäre es erst gestern gewesen. Du konntest mal wieder nicht einschlafen und hast John, deinen Vater, gesucht. Wir saßen zu der Zeit mit Jacob und John in der Küche, als du mit einem Buch hereinkamst. Du setztest dich auf Johns Schoß sahst ihn an und John fing ohne zu fragen an zu lesen. Viktor hatte währenddessen mitbekommen, dass du nicht mehr da warst und dich gesucht. Als er sah, dass du bei John warst und er dir eine Geschichte vorlas, wurde er fast wütend. Er riss ihm das Buch aus der Hand und setzte sich mit auf seinen Schoß.“
„Er war eifersüchtig“, sagte Catherine.
„Ja. Viktor hatte Hummeln im Hintern. Ständig ist er rumgelaufen, konnte einfach nicht still sitzen. Du dagegen warst der reinste Engel“, schwärmte Mary. Catherine musste lachen. Auch Vater und Vincent schmunzelten.
„Sehr pflegeleicht, also!“ konnte sich Catherine nicht verkneifen. Das Eis war endlich gebrochen. Der Ernst verschwand im Laufe des Abends. Mary und Vater schwelgten in alten Erinnerungen und teilten diese mit Catherine und Vincent. Es wurde an diesem Abend sehr spät!

Wochen später...
Vincent war mit Catherine unterwegs, als plötzlich heftige Klopfgeräusche die Ruhe störten. Wie versteinert stand Vincent da.
„Was ist los?“ Erschrocken sah sie ihn an.
„Es gab einen Unfall...Ein Tunnel ist teilweise eingestürzt...Es gibt Verletzte!“ Vincent rannte los. Catherine versuchte ihm zu folgen so gut sie konnte. Es war ein beschwerlicher Weg bis zur Unglücksstelle. Es ging weit die Tunnel hinab. Sie hatte Vincent aus den Augen verloren. Viel zu schnell war er für sie. Doch Catherine brauchte nur den anderen zu folgen, die ebenfalls auf dem Weg zur Unglücksstelle waren.
Als Catherine unten ankam, herrschte dort ein reges Treiben. Die Tunnelbewohner rannten hektisch hin und her. Der aufgewirbelte Staub, vom Einsturz des Tunnels, hatte sich überall ausgebreitet.
Vater versorgte mit vielen Freiwilligen die ersten Geretteten. Vincent brachte einen nach dem anderen in Sicherheit. Darunter auch viele Kinder.
„Wie ist das passiert!“ fragte Vater streng eines der geretteten Kinder. Mit Tränen in den Augen erzählte Geoffrey.
„Wir hatten Verstecken gespielt...und wir dachten es wäre ein gutes Versteck.“
„Ihr habt hier unten Verstecken gespielt? Wie oft haben wir euch davor gewarnt hier zu spielen!“ Vincent kam dazu und brachte noch ein Kind zum Verarzten.
„Das musste ja irgendwann mal dazu kommen. Ihr könnt von Glück reden, wenn wir hier alle heil rauskommen.“ Vaters Moralpredigt war überall zu hören. Catherine hockte neben Geoffrey und half Vater, während er predigte.
„Vater, ich glaube, es ist nicht gerade der richtige Zeitpunkt für deine Moralpredigt. Vielleicht könntest du das auf später verschieben!“ Vater war sehr überrascht diese Worte von Vincent zu hören. Selbst Catherine sah ihn verwundert an. Aber er hatte Recht.
„Ihr könnt euch auf eine saftige Strafe gefasst machen!“ fügte Vater hinzu.
„Ja, Vater. Wir werden alles tun, um es wieder gut zu machen.“ Catherine strich ihm über seinen staubigen Kopf und machte ihm Mut. Vincent vernahm mit seinem feinen Gehör, dass sich weitere Gesteinsbrocken von der Decke lösten.
„Wir müssen schleunigst hier verschwinden, Vater. Dieser Tunnelabschnitt ist extrem gefährlich!“
„Ja, du hast recht...! Alle verlassen sofort diesen Abschnitt und bringen sich in Sicherheit. Keine Widerrede oder Ausflüchte!“ Vaters Worte hatte jeder vernommen. In Windeseile packten die Bewohner alles zusammen, nahmen die Verletzten auf und begaben sich in einen der sicheren Tunnelabschnitte, nicht weit entfernt von der Unglücksstelle.
Vincent war mit Vater und einigen anderen Männer, weiter am Ort des Geschehens geblieben. Ein Kind und ein Erwachsener fehlten noch. Er musste sich beeilen, denn jeden Moment konnte die Decke des ungeschützten Tunnels in sich zusammenfallen. Catherine hielt es im sicheren Abschnitt nicht aus. Sie wollte helfen! Plötzlich stand sie wieder bei Vater und Vincent.
„Catherine! Um Gottes Willen! Was machst du denn hier! Du solltest bei den anderen bleiben!“ rief Vater und Vincent fuhr erschrocken herum.
„Catherine, bitte geh wieder zu den anderen rauf...“ Weiter kam er nicht. Winclow rief nach ihm.
Sie hatten die zwei Vermissten gefunden. Es waren Kipper und Steven.
Um die beiden zu bergen, mussten die Männer durch eine schmale Öffnung hindurch kriechen. Der eigentliche Zugang zu diesem Bereich war bereits versperrt. Für die Wartenden waren es endlose Minuten. Randolf und Pascal kamen als erste mit Steven. Fehlten nur noch Kipper, Josef und Vincent.

Es war nicht einfach, Kipper in dieser absoluten Dunkelheit zu finden. Josef ging es gut. Er suchte ebenfalls nach ihm.
„Kipper! Kipper...“ Vincent rief nach ihm und vernahm ein schwaches Weinen.
„Vincent! Ich habe ihn! Er ist hier drüben. Ein paar Steine liegen über ihm.“
„Vincent? Vincent, es tut so weh...“ jammerte Kipper. Vincent versuchte ihn mit sanften Worten zu beruhigen.
„Mach dir keine Sorgen. Es wird alles wieder gut. Hast du irgendwo Schmerzen?“
„Ja, mein Bein tut weh.“
„Kannst du es bewegen?“
„Ich weiss nicht...Ich habe Angst.“
„Du brauchst keine Angst zu haben, Kipper. Komm, versuch es“, ermutigte ihn Vincent. Und tatsächlich. Kipper konnte sein Bein bewegen. Dies erleichterte die Rettung um ein Vielfaches. Während Vincent den größten Teil der Brocken um Kipper herum entfernte, half Josef Kipper beim Aufstehen. Gemeinsam gelangten sie zu diesem schmalen `Ausgang`, als sich wie erwartet weitere große Steine lösten. Vincent schickte als erstes Kipper durch die Öffnung. Plötzlich löste sich ein riesiger Felsbrocken direkt neben der schmalen Öffnung. Dieser war um einiges größer als Vincent. Vincent stemmte sich mit aller Macht dagegen. Josef wollte Vincent helfen den Felsbrocken zur   Seite zu bewegen, um ihn in eine andere Fallrichtung zu lenken.
„Josef, geh!“ mahnte ihn Vincent.
„Nein, ich helfe dir!“ widersprach er.
„Du kannst mir hierbei nicht helfen! Ich kann es selbst nicht mehr halten! Verschwinde!“ Vincent wurde langsam wütend und knurrte.
„Dein Knurren zieht bei mir nicht, Vincent. Dafür kenne ich dich zu gut. Ich lasse dich hier nicht allein!“ Vincents Kräfte verließen ihn. Mit aller Macht sammelte Vincent seine Kraft, stemmte sich mit seinem Oberkörper dagegen, bekam mit der linken Hand Josef zu fassen und schubste ihn in Richtung `Ausgang`. Josef sah, wie viele Steine und der riesige Felsbrocken auf Vincent nieder fielen und ihn unter sich begruben.
In kürzester Zeit war Josef am anderen Ende des Ganges angelangt. Er stand völlig unter Schock und hatte Tränen in den Augen.
„Josef, Gott sei Dank! Wo ist Vincent?“ rief Vater. Doch Josef schüttelte stumm den Kopf. Vaters Augen weiteten sich. Catherine fiel auf ihre Knie und vergrub ihr Gesicht schockiert in ihren Händen. Sie fing urplötzlich an zu weinen.
„Vincent...“ flüsterte sie immer wieder. Josef fand seine Sprache wieder und schilderte Vater was passierte.
„Oh mein Gott, Vincent...“ Vater konnte in diesem Moment nicht denken. Wie aus dem Nichts kamen alle Männer zusammen, um zu beraten was zu tun war. Doch eine wirksame Lösung war weit entfernt. Die Felsen bestanden aus reinem Granit. Ihnen blieb nur ein Weg!
Die großen Felsbrocken, die den Haupteingang versperrten, mussten weg. Sprengungen wären in diesem Teil der Tunnel undenkbar. Sie würden mehr schaden als alles andere.
Die Zeit verging. Mittlerweile war es später Abend. Nur schleppend ging die Bergung voran. Die Gesteinsbrocken waren schwer und sperrig. Doch der Gedanke an Vincent trieb sie weiter.

Catherine horchte immer und immer wieder in sich hinein. Vielleicht würde sie etwas von ihm empfangen. Irgendein Lebenszeichen. Aber vergebens!
Als Vater mit Winclow und Pascal sprach, sah er auf einmal zwei Männer auf sich zukommen. Ihm stockte der Atem! Das hatte er nicht erwartet! Die beiden Männer schlängelten sich an den Tunnelbewohnern vorbei, denen sogleich der Mund offen stand.
Fragende Gesichter sahen zu Vater. Catherine glaubte ihren Augen nicht zu trauen.
„Hallo Jacob...“ sagte einer der Männer.
„John...“ Sein Blick wanderte von John zu...Viktor. Dieser nickte und verzog keine Miene.
„Wir haben beängstigende Klopfgeräusche gehört. Braucht ihr Hilfe?“ John klang unsicher. Zumal die anderen ihn und Viktor die ganze Zeit anstarrten. Vater sah in seinen Augen, dass er es ernst meinte. Dennoch zögerte er.
„Bitte vertrau mir, Jacob! Wir führen nichts im Schilde...“ sagte John beschwichtigend.
„Gut! Wir können jeden Mann gebrauchen. Viktor, wie geht es dir?“ Viktor war überrascht, dass dieser ältere Herr seinen Namen kannte.
„Es geht mir gut. Du weißt wer ich bin?“ Viktors Stimme war eine Nuance höher, als die von Vincent. Catherine stand noch immer stumm daneben und rührte sich nicht.
„Natürlich weiss ich, wer du bist.“ Vater huschte ein kleines Lächeln übers Gesicht. Doch schnell kam Vater wieder zur Sache.
„Dieser Abschnitt hier vor uns ist eingestürzt. Vincent ist noch da drin und wurde verschüttet. Ich habe keine Ahnung, ob er noch lebt.“ Vater klang verzweifelt.
Catherine rannen die Tränen übers Gesicht. Sie wollte stark sein.
„Vincent lebt, aber er ist verletzt. Wir sollten keine Zeit verlieren“, sagte Viktor. Gemeinsam packten sie mit an. Catherine war in gewisser Weise erleichtert, doch stand sie Todesängste aus. John und Viktor bekamen unter anderem mit, dass viele Kinder mithelfen wollten.
„Vater, wir wollen helfen.“
„Bitte, geht wieder nach oben. Ihr könntet euch verletzen.“
„Aber Vater! Wir können nicht einfach nur da sitzen und nichts tun. Vincent ist da drin, weil wir Mist gebaut haben. Es darf ihm nichts passieren...“ Plötzlich fingen einige der Kinder an zu weinen. Catherine hatte Mühe sich zusammen zu reißen. John sah sich das Drama zwischen Vater und den Kindern an.
„Jacob?“ John ging zu ihm, nahm ihn bei Seite.
„Was hältst du davon, wenn die Kinder die kleinen Steine zur Seite legen würden. Sie wären in Sicherheit und könnten mithelfen.“ Vater war sichtlich überrascht, so etwas von ihm zu hören. Er dachte kritisch nach und willigte ein.
„Gut, Kinder! Aber nur in diesem hinteren Bereich.“ Mit freudigen Gesichtern machten sich nun auch die Kinder an die Arbeit. Vater behielt sie streng im Auge. Geoffrey wagte sich ziemlich nahe an die Erwachsenen heran und wurde prompt von Vater ermahnt. John bekam dies mit.
„Wie heißt du?“  fragte John.
„Geoffrey. Und du?“
„Ich bin John.“ Geoffrey reichte ihm die Hand.
„Freut mich dich kennen zu lernen. Wer ist das? Er sieht fast so aus wie Vincent.“
„Nun, das ist Viktor. Vincents Bruder.“
„Vincent hat einen Bruder? Das ist ja irre...Ist er auch so lieb wie Vincent?“ John wusste darauf keine Antwort. Mit Kindern hatte Viktor noch nie zu tun gehabt.
„Du hast ihn wohl sehr gern, was?“ fragte John vorsichtig.
„Wir Kinder haben ihn mehr als nur gern. Er ist unser bester Freund... Wir sollten weiter machen!“ Abrupt war das Gespräch beendet. Erstaunt sah John ihm nach. Die Kinder liefen herum wie kleine Ameisen. Vincent schien ihnen sehr am Herzen zu liegen. Was hatte er doch all die Jahre versäumt!
Vater bemerkte, dass John ihn mehrmals ansprechen, mit ihm reden wollte, sich jedoch nicht recht traute. Er ging auf John zu, legte seine Hand auf dessen Schulter und meinte:
„Wir reden später. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt.“
„Ja, danke...“

Die Stunden verstrichen...
Es war weit nach Mitternacht, als Viktor einen riesigen Stein beiseite rollte und die dahinter liegende Höhle frei gab.
„Wir sind durch!“ schrie einer der Männer. Weitere Steine wurden im Nu zur Seite geschafft, um einen sicheren Einstieg zu gewährleisten.
Als dies erledigt war, klopften die Männer Viktor freudig auf die Schulter und den Rücken. Einige umarmten ihn herzlich. Viktor wusste nicht wie ihm geschah und sah sie verlegen an.
„Ohne dich hätten wir es nicht gepackt. Danke“, sagte einer der Männer.
Catherine war die ganze Zeit mit am Ort des Geschehens und half wo sie nur konnte. Müde war sie schon lange nicht mehr. Sie wollte ihren Vincent wieder.
Mit zahlreichen Öllampen und Fackeln betraten Vater, Catherine, Josef, Winclow, Pascal, John und Viktor die von Trümmern übersäte Höhle. Sie riefen ein paar Mal seinen Namen, doch es blieb still. Die Höhle war riesig. Fast so groß, wie der Festsaal, in dem das Winterfest gefeiert wurde. Vorsichtig tastete sich jeder voran.
„Wo ungefähr habt ihr gestanden, als die Decke in sich zusammen fiel?“ fragte Vater. Josef überlegte kurz.
„Schwer zu sagen, Vater. Es war dunkel. Der einzige, der was sehen konnte, war Vincent. Warte... Dort drüben kann es sein. Der große Felsbrocken kommt mir bekannt vor.“
Alle begaben sich an den angezeigten Platz und begannen vorsichtig, die Steine beiseite zu schieben. Pascal nahm Geröll auf und sah darunter Vincents rechten Arm.
„Schnell...alle hier her. Ich habe ihn!“
„Oh Gott! Seht euch das an...!“ Der Anblick versetzte allen einen heftigen Schock. Vincent war über und über mit Steinen bedeckt. Direkt auf ihm lag der große schwere Stein, den er versucht hatte zu halten. Hastig befreiten sie ihn, bis nur noch dieser riesige Felsblock übrig war.
„Vincent...Vincent! Kannst du mich hören!“ Vater kniete sich neben ihm und versuchte an seinen Hals zu gelangen, um den Puls zu messen. Vincent war bewusstlos. Er schien von dieser Aktion nichts mitzubekommen. Catherine kniete sich an seine Seite.
Vielleicht spürte Vincent  ihre Gegenwart. Doch mehr konnte sie nicht tun.
„Was  meinst du...“ sagte John zu Viktor.
„...ob du diesen Felsblock weit genug anheben könntest, um ihn da raus zu ziehen?“ Viktor überlegte angestrengt und wandte sich an Josef.
„Wie lange konnte Vincent ihn halten?“
„Ich weiss nicht genau. Vielleicht ein paar Minuten“, stotterte Josef.
Viktor suchte sich eine geeignete Stelle, um den Stein im Gleichgewicht zu halten. Die Männer machten sich bereit, um Vincent im richtigen Augenblick vorziehen zu können. Viktor stemmte sich gegen den Felsblock. Mit aller Kraft bewegte er ihn Millimeter für Millimeter nach oben. Doch er merkte, dass seine Kraft schnell schwand. Er steigerte sich so immens hinein, dass er anfing zu knurren und zu fauchen.
Dies verschaffte ihm die nötige Energie, um seinen Bruder zu befreien. Ab einem bestimmten Punkt sagte Viktor:
„Jetzt! Zieht ihn raus! Schnell!“ Es wurde genug Geröll zur Seite geräumt, um Vincent so schonend wie nur möglich hervorzuziehen. Nachdem dies geschafft war, ließ Viktor den Stein vorsichtig fallen. Er war am Ende seiner Kräfte.
Während zwei Helfer eine Trage holten, untersuchte Vater seinen Ziehsohn auf Knochenbrüche. John und Catherine knieten neben ihm. Catherine traute sich nicht ihn zu berühren. Sie hatte Angst ihm weh zu tun. Keiner wusste wie es ihm ging. Vater konnte nach der ersten Untersuchung keine Knochenbrüche feststellen. Vorsichtig drehten sie ihn auf den Rücken. Vincent hatte etliche Prellungen im Gesicht und am Oberkörper, was Vater jetzt erst sah. Sein Gesicht war mit Blut verschmiert. Alle rechneten mit dem Schlimmsten.
„Wir müssen ihn so schnell wie nur möglich hier rausbringen, Vater.“ sagte Pascal hastig, der mit Winclow die Trage brachte.
„Legt ihn ganz vorsichtig auf die Trage“, wies Vater sie an. Viktor hielt sich abseits. Er war noch nicht ganz bei Kräften. Gemeinsam verließen sie diesen grausamen Ort. Die Kinder liefen ihnen entgegen. Die Erwachsenen hatten Mühe, die Kinder von Vincent fern zu halten. Sie machten sich die größten Vorwürfe. Wenn sie nur nicht dort gespielt hätten!
Der beschwerliche Weg in die bewohnten Tunnel nahm fast kein Ende. Sehr oft mussten sie Rast machen. Vor allem Vater hatte seine Schwierigkeiten. Seine Hüfte schmerzte seit Tagen. Aber es kümmerte ihn im Moment wenig.
Gegen 5 Uhr früh war es endlich geschafft. Die Menschentraube löste sich allmählich auf. Vincent wurde in die Krankenkammer getragen, wo bereits überraschend Peter wartete. Mary hatte ihn rufen lassen, damit er Vater helfen konnte. Peter hatte in der Zeit alle Verwundeten, die zurückkamen, medizinisch versorgt, so dass sie sich gemeinsam auf Vincent konzentrieren konnten. Mary assistierte den zwei Ärzten.
Catherine ging inzwischen mit John und Viktor in die Bibliothek. Erstaunt über die zahlreiche Sammlung an Büchern sah sich John um.
„Hier hat sich einiges verändert“, sagte er fast wehmütig. Viktor dagegen setzte sich. Catherine konnte sehen, wie müde er war.
„Viktor, du solltest dich ein paar Stunden ausruhen. Es war ein langer Tag und eine lange Nacht.“ John war ihm gegenüber sehr fürsorglich.
„Komm mit. Ich zeige dir, wo du dich ausruhen kannst.“ Viktor folgte ihr in die Gästekammer. Unterwegs hatten sie kaum ein Wort gewechselt. Viktor war zu geschwächt und Catherine wusste nicht, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte. In der Gästekammer angelangt, wünschte Catherine ihm eine gute Nacht.
„Danke, dass du Vincent das Leben gerettet hast. Ohne deine Hilfe wäre er sicherlich nicht mehr am Leben.“
„Das war das Mindeste was ich tun konnte.“ Catherine nickte und verließ die Kammer.
Auf dem Rückweg in die Bibliothek machte Catherine in der Küche halt. Sie dachte sich, es wäre einfacher das Eis zu brechen, wenn sie mit einer Tasse Kaffee zurückkäme. Dies lenkte Catherine ein wenig von ihrer Sorge um Vincent ab.
John begutachtete immer noch Vaters Büchersammlung. Interessiert ging er fast jedes Buch ab.
„Kaffee?“ riss Catherine ihn aus seinen Gedanken.
„Ähm...ja, danke. Das ist sehr nett.“
„Ich habe Viktor in die Gästekammer gebracht. Er ist sofort eingeschlafen, glaube ich.“
„Danke, nochmals. Du musst Catherine sein. Deinen Namen habe ich gestern und heute ständig gehört.“
„Ja, stimmt. Vincent und ich...wir...sind zusammen. Sollte ihm etwas zustoßen, dann weiß ich nicht, was ich tue.“ Catherine zwang sich zu einem Lächeln. John verstand sehr gut.
„Du musst sehr viel für ihn empfinden. Das ist schön zu wissen. Das kannst du mir glauben.“ Johns Gesicht trug eine Spur von Trauer und Wehmut.
„Ich, ähm...ich weiß was vor ein paar Jahren passierte. Und es tut mir unendlich leid.“
„Das ist lieb von dir. Ich wünschte nur, es wäre alles anders verlaufen.“ Catherine merkte an seiner Stimme, dass es ihm innerlich weh tat darüber zu reden.
„Kann ich dich kurz allein lassen? Die Warterei macht mich nervös. Ich sehe mal nach, ob Vater schon so weit ist.“ John nickte und sie ließ ihn zurück.
Gerade als Catherine den Vorraum zur Krankenkammer betrat, kamen Vater, Peter und Mary ihr entgegen. Peter nahm Catherine erst einmal in den Arm.
„Es wird alles wieder gut, mein Kleines. Vincent ist hart im Nehmen.“
„Und? Wie geht es ihm?“
„Den Umständen entsprechend gut. Er hat Prellungen, zwei Platzwunden und sein rechter Arm ist verstaucht, aber nicht gebrochen. Kann sein, dass er sich eine Gehirnerschütterung zugezogen hat. Näheres können wir erst sagen, wenn er wach ist.“
„Wann wird er zu sich kommen?“ Fragte Catherine ungeduldig.
„Das kann schon eine Weile dauern. Hab Geduld.“ Antwortete Peter.
„Wo sind John und Viktor?“ fragte Vater.
„John und Viktor?“ Mary wurde hellhörig. Vater nickte ihr zu. Auch Peter sah Vater verdutzt an.
„Willst du damit sagen, dass beide hier sind?“ kam vorsichtig von Peter.
„Ja. Alle beide. Die beiden haben uns geholfen Vincent zu bergen. Ohne Viktor hätten wir es sicher nicht zu Stande gebracht.“

„Also, John wartet in der Bibliothek und Viktor habe ich in die Gästekammer gebracht. Er war fix und fertig. Das hat ihn alles sehr viel Kraft gekostet“, sagte Catherine eilig.
„Gut. Dann werde ich mal zu ihm gehen.“ Mary blieb mit Catherine bei Vincent. Sie überwachten seinen Zustand. Peter machte sich auf den Weg nach Hause, mit dem Versprechen, bald wieder nach dem Rechten zu sehen.

Als Vater die Bibliothek betrat, saß John mit einer Tasse Kaffee in der Hand auf Vincents Stuhl. Die beiden Männer sahen sich vorerst schweigend an.
„Es ist lange her“, begann Vater.
„Zu lange, um genau zu sein“, antwortete John.
„Ich wünschte wir hätten uns unter anderen Umständen wieder gesehen.“
„Nicht nur du, Jacob. All die Jahre habe ich versucht, den ersten Schritt zu machen. Aber je mehr Jahre verstrichen, desto schwieriger wurde es. Vor allem nach meinem Fehltritt. Du weißt schon, die verbotenen Pflanzen in den Tunneln.“ Vater war überrascht dies zu hören. Das hätte er nun wirklich nicht erwartet.
„Wie geht es...meinem Sohn“, John war besorgt um den Zustand seines Jungen.
„Es geht ihm den Unständen entsprechend gut. Glücklicher weise!“
„Ich habe vorhin Catherine kennen gelernt. Vincent scheint ihr sehr viel zu bedeuten.“
„Ja, die zwei sind unzertrennlich. Die Liebe, die die beiden für einander empfinden ist immens.“
„So, wie bei mir und Anna.“
„Das sehe ich auch so, ja. Die zwei haben sehr viel durchgemacht.“
„Wie wäre es mit ein paar Stunden Schlaf? Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Komm ich lasse dir eine Gästekammer herrichten. Da kannst du dich ausruhen.“ Müde trottete John Vater hinterher.
Zwei Tage später brachen John und Viktor auf. Vater versprach ihnen, sie zu benachrichtigen, wenn Vincent das Bewusstsein wiedererlangt hatte. Oft ging John die letzten Stunden zu seinem Jüngsten in die Krankenkammer. Vater beobachtete ihn unbemerkt. Er konnte viel Traurigkeit in seinen Augen erkennen. Wenn er an seinem Krankenbett stand, strich er oft über Vincents Kopf und flüsterte ihm etwas zu. Vater verstand jedoch nicht was er sagte.

Die nächsten beiden Tage verliefen äußerst ruhig. Einigen von den Verletzten, hatte Vater strenge Bettruhe verordnet. Vincent war immer noch ohne Bewusstsein. Catherine saß jede Minute an seinem Krankenbett.
Am späten Nachmittag bewachte sie seinen Schlaf. Sie beugte sich nahe zu ihm, streichelte vorsichtig sein zerschrammtes Gesicht und sprach leise zu ihm.
„Vincent...“ flüsterte Catherine
„Vincent...bitte wach auf. Ich brauche dich.“ Catherine liefen ein paar Tränen die Wange herunter. Die letzten Tage hatten ihr sehr zugesetzt.
„Du bist mein Leben...Ich liebe dich doch so sehr...Komm zu mir zurück...Bitte...“ Sie ließ ihren Gefühlen freien Lauf. All ihre Angst um Vincent, in den letzten Tagen und Stunden, brach nun hervor.
„Vincent...bitte...lass mich nicht allein!“
„Ich werde dich nie allein lassen“, kam schwach über seine Lippen. Catherine schreckte kurz auf. Hatte sie sich verhört? Doch als Catherine ihm ins Gesicht sah, öffnete Vincent ganz langsam seine Augen.
„Vincent...“ kam wie ein Hauch. Vincents Augen fielen immer wieder zu. Es war sehr anstrengend für ihn wach zu bleiben.
„Gott sei Dank...Ich hatte solch eine Angst um dich.“
„Ich weiß...“ Verwundert sah Catherine in seine azurblauen Augen. Sein müdes Lächeln ließ ihr Herz aufleben.
„Woher denn?“
„Ich habe dich immer in meiner Nähe gespürt. Ich liebe dich auch...“ Auf einmal stand Mary hinter ihr und lächelte. Auch sie hatte Tränen in den Augen. Dass ihr Ziehsohn wieder unter ihnen weilte, war das Größte für sie.
„Mary...Vincent ist eben erst aufgewacht“, sagte Catherine leise.
„Ich danke Gott dafür, dass du wieder bei uns bist mein Junge...Ich werde sofort Vater holen!“ Mary war noch nie so schnell unterwegs. In Windeseile war sie mir Vater zurückgekehrt. Selbst er war schneller gelaufen, als seine kranke Hüfte es zulassen wollte.                                                                
„Catherine? Lass mich kurz zu ihm“, bat Vater. Vincent war kurzzeitig wieder eingeschlafen, doch als Vater ihn untersuchte, wachte er auf. Vater strich ihm sanft über den Kopf.
„Du hast uns einen Heidenschrecken eingejagt. Es hat nicht viel gefehlt...“ war das erste, was Vater über seine Lippen brachte.
„Du hattest eine Menge Schutzengel um dich herum und dafür werde ich Gott ewig dankbar sein. Das kannst du mir glauben! So wahr, wie ich hier stehe.“ Urplötzlich nahm Vater Vincent in den Arm. Dies war ein rührender Moment. Catherine und Mary waren sich dessen bewusst und rangen um Fassung. Anschließend untersuchte er seinen Ziehsohn genauer.
„Kannst du alles bewegen?“ Mit Mühe gelang es Vincent sich zu bewegen.
„Bewegen schon, aber es fühlt sich an wie ein gewaltiger Muskelkater.“
„Das glaube ich dir gern. Nach dem, was alles auf dir lag, ist dies kein Wunder.“
„Wieso...was lag denn auf mir?“
„Du erinnerst dich nicht daran?“ Vincent schüttelte den Kopf.
„Haufenweise Geröll und Gesteinsbrocken. Du warst komplett darunter begraben...was ist?“
„Mein Kopf zerspringt gleich und alles dreht sich...“ sagte Vincent zähneknirschend.
„Du hast eine starke Gehirnerschütterung. Das wird einige Zeit dauern...Jetzt versuch zu schlafen, mein Sohn. Damit du schnell wieder zu Kräften kommst...Und Catherine!“
„Ja?“
„Du sorgst bitte dafür, dass Vincent liegen bleibt. Pass gut auf ihn auf.“
Alle schmunzelten und Vincent gab sich geschlagen. Denn Vater wusste genau, dass, wenn er sich besser fühlte, er im Nu aufstehen und herumlaufen würde. Doch mit einer schweren Gehirnerschütterung war nicht zu spaßen.

„Keine Angst. Dafür werde ich schon sorgen.“ Ihre Antwort hatte Vincent nicht mehr gehört. Die Müdigkeit überkam ihn und er fiel in einen traumlosen Schlaf. Vater deckte seinen Ziehsohn fürsorglich zu und gab den anderen beiden das Zeichen zu gehen. Im Vorraum zur Krankenkammer sprach Mary Vater an.
„Jacob?“ Fragend sah Vater Mary an. Auch Catherine war verblüfft. Seit Ewigkeiten hatte Mary ihn nicht mehr bei seinem Vornamen genannt. Auch für sie war er immer nur `Vater`, wie für alle anderen in der Tunnelwelt.
„Du hast ihm nicht gesagt, wem er seine Rettung zu verdanken hat, oder?“ Vater senkte seinen Blick.
„Nein. Ich hielt es für besser, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten. Wenn es ihm morgen besser geht und er richtig wach ist, sage ich es ihm.“ Mary sah Vater zweifelnd an.
„Versprochen“, kam schnell versöhnlich hinterher. Catherine unterstützte Vater.
„Mary...Vincent war nur für ein paar Minuten wach. Er hätte nicht einmal die Hälfte richtig verstanden. Vielleicht ein paar Brocken, aber auf keinen Fall mehr.“ Verständnisvoll nickte Mary. Sie wusste, dass Vater und Catherine recht hatten.
In der Nacht und am darauf folgenden Tag ging es Vincent schlechter. Er bekam Schüttelfrost und hohes Fieber. Vater, Mary und Catherine wechselten sich gegenseitig mit der Krankenwache ab. Als Catherine am nächsten Morgen die Krankenkammer betrat, um Mary abzulösen, war Vincents Bett leer. Mary dagegen schlummerte friedlich im großen Sessel. Leise schlich Catherine hinaus in Richtung Badekammer, wo sie Vincent vermutete. In dieser Herrgottsfrühe war noch keiner der Tunnelbewohner auf den Beinen. Nicht einmal das Tunneloberhaupt, Vater.
Kaum war Catherine bei der Badekammer angelangt, kam ihr Vincent mit frischen Sachen am Leib entgegen. Ihr Gesicht blühte in dem Moment förmlich auf. Freudig nahm sie ihn in ihre Arme. Sein Kopf ruhte auf ihrer Schulter. Sachte hielten sie einander fest. Catherine, wollte ihm nicht wehtun, da er mehrere Prellungen hatte. Und Vincent war noch zu schwach. Er hatte all seine Energiereserven in den letzten Tagen verbraucht. Als sie sich von einander lösten, sah sie, dass er seine Augen kaum offen halten konnte, geschweige denn reden. Er war vollends erschöpft.
„Komm, ich bringe dich zurück“, flüsterte Catherine ihm zu.
„Danke...“ gab Vincent kaum hörbar zurück. In der Krankenkammer angekommen, lief Mary aufgeregt hin und her. Gerade war sie erwacht und hatte bemerkt, dass Vincent nicht mehr in seinem Bett lag.
„Vincent!!! Catherine...wo wart ihr denn?“ Mary war völlig außer sich.
„Beruhige dich, Mary. Es ist alles in Ordnung. Ich war nur in der Badekammer. Ich war völlig durchgeschwitzt.“ Vincent sprach sehr angestrengt.
„Ja...Du hattest letzte Nacht hohes Fieber und Schüttelfrost“, antwortete ihm Catherine, während sie ihn zurück ins Bett verfrachtete.
Im Laufe des Tages ging es mit Vincent bergauf. William, der Tunnelkoch, zauberte ihm eine kräftige Suppe. Und behauptete sogar, dass seine Suppe besser wäre als Vaters Medizin. Vincent sei im Handumdrehen wieder auf den Beinen.
Die gemeinschaftliche Fürsorge, um Vincents Gesundheit, hinterließ bei Vater Spuren. Er wollte es sich nicht eingestehen. Doch er ertappte sich dabei, wie er immer und immer wieder an Vincents Bett stand und darüber nachdachte, was wohl wäre, wenn Vincent es nicht geschafft hätte.
Gegen Abend betrat Vater die Krankenkammer. Catherine saß an Vincents Bett und las ihm aus einem Buch vor. Als er Vater erblickte, waren seine Augen klarer. Vincent schien sich prächtig zu erholen.
„Vater.“ Catherine legte das Buch beiseite.
„Wie geht es dir, mein Junge?“
„Sehr viel besser, danke. Was hast du auf dem Herzen?“ Catherine und Vater sahen sich erstaunt an. Vincent blieb nichts verborgen. Ein Schmunzeln huschte über Vaters Gesicht.
„Dir kann ich wirklich nichts vormachen, wie? Dafür kennst du mich viel zu gut.“
„Euch beide!“ Vincent musterte die zwei.
„Was meinst du?“ kam leicht verwirrt von Catherine. Ihr schoss eine leichte Röte ins Gesicht. Sie hatte, wie Vater, versucht sich nichts anmerken zu lassen. Doch wie sie nun feststellten, war dies vergebens.
„Das wisst ihr ganz genau. Schon den ganzen Tag verhaltet ihr euch so seltsam.“
„Ja, du hast recht. Tut mir leid, mein Junge.“ Vater klang etwas kleinlaut.
„Jetzt sagt schon, was los ist.“ Vincent wurde langsam ungeduldig. Er konnte es nun mal nicht leiden, wenn man nicht mit der Sprache heraus rückte.
„An dem Tag, an dem das Unglück hier unten passierte und du verschüttet wurdest, ist etwas...nun wie soll ich sagen...“ Vater suchte nach den passenden Worten. Catherine half ihm.
„Es sind, während die Männer versuchten zu dir zu gelangen, zwei...weitere Männer unerwartet aufgetaucht.“ Vincent sah abwechselnd von Catherine zu Vater. Die beiden beobachteten seine Reaktion.
„Diese beiden Männer baten um Mithilfe bei deiner Bergung“, fuhr Catherine fort. Vincent setzte sich neugierig auf.
„Und diese...Männer waren...wer?“
„Ob du es glaubst oder nicht, aber es waren John und Viktor!“ Vater hatte seine Sprache wieder gefunden.
„Was?“ Vincent sah ungläubig drein. Hatte er sich eben verhört?
„Ja, das ist wahr, Vincent. Wäre Viktor nicht gewesen, dann wärst du zu aller  Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr am Leben.“ Catherine klang eindringlich. Sie wollte ihm bewusst   machen, dass sein Bruder ihm das Leben gerettet hatte. Vincent lehnte sich zurück. Er verzog keine Miene. Vater fuhr weiter fort.
„Die Gesteinsbrocken vor und in der Höhle waren einfach zu gewaltig. Vor allem diesen großen Felsbrocken, der auf dir drauf lag, hätten wir niemals so entfernen können, ohne dich noch mehr zu verletzen. Viktor hatte all seine Kräfte zusammen genommen und den Felsbrocken vorsichtig angehoben. Wir konnten dich dann ungehindert darunter hervorziehen.“
Von seinem Ziehsohn kam keine Reaktion. Vincent lag da, ohne jedwede Regung, und sah zur Decke hinauf. Verdutzt sahen sich Vater und Catherine immer wieder an. Diese Reaktion hatten beide nicht erwartet. Er war doch sonst der positiv Denkende.
„Vincent, bitte sag etwas.“ flüsterte Catherine.
„Was soll ich dazu sagen, Catherine.“

„Vincent...“ Sie konnten es beide nicht fassen. Vincent hatte nie irgendwelche Vorurteile gegenüber anderen gehabt. Doch seinem eigenen Bruder gegenüber war er völlig negativ eingestellt. Vaters Stimme wurde nun strenger und eindringlicher.
„Vincent...Viktor hat dir das Leben gerettet. Das darfst du nicht vergessen.“
„Mag sein...“ kam tonlos über seine Lippen. Vincents Blick verfinsterte sich ein wenig. Vater und Catherine wurde allmählich unwohl zu Mute.
„Was ist denn auf einmal mir dir los, Vincent?“ Catherine verstand die Welt nicht mehr. Und am allerwenigsten, Vincent. Vater und Catherine redeten abwechselnd auf ihn ein und versuchten zu erfahren, was ihn zu dieser Meinung trieb. Aber Vincent blieb stur. Ihm wurde es allmählich zu viel. Er erhob sich stöhnend und ungehalten aus dem Bett.
„Was hast du vor?“ fragte Catherine überrascht.
„Vincent, du musst dich schonen. Du brauchst Bettruhe!“ fügte Vater eilig an.
„Zu spät!“ Vincent zog seine Stiefel an, warf sich einen dicken Pullover über und war dabei die Krankenkammer zu verlassen.
„Vincent...bitte bleib hier.“ Er sah nicht zurück, sondern sagte im Hinausgehen:
„Lasst mich!“
Völlig entsetzt und sprachlos sahen sich die beiden an.
„Das glaube ich jetzt nicht! Das kann doch wohl nicht wahr sein! Vater, was war das eben hier?“ Aber Vater war nicht in der Lage etwas dazu zu sagen. Es hat ihn sehr mitgenommen, Vincent mit dieser Reaktion zu sehen. Das hatte er wirklich nicht erwartet. Resigniert schüttelte er den Kopf. Seine Sorgenfalten waren auf die Stirn zurückgekehrt.
„Es muss mehr dahinter stecken, als wir auf den ersten Blick sehen, Catherine.“
„Was meinst du?“
„Wie soll ich es dir erklären, hmm...Vincent ist in der Lage, Erinnerungen aus seiner frühesten Kindheit hervorzurufen. Bei uns ist es sehr vage und verschwommen bis auf ein paar Ausnahmen. Es sind Bruchstücke und wir wissen den Zusammenhang nicht mehr. Das ist bei Vincent anders. Ich kann mir vorstellen, dass...als wir ihm von Viktor erzählten und sagten, dass er sein Leben gerettet hat, in ihm Gefühle und Erinnerungen wach gerufen wurden. Es muss vor langer Zeit irgendetwas vorgefallen sein, das bis heute an unserem Vincent nagt. Ich kann mir auch vorstellen, dass wenn er Viktor sieht, alle Erinnerungen wieder zum Vorschein kommen. Vincent weiß sicher nicht, was zwischen ihm und Viktor war, aber er weiß, dass etwas war. Dies bereitet ihm sicher Unbehagen.“
„Kann es sein, dass Paracelsus wusste, dass es zwischen den beiden nicht gut lief?“
„Schon möglich. Aber ein Grund, sie deswegen zu trennen? Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.“ Catherine und Vater sahen geknickt zu Boden. Schon während des Gesprächs wurde ihnen deutlich bewusst, dass sie ihm Unrecht taten.
„Was glaubst du, wo er jetzt ist?“ fragte Catherine schließlich.
„Ich weiß es nicht. Hoffentlich nicht weit weg.“ In dem Moment kam Mary mit einem nicht sehr freundlichen Gesicht herein.
„Könntet ihr zwei mir mal verraten, warum Vincent in seinem Zustand in den Gängen herumspaziert? Vater, du als Arzt müsstest es doch am besten wissen, möchte ich meinen. Das gleiche gilt übrigens für dich, Catherine.“
„Mary, beruhige dich doch bitte.“ Vater versuchte sanft mit ihr zu reden.
„Ich soll mich beruhigen? Ist euch eigentlich entfallen, dass er dem Tod vor ein paar Tagen von der Schippe gesprungen ist?“
„Ja, Mary. Es tut uns leid, wirklich“, sagte Catherine einlenkend.
„Was habt ihr eigentlich mit ihm gemacht! Vincent war völlig niedergeschlagen, als er mir entgegen kam.“
„Wir haben ihm von John und Viktor erzählt. Und...er schien nicht sonderlich erbaut darüber.“
„Und ihr zwei habt ihm natürlich contra gegeben, stimmt`s? Oder habe ich recht!“ Die beiden Angesprochenen sahen sich verstohlen an und schwiegen.
„Ihr solltet euch was schämen.“
„Das tun wir auch, Mary. Wo ist Vincent jetzt?“
„In seinem Zimmer. Ich konnte ihn dazu überreden sich wieder hinzulegen. Ihr solltet euch bei ihm entschuldigen...“ Marys Stimme war wieder sanfter. Sie sorgte sich ungemein um ihren Ziehsohn.
„Ich werde gleich zu ihm gehen“, erwiderte Vater bedrückt.
„Ich ebenfalls.“
„Sollte ich irgendetwas Unschönes mitbekommen, rede ich kein Sterbenswörtchen mehr mit euch.“
„Ist schon gut, Mary. Wir haben beide ein schlechtes Gewissen. Das kannst du uns glauben“, sagte Catherine beschwichtigend. Dennoch musste sie über Vaters Gesichtsausdruck schmunzeln. Selbst er war bei Marys Moralpredigt ´kleiner´ geworden. Gemeinsam machten sich Vater und Catherine auf den Weg.
Vincent lag währenddessen auf seinem Bett. Eine Hand lag unter dem Hinterkopf und die andere ruhte auf seinem Bauch. Mit geschlossenen Augen versuchte er zur Ruhe zu kommen. Dies gelang ihm nur für ein paar Minuten. Vincent hörte Schritte, die immer näher kamen. Langsam öffnete er seine Augen. Vater setzte sich gerade auf die Bettkante und Catherine stand direkt hinter ihm. Dass Vincent nicht hoch erfreut war sie zu sehen, damit hatten die beiden gerechnet.
„Bin ich nicht mal hier vor euch sicher?“ Das war deutlich!
„Wir wollten uns bei dir entschuldigen, Vincent“,  sagte Catherine aufrichtig und sanft.
„Wir hatten kein Recht so zu reagieren. Das haben Catherine und ich eingesehen. Leider erst ziemlich spät.“ Vincent konnte heraushören, dass sie es ernst meinten und nicht einfach nur den Streit schlichten wollten. Der Gesichtsausdruck von Vater und Catherine sprach Bände.
„Kannst du deinem alten Vater verzeihen?“
Vincent gab sich nach einer reichlichen Überlegungspause geschlagen. Er mochte sich nicht mit Vater streiten, schon gar nicht mit Catherine. Gespannt warteten sie auf eine Antwort.
„Natürlich, aber bitte...fangt nicht wieder mit dem Thema an. Ich weiß selbst nicht wie ich darüber denken soll. Ich lasse alles auf mich zukommen und werde sehen was passieren wird. Auf keinen Fall werde ich überstürzt auf Dinge reagieren, nur weil ihr meint, es müsse aus Dankbarkeit sein!“ Gespannt hörten sie ihm zu. Vincent schien alles zu hinterfragen.
„Da bin ich sehr froh, mein Junge. Ich lass euch zwei jetzt allein. Gute Nacht...“

„Gute Nacht, Vater...“ kam fast gleichzeitig von Catherine und Vincent. Als Vater die Kammer verlassen hatte, setzte sich Catherine mit gesenktem Blick auf die Bettkante. Gespielt kritisch sah Vincent sie prüfend an.
„Und? Was ist mit dir?“ Unterwürfig sah Catherine ihn an. Zu ihrer Freude war sein Blick nun nicht mehr so finster, wie vor ein paar Minuten. Dennoch tat es ihr unendlich leid.
„Ich weiss nicht was ich sagen soll...außer...dass es mir unwahrscheinlich leid tut, Vincent. Ich...ich war nur so überrascht über deine Reaktion. So etwas bin ich nun mal von dir nicht gewohnt. Das ist alles.“ Vincent hörte sie in Ruhe an. Er verstand sie, ja...aber man sollte ihn ebenfalls verstehen.
„Es ist schon gut. Vergessen wir das Ganze, einverstanden?“ Ein sanftes Lächeln huschte über sein Gesicht. Catherine traute sich kaum dies zu erwidern, denn sie schämte sich über ihr Verhalten.
„Okay...“ flüsterte sie. Um Catherine ihr Unwohlsein zu nehmen, streichelte er ihr Gesicht.
„Bekomme ich einen Kuss?“ fragte Catherine vorsichtig. Vincent schmunzelte.
„Einen Versöhnungskuss?“ Verlegen nickte Catherine. Vincent antwortete nicht. Er zog sie sachte zu sich herunter. Behutsam berührten sich ihre Lippen und verlangten nach mehr. Doch schnell wurde beiden bewusst, dass die Zeit noch nicht gekommen war. Vincent spürte, wie am Tag vorher, immer noch jeden Knochen. Selbst sein Gesicht, das mit Schrammen übersäht war, schmerzte.
„Tut es sehr weh?“ Catherine war dies natürlich nicht entgangen.
„Das wird schon wieder. Wie sagt Vater immer so schön? Die Zeit heilt alle Wunden.“
„Versuch jetzt zu schlafen. Du brauchst noch sehr viel Ruhe. Ich bleibe in der Nähe, wenn du etwas brauchst.“ Mit einem innigen Kuss wollte sie ihm eine gute Nacht wünschen.
„Oder soll ich bei dir bleiben...“ fragte Catherine hoffnungsvoll.
„Das würde mir besser gefallen, ja.“
„Gut...“ Catherine war erleichtert.
„Ich werde kurz nach oben gehen und ein paar Sachen zusammenpacken. Du bleibst schön liegen. Versprochen?“
„Ja, versprochen.“ Catherine beeilte sich, um schnell in ihr Apartment und schnell wieder zurück in die Tunnel zu kommen. Vincent jedoch fiel in einen tiefen erholsamen Schlaf. Er bekam nicht mit, wie Catherine sich an seine Seite legte und neben ihm einschlief.

Die nächsten Tage verliefen ohne Komplikationen. Vincents Gesundheitszustand besserte sich von Tag zu Tag. Nur die Gehirnerschütterung und die Prellungen am Arm machten ihm zu schaffen. Eines Mittags, Vincent war mit Catherine am Spiegelteich spazieren, bekam Vater Besuch. Gemeinsam mit seinem Besuch saß er in der Bibliothek.
Als Vincent Hand in Hand mit Catherine herein kam, stockte ihm der Atem. Catherine hielt Vincents Hand fester bei sich. Sie starrte ebenso wie Vincent auf den Besuch, der sich soeben von seinem Platz erhob. Vater sah gespannt auf seinen Ziehsohn. Fast wie in Zeitlupe stieg Vincent die Stufen hinab. Dicht gefolgt von Catherine. Vorerst wagte keiner ein Wort zu sagen. Die Atmosphäre war aufs äußerste gespannt.

                                                  Es war John, Vincents Vater!!!

Schweigend standen sich Vater und Sohn gegenüber. Vater brach als erster das Schweigen.
„Vincent...John hatte mich gebeten ihn zu benachrichtigen, wenn es dir besser ginge. Dies war sein Wunsch.“
„Sein Wunsch...“ wiederholte Vincent mit einem seltsamen Unterton.
„Mach Jacob bitte keinen Vorwurf. Er hatte mir von einem weiteren Besuch abgeraten.“
„Ein weiser Zug von ihm! Du hättest auf ihn hören sollen.“
„Vincent...“ flüsterte Catherine.
„Was, Catherine! Soll ich ihm etwa vor Freude um den Hals fallen?“
„Nein, das verlangt auch niemand von dir, Vincent.“ Catherine versuchte ihn zu beruhigen.
„Was verlangt ihr dann von mir...“
Mit ruhigen Worten sprach John weiter.
„Ich verlange gar nichts von dir, Vincent. Wir zwei hatten einen ziemlich schlechten Start. Ich bin vor vielen Jahren auf die falsche Bahn geraten und habe unwahrscheinlich viele Fehler gemacht, die ich nie wieder gut machen kann. Das wurde mir auch erst richtig klar, als wir uns begegnet sind.“
„Als wir uns das erste Mal begegneten, hattest du einen kleinen geschlossenen Raum unter Drogen gesetzt. Du wusstest genau, dass ich dir gefolgt war und da durch musste.“
„Ja, stimmt. Ich wusste, ich musste dich irgendwie aufhalten, aber ich hatte doch keine Ahnung, dass du so extrem darauf reagieren würdest.“
„Extrem? Ich bin darin völlig ausgerastet, habe durchgedreht. Es hätte nicht viel gefehlt und Vater wäre nicht mehr am Leben, weil ich keine Kontrolle mehr über mich hatte. Ich war willenlos!“
„Ich wollte dir auf gar keinen Fall Schaden zufügen, Vincent. Bitte glaube mir.“ Vincent wandte sich von ihm ab und atmete tief durch. Er löste sich von Catherine, die immer noch seine Hand festhielt. Unsicher sah John zu Jacob. Er suchte nach Worten.
„Was sollte ich deiner Meinung nach tun?“
Vincent drehte sich zu ihm und versuchte ruhig zu bleiben. Vater sah, wie er um Fassung rang.
„Was du tust oder tun wirst ist mir egal. Ich für meinen Teil werde jetzt gehen, bevor ich die Beherrschung verliere!“ Diese Antwort war kurz, aber treffend.
Vater und Catherine gaben keinen Ton von sich. Dies war eine Sache, die nur John und Vincent etwas anging. Ohne einen weiteren Blick, auf Catherine oder Vater verließ Vincent die Bibliothek. Stumm standen die drei an Ort und Stelle. Vorerst wagte keiner etwas zu sagen. John und Jacob setzten sich entmutigt in ihre Sessel. John sah zu Boden und dachte nach.
„Gib ihm Zeit, John.“ Sagte Jacob. Er nickte.
„Vincent hat besser reagiert, als ich es erwartet hatte“, gestand John mit einem gezwungenen Lächeln, das gleich wieder verschwand.
„Soll ich ihm nachlaufen?“ Catherine klang unsicher. Vater überlegte kurz.
„Nein...Er möchte jetzt sicher niemanden um sich haben.“ Leicht bedrückt nickte Catherine.
„Vielleicht sollte ich mit ihm reden“, kam überraschend von John. Erstaunt über diesen Vorschlag sah Vater ihn an.
„Davon würde ich dir abraten, John. Ich glaube nicht, dass es eine gute Idee wäre ihn jetzt aufzusuchen. Vincent würde in diesem Moment nicht einmal mir zuhören.“ Vater meinte es ernst. Schließlich kannte er Vincent genau. Ebenso Catherine, die ihm nur beipflichtete, dies vorerst nicht zu tun .
„Ich...ich weiß auch ehrlich gesagt nicht, wie ich mich ihm gegenüber verhalten soll, Jacob.“ Angestrengt dachte Vater nach.
„Indem ihr euch wieder ganz langsam aneinander gewöhnt. Es wird unwahrscheinlich viel Zeit in Anspruch nehmen, denn das was Vincent bis jetzt von dir weiß, lässt noch lange kein Vertrauen zu“,  sagte Catherine. Zustimmend nickte Vater.
„Catherine hat recht, John. Du musst sehr behutsam mit ihm umgehen.“ John lächelte.
„Was ist?“
„Vincent scheint das ganze Gegenteil von Viktor zu sein. Ich möchte ihm nur alles erklären. Warum dies alles passieren musste. Du hast ebenfalls ein Recht darauf alles zu erfahren. Vielleicht könnten wir uns zusammensetzen und ich erzähle euch die ganze Wahrheit. Aber erst muss ich meinen Sohn dazu bringen mir zuzuhören...“
„...was nicht einfach werden wird“, vollendete Vater den Satz. Vater brannten unzählige Fragen auf der Seele. Wagte es jedoch vorerst nicht, diese auszusprechen.
„John…Warum die Drogen und dann plötzlich dieser Sinneswandel?“
„Durch Zufall kam ich an eine Pflanze, die nur in der Dunkelheit gedeihen konnte. Was das für ein Gewächs war, fand ich erst kurze Zeit später heraus. Ich informierte mich genauer und fand heraus, dass diese Pflanze eine berauschende Wirkung hervorrufen würde. Ich verarbeitete sie, wie vorgeschrieben und begann mit kleinen Proben, die ich an bestimmte Leute weiter gab. Sie testeten das Mittel und befanden es für harmlos, aber intensiv. Dass es eine gefährliche Droge wurde, habe ich erst später erkannt. Ich hörte in den Medien davon. Doch da war es schon zu spät. Die Nachfrage wurde enorm größer und geriet außer Kontrolle. Als Vincent dann bei mir auftauchte und mich warnte weiter zu machen, wurde mir zum ersten Mal richtig bewusst, was ich da tue. Und was ich getan habe! Vincent hat recht mit dem, was er vorhin sagte. Ich habe fünfzig unschuldige Menschen auf dem Gewissen. Und wofür?“
„Einer von ihnen war ein sehr guter Freund und Kollege von mir…“ sagte Catherine.
„Das tut mir sehr leid. Ich wünschte, ich könnte es ungeschehen machen, aber…“
„Ja…“
„Vincents alleinige Anwesenheit und die wenigen Worte, die wir wechselten, brachten mich dazu, darüber nachzudenken. Als die Pflanzen in Flammen aufgingen, wurde mir eine Last genommen. Von da an…wie soll ich sagen…versuchte ich wieder der zu werden, der ich einmal war. Aber es ist verdammt schwer.“
„Du wirst hart dafür arbeiten müssen, John. Die meisten hier unten wissen wer du bist und was du getan hast. Es wird nicht einfach sein ihr Vertrauen zu gewinnen.“
„Das es nicht einfach werden wird, ist mir bewusst, Jacob. Dennoch möchte ich wieder am Leben teilhaben.“ Vater nickte zustimmend.
„Wo ist eigentlich Viktor?“ fragte Vater.
„Ich hielt es für das Beste allein zu kommen.“
„Warum?“ fragte Catherine verwundert.
„Nun ja...Ich bin mir ziemlich sicher, dass es zwischen den beiden nicht sehr harmonisch ablaufen wird.“ Verdutzt sahen ihn Vater und Catherine an.
„Wie meinst du das?“
„Ihr zwei wisst genau was ich meine!“
„Du meinst...die beiden...würden sich an die Gurgel gehen?“ Catherine konnte es nicht glauben. John sagte dazu nichts. Er schwieg. Doch das war Antwort genug.
„Das kann ich mir nicht vorstellen“, sagte Catherine.
„Bei Vincent könntest du recht haben, Catherine. Doch bei Viktor ist das etwas anders!“ gab John zurück. Er klang geheimnisvoll!
„John! Willst du uns nicht endlich sagen was los ist?“ bohrte Vater.
„Wollen schon! Denn es brennt mir auf der Seele. Jedoch nur im Beisein von Vincent. Das bin ich ihm auf jeden Fall schuldig. Bitte versteht das...“
„Ja, natürlich...“ sagte Vater schnell.
„Danke...Wenn du nichts dagegen hast, Jacob, würde ich gern etwas spazieren gehen. Dabei kann ich besser nachdenken.“
„Selbstverständlich...“

Nachdem ein paar Stunden vergangen waren, machte sich Catherine auf, um Vincent zu suchen. Sie fand ihn nach kurzer Zeit bei den Wasserfällen. Gedankenverloren hockte Vincent auf einem Felsvorsprung und warf kleine Kieselsteine ins Wasser. Catherine beobachtete ihn ein paar Minuten und versank ebenfalls in Gedanken. Das Rauschen des Wassers hatte eine beruhigende Wirkung. Vincent hatte sie mittlerweile bemerkt und sah ihr verträumtes Gesicht. Mit ein paar Wasserspritzern holte er sie zurück in die Wirklichkeit. Überrascht sah sie ihn an. Vincent schmunzelte ihr schelmisch entgegen. Leicht verwirrt lächelte Catherine und gesellte sich zu ihm. Galant reichte ihr Vincent die Hand, damit sie sich zu ihm setzen konnte. Eng aneinander gekuschelt saßen sie nun auf dem Felsvorsprung. Catherine lehnte sich zurück. Vincent umschloss sie mit seinen starken Armen. Sein Kopf ruhte auf ihrer linken Schulter. Eine gewisse Zeit verharrten die beiden so eng umschlungen und genossen die Stille, die Abgeschiedenheit. Doch Catherine merkte bald, dass Vincent nicht vollends zur Ruhe kam. Mit seinen Gedanken schien er ganz woanders zu sein. Catherine massierte Vincents Nacken, damit er sich entspannte. Aber er warf nur seinen Kopf zurück und schnaufte tief durch. Seine unruhigen Augen verrieten, dass es in ihm arbeitete, dass er angestrengt nachdachte.
„Hey...“ sagte Catherine sanft. Vincent blickte sie an, sagte jedoch nichts. Sie drehte sich zu Vincent, so dass sie ihm direkt in die Augen sah.
„Woran denkst du?“
„Wenn ich das nur wüsste.“ Verdutzt sah Catherine ihn an. Über den Gesichtsausdruck musste er leicht lächeln.
„Ich will damit sagen, ich...ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Alles ist so...wirr und durcheinander. Mir fällt es schwer, mich auf einen Gedanken zu konzentrieren.“
„Vielleicht solltest du mit John reden...“ meinte Catherine vorsichtig. Vincent neigte seinen Kopf zur Seite.
„Vincent...John hat Unmengen von Fehlern gemacht, die er in seinem ganzen Leben nicht mehr gut machen kann, selbst wenn er es wollte. Dir brennen unwahrscheinlich viele Fragen auf der Seele, Vincent. Doch er ist der einzige, der dir alle Fragen beantworten kann.“
„Ja, ich weiß...Es ist nur...“
„Was...“
„Ihm gegenüber zu stehen und zu wissen, dass er mein Vater ist, bereitet mir Unbehagen.“
„Das glaube ich dir gern, Vincent. Gebt euch beiden eine Chance...Ich bin mir ziemlich sicher, dass es ihm genauso geht.“
„Meinst du?“ Er war davon nicht sonderlich überzeugt. Catherine sagte nichts, sondern nickte ihm zustimmend zu.
„Wir werden sehen. Ich lasse alles auf mich zukommen, Catherine. Und...ähm...Ich werde nicht überstürzt handeln.“
„Das ist auch gut so, Vincent“,  machte Catherine ihm Mut und streichelte sein Gesicht.
„Schritt für Schritt...“ flüsterte Vincent, während sich ihre Lippen trafen. Sie vergaßen alles um sich herum.
Sein feines Gehör vernahm auf einmal näher kommende Schritte. Beider Augenpaare wandten sich zum Ausgang der Höhle. Langsam näherte sich ein Mann. Das Gesicht lag im Schatten. Als der Mann ins Licht kam, erkannten sie ihn. Es war John...

Unsicher stand John nun vor den beiden. Catherine wusste genau was zu tun war.
„Ich werde euch allein lassen.“ Doch Vincent hielt sie zurück.
„Warte...“ sagte er kurz. Prüfend sah sie ihm in die Augen.
„Bleib besser hier.“
„Ich bin bei Vater in der Bibliothek, wenn etwas sein sollte.“  Vorsichtig stand sie auf, gab Vincent einen Kuss und verließ die Höhle.

Nachdem Catherine gegangen war, herrschte vorerst ein unbehagliches Schweigen. John stand wie angewurzelt schräg hinter Vincent und suchte nach den richtigen Worten, während Vincent am Ufer saß und kleine Steine ins Wasser warf.
„Darf ich mich zu dir setzen?“ fragte John vorsichtig. Er rechnete mit allem... Vincents Stirn legte sich in Falten. Hatte er sich verhört?
„Sicher...Setz dich“, erwiderte er mit Überwindung.
„Danke...“ Vincent konnte seine Erleichterung heraushören. Catherine schien recht zu haben mit ihrer Vermutung. Für John war es ebenso schwer wie für ihn selbst. Damit hatte er, Vincent, ganz bestimmt nicht gerechnet.
„Früher bin ich oft hier gewesen. Dort drüben, am anderen Ufer, hatte ich deiner Mutter einen Heiratsantrag gemacht...Dies war unser Lieblingsplatz.“ Vincent spürte eine gewisse Traurigkeit und Wehmut in Johns Worten. Vorerst wagte er nicht zu antworten. Intensiv horchte er in sich hinein. Was sollte er tun? Wie sollte er sich ihm gegenüber verhalten?
„Vincent...“ fuhr John fort,
„...ich kann verstehen, warum du nicht mit mir reden möchtest. Gib mir bitte die Möglichkeit...dir zu erklären...warum das alles geschah. Ich bitte dich.“ John flehte ihn förmlich an.
„Ich habe mich oft gefragt, warum ich so bin wie ich bin und wohin ich gehöre. Jetzt weiß ich es und bin dennoch verwirrt...“ Vincents Stimme war gedämpft, leise und nachdenklich. John hörte ihm aufmerksam zu. Er fand, dass Vincent außerordentlich ruhig war, sehr gelassen reagierte und genau über das nachdachte was er sagte. Er wählte seine Worte sehr vorsichtig. Dies imponierte John.
„Jede Frage, die du hast, kann ich dir beantworten, Vincent. Du musst mich nur fragen...“ Plötzlich stand Vincent auf. Ihm wurde unwohl zumute. Doch ihm so einfach den Rücken zukehren wollte er nicht. Das war nicht seine Art.
„Du hast recht. Ich habe Fragen, aber ich brauche Zeit...“ John hatte sich ebenfalls erhoben und stand nun vor seinem Sohn.
„Nimm dir so viel Zeit wie du brauchst“, entgegnete er. Vincent schwieg. Er sah ihn kurz an, nickte zustimmend und verließ die Höhle. John blieb allein an den Wasserfällen zurück.

Zur gleichen Zeit saßen Vater und Mary in der Bibliothek. Catherine kam herein. Sie stieg die Stufen der Treppe herunter und sah besorgt aus.
„Catherine! Was ist geschehen?“ forschte Vater
„Noch ist nichts geschehen und ich hoffe, es bleibt auch so!“
„Catherine! Jetzt werde ich langsam ungeduldig!“
„Ich war bis eben an den Wasserfällen, mit Vincent...und vor ein paar Minuten bekamen wir Besuch von...John.“
„Ist etwas vorgefallen?“ fragte Vater schnell. Catherine setzte sich zu ihnen.
„Nein...Bis jetzt scheint alles ruhig zu sein. Ich habe die beiden allein gelassen... Ich hielt es für das Beste.“ Doch sie sah selbst nicht sehr überzeugt aus.
„Wir können nur abwarten und sehen was passiert“, sagte Vater schließlich. Mary und Catherine nickten stumm. Ihnen war jedoch nicht wohl dabei. Sie hatten keine andere Wahl als abzuwarten.

Die Stunden verstrichen...
Mary, Vater und Catherine warteten bis kurz vor Mitternacht. Keiner der beiden, Vincent oder John, hatte sich in den letzten Stunden blicken lassen. Es schien auch nichts passiert zu sein. Denn sonst wäre es schon über das Rohrsystem bekannt geworden.

John hatte inzwischen seine Gästekammer aufgesucht. Mit Jacob oder einem anderen wollte er nicht reden. Danach war ihm nicht. Seine Sorge galt seinem Jüngsten, Vincent. Immer wieder malte er sich gedanklich aus, wie das Gespräch mit Vincent verlaufen würde. Mut machten ihm die paar Minuten am Wasserfall, mit seinem Sohn. Vincent blieb, zu seinem Erstaunen, ruhig und gefasst. Mit diesen Gedanken schlief John ein.
Vincent dagegen war bis weit nach Mitternacht herumgelaufen. Er versuchte seine Gedanken zu ordnen. Was ihm äußerst schwer fiel. Gedankenverloren betrat er seine Kammer und sah Catherine auf seinem Bett liegen. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Catherine hatte ein Hemd von ihm an, das ihr natürlich viel zu groß war. Vincent warf seinen Mantel beiseite und legte sich zu ihr. Im Halbschlaf kuschelte sich Catherine an seine schützende Seite und schlief selig weiter. Vincent fiel in einen unruhigen Schlaf. Erinnerungsfetzen aus seiner frühen Kindheit bahnten sich ihren Weg an die Oberfläche. Es gab keinen besonderen Zusammenhang zwischen dem, was er noch einmal durchlebte. Es war sehr verwirrend für ihn. Doch fühlte er, dass er Angst hatte. Aber wovor! Seine Atmung und sein Herzschlag beschleunigten sich.
Catherine spürte es und erwachte. Sie war sofort hell wach, als sie Vincent im Schlaf sprechen hörte.
„Nein nicht...tu das nicht. Lass mich...bitte...“ stammelte er leise immer und immer wieder. Catherine hörte Angst heraus. Vincent warf seinen Kopf hin und her, ihm stand der Schweiß auf der Stirn. Um ihn von seinem Albtraum zu erlösen, versuchte Catherine ihn zu wecken.
„Vincent!...Vincent!...Wach auf!“ Sie rieb seinen Brustkorb und rüttelte ihn wach. Vincent schreckte hoch, er zitterte. Sein Herzschlag war so enorm angestiegen, dass Catherine ihn hörte. Beruhigend massierte sie seinen Rücken, seine Schultern.
„Schhhhhhh...ganz ruhig, Vincent. Es war nur ein Traum...Beruhige dich...schhhh!“
„Es geht schon wieder. Mach dir keine Sorgen.“ Vincent stand auf und setzte sich in seinen großen Sessel. Catherine folgte ihm und setzte sich in den Sessel gegenüber. Besorgt sah sie ihn an.
„Es geht schon wieder.“ Vincent vergrub das Gesicht in seinen Händen, stützte seine Arme auf den Knien ab und verharrte so. Catherine schmiegte sich an ihn und hielt seinen Kopf. Als er sich zurücklehnte, sah Catherine zu ihm. Seine Stirn lag in Falten und er hatte die Augen geschlossen. Vincent versuchte seinen Puls wieder in den Normalzustand zu versetzen. Das war gar nicht so einfach. Um Vincent zu helfen, setzte sich Catherine kurzer Hand auf seinen Schoß. Leicht überrascht blickt Vincent sie müde an. Sie hatte ihren rechten Arm um ihn gelegt und küsste seine Schläfe.
„Möchtest du mir sagen, was du geträumt hast?“ flüsterte Catherine ihm ins Ohr.
„Ich weiß auch nicht genau.“ Er klang verzweifelt. Catherine massierte seinen Nacken und Vincent entspannte sich langsam.
„Versuch es...“ Er atmete tief durch und versuchte sich an die Bilder zu erinnern.
„Es scheinen Bilder aus meiner frühen Kindheit zu sein. Mal sehe ich Viktor, mal John. Die Bilder sind durcheinander und ich kann sie nicht einordnen.“
„Das sind wohl auch keine angenehmen Erinnerungen“, sagte sie bedächtig. Vincent sah sie an.
„Du meinst...“ Vincent sprach nicht weiter. Catherine nickte.
„Du hast vorhin im Schlaf geredet. Deshalb habe ich dich geweckt. Du sagtest `Nein nicht, bitte laß mich. ` Irgendetwas muss passiert sein, Vincent.“
„Ja, das muss es wohl...“
„Hey...“ Catherine versuchte ihn aufzumuntern, ihn auf andere Gedanken zu bringen. Zärtlich küsste sie ihn. Vincent gab sich seinen Gefühlen hin und erwiderte ihren Kuss leidenschaftlich.  Er trug seine süße Last zum Bett und ließ sie langsam auf die Decke gleiten. Catherine zog ihn mit sich quer übers Bett. Gegenseitig entledigten sie sich ihrer Sachen und erforschten den Körper des Partners aufs Neue, begleitet von heißen, feurigen Küssen. Nach ihrer Vereinigung lagen Catherine und Vincent eng beieinander und schliefen Arm in Arm ein.

Am nächsten Morgen war Catherine als erste wach. Um Vincent nicht zu wecken, rutschte sie sachte aus dem Bett, zog sich an und ging in die Badekammer. Auf dem Rückweg kam ihr Vincent entgegen. Die beiden gingen aufeinander zu. Sie lächelte voller Glück und er schmunzelte verführerisch. Ein inniger Kuss war das erste, gefolgt von einer langen, festen Umarmung.
„Guten Morgen, mein Schatz.“
„Guten Morgen...“ erwiderte Vincent.
„Wie fühlst du dich?“
„Besser...dank dir!“ Wie ungeheuer anziehend er doch war…
„Jederzeit wieder...“ sagte Catherine und küsste ihn erneut.
Auf dem Weg in die Küche traf Catherine Mary, die sich gleich nach Vincents Zustand informierte. Immerhin hatte er sich den ganzen gestrigen Tag und Abend bei niemandem blicken lassen. In der Küche saßen, zu Marys und Catherines Überraschung, bereits Vater und John.
„Guten Morgen. Ihr zwei seid schon auf?“ bemerkte Mary an Vater und John gerichtet.
„Ja, guten Morgen. Wir haben uns auch eben erst hingesetzt.“ Es wurde nur Belangloses geredet, um die Stimmung etwas aufzuheitern. Das Vater – Sohn - Thema wollte keiner ansprechen.
„Ist Vincent schon wach, Catherine?“ fragte Mary  Catherine.
„Ja, ist er. Eigentlich müsste er gleich da sein.“ Der Satz war kaum ausgesprochen, da betrat Vincent die Küche.
„Wenn man vom Teufel spricht...“ platzte  Catherine heraus und sah ihn an.
„Teufel! So, so! Vielen Dank! Ich wünsche dir auch einen guten Morgen!“ Vincents gespielter Ernst klang herausfordernd. Die anderen mussten bei Catherines Gesichtsausdruck lachen. Diese Unschuldsmiene setzte sie nur äußerst selten auf.
Mary und Vater merkten, dass John versuchte Vincents Augen auf sich zu lenken. Immerzu sah er ihn an. Doch Vincent wich seinen Blicken aus. Geschickt lenkte er das Gespräch auf den noch vor ihnen liegenden Tagesablauf. Catherine begriff, dass Vincent weit weg von John sein wollte. Damit er nicht die Möglichkeit hatte, mit ihm, Vincent, zu reden.
Nach dem Frühstück verließ Vincent die noch Anwesenden. Wortlos sahen sie ihm nach. John lehnte sich zurück und ließ den Kopf auf seine Brust sinken.
„Nimm es ihm nicht übel, John. Du kannst nicht verlangen, dass Vincent alles vergisst.“ Vater wollte ihm Mut machen.
„Das verlange ich auch gar nicht, Jacob. Ich möchte einfach nur mit ihm reden. Ihm erklären, warum es so gekommen ist. Damit er mich vielleicht versteht.“ John klang verzweifelt. Mary und Catherine hatten auf der einen Seite Mitleid mit John, aber auf der anderen Seite verstanden sie Vincent vollkommen.
Als auch John gegangen war, saßen Vater, Mary und Catherine allein in der Küche und berieten darüber, wie sie es schaffen könnten, Vincent dazu zu bringen, John zuzuhören. Es wäre dann beiden geholfen. Einmal John, der eine schwere Last mit sich trug, und auch Vincent, der bis vor kurzem nicht wusste, wo er hingehörte.
Gegen Mittag lockte Catherine ihren Vincent zu Vater in die Bibliothek. Hand in Hand stiegen sie die Stufen herab. Bei Johns Anblick wollte Vincent sofort den Rückweg antreten, doch Catherine und Vater hielten ihn mit sanften Worten davon ab. Völlig entgeistert sah er Catherine an und merkte, dass dieses Vorhaben geplant war.
Aber es war zu spät. John schlängelte sich an Vater vorbei und ergriff das Wort.
„Vincent, bitte...geh nicht! Bitte gib mir die Möglichkeit...alles aufzuklären.“ Vincent schloss seine Augen und atmete tief durch. Er gab sich geschlagen! Kurz sah er zu Catherine, die ihm erleichtert zunickte. Plötzlich kam Jamie herein. Vater hielt sie sogleich auf.
„Jamie, würdest du uns bitte allein lassen?“ Jamie sah erstaunt in die Runde.
„Ja, natürlich, Vater.“
„Danke. Und bitte gib den anderen Bescheid, dass wir ungestört sein möchten.“ Er wollte noch nach Mary schicken lassen, aber die kam gerade wie gerufen.
„Ah, Mary. Gut, dass du da bist.“ Mary fragte nicht warum. Sie ahnte etwas. Zu fünft saßen sie am großen, runden Tisch, in der Bibliothek. Erst herrschte ein reges Schweigen. Der Anfang war sehr schwer. Unerwartet ergriff Vincent das Wort.
„Nun? Ich bin jetzt hier...“ kam ruhig, aber fordernd von ihm. John suchte nach Worten.
„Worüber ich sehr froh bin. Ob du es mir glaubst oder nicht! Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, wo ich anfangen soll. Es gibt so vieles, so Unglaubliches...“ John schwieg.
„Gut, Frage Nummer eins...“ Vincent klang kühl und gefasst.
„Warum wusste ich all die Jahre nichts von einem leiblichen Vater und einem Bruder, obwohl diese in unmittelbarer Nähe waren!“
„Wie soll ich es dir erklären...“
„Wie, ist mir egal!“ erstaunt über Vincents Reaktion sahen sich Vater und Catherine verstohlen an.
„Gut, irgendwie muss ich anfangen! Nachdem deine Mutter gestorben war, habe ich meinen inneren Halt verloren. Ich hielt mein Leben für sinnlos. Doch ihr zwei, du und Viktor, ihr habt mich halbwegs wieder aufgebaut. Ihr habt meinem Leben einen neuen Sinn gegeben. Zu der Zeit war ich trotzdem nicht in der Lage, längere Zeit in den Tunneln zu bleiben, da mich alles an eure Mutter erinnerte. Als ich eines Abends nach euch beiden sehen wollte, hörte ich ein verzweifeltes Weinen aus eurem Zimmer. Als ich euer Kinderzimmer betrat, sah ich, wie Viktor mit einem Kissen auf dir saß und du versucht hattest von ihm loszukommen. Ich konnte einfach nicht glauben was ich da sah. Dein Kopf war puterrot und du hast gestrampelt. So schnell ich konnte, habe ich Viktor gepackt und ihn von dir runter gezogen. Seinen Gesichtsausdruck werde ich mein Lebtag nicht vergessen. Er wollte dir, seinem eigenen Bruder, absichtlich wehtun.“ Ein Raunen ging durch den Raum. Die anderen konnten kaum glauben, was sie da hörten.
„Was? Willst du uns weismachen, das ein 1 ½  jähriger versucht hat, seinem eigenen Bruder absichtlich wehzutun?“ fragte Mary ungläubig. John nickte.
„Das kann ich mir kaum vorstellen, John“, sagte Vater.
„Eben deswegen konnte ich es dir nicht sagen. Du hättest mich für einen Lügner gehalten.“
„Aber, wir hätten doch etwas merken müssen!“ rief Vater verzweifelt.
„Das war weder das erste, noch das letzte Mal, dass ich dies mitbekam. Ich habe die beiden ausführlich beobachtet, wenn sie sich unbeobachtet fühlten. Ich wollte wirklich sicher gehen, dass dies nicht irgendein Hirngespinst meinerseits ist. Wenn die beiden mit den anderen Kindern zusammen waren, hat Viktor immer darauf geachtet, dass niemand Vincent zu nahe kam. Wenn ihn ein Kind schubste oder was auch immer, hat Viktor dem Kind deutlich gezeigt, dass es ihn in Ruhe lassen soll. Aber wenn die beiden allein waren, hat Viktor dir gezeigt, wer hier das Sagen hatte und zwar auf sehr brutale Weise. Viktor war auch sehr eifersüchtig. Oft habe ich euch Geschichten vorgelesen, damit ihr besser einschlafen konntet. Viktor war schnell eingeschlafen, doch du bist mir meistens nachgelaufen, mit einem Buch in der Hand. Dann haben wir uns irgendwo hingesetzt und ich habe dir weiter vorgelesen. Wenn Viktor dies mitbekam und uns fand, ist er wütend geworden. Er schlug mir oder dir das Buch aus der Hand. Diese Brutalität dir gegenüber, Vincent, wurde immer größer.“
„Davon hatten wir nie etwas mitbekommen, John.“ Mary war sehr verwundert.
„Erinnert ihr euch noch, wie ich euch sagte, dass ihr mit den beiden alles zusammen machen müsst?“
„Ja, ich erinnere mich.“ Antwortete Vater bedächtig.
„Viktor kam sich bei allem sehr benachteiligt vor. Anna und ich hatten es so gehandhabt, dass wir mit euch alles zusammen machten. Ihr wurdet zusammen gebadet, gefüttert. Wir hatten uns tageweise abgewechselt, so dass du ein Tag bei mir warst und den anderen Tag bei deiner Mutter. Doch nach ihrem Tod war dies nicht mehr möglich. Und ich glaube, dass dies der ausschlaggebende Punkt war. Anders kann ich es mir nicht vorstellen.“
„Was ist mit den blauen Flecken, die wir bei den Zwillingen gefunden hatten!“ fragte Vater weiter.
„Nachdem ich das Verhalten der beiden kontrolliert hatte und diese grauenvolle Entdeckung machte, dachte ich mir, ich könnte etwas in ihrem Blut feststellen. Irgendwelche Unterschiede! Vincent und Viktor waren so enorm unterschiedlich und sind es immer noch...“ Dabei blickte er Vincent direkt in die Augen.
„...dass ich gehofft habe den Fehler zu finden“, fuhr John fort.
„ Mehrmals habe ich den beiden Blut abgenommen. Viktor machte dies nichts aus. Er ließ alles über sich ergehen. Aber du, Vincent, hattest Angst. Vor allem bekamst du Angst vor mir. Das hat mir das Herz gebrochen. Viktor bekam dies natürlich mit. Darin war er immer gut...“
John saß da, wie ein gebrochener Mann. Vincent wusste nicht recht was er sagen oder wie er reagieren sollte. Diese neue Erkenntnis nahm ihn ebenso mit wie John.
„Hattest du herausgefunden, warum wir so verschieden sind?“ Zum Erstaunen aller hatte Vincent nun das Wort ergriffen.
„Nein, leider nicht.“ Sie hielten ihren Blickkontakt aufrecht. Dies war das erste Mal, dass Vincent seinem Vater direkt und für lange Zeit in die Augen sah. Der Schmerz beider spiegelte sich darin.
„Der Grund, warum ich euch getrennt hatte, war dieser...Die Übergriffe auf dich, durch Viktor, nahmen zu. Während er immer selbstbewusster und herrschsüchtiger wurde, bist du von Woche zu Woche ruhiger geworden. Dadurch, dass ich dir immer wieder Blut abgenommen hatte, hattest du kein Vertrauen mehr zu mir. Du hast dich vor mir gefürchtet. Ich malte mir aus, wie es wohl wird, wenn ihr zwei zusammen aufwachsen würdet. Ehrlich gesagt hatte ich Angst um dein Leben, Vincent. Deshalb fasste ich den schweren Entschluss euch zu trennen. Ich wollte, dass du bei Jacob bleibst. In seiner Obhut warst du sicher aufgehoben und würdest die nötige Liebe, die du brauchtest, bekommen. Ich wusste auch, dass du, Jacob, mich daran hindern würdest, die Tunnelgemeinde zu verlassen. Du hättest sicher gesagt, dass es für alles einen Ausweg geben würde...aber nicht, wenn man die beiden zusammen gelassen hätte. Vincent wäre daran zerbrochen und das wollte ich auf gar keinen Fall zulassen. Um dem vorzubeugen...“ John vollendete den Satz nicht.
Denn sein Blick wanderte zum Ausgang, wo überraschend Viktor stand. Vincent hatte sein Kommen bereits gespürt und sah schon vorher gelegentlich zum Ausgang. Vincents Gesichtsausdruck verfinsterte sich auf einmal. Seine Anspannung war ihm deutlich anzusehen. Catherine legte ihre Hand auf die von Vincent, um ihn zu beruhigen. Viktor stieg die Stufen herab und begab sich zu den anderen.
„Störe ich?“ sagte er mit einem seltsamen Unterton.
„Nein, Viktor. Komm, setz dich zu uns.“ Vater blieb wie immer ruhig und bot ihm einen Platz an seiner Seite an. Er ging sehr diplomatisch vor. Doch die beiden Brüder ließen sich nicht einen Moment aus den Augen. Spannung lag in der Luft.
„Wie ich sehe sind deine Wunden zum Teil gut verheilt.“ Sagte Viktor zu Vincent.
„Allerdings! Die Zeit heilt alle Wunden...Auch die, die Jahre zurückliegen!“ Dies war deutlich. Vincent ließ Viktor mit wenigen klaren Worten wissen, was er von ihm hielt.
„Was willst du damit sagen!“ Viktor ließ sich leicht provozieren. Vincent genoss es ein wenig.
„Was denn...hat er dir nicht erzählt, was vor Jahren vorgefallen ist?“
„Doch, hat er!“
„Also, welchen Teil davon hast du nicht verstanden, du kleiner Tyrann!“
„Vincent...“ Catherine versuchte ihn zu besänftigen. Doch es interessierte ihn nicht.
„Was willst du von mir!“ Vincents Stimme klang leise, aber bestimmt.
„Hmm, was will ich von dir...mal sehen. Als erstes...“ Weiter kam er nicht, denn John unterbrach ihn.
„Viktor, das reicht. Halt dich zurück! Lass ihn in Ruhe!“ John wurde langsam böse und zornig.
„Was denn! Stellst du dich etwa auf seine Seite?“
„Seine Seite?...Viktor, ihr seid Brüder, vergiss das bitte nicht! Ich möchte, das ihr zwei miteinander auskommt.“
„Mir reicht´s! Ich gehe!“ sagte Vincent kurzer Hand und erhob sich von seinem Stuhl.
„Du gehst nirgendwo hin!“  Viktor klang bedrohlich. Nervöse Blicke, seitens Mary, Vater und Catherine gingen von Vincent zu Viktor und zu John.
Die drei Außenstehenden wagten keinen Ton zu sagen.
„Was? Willst du mir vorschreiben was ich zu tun und zu lassen habe?“ Vincent klang eher belustigt darüber. John war überrascht über diese Reaktion.
„Ich bin der Erstgeborene!“
„Herzlichen Glückwunsch! Und nun? Soll ich vor dir niederknien und dich anbeten? Du träumst wohl!“ Diesen Sarkasmus waren Vincents engste Vertraute nicht gewohnt. John dagegen musste sich ein Schmunzeln verkneifen.
„Machst du dich etwa über mich lustig? Du nimmst mich wohl nicht ernst!“
„Du müsstest dich mal hören, Bruder! Das hört sich so lächerlich an! Du glaubst doch nicht im ernst, dass ich nach deiner Pfeife tanze, oder? Wenn doch, dann bist du dümmer als ich dachte!“ Das traf!
„Ich glaube, das reicht jetzt, ihr zwei!“ John klang sehr streng. Jetzt mischte sich auch Jacob mit ein.
„Vincent, bitte geh mit Catherine in deine Kammer.“ Vater war ruhig. Vincent war vernünftig genug, dass es wirklich das Beste wäre zu gehen. Catherine ließ sich das nicht zweimal sagen.
„Komm, Vincent! Lass uns hier verschwinden...!“ sagte Catherine leise und verließ mit ihm die Bibliothek.
„Viktor! Wir werden jetzt gehen!“ John wurde laut. Nur widerwillig ging er Johns Anweisungen nach. Er konnte nicht begreifen, warum er Vincent gegenüber so feindlich war und sich so selbstsicher aufführte.
„Jacob...“ John versuchte ein paar entschuldigende Worte zu finden. Vergebens! Vater winkte beschwichtigend ab und gab ihm zu verstehen, dass er sich darüber keine Gedanken machen solle.
„Wir reden später weiter!“
„Danke, ich hätte nicht gedacht, dass...“ John schwieg.
„Schon gut...“
John packte Viktor unsanft am Oberarm und drängte ihn zum Ausgang. Die beiden verschwanden. Man konnte noch hören, wie John Viktor eine Szene machte, in Bezug auf sein unmögliches Verhalten.
Vater und Mary blieben in der Bibliothek zurück. Sie waren so geschockt von dem was sie eben erlebt hatten, dass keiner von beiden fähig war zu reden.
Catherine war mittlerweile mit Vincent in seiner Kammer angekommen. Vincents Adrenalinspiegel war enorm angestiegen. Er ließ sich in seinen Sessel fallen, lehnte sich zurück und atmete mehrmals tief durch.
„Ich habe gar nicht gewusst, dass du so austeilen kannst!“ Catherine versuchte die gespannte Stimmung zu heben. Leicht verdutzt sah Vincent sie an und lächelte verstohlen.
„Kommt auf die Situation an. Mit so etwas hatte ich nun wirklich nicht gerechnet“, gab er zu.
„Ich auch nicht. Aber...Es ist, Gott sei Dank, glimpflich ausgegangen.“
„Ja, stimmt. Bei mir hätte nicht mehr viel gefehlt! Das muss ich offen zugeben.“
„Ach ja? Dafür bist erstaunlich ruhig geblieben“, gab sie zurück.
„Das war nur der äußerliche Schein. In mir hatte es angefangen zu brodeln...“
„Viktor war sehr kampflustig. Er hätte es darauf ankommen lassen. Meinst du nicht auch? Vielleicht hat er dich absichtlich provoziert und wollte herausfinden, wie weit er gehen kann. Ich meine, er kennt dich nicht. Er weiß nicht, worauf er sich da einlässt.“
„Oder er ist so sehr von sich überzeugt, dass er immer noch glaubt hier das Sagen zu haben.“
„Das kann natürlich auch sein.“ Catherine und Vincent saßen am Tisch, als Vater und Mary hereinkamen. Die zwei waren ziemlich blass im Gesicht. Vincent ergriff als erster das Wort.
„Setzt euch...ihr seht etwas blass aus.“ Lud Vincent sie ein und schmunzelte leicht.
„So ist es! Genau wie du!“ entgegnete Mary.
„Viktor ist tatsächlich das komplette Gegenteil von dir, Vincent!“ fing Vater ehrfurchtsvoll an.
„Wie John es bereits gesagt hat“, sagte Catherine. Vincent sah sie überrascht an.
„Hatte er darüber schon etwas verlauten lassen?“
„Ja, nach eurem ersten Gespräch sozusagen. Nachdem du gegangen warst, fragte Vater ihn, warum Viktor nicht mitgekommen ist. Und er meinte, dass es keine gute Idee wäre, weil sonst etwas passieren könnte. Doch mehr wollte er nicht sagen. Nun ja, ich denke mal, er hat diese Situation von vorhin gemeint.“
„Dieses Problem muss unbedingt geklärt werden, sonst sind alle, die hier leben, in Gefahr!“ sagte Vincent entschlossen. Catherine sah Vincent fragend an. Was meinte er damit? Doch nicht etwa das Schlimmste?! Vater und Mary sahen ebenfalls besorgt aus.
„Glaubst du, er könnte eine Gefahr sein?“
„Ich weiß es nicht, Vater. Ich muss ihm irgendwie klarmachen, dass ich vor ihm nicht zurückschrecke und alles tun werde, um diese Welt zu schützen. Er pocht auf das Recht des Erstgeborenen. Nun gut, in seinem Abschnitt kann er schalten und walten wie er möchte, aber in den bewohnten Tunneln, in unserem Bereich, hat er sich zu fügen. Oder er lernt mich kennen! Das ist mein voller Ernst.“
Die drei merkten, dass es ihm ernst war mit dem, was er sagte. Und er hatte Recht.
„Tu uns bitte einen Gefallen, mein Junge!“ sagte Vater fürsorglich.
„Sei bei allem was du tust, sehr, sehr  vorsichtig. Ich bitte dich!“
„Ja, Vincent. Vater hat recht. Wenn dir etwas zustoßen würde...“ Mary konnte nicht weiter sprechen.
„Du bist noch nicht mal richtig genesen. Sich jetzt mit ihm anzulegen bringt rein gar nichts“, fügte Catherine hinzu.
„Ich werde vorsichtig sein. Versprochen!“  Die vier saßen einige Zeit zusammen, bis es Zeit war für das Abendessen. Vater erzählte seinem Ziehsohn, wie es zu den Drogengeschäften bei John kam und warum er wieder zum braven Bürger wurde. Vincent stand all dem sehr kritisch gegenüber. Er konnte sich bei bestem Willen nicht vorstellen, dass seine bloße Anwesenheit zu Johns Sinneswandel beigetragen hatte.
In den darauf folgenden Tagen blieb alles ruhig. John hatte sich seit dem letzten Zusammentreffen nicht blicken lassen. Und zu hören gab es aus den unteren Teilen des Tunnelsystems auch nichts.

3 Wochen später...
Die Tunnelbewohner begannen, wie jedes Jahr um die Weihnachtszeit, mit den Vorbereitungen für das Winterfest. Im großen Festsaal, weit unten in den Tunneln, liefen die Helfer und die Gemeindemitglieder hin und her. Der Saal war zum größten Teil fertig geschmückt. An den Felswänden hingen riesige Wandteppiche, die sehr alt und antik aussahen. Viele Tische mit vielen Stühlen wurden von den Männern an ihren richtigen Platz gestellt, so dass eine riesig lange Tafel, in Form von einem „T“ entstand. Die Tafel wurde gedeckt mit schneeweißen Tischtüchern, Silberbesteck, Kristallgläsern, üppigen Kerzenständern und satten Blumengestecken. In der Mitte des Saals war eine große Tanzfläche, die von einem riesigen Kronleuchter erhellt wurde.
Die Einladungen wurden bereits zwei Wochen vorher geschrieben. Mit einer eigens dafür hergestellten Kerze wurden die Einladungen persönlich an Helfer und Freunde überbracht. Nach langer Diskussion wurden ebenfalls zwei Einladungen an John und Viktor geschickt.

An dem besagten „großen Tag“, auf den so viele ein ganzes Jahr hatten warten müssen, versammelten sich die Gemeindemitglieder, Freunde und Helfer in der großen Bibliothek.
Jeder von ihnen hielt seine ganz persönliche Kerze in der Hand. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg. Um zum großen Festsaal zu gelangen, galt es viele Pfade entlang zu gehen. Gäste und Gastgeber erreichten bald die tiefer gelegenen Tunnel in diesem verwirrenden System. Vorbei an etlichen Höhlen, geheimnisvollen Kammern, Schluchten und vielen Treppen, dessen Stufen anscheinend ins Nichts führten.
Die Gruppe blieb plötzlich vor einem großen, breiten, hölzernen Tor stehen, dessen Türen mit einem gewaltigen Balken verriegelt waren. Vincent reichte Catherine seine Kerze, hob den Balken aus seiner Verankerung und legte ihn beiseite. Es wären allein drei bis vier Männer nötig gewesen, um den Balken zu entfernen, doch Vincent packte ihn mühelos. Er umschloss mit seinen kräftigen Händen die Griffe am Tor und stieß sie mit einem Ruck auf. Ein herber Windstoß blies allen entgegen. Das Tor stand nun offen.
Der Festsaal lag zum größten Teil im Dunkeln. Nur die Tafel war spärlich erhellt. Jeder suchte sich seinen Platz. Am Tafelkopf jedoch saßen in der Mitte Vater, Mary, Vincent, Catherine, Peter und Winclow. Rechts und links von ihnen die Ältesten der Tunnelgemeinde, wie Peter, Sebastian und Lou. Eine einzige große Kerze war angezündet. In ihrem Licht schimmerten die Silhouetten von Vater, Vincent und Mary. Die anderen daneben verloren sich in der Dunkelheit. Vater begann mit seiner Ansprache.
„Die Welt über uns ist kalt und grau. Der Sommer eine verblichene Erinnerung. Auch unsere Welt hat ihren Winter gekannt. Also beginnen wir, wie jedes Jahr, dieses Fest in Dunkelheit. So, wie unsere Welt in Dunkelheit begonnen hat.“
Wie aus dem Nichts näherten sich der allein stehenden Kerze vier weitere, um diese zu entzünden. Der Reihe nach wurde Kerze für Kerze angezündet, während Vincent mit der Ansprache fort fuhr.
„Lange bevor die Stadt ihre Häuser in den Himmel gebaut hat, haben Menschen in diesen Höhlen Schutz gesucht.“
Mary sagte weiter:
„In diesen Tagen waren die Tunnel ein dunkler Ort. Und die hier unten wohnten, lebten in Furcht und Isolation.“
Vincent:
„Das war ein Land der verlorenen Hoffnung, der unerfüllten Träume. Ein Land der Verzweiflung, als einem das Geräusch der Menschen, die in die Tunnel eindrangen, große Angst einjagte, so dass die Männer nach Messer und Steinen gegriffen haben, um sich für den Kampf zu rüsten.“
Vater:
„Aber schließlich lernten ein paar Menschen ihre Furcht abzulegen.“
Mary:
„Und wir fingen an, einander zu vertrauen.“
Vincent:
„Und jeder von uns wurde stärker. Die, die Hilfe brauchten, und die, die sie gaben.“
Vater:
„Wir gehören alle fest zusammen. Wir sind eine Familie, eine Gemeinschaft. Manchmal vergessen wir das. Deshalb treffen wir uns hier jedes Jahr, um denen Dank zu sagen, die uns geholfen haben. Und um uns daran zu erinnern, dass selbst die größte Dunkelheit ohne Bedeutung ist, so lange wir uns nicht streiten.“
Als Vater geendet hatte, waren alle Kerzen angezündet. Auch die mächtigen Kronleuchter  waren mit Kerzen bestückt und gaben dem Saal den nötigen Glanz. Die schweren Kronleuchter wurden an Stahlketten weit an die Tunneldecke hochgezogen, so dass der ganze Festsaal hell erleuchtet war. Ein erstauntes ´Aaaahhh…` und `Oooohhh…` ging durch den Raum. Für einige war dies das erste Winterfest und das hatten sie nicht erwartet. Für die anderen war es immer wieder schön es miterleben zu dürfen.
Das Fest war mittlerweile im vollen Gange. Zahlreiche Freiwillige hatten sich dazu bereit erklärt, für Unterhaltung zu sorgen. Sie machten Musik für die Erwachsenen, Zaubertricks und Spiele für die Kinder. Es wurde viel getanzt, es gab reichlich zu essen und jeder wurde auf irgendeine Weise unterhalten.
Mary und Vater saßen mit Peter, Catherine und Vincent an einem Tisch. Sie unterhielten sich prächtig. Peter erkundigte sich nach Vincents Befinden.
„Vincent! Wie ich sehe, hast du dich gut erholt.“ Vincent schmunzelte leicht.
„Ja, habe ich. Mir geht es gut. Die Wunden sind fast vollständig verheilt.“
„Was macht dein Arm? Den hattest du dir gewaltig gestaucht.“
„Stimmt, aber ich merke davon kaum noch etwas. Du kannst beruhigt sein, Peter.“
„Das hoffe ich. Ich kenne dich gut genug um zu wissen, dass du nicht immer sagst wenn etwas nicht stimmt“, entgegnete Peter mit einem gespielt ernsten Unterton. Prüfend sah ihn Catherine an. Auch Vater ließ es sich nicht nehmen, ihn prüfend anzusehen. Vincent schmunzelte. Hilfesuchend wandte er sich an Catherine.
„Möchtest du tanzen?“ Catherine musste nun lachen. Er versuchte also zu fliehen.
„Ja, sehr gern.“ Die zwei verschwanden sofort auf die Tanzfläche. Catherine und Vincent tanzten eng beieinander. Sie gaben zusammen ein wunderschönes Paar ab. Dies fiel vor allem Mary auf.
„Sind die beiden nicht ein traumhaftes Paar?“ sagte Mary schwärmerisch zu Vater. Er sah sie etwas seltsam an. Peter nickte. Catherine hatte ein weißes, langärmliges Kleid an, das bis zu ihren Knöcheln ging. Vincent dagegen war mit einer schwarzen Wildlederhose, weißem Hemd und einer schwarzen Weste bekleidet.
„Wie ein Brautpaar…“ platzte es aus Mary heraus. Völlig entgeistert sah Vater sie an.
„Sieh dir die zwei doch mal genauer an, Jacob.“ Als Vater zu ihnen sah, waren Catherine und Vincent im Begriff sich zu küssen. Peter freute sich.
„Ich hätte nie gedacht, Jacob, dass Catherine mal jemanden finden würde, der sie versteht und ihr das gibt, was sie braucht…Liebe!“
„Das gleiche gilt für Vincent, Peter“, antwortete Vater überraschend. Als die Musik endete, kehrten Catherine und Vincent zu ihrem Tisch zurück. Mary sah ihnen strahlend entgegen. Verlegen setzten sie sich.
„Bei euch beiden kommt man regelrecht ins Schwärmen.“ Catherine wollte darauf antworten, doch auf einmal ging ein Raunen durch den Saal. Die Blicke gingen in Richtung Eingangstor. John kam mit vorsichtigen Schritten auf Vaters Tisch zu. Viktor war nicht zu sehen.
Vater erhob sich von seinem Platz, um John zu begrüßen. Mary setzte ein sanftes Lächeln auf, ebenso wie Catherine. Vincent sah ihn an und nickte tonlos.
„John, schön das du gekommen bist. Komm, setz dich“, schlug Vater ihm vor.

„Danke, Jacob. Vorallem, vielen Dank für die Einladung“, antwortete John. Er saß Vincent direkt gegenüber.
„Das war selbstverständlich. Wo hast du Viktor gelassen? Ist er nicht mitgekommen?“ sagte Mary.
„Nein, er ist nicht mitgekommen. Ist wahrscheinlich auch besser so.“ antwortete John mit gedämpfter Stimme. Und sah zu Vincent hinüber, der seinen Blick erwiderte.
„Der Vorfall, vor ein paar Wochen, tut mir sehr leid. Damit hätte ich in eurer Gegenwart nicht gerechnet. Dass er dich gleich so angreift, Vincent…“ er sprach nicht weiter. Sondern schüttelte stumm den Kopf. Vincent senkte sein Haupt. John tat ihm auf einmal leid. Er versuchte wirklich sich alle Mühe zu geben. Viktor schien ihm das Leben nicht gerade leicht zu machen.
„Du hast die letzten Wochen nichts mehr von dir hören lassen. Hattest du große Schwierigkeiten, nachdem ihr uns verlassen hattet?“ fragte Vater.
„Auf dem Rückweg hatten wir eine heftige Diskussion. Ich hielt es für sinnvoll etwas Gras über die Sache wachsen zu lassen.“ Vincent nickte. Er merkte, dass John Konflikte zwischen den beiden verhindern wollte. John zögerte
„Vincent…“ begann er.
„…ist es möglich, dass wir uns…unter vier Augen unterhalten könnten?“ Vincent sah unsicher  zu Vater und Catherine, die ihm aufmunternd zunickten.
„Sicher…“ Erleichtert nickte John. Die beiden erhoben sich von ihren Plätzen. Gemeinsam begaben sie sich zu einem abgelegenen Tisch, abseits der anderen Gäste. Schließlich wollten sie ungestört sein. Nun saßen Vater und Sohn gemeinsam an einem weit entfernten Tisch.
„Nun?“ Vincents Stimme klang sehr sanft. John lächelte leicht.
„Mit dir hier zu sitzen…das war immer mein Wunsch. Und nun ist es so weit.“
„Worüber möchtest du mit mir reden?“
„Erst einmal möchte ich dir sagen, Vincent, dass es mir leid tut.“ Vincent ließ seinen Kopf hängen. Er wagte nicht ihm in die Augen zu sehen.
„Ob du mir je verzeihen wirst, weiß ich nicht. Aber ich hoffe du verstehst meine Gründe.“
„Ja, ich…ähm…ich verstehe deine Gründe. Ich habe darüber nachgedacht und mich ausführlich mit Vater unterhalten.“
„Worüber?“
„Einfach darüber, wie es sein kann, dass ein Mann seine geliebte Frau verliert und deswegen auf die schiefe Bahn gelangt. Vater berichtete mir ebenfalls, was es mit den Drogen auf sich hatte. Das ist ein heikles Thema. Ihr wart früher mal die besten Freunde, du und Vater.“
„Ja, das ist richtig. Jacob und ich…wir waren unschlagbar. Durch ihn lernte ich deine, eure Mutter kennen. Nach ihrem Tod hatte das Leben keinen Sinn mehr für mich. Doch da wart ihr, du und Viktor. Ihr zwei gabt mir neuen Lebensmut. Vor allem du, Vincent.“ Vincent stutzte.
„Warum gerade ich?“ John lächelte.
„Weil du viel von deiner Mutter hast.“
„Wirklich?“
„Ja. Einige Gesten und Charakterzüge hast du von ihr. Dieses diplomatische Vorgehen, deine Ruhe, wenn es brenzlig wird. Deine Mutter war immer die Ruhe selbst.
Sie war das sanfteste Wesen das ich je kennen gelernt hatte. Auch die Mimik hast du teilweise von ihr.“
„Du musst sie sehr geliebt haben“, bemerkte Vincent beeindruckend.
„Mehr als mein Leben. Ich wusste nicht wie es weiter gehen sollte. Mir kam es so vor, als hätte sich alles und jeder gegen mich verschworen.“
„Ich wüsste nicht was ich tun würde, wenn es Catherine plötzlich nicht mehr geben sollte. Wenn ihr was zustoßen würde. Jedes Mal, wenn sie in Gefahr gerät, bleibt mir fast das Herz stehen vor Angst. Einmal hätte ich sie fast verloren. Sie wurde angeschossen und war schwer verletzt. Da wurde es mir das erste Mal richtig bewusst. Wieviel sie mir bedeutet, meine ich.“
„Ich verstehe was du meinst…Die Jahre danach waren auch nicht einfach. Mit Viktor hatte ich große Schwierigkeiten. Sein ungezügeltes Temperament machte mir oft zu schaffen. Wir hatten auch viele gute Stunden, gar keine Frage. Doch trieb ihn immer irgendetwas an. Er kam nie wirklich zur Ruhe. Du dagegen bist das ganze Gegenteil, wie ich von Jacob erfahren habe. Ich wollte dich unwahrscheinlich gern aufwachsen sehen. Dies blieb mir jedoch verwehrt.“
„Die Entscheidung ist dir sicherlich sehr schwer gefallen. Du hattest keine andere Wahl. Ich hätte wahrscheinlich auch so gehandelt. Ich weiß es nicht. Die Situation zwischen Viktor und mir ist doch extrem. Das kann man mit nichts vergleichen. Erlebt habe ich ihn ja schon, in gewisser Weise.“
„Hätte ich euch zusammen gelassen, wäre einer von euch beiden zu Grunde gegangen.“
„Das wäre wohl ich gewesen.“ John sagte nichts. Er nickte nur zustimmend.
„Du warst der Jüngere, der Schwächere von euch beiden. Viktor war dir gegenüber zu dominant.“
„Du hast getan, was du tun musstest. Wir müssen versuchen, das Beste daraus zu machen. Auch, was dich und mich betrifft. Du bist nun mal mein Vater. Deine Gründe für dein Handeln, kenne und respektiere ich.“
„Du wärst tatsächlich dazu bereit, mir zu verzeihen?“ Dies war ein bewegender Moment.
„Ja, das mit mir jedenfalls. Diese Drogensache jedoch nicht. Das war grausam! Vielleicht werden Vater und du sogar wieder Freunde. Es würde euch beiden gut tun. Ich bin mir sicher, dass er dir nichts mehr vorzuwerfen hat. Da er ebenfalls die Wahrheit kennt.“
„Das wäre schön, Vincent. Ich hoffe nur, dass dein Bruder sich zusammennehmen wird. In ihm sehe ich das größere Problem.“
„Damit warten wir, bis es so weit ist“, sagte Vincent aufmunternd.
„Gehen wir wieder zu den anderen? Die machen sich bestimmt schon Sorgen um uns.“
„Ja, gut.“
Vater stand mit Catherine am Buffet, als er die zwei näher kommen sah. Vorsichtig machte er sie darauf aufmerksam.
Als John und Vincent bei ihnen standen, blickte Vater die zwei erwartungsvoll an. Auch Catherine war neugierig.
„Alles in Ordnung, Vater. Mach dir keine Sorgen.“ Erleichtert sah Jacob zu John, der ein ebenfalls erleichtertes Lächeln aufsetzte. Vincent küsste Catherine auf die Stirn.

Die vier wollten gerade weiter reden, als plötzlich Viktor vor ihnen stand. Sein Blick verriet nichts Gutes. John ergriff das Wort.
„Viktor, mein Junge. Du hast es dir also anders überlegt. Komm zu uns.“ Doch Viktor machte keine Anstalten sich zu ihnen zu gesellen. Genau das Gegenteil war der Fall. Er starrte Vincent an. Über die geistige brüderliche Verbindung konnte Vincent Viktors Gefühle deuten.
„Ich glaube nicht, dass er gekommen ist, um mit zu feiern“, sagte Vincent.
„So ist es!“ Die anderen drum herum bekamen mit, dass sich eine gewisse Spannung aufbaute und traten zur Seite. Fragende Gesichter wechselten von Vincent zu Viktor.
„Was willst du!“ Vincents Stimme wurde gereizter.
„Du weißt was ich will!“
„Viktor! Das kann doch wohl nicht wahr sein! Siehst du denn nicht, dass hier ein Fest gefeiert wird? Dies ist ein Fest der Liebe!“ John war sehr ungehalten über Viktors Verhalten.
„Das interessiert mich herzlich wenig! Ich will mich mit meinem Bruder messen! Hier und jetzt!“
„Du bist wahnsinnig!“ sagte Vincent knapp.
„Nein! Ich bestehe nur auf mein Recht!“
„Auf dein Recht? Was für ein Recht!“
„Auf das Recht des Erstgeborenen! Das hatte ich dir schon einmal gesagt. Erinnerst du dich?“
„Allerdings! Wieso willst du krampfhaft die Fronten zwischen uns klären? Was hast du davon?“
„Gewissheit!“
„Gewissheit? Worüber!“
„Wer der Stärkere ist von uns beiden.“
„Ist das alles? Du willst nur wissen, wer der Stärkere ist? Hör zu, dies ist ein schlechter Zeitpunkt.“ Eine Antwort bekam Vincent nicht darauf. Viktor fegte achtlos seinen Umhang beiseite. Er machte sich bereit für den Kampf. Plötzlich, wie aus dem Nichts, stellten sich einige Kinder vor Vincent. Sie hatten Angst um ihn. Keiner der Anwesenden hatte dies erwartet. Völlig überrascht starrten sie auf die Kinder. Vincent ergriff als erster das Wort.
„Samantha, Geoffrey, geht mit den anderen zur Seite.“
„Nein, Vincent. Wir wollen nicht, dass dir was passiert“, sagte Samantha mit tränenerstickter Stimme.
„Ja, Vincent. Wir haben dich viel zu lieb.“ Bekräftigte Geoffrey. Mary und Vater traten schnell näher und nahmen die Kinder beiseite.
„Kommt, Kinder, schnell. Ihr habt hier nichts zu suchen.“
„Aber Mary!“ kam gleich ein Einwand von Geoffrey.
„Nichts da! Keine Widerrede! Hört ihr?“ sagte Vater streng. Viktor schaute nicht schlecht, als die Kinder sich vor seinen Bruder stellten. Er war leicht beeindruckt von der Wirkung, die er auf die Kinder hatte.
„Du willst es wirklich wissen, oder?!“ sagte Vincent tonlos.

„Ja!“ gab Viktor im selben Tonfall zurück. Vincent atmete tief durch. Ihm blieb keine andere Wahl. Viktor würde nicht eher Ruhe geben, bis einer von beiden um Gnade betteln würde.
„Gut!“ Erschrocken sahen ihn die Umstehenden an. Sie hätten nicht gedacht, dass er sich auf diese Herausforderung einlassen würde. Catherine war auf einmal nah an seiner Seite. Sie versuchte ihm ins Gewissen zu reden.
„Vincent, bitte! Tu das nicht!“ flehte sie ihn an.
„Viktor, ich bitte dich! Hör auf damit!“ John versuchte ihn umzustimmen. Doch er beachtete seinen Vater nicht. Er fixierte ausschließlich Vincent.
„Catherine, ich habe keine Wahl. Er wird mich nie in Ruhe lassen.“
„Ich habe aber Angst um dich!“ flüsterte sie ihm eindringlich zu.
„Ich weiß…“ sagte er leise zurück. Lange blickten sie sich an. Dann löste er sich von ihr.
„Dann laß uns gehen!“ Vincent war entschlossen, dies durchzuziehen.
„Wir bleiben hier!“
„Hier könnte jemand verletzt werden.“
„Das ist mir egal.“
„Aber mir nicht!...Alle verlassen sofort die Halle!“ Vincents Worten wurde Folge geleistet. Bis auf Vater, John und Catherine waren alle gegangen.
„Ihr drei geht bitte auch“, bat Vincent.
„Nein, wir bleiben…“ sagte John kurz und knapp.
„Wie ihr wollt!“ Vater, John und Catherine brachten sich in Sicherheit. Sie standen weit abseits, so dass ihnen nichts passieren konnte. Die beiden Brüder kamen einander näher. Sie schlichen um einen Tisch herum und ließen sich keinen Augenblick aus den Augen. Die Anspannung war ihnen deutlich ins Gesicht geschrieben. Dann ging alles blitzschnell. Viktor stürzte sich brüllend auf Vincent und riss ihn mit sich zu Boden. Ein erbitterter Kampf begann. Das Gebrüll zweier Löwen hallte durch die Tunnel. Angsterfüllte Gesichter verfolgten das Geschehen. Vincent lag am Boden und Viktor direkt auf ihm. Er hatte seine Hand an Vincents Hals gelegt. Er versuchte kräftig zuzudrücken, doch Vincent packte ihn ebenfalls am Hals und verpasste ihm mit seiner Linken einen heftigen Schlag. Die Wucht des Schlages katapultierte Viktor nach hinten. Vincent raffte sich auf, schnappte nach Luft und griff seinen Bruder erneut an. Er selbst rang um Atem. Vincent schnappte Viktor am Kragen, zog ihn auf die Beine und gab ihm einen Kinnhaken. Viktor taumelte rückwärts an Felswand, prallte dort ab. Vincent ging langsam auf ihn zu. Seine Unterlippe blutete stark und das Blut rann ihm an Kinn und Hals herunter. Mit einer flinken Handbewegung wischte er sich das Blut weg. Wieder sprang Viktor Vincent entgegen und drängte ihn zum Ausgang der Halle. Beide waren völlig außer Atem und hatten etliche Platzwunden. Sie hatten alles um sich herum vergessen. Immer und immer weiter entfernten sie sich von den anderen. Vater, John und Catherine wussten nicht, ob sie den beiden folgen sollten. Mouse jedoch, der in der Nähe geblieben war, folgte ihnen unbemerkt. Er begleitete sie sozusagen, bis zum unterirdischen Fluss, worin die Kinder gerne gebadet haben. Dort hielten sich Viktor und Vincent eine Weile auf. Für Mouse war es furchtbar diesen Kampf mit ansehen zu müssen. Schlimm war auch das nicht endende Gebrüll der beiden. Sie schenkten sich gegenseitig nichts. Durch Klopfgeräusche, über das Rohrsystem der Tunnel, benachrichtigte Mouse Vater und die anderen. Schleunigst machten sich die drei auf den Weg.


Währenddessen waren die beiden Brüder eine Etage über dem Fluss angelangt. Ein Felsvorsprung ragte direkt über den Fluss hinaus, in circa fünfzehn Metern Höhe. Vincent und Viktor betraten diesen schmalen Weg, als John mit Vater und Catherine am etwas weiter entfernten Ufer des Flusses auftauchten.
„Oh, mein Gott…“ war das einzige, was Catherine sagen konnte. Mit aufgerissenen Augen und entsetzten Gesichtern sahen sie zu, wie Vincent Anlauf nahm, auf seinen Bruder zurannte und ihn mit sich in die Tiefe riss. Zusammen schlugen sie auf der Wasseroberfläche auf. Doch kaum wieder aufgetaucht, ging es weiter. Im Wasser gingen sie sich an die Kehlen was ihnen sehr viel abverlangte. Plötzlich holte Vincent zum entscheidenen Schlag aus und versetzte Viktor einen enormen Hieb gegen die Schläfe. Beide waren äußerst geschwächt, für Viktor war dies ein Schlag zu viel. Er hatte keine Kraft mehr, um sich über Wasser zu halten und ging unter. Vincent reagierte jedoch noch schnell genug. Er zog ihn herauf und schwamm, mit ihm im Schlepptau, ans Ufer. Vater, John und Catherine waren in wenigen Minuten zur Stelle. Sie halfen den beiden aus dem Wasser. Viktor war ohne Bewusstsein, aber am Leben. Vincent lag bewegungslos und völlig außer Atem neben ihm. Er hatte seine Augen geschlossen und war unfähig irgendetwas zu sagen. Catherine legte eine Hand auf seine Brust und strich sanft über sein Gesicht.
„Vincent…“ rief sie ihn leise. Langsam öffnete er seine Augen, sah sie an. Sie lächelte ihn an.
„Ich habe keine Kraft mehr“, sagte er schwach. Nachdem Vater und John sich um Viktor gekümmert hatten, sahen sie nach Vincent.
„Was machen deine Wunden?“ Vater besorgt. Vincent zuckte nur mit den Schultern. Viktor kam allmählich wieder zu sich, nachdem John ziemlich unsanft sein Gesicht mit leichten Schlägen traktiert hatte.
„Viktor…komm schon, wach auf!“ Als er halbwegs wach war, murmelte er:
„Mein Kopf…“
„Sei froh, dass du noch lebst. Da sind deine Kopfschmerzen das wenigste!“ erwiderte John schroff.
„Könnt ihr aufstehen?“ fragte Vater.
„Ich denke schon, ja“, hauchte Vincent. Catherine half ihm. Vater und John mussten Viktor unter die Arme greifen. Er hatte leichte Probleme mit dem Gleichgewicht.
Als die sie erst wenige Meter gegangen waren, kamen ihnen ein paar Männer entgegen, um zu helfen. Mouse hatte ihnen Bescheid gegeben. Jeweils zwei Männer geleiteten Viktor und Vincent in die Krankenkammer, wo sie ärztlich versorgt wurden.
Vater gab Pascal und Winclow den Auftrag, allen zu sagen, dass das Winterfest weitergehen solle. So geschah es auch, obwohl die Stimmung nicht dieselbe war. Es wurde zwar wieder viel getanzt und gelacht, doch verhalten.

Vincent und Viktor lagen im Krankenzimmer. Catherine war kurz hinaus gegangen, um Handtücher zu holen.  Vater wollte sich erst um Vincent kümmern, aber der lehnte ab.
„Versorg erst ihn, Vater“, bat er. Erstaunt sahen ihn John und Jacob an. Vater nickte. Viktor war noch viel zu benommen, um darauf zu reagieren.
Mary reichte Vincent ein gekühltes Tuch und legte eine warme Decke um ihn.
Als Vincent sich unbeobachtet fühlte, hielt er sich seinen rechten Arm. Peter, der dies beim Hereinkommen zufällig sah, sagte vorerst nichts. Er hatte also recht mit seiner Vermutung. Der rechte Arm, den sich Vincent bei seinem Unfall enorm verletzt hatte, war noch nicht verheilt. Nach dem Zweikampf wurde es nun schlimmer. Aber er ließ sich, in der Gegenwart der anderen, nichts anmerken. Urplötzlich wollte Vincent die Krankenkammer verlassen. Peter rief ihm hinterher:
„Vincent?“
„Wo willst du hin?“ Peter klang bedächtig. Vater wurde hellhörig.
„Vincent, komm. Setz dich wieder hin“, schlug Vater vor. Vincent jedoch drehte sich ohne ein Wort um und verließ die Krankenkammer.
„Da stimmt was nicht, Jacob“, sagte Peter. Ihm war unwohl zu mute.
„Ja, du hast recht. Vincent verhält sich seltsam.“
„Ich werde gleich nach ihm sehen. Lassen wir ihm ein paar Minuten.“ Vater stimmte zu.
„Was ist mit ihm?“ fragte John besorgt.
„Da sind wir nicht sicher. Wahrscheinlich hat er sich doch mehr verletzt, als wir ahnen. Genaueres sehen wir nachher.“ Als Catherine hereinkam, suchten ihre Augen nach Vincent.
„Wo ist er?“
„Er ist vor ein paar Minuten gegangen“, antwortete Peter.
„Und seine Wunden?“
„Vincent hielt es für besser die Kammer zu verlassen.“
„Ich gehe ihn suchen!“
„Warte bitte“, Peter schnell und drückte ihr ein Medikament in die Hand. Verdutzt sah Catherine ihn an.
„Gib das bitte Vincent. Er wird es brauchen“, sagte er mit einem gewissen Unterton.
„Sind das Schmerztabletten?“ Peter nickte zustimmend.
„Die einzigen, die ihm helfen und die er verträgt.“
„Sein Arm?“ Catherine hatte es also auch bemerkt.
„Ich befürchte, ja.“
„Okay, danke, Peter.“
„Sag Vincent, er möchte sich bitte hinlegen. Wir kommen in wenigen Minuten. Er wollte vorhin allein sein“, fügte Vater hinzu.
„Ist gut.“ Mit besorgter Miene machte sich Catherine auf den Weg. In seinem Zimmer angekommen, lag er bereits mit frischen Sachen auf dem Bett. Er hatte die Augen geschlossen. Seinen linken Arm hatte Vincent aufs Gesicht gelegt. Der rechte Arm ruhte auf dem Bauch. Langsam näherte sich Catherine und setzte sich auf die Bettkante. Vincent schien eingeschlafen.
Sie beugte sich über ihn, streichelte sanft sein Gesicht und den Hals. Langsam wachte Vincent auf. Catherine lächelte ihm besorgt entgegen.
„Hey…“ flüsterte sie.
„Hey…“ kam kaum hörbar zurück. Catherine wusste nicht, was sie sagen sollte. Das Gleiche galt für Vincent.
„Warum hast du die Krankenkammer verlassen, Vincent? Vater und Peter wollten deine Wunden behandeln.“
„Ich hielt es dort nicht mehr aus. Ich wollte nur noch da raus.“ Catherine nickte verständnisvoll.
„Du siehst erschöpft aus“, sagte sie fürsorglich und strich sanft über sein Gesicht.
„Bin ich auch.“ Vincent müde.
„Peter hat mich vorhin gebeten dir etwas zu geben“, wechselte Catherine auf einmal das Thema. Sie zeigte ihm die Schmerztabletten. Vincent hatte natürlich erkannt, womit Catherine vor seinem Gesicht spielte. Vincent nahm sie ihr galant aus der Hand.
„Danke…“ sagte er und schmunzelte verhalten.
„Dein Arm?“ Vincent nickte stumm.
„Du hast dir nichts anmerken lassen.“
„Ich wollte nicht, dass ihr euch Sorgen macht.“
„Vincent, mit solch einer Verletzung ist nicht zu spaßen. Das weißt du genauso gut wie ich.“
„Ich weiß…“
„Bitte versprich mir, dass du dich schonen wirst.“
„Ja... Ich hoffe nur, dass mir Viktor auch die Chance dazu gibt.“
„Glaubst du, er hat immer noch nicht genug?“ Vincent zuckte die Schultern.
„Wir werden sehen.“ Catherine verstand und nickte. Sie reichte ihm ein Glas Wasser, damit er seine Schmerztablette auch wirklich nahm.
Schon betraten Vater und John seine Kammer. Noch bevor die beiden etwas sagen konnten, ergriff Vincent das Wort.
„Fragt mich jetzt nicht, wie es mir geht!“ Vater und John nickten.
„Gut. Also, was macht dein Arm?“ Entgeistert sah er zu Catherine, die sich ein Schmunzeln verkneifen musste.
„Wirklich witzig, Vater!“ Er klang sarkastisch.
„Was sollte ich deiner Meinung nach sonst fragen?“
„Ich weiß es nicht!“ gab sich Vincent geschlagen und lehnte sich zurück in seine Kissen.
„Sagst du mir nun, wie es deinem Arm geht?“ bohrte Vater.
„Er schmerzt ziemlich. Aber bitte…halt mir jetzt keine Vorträge, Vater.“
„Vincent, wir brauchen dir sicher nicht zu sagen, dass es bleibende Schäden verursachen kann“, redete John weiter. Jacob sah ihn überrascht an.
„John hat Recht, Vincent…“ Weiter kam er nicht.
„…ja, ich weiß. Meinem Arm ging es, bis vor ein paar Stunden, auch besser.“
„Die Auseinandersetzung scheint ihm den Rest gegeben zu haben.“
„So ist es!“ erwiderte Vincent, stand von seinem Bett auf und wanderte in seiner Kammer umher.
Vater untersuchte kurzer Hand Vincents rechten Arm. Erleichtert stellt er fest, dass der Arm `nur` enorm gezerrt war. Er legte ihm eine Armschlinge an, damit er ruhig gehalten wurde.
„Bitte trage diese Armschlinge so lange wie nur möglich. Der Arm muss die nächsten Tage oder sogar Wochen unbedingt ruhig gehalten werden.“ Wortlos ließ Vincent alles über sich ergehen.

Ihm blieb auch nichts anderes übrig. Catherine und John hatten Vincent und Jacob vor der Untersuchung verlassen. John war zu Peter gegangen, der bei Viktor in der Krankenkammer war. Catherine ging in die Bibliothek, wartete dort auf Vater und vertrieb sich die Zeit mit einem Gedichtband, den sie noch nicht kannte.

Zurück zum Winterfest wollte sie jedoch nicht. Ihr war nicht mehr danach. Die Anwesenden würden Catherine mit unzähligen Fragen löchern. Ohne Vincent hätte sie ohnehin keinen schönen Abend gehabt.
Am nächsten Tag halfen alle beim Aufräumen. Auch Catherine und Vincent waren mit dabei. Vincent war zwar nur eingeschränkt belastbar, aber er tat was er konnte. Viktor dagegen hatte sich bis dahin nicht blicken lassen. Das lag wohl an John. Er hatte Viktor energisch untersagt, sich unter die Bewohner zu mischen und Schwierigkeiten zu machen. Wie auch immer. Dies gelang nur, indem er sich von den anderen fern hielt. Zu Johns Erstaunen akzeptierte er es ohne Widerrede. Wohl auch aus dem Grund, weil ihm jeder Knochen wehtat. Vincent hatte ihm gehörig zugesetzt. Mit seiner enormen Schlagkraft und Ausdauer hatte er nicht gerechnet.

Am darauf folgenden Tag, es war früher Nachmittag, war Vincent mit John und Jacob in der Bibliothek. Zusammen redeten sie über die vergangenen Jahre, als Viktor unbemerkt hinter ihnen stand. Vincent vernahm ein leises Rascheln hinter sich. Er sah Viktor überrascht, aber gelassen an und drehte sich gleich wieder zu den anderen. Vater ergriff als erster das Wort.
„Viktor, wie ich sehe geht es dir besser. John erzählte mir, dass deine Wunden gut verheilen.“ Vater war überaus freundlich zu ihm. So, als wäre nichts geschehen.
„Komm, stetz dich zu uns.“ Viktor konnte man in diesem Moment schlecht einschätzen. Würde er es wieder auf einen Kampf ankommen lassen? Wortlos setzte er sich mit an den Tisch. Stumm ließ Vater seine Augen zu Vincent wandern. Vincent versuchte seine Gefühle unter Kontrolle zu halten, was ihm sichtlich schwer fiel. Viktor hatte bis dahin kein Wort gesagt. Sein Blick fiel auf Vincent, der jede seiner Bewegungen zu beobachten schien. Es lag eine greifbare Spannung im Raum. Die beiden Brüder sahen sich unentwegt an. John räusperte sich absichtlich, um sie aus ihrer Starre zu lösen. Und es wirkte.
„Ich würde mir sehr wünschen, dass ihr zwei euch vertragt. Dass ihr endlich Frieden schließt“, bat John.
„Das würde ich mir auch wünschen. Schon um Annas Willen“, sagte Jacob bedächtig und sah abwechselnd von Vincent zu Viktor. Vincent lehnte sich zurück und atmete tief durch.
„An mir soll es nicht liegen!“ sagte er bestimmt und sah Viktor an. Doch der konnte ihm diesmal nicht in die Augen sehen.
„Ich habe dich wohl gehörig unterschätzt, Vincent“, sagte er ein wenig kleinlaut.
„Sieht so aus!“
„Trotzdem!...Ich bin der Erstgeborene!“ Sie standen wieder am Anfang.
„Ich fasse es nicht! Mir reicht es!“ platzte Vincent heraus. Er erhob sich von seinem Platz und war im Begriff zu gehen.
„Wo willst du hin!“ rief Viktor.
„Das geht dich überhaupt nichts an! Lass…mir…endlich…meinen…Frieden!“ brüllte Vincent. Er hatte seine Augen geschlossen, den Kopf gesenkt.

„Viktor, bitte…Lass ihn in Ruhe!“ kam von John. Doch Viktor war dies egal. Er wollte Vincent zu seinem Untertan machen, ihn brechen. Siegessicher stand er auf und stolzierte zu seinem Bruder. Als er direkt neben ihm stand, sprach er weiter.
„Nun? Wie soll es jetzt mit uns beiden weiter gehen, `kleiner Bruder`!“ Eine Antwort folgte sofort. Mit einem geschickten Griff packte Vincent seinen Bruder am Hals und warf ihn auf den Tisch. Leicht benommen von der überraschten Handlung, versuchte er sich aufzuraffen. Gerade als er sich aufgerichtet hatte, packte Vincent ihn mit seiner linken Hand am Hinterkopf und schlug ihn mit aller Macht auf die gegenüberliegendeTischplatte. Damit er sich nicht befreien konnte, hielt Vincent ihn in einem festen Griff. Mit dem verletzten Arm in der Schlinge und dem linken Arm auf Viktors Kreuz und Nacken, stand Vincent bequem daneben. Er war wütend. Viktors Gesicht klebte buchstäblich auf der Tischplatte und er konnte nichts dagegen tun. Vincent konnte seinen Griff beliebig verstärken oder nachlassen. Je nachdem wie sich Viktor benahm.
John und Jacob saßen stumm am Tisch. Was sollten sie tun? Sollten sie überhaupt eingreifen? Vater wollte gerade etwas sagen, als John fast unbemerkt seine Hand auf Vaters Arm legte, ihn von der Seite ansah und kaum merklich den Kopf schüttelte. Er wollte ihm davon abraten sich einzumischen. Dieses Problem mussten die beiden Brüder ganz allein lösen. Koste es was es wolle. Vincent hatte sich währenddessen leicht zu Viktor herunter gebeugt.
„So…Bruder…! Um deiner Gesundheit willen…solltest du mir jetzt ganz genau zuhören! Hast du mich verstanden?“ Anstatt zu antworten, versuchte er sich mit aller Kraft zu befreien. Doch Vincent blieb davon unbeeindruckt. Er verstärkte seinen Griff, bis Viktor vor Schmerzen aufschrie und nachgab.
„Du scheinst mich nicht richtig verstanden zu haben, Bruder!“ Vincent redete in einem ruhigen, aber kräftigen Ton mit ihm. John war von Vincents Verhalten beeindruckt. Er war Viktor gegenüber nicht aggressiv. Er wollte ihm auch nicht unnötig etwas antun. Ganz im Gegenteil. Vincent war nicht wie Viktor. Dies wurde John und Jacob wieder vor Augen geführt. Er wollte Viktor lediglich die Grenzen zeigen.
„Also…sperr deine Ohren auf!“ Diesmal zuckte Viktor nicht einen Millimeter.
„Du hörst mit zu?“ fragte Vincent noch einmal mit strenger Stimme.
„Ja!“ kam ebenso zurück.
„Gut! Punkt eins…So lange du hier bist…in diesem Tunnelabschnitt…hältst du dich an unsere Regeln. Punkt zwei…“ Vincent verstärkte wieder den Druck auf Viktor, da er aufmuckte.
„…Du bist zwar der Erstgeborene, aber dieser Ort hier ist mein zu Hause. Hier wirst du dich mir unterordnen. Das bedeutet, du tust was ich dir sage. Sollte ich mich, aus irgendeinem Grund, zu dir hin verirren, werde ich mich dir unterordnen…Ich glaube aber kaum, dass dies passieren wird.“ Nach dem letzten Satz sah Vincent zu John und sagte zu ihm:
„Nichts für ungut! Das hat nichts mehr mit dir zu tun!“ John nickte leicht schmunzelnd.
„Ich weiß was du meinst“, flüsterte John.
„Nun? Was sagst du dazu?“ sagte Vincent herausfordernd zu seinem Bruder. Nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, war dieser nicht sonderlich begeistert von dem Vorschlag. Doch Vincent half ein wenig nach. Er ließ ein paar Mal seine Muskeln spielen.
„Ich habe dich was gefragt!“ Viktors Gesicht war leicht schmerzverzerrt.
„Was willst du hören?“ stöhnte Viktor verbissen.
„Eine klare Antwort! Was sonst!“
„Und wenn nicht?“ Vincent beugte sich noch näher zu Viktor herunter.
„Dann wirst du mich richtig kennen lernen, Bruder! Wurmt es dich nicht?“
„Was meinst du?“
„Du hast mich provoziert und geglaubt, ich würde mich dir unterwerfen, nur weil ich verletzt bin und jeder Konfrontation aus dem Weg gehen würde. Hast du wirklich einen Moment geglaubt, dass ich mich dir unterwerfen würde? Wenn ja, dann hast du dich getäuscht!“ In dem Moment betrat Catherine die Bibliothek und blieb gebannt am Eingang stehen.
„Vincent…ich glaube es reicht“, sagte Vater leise.
„Eine Frage habe ich noch!“
„Und die wäre?“ fragte Viktor.
„Wirst du dich fügen?“ Er antwortete nicht. Vincent half wieder etwas nach.
„Ein letztes Mal! Wirst du dich fügen!“ verschärfte er seinen Ton.
„Ja! Ich werde mich fügen…nun lass mich endlich los!“ Vincent lockerte seinen Griff und trat beiseite.
„Na also! Geht doch!“ sagte Vincent erleichtert. Viktor rieb sich seine schmerzenden Arme. Catherine trat aus dem Schatten hervor und stieg die Stufen der Treppe hinab. Erstaunt über ihre Anwesenheit sahen sie alle an.
„Catherine! Schön, dass du da bist. Wir haben dich gar nicht hereinkommen hören“, Vater freudig.
„Ich war auch ganz leise“, entgegnete sie unsicher, ging zu Vincent und gab ihm einen  Begrüßungskuss. Verlegen schmunzelnd sahen sich John und Jacob an.
„Hallo Viktor, wie geht es dir?“ fragte Catherine, als ob sie nicht mitbekommen hätte, was eben geschehen war. Zähneknirschend antwortete er:
„Danke…mir geht´s gut.“ Vincent behielt ihn genau im Auge. Viktor spürte seinen Blick und gab sein Bestes.
„Komm, setz dich zu uns, Catherine“, sagte John freundlich. Sie nahm die Einladung dankend an und gesellte sich zu ihnen. Viktor dagegen verschwand. Er musste dies von eben erst einmal verarbeiten. Vincent war seine Anspannung deutlich anzusehen. Erst im Laufe des Abends ließ die Anspannung nach und er hatte wieder die Ruhe, ein Buch zu lesen. Das Ergebnis, dass er bei Viktor erzielte, verschaffte ihm eine innere Ruhe. Er hatte sich ihm gegenüber behauptet.


Einige Tage später…

John und Viktor waren kurz nach dem Zwischenfall aufgebrochen, um in ihren Tunnelabschnitt zu gelangen. Viktor hatte sich in allem sehr zurück gehalten.
Vincent machte mit Catherine einen Ausflug zur Kristallgrotte. Sie waren früh aufgebrochen. Der Weg bis dahin war anstrengend. Viele Treppen, unendlich lange und enge Gänge mussten überwunden werden. Catherine hatte diesen geheimnisvollen Ort noch nie gesehen. Zu ihrem einjährigen Jubiläum schenkte Vincent ihr eine Halskette mit einem wunderschönen Bergkristall. Er erzählte Catherine von der Grotte, und seit dem wollte sie dort unbedingt hin. Am frühen Nachmittag war es dann so weit. Kurz bevor die beiden die Höhle betraten, ließ Vincent Catherine voraus gehen. Ihr stockte beim ersten blick der Kristalle der Atem.
Catherine war so sehr überwältigt, dass ihr Mund offen stand und sie kein Wort herausbrachte. Die Kristallhöhle war über und über mit den verschiedenstfarbigen Steinen übersät. Nicht nur einfache Bergkristalle leuchteten ihnen entgegen, sondern auch Opale, Rubine, Amethyste und vieles mehr. Überall funkelte es.
„Vincent, das ist…mir fehlen die Worte“, stotterte Catherine und lächelte.
„Ich habe mir schon gedacht, dass dir dieser Ort gefallen wird.“
„Gefallen? Vincent, das hier ist atemberaubend…ein Traum…so unwirklich. Ich weiß nicht was ich sagen soll.“ Spontan warf sie sich Vincent an den Hals und drückte ihn, so fest sie konnte.
„Danke, dass du mir diesen Ort gezeigt hast, Vincent“, flüsterte sie und küsste ihn leidenschaftlich. Die zwei vergaßen alles um sich herum. So nahe waren sie sich seit geraumer Zeit nicht mehr gewesen. Das ganze drum herum, die Aufregung der letzten Wochen und Monate, hatte sie einander etwas entfremdet. Doch dies schien jetzt vergessen. Als Vincent sich sanft von Catherine löste, was ihr gar nicht gefiel, ging er an einen bestimmten Platz der Höhle, brach ein Stück Fels von der Wand, als würde er darin etwas suchen. Nach ein paar Minuten hatte er einen wunderschönen Kristall in seiner Hand. Dieser war nicht sehr groß. Vielleicht hatte er die Größe einer Haselnuss. Gespannt sah sie ihn an. Vincent legte ihr den Kristall in die Hand.
„Der ist prachtvoll!“ rief Catherine erstaunt. Noch erstaunter war sie, als Vincent sie aufforderte, den Kristall über die daneben liegende Glasplatte zu ziehen.
„Warum?“ fragte Catherine verwundert.
„Frag nicht…Tu es einfach und du wirst sehen.“ Vincent lächelte geheimnisvoll. Als sie den Kristall über die Glasplatte zog, war ein kratzendes, schneidendes Geräusch zu hören. Der Kristall hinterließ auf der Platte einen ganz feinen Strich.
„Seit wann kann ein Kristall Glas schneiden?“ fragte sie sich selbst. Catherine kam dies sehr seltsam vor und sie grübelte unentwegt nach. Vincent ging auf sie zu. Er lächelte verstohlen. Erwartungsvoll und etwas verwirrt sah Catherine ihm in die Augen.
„Glas kann niemals Glas schneiden“, sagte er bedächtig.
„Glas kann nur exakt geschnitten werden mit einem ziemlich scharfen und speziell dafür angefertigtem Messer oder…“ er sprach nicht weiter. Brauchte er auch nicht. Catherine hatte begriffen. Sie machte große Augen.
„Willst du mir sagen, dass das ein Diamant ist?“ Vincent sagte nichts, sondern nickte nur stumm.
„Das glaube ich einfach nicht. Wie um alles in der Welt ist das möglich?“
„Wir wissen es nicht. Erinnerst du dich noch daran, als wir hier unten eine alte Galeere gefunden haben?“
„Ja, jetzt wo du es sagst, fällt es mir wieder ein. Vater erzählte mal, dass diese Tunnel entstanden sind, weil das alles vor vielen Hundert Jahren unter Wasser stand. So ähnlich wie der Grand Canyon. Dort gab es reißende Flüsse und die bahnten sich ihren Weg durch die Felsen.“
„Ganz genau. Und aus irgendeinem Grund, warum auch immer, gibt es nur hier in dieser Höhle diese verschiedenen Edelsteine.“
„Wahnsinn!“ war das einzigste, das Catherine darauf sagen konnte.
Sie  verbrachten noch eine Weile in der Kristallgrotte, bis es Zeit war den Rückweg anzutreten.
Erst sehr spät abends waren sie in den bewohnten Tunneln angekommen. Vincent hatte Catherine die letzten Meter getragen. Sie war völlig am Ende mit ihren Kräften. In der Kammer legte er seine süße Last ins Bett, legte sich dazu und war ebenfalls bald eingeschlafen.
Den nächsten Tag verbrachten sie gemeinsam am Spiegelteich. Sie hatten sich in eine kleine versteckte Nische verkrochen, um ungestört zu sein. Gegenseitig lasen sie sich vor oder lagen beieinander und küssten sich zärtlich. Die kurze, gemeinsame Zeit war ihnen zu kostbar. Folglich genossen sie jede freie Minute. Catherine schien mit ihren Gedanken sehr weit entfernt, als Vincent das Buch beiseite legte.
„Woran denkst du?“ fragte er sanft.
„An uns…“ antwortete sie verträumt und schmiegte sich in seine starken Arme. Vincent schmunzelte.
„An was genau?“
„Wie es wohl wäre, für immer hier zu bleiben.“ Sie sah zu ihm auf und wartete auf seine Reaktion.
„Catherine, du würdest es hier unten nicht lange aushalten…“ weiter kam er nicht, denn sie legte ihren Zeigefinger auf seine Lippen.
„Vincent, bitte lass mich kurz ausreden. Ich habe mir das schon so oft überlegt.“ Erstaunt sah er sie an.
„Ich möchte hier mit dir zusammen sein, Vincent. Meine Arbeit bei der Staatsanwaltschaft werde ich trotzdem behalten. Ich möchte nur abends hier unten bei dir sein und nur im Notfall oben schlafen. Vincent…ich möchte für immer mit dir zusammen sein!“ sagte Catherine eindringlich.
„Für immer?“ erwiderte Vincent ungläubig. Catherine lächelte verführerisch.
„Ja, für immer.“
„Willst du damit sagen, dass wir…“
„…heiraten sollten, ja“, vervollständigte sie den Satz. Vincents Herz schlug bis zum Hals.
„Du weißt, was du da sagst?“ hinterfragte er. Breit lächelnd sah sie ihn an und nickte hastig.
„Vincent, du weißt wie sehr ich dich liebe.“
„Ja, ich weiß. Und …ähm…Ich muss dir ganz offen und ehrlich sagen, dass…“ Catherine richtete sich langsam auf und sah ihm erwartungsvoll in seine azur-blauen Augen.
„Was…“ flüsterte sie.
„Ich wollte dich eigentlich schon an dem Tag etwas fragen, als wir an den Wasserfällen waren. Du weißt schon, als John auf einmal dazu kam und ich dich gebeten hatte zu bleiben.“
„Ja, ich erinnere mich an den Tag.“ Vincent atmete tief durch.
„An dem Abend wollte ich dir…einen Heiratsantrag machen und dir den hier geben.“ Vincent reichte Catherine ein kleines Etui. Jetzt klopfte Catherines Herz wie verrückt.
„Vincent…“ kam heiser über ihre Lippen. Sie öffnete das Etui, und ein silberner Ring mit einem wunderschönen, funkelnden azurblauen Stein kam zum Vorschein.
„Oh Gott, Vincent…mir fehlen die Worte. Der Stein hat die Farbe deiner Augen.“ Vincent schmunzelte verlegen.
„Nun, bevor du den bekommst, musst du mir noch eine Frage beantworten“, sagte Vincent mit seiner rauchigen, sanften Stimme.
„Und die wäre?“ Catherine tat so, als würde sie nichts ahnen und lächelte dabei.
„Möchtest du meine Frau werden?“
„Ja, Vincent…ja! Von ganzem Herzen!“ antwortete sie schnell und warf sich ihrem zukünftigen Ehemann an den Hals. Vincent nahm den Ring aus dem Etui und steckte ihn ihr an den Finger.
„Er passt wie angegossen, Vincent. Ist der traumhaft schön!“ schwärmte Catherine. Überglücklich küsste sie ihren Vincent. Sie verschmolzen miteinander und vergaßen alles um sich herum. Den Rest des Nachmittags verbrachten sie in Vaters Bibliothek.
Er hatte schon beim Hereinkommen eine Veränderung bemerkt. Mary, die ebenfalls anwesend war, fiel sofort der zarte Ring mit dem azurblauen aquamarinen Stein an Catherines Hand auf. Doch wagte sie es sich nicht, Catherine darauf anzusprechen. Sie könnte ja auch falsch liegen und das wäre äußerst peinlich. Als die vier nun endlich an einem Tisch saßen, rückte Vincent mit der Sprache raus.
„Vater, Mary…wir haben euch etwas mitzuteilen!“ begann Catherine.
„Catherine und ich wir…wir haben vor zu Heiraten“, sprach Vincent weiter. Gespannt warteten die frisch Verlobten auf eine Reaktion. Vater lächelte breit und sagte:
„Das wird aber auch langsam Zeit, ihr zwei!“ Verdutzt sahen sie sich an.
„Du bist nicht schockiert?“ fragte Vincent vorsichtig.
„Warum sollten wir schockiert sein? Eigentlich hatten Mary und ich schon darauf gewartet“, gab Vater offen zu.
„Ich hatte, um ehrlich zu sein, beim Winterfest damit gerechnet.“
„Herzlichen Glückwunsch, ihr zwei. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie glücklich ihr uns macht“, sagte Mary mit bewegter Stimme und nahm beide in den Arm. Vater schloss sich an. Er drückte Vincent fest an sich und wünschte ihnen nur das Beste.
„Dann bekomme ich endlich eine Schwiegertochter“, kam von Vater, als er Catherine in den Arm nahm. Dies war für alle ein bewegender Augenblick.
Bis spät Abends saßen sie zusammen in der Bibliothek und überlegten wie sie die Hochzeit gestalten sollten und wer alles dazu eingeladen werden sollte. Marys und Catherines Ideen sprudelten über. Alles sollte so perfekt und einmalig sein wie möglich.
Die Neuigkeit hatte sich verbreitet wie ein Lauffeuer. Unzählige Tunnelbewohner suchten Catherine und Vincent auf, um ihnen zu ihrem Entschluss zu gratulieren. Sie boten alle ohne Ausnahme ihre Hilfe bei den Hochzeitsvorbereitungen an.
Die zahlreichen Einladungen, für etwa 150 Gäste, wurden geschrieben und persönlich von den Kindern den jeweiligen Personen überreicht. Zwei Einladungen blieben bis zum Schluss auf Vaters Schreibtisch liegen. Es waren die für John und Viktor.
Eines Abends sprach Vater seinen Ziehsohn darauf an. Catherine war bei ihm.
„Vincent, ich habe auf meinem Schreibtisch noch zwei Einladungen.“
„Ja, ich weiß.“
„Soll eines der Kinder die Einladungen zu John schicken?“
„Nein, ich werde das selbst tun.“ Nach einer kurzen Gedankenpause musste Vincent plötzlich schmunzeln.
„Was ist?“ Catherine verwundert.
„Vor drei Wochen, als ich die vorerst letzte Konfrontation mit Viktor hatte, sagte ich ihm, dass es einen guten Grund geben muss, um mich dorthin zu verirren. Ich hätte nicht gedacht, dass es so bald sein wird.“
„Du tust das Richtige“, ermutigte ihn Catherine.
„Das sehe ich auch so, Vincent. John wird dies unwahrscheinlich viel bedeuten. Und dass du ihm die Einladungen persönlich überbringst…“ Vater fehlten die Worte, um diesen Satz zu beenden. Er war sehr gerührt von dieser Geste.
Gleich am nächsten Morgen machte sich Vincent auf den Weg. Viele Stunden war er unterwegs, bis er gegen Abend sein Ziel erreichte. John traute seinen Augen kaum. Er saß, wie Vater, an einem alten antiken Schreibtisch und las ein Buch. Als er Vincent erblickte, leuchteten seine Augen. John ging auf ihn zu und gab ihm bewegt die Hand. Vincent lächelte leicht. Vater hatte also recht behalten, dass John sich sehr über seinen Besuch freuen würde.
„Vincent, mein Junge. Was für eine Überraschung. Ich freue mich so sehr das du uns hier besuchst.“
„Das freut mich. Wie geht es dir?“
„Gut, danke. Dir hoffentlich auch.“
„Ja, sehr gut sogar. Genau aus dem Grund bin ich hier. Ich habe für euch zwei eine Einladung.“
„Eine Einladung?“
„Ja. Catherine und ich werden heiraten und ich möchte, dass ihr zwei dabei seid.“
„Vincent…ich…ich bin sehr gerührt, mein Sohn.“ John hatte feuchte Augen und seine Stimme zitterte. Vincents war über Johns Reaktion dennoch überrascht. Obwohl Vater ihn vorgewarnt hatte.
„Heißt das, ihr kommt?“ fragte Vincent vorsichtig.
„Ja…Das möchte ich auf keinen Fall verpassen. Du ahnst gar nicht, wie glücklich du mich machst.“
„Wo ist eigentlich Viktor?“ Johns Antwort erübrigte sich.
„Ich bin hier“, ertönte aus dem Dunkeln.
„Hast du dich verlaufen?“ sagte Viktor mit sarkastischem Unterton.
„Viktor, bitte!“ ermahnte ihn John. Vincent übernahm, leicht ungehalten, das Reden.
„Um es für dich kurz zu machen…Bruder...Ich werde in ein paar Wochen heiraten und möchte, dass ihr mit dabei seid. Die Einladungen wollte ich euch persönlich geben.“ Viktor war auf einmal ruhig.
„Du heiratest?“ fragte er kleinlaut.
„Ja, Catherine wird meine Frau.“
„Das freut mich für dich.“ Hatte sich Vincent da eben verhört? Er bohrte aber nicht weiter nach. Nicht dass Viktor auf dumme Gedanken käme und sie wieder eine Auseinandersetzung hätten. Das wollte er nun wirklich nicht.
Noch in derselben Stunde machte sich Vincent wieder auf den Weg nach Hause. John bat ihn zwar noch für eine Weile zu bleiben, doch in Viktors Gegenwart fühlte sich Vincent nicht wohl. Irgendwie würde Viktor versuchen ihn zu provozieren.
Auf dem Rückweg machte Vincent ein paar Pausen. Er war fast zwei Tage am Stück unterwegs und hatte kaum geschlafen. Dementsprechend brauchte er um einiges länger, als vorher. Als Vincent am späten Nachmittag des nächsten Tages in seiner Kammer ankam, schaffte er es gerade noch sich zu waschen. Sobald er lag, war er eingeschlafen. Erst am nächsten Morgen wurde er wach. Catherine schlummerte friedlich an seiner Seite. Vincent beobachtete minutenlang ihren Schlaf, bis sie schließlich aufwachte.
Ihre Augen nahmen nur ein paar verschwommene Umrisse wahr. Daher tastete sie vorsichtig die andere Hälfte des Bettes ab. Catherines Hand bekam seinen Oberarm zu fassen und sie lächelte sanft.
„Guten Morgen…“ säuselte Catherine schlaftrunken.
„Guten Morgen…“ kam sanft von Vincent zurück, während er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht streifte. Stumm rutschte Catherine an ihn heran, kuschelte sich in seine schützenden Arme und schlief wieder ein. Als Catherine wieder tief schlief, löste er sich behutsam von ihr, zog sich an und begab sich in die Badekammer. Catherine ließ er guten Gewissens weiterschlafen, denn es war Samstag und sie hatte frei.

Es war inzwischen gegen 8 Uhr, als Vincent sich zu Vater in die Küche setzte. Überrascht begrüßte Vater seinen Ziehsohn.
„Vincent, mein Junge! Du bist schon zurück?“
„Ja, gestern Nachmittag.“
„So bald schon?“
„Ich wollte nicht länger bleiben als nötig. Wegen Viktor, nicht wegen John.“
„Gab es einen Zwischenfall?“
„Zum Glück nicht…Ich wollte auch nicht so lange warten, bis etwas passiert. Du hattest übrigens Recht mit John. Er war…sehr gerührt und…“ Vincent suchte nach Worten.
„Und?“ hakte Vater nach.
„Er hatte…Tränen in den Augen und schien sich über die Einladung überaus zu freuen.“ Jacob lächelte in sich hinein.
„Was hat Viktor dazu gesagt?“
„Erst fing er wieder an zu stänkern, doch als ich ihm sagte, weshalb ich gekommen war, sagte er nichts mehr. Ihm schien es die Sprache verschlagen zu haben.“
„Lass es gut sein, Vincent. Vielleicht sieht er langsam ein, dass du…ich weiß nicht wie ich es ausdrücken soll“, stammelte Vater.
„Ich glaube, ich weiß was du meinst. Dennoch hoffe ich, dass wirklich endlich Ruhe ist.“
„Das wird schon, mein Junge. John wird auf jeden Fall seinen Teil dazu beitragen.“ Stumm nickte er. Sein Blick wanderte zum Eingang, wo Catherine mit müden Augen die Küche betrat und sich zu ihnen setzte. Nach einem zarten Kuss auf Vaters Wange und einem innigen Kuss zwischen den frisch Verlobten, stellte Catherine unzählige Fragen, die Vincent klar beantwortete.
Catherine und Vincent suchten sich für ihre Hochzeit den 14. Februar, den Valentinstag, aus. Den Tag der Liebe! Bis dahin waren es noch 3 ½  lange Wochen.


Es war der 12. Januar, Vincents Geburtstag. Am Nachmittag überraschte ihn die Tunnelgemeinde mit einer Geburtstagsparty in der großen Festhalle. Der Saal war bunt geschmückt mit Luftschlangen, Luftballons, bunten Blumen auf den Tischen und Konfetti. Viele verschiedene Kuchen und Torten, Kaffee und Tee waren für jedermann dabei.
Gegen Abend bekam Vincent überraschend Besuch von John. Er trat an seinen Sohn heran und reichte ihm die Hand.
„Vincent, mein Junge. Ich bin gekommen, um dir alles Gute zum Geburtstag zu wünschen.“ Gespannt sahen viele Augenpaare auf die beiden Männer.
„Danke…Ich freue mich sehr über dein Kommen. Wirklich…“ sagte Vincent eindringlich. Vater und Catherine standen etwas abseits und beobachteten diese Entwicklung. Später saßen sie zusammen an einem Tisch. Sie redeten über die bevorstehende Hochzeit, als John etwas in Leder Gebundenes in seinen Händen hielt.
„Ich habe hier etwas für dich, Vincent. Es ist zwar nicht das ideale Geburtstagsgeschenk, aber für eure Hochzeit sehr nützlich.“ Er schob es zu Vincent. Dieser öffnete es und verstummte. Man sah an seinen Augen, dass ihn etwas sehr bewegte.
„Vincent?“ fragte Catherine vorsichtig und legte ihre Hand auf seinen Arm. Er sah sie an und reichte ihr ein Schriftstück. Nun weiteten sich Catherines Augen.
„Das gibt es doch nicht!“ flüsterte sie fassungslos.
„Vincent…das ist deine Geburtsurkunde. Hier steht alles drin. Ich glaube es nicht“, sprach Catherine  weiter. Jacob sah John bewegt an und nickte ihm stumm zu.
„Ich weiß gar nicht was ich sagen soll.“
„Du bist, genau wie Viktor, nach der Geburt registriert worden.“ Catherines Augen fingen an zu strahlen, während Vincent nicht recht glauben konnte, was er eben gehört hatte.
„Ein einfaches ´Danke´ ist sicher nicht genug.“
„Bedanken musst du dich bestimmt nicht bei mir, Vincent. Ich habe dir nur das gegeben, was dir gehört. Damit du auch genau weißt und es vor allem schriftlich hast, wer du bist, wo und wann du geboren wurdest. Was vielleicht noch wichtiger ist! Wer deine Eltern sind, von wem du abstammst. Das ist für jeden Menschen mit das Wichtigste.“
„Ja, stimmt. Zu wissen, wer man ist und wo man herkommt ist äußerst beruhigend. Jetzt weiß ich, wo ich hingehöre“, sagte Vincent. Mary war die ganze Zeit über still gewesen. Schweigend verfolgte sie die bewegende Unterhaltung. Insgesamt wurde es für alle eine lange Nacht. Vincent und John kamen sich durch ihre Gespräche näher. Auch Jacob, Vincents Ziehvater, unterhielt sich angeregt mit John. Es tat beiden sichtlich gut, die Vergangenheit ruhen zu lassen.
Als die Verlobten irgendwann im Bett lagen, konnten sie keinen Schlaf finden. Catherine nahm von Vincents Nachttisch die Geburtsurkunde und hielt die Kostbarkeit in ihren Händen. Sie schmiegte sich zurück an seine Seite und las vor, was da stand.
„Vincent John Pater, geboren am 12. Januar 19…, Uhrzeit: 08.36 Uhr, im St. Vincents Hospital New York, Mutter Anna Pater, Vater John Pater, Zwillingsgeburt, jüngerer Zwilling.“ Plötzlich stutzte sie.
„Weißt du, wer bei deiner, ich meine eurer, Geburt dabei war?“
„So weit war ich noch nicht.“
„Jetzt halt dich fest! Jacob Wells…“
„Dass Vater dabei war, hatte er erwähnt“, unterbrach er sie.
„…Und Peter Alcott!“ Überrascht sahen sie sich an.
„Peter? Peter war doch auch bei deiner Geburt mit dabei“, bemerkte er. Breit grinsend sah sie Vincent an.
„Ist das nicht verrückt? Erst du und dann ich!“
„Allerdings!“
„Catherine Pater…“ flüsterte sie leise.
„Das hört sich gut an.“
„Oder Catherine Wells. Was meinst du?“
„Darüber habe ich noch gar nicht nach gedacht“, gab Vincent zu.
„Mein Nachname wäre eigentlich Pater und nicht Wells, stimmt. Aber bei Pater könnte es Schwierigkeiten geben.“
„Was meinst du?“
„Wenn jemand Nachforscht…“
„…dann werden sie nur Johns Namen finden.“
„Mir wäre Wells lieber. Vater hat mich aufgezogen, wie seinen eigenen Sohn. Er war immer mehr ein Vater, als John es irgendwann sein wird.“
"Aber rechtlich gesehen...Pater...laut deiner Geburtsurkunde. Catherine Pater...daran könnte ich mich gewöhnen.“
„Daran wirst du dich gewöhnen, mein Schatz.“ Mit einem innigen, leidenschaftlichen Kuss wurde dieser Entschluss besiegelt. Eng aneinandergekuschelt schliefen sie ein und träumten von der bevorstehenden Hochzeit.

Die Tage vergingen wie im Fluge. Eines Abends nahm Mary Catherine mit in ihre Kammer. Sie tat sehr geheimnisvoll.
„Setz dich, Cathy.“ Mary schien ein wenig aufgeregt.
„Ich habe hier etwas für dich“, fuhr sie verhalten fort, weil sie nicht wusste, wie Catherine reagieren würde. Sie nahm aus ihrem Kleiderschrank ein sorgfältig verpacktes Kleidungsstück heraus, das auf einem stabilen Bügel hing. Als sie die Verpackung entfernte, stockte Catherine der Atem. Mit großen leuchtenden Augen, die sich vor Rührung mit Tränen füllten, stand sie auf und ging wie in Zeitlupe zu Mary hinüber.
„Wie ich sehe, gefällt es dir!?“
„Mary, ist das…ist das ein Hochzeitskleid?“ Mary nickte.
„Ja. Dies war mal mein Hochzeitskleid“, sagte sie wehmütig.
„Dieses Kleid weckt alte Erinnerungen.“ Mary zwang sich zu einem lächeln heraus. Es schienen traurige Erinnerungen zu sein.
„Es ist ein Traum! Es ist umwerfend!“
„Es ist noch gut in Ordnung“, versicherte Mary.
„Mary, es ist wie neu! Sieh es dir doch mal genau an. So etwas ist heutzutage unbezahlbar. Diese aufwendigen Stickereien, die Perlen, die Spitze, die vielen Seidenschichten des Kleides. Ist es Schulterfrei?“ Sanft nickte Mary. Catherine fragte mutig:
„Darf ich dieses Kleid zu meiner Hochzeit tragen? Es würde mir unwahrscheinlich viel bedeuten. Dieses Kleid ist genau das, was ich gesucht habe.“ Nun standen Mary die Tränen in den Augen. Sie konnte kaum reden vor Rührung.

„Ja, Catherine.  Ich habe sogar gehofft, dass dir das Kleid gefallen wird. Es würde mich sehr stolz und glücklich machen, wenn du dieses Kleid zu deiner Hochzeit tragen würdest.“ Sie fielen sich in die Arme.
„Danke, Mary…vielen Dank!“ flüsterte sie Mary ins Ohr. Darauf wandten sie sich der praktischen Seite zu.
„Wir haben noch einiges zu tun. Das Kleid muss wahrscheinlich geringfügig abgeändert werden.“
„Dann sollten wir keine Zeit verlieren. Und…Mary?“
„Ja?“
„Wir sollten die Einzigen sein, die wissen, was für ein Kleid ich tragen werde. Es soll für alle eine Überraschung sein.“
„O ja. Allen wird der Mund offen stehen. Und Vincent wird sicher nicht mehr wissen, was er antworten soll.“
„Keine Angst! Ich werde ihn daran erinnern“, scherzte Catherine. Die beiden Frauen lachten wie kleine Mädchen und fühlten sich wohl dabei. Bis spät in die Nacht hinein arbeiteten sie, auch die nächsten Tage.

14. Februar, Valentinstag

Der lang ersehnte Tag war endlich gekommen. Gegen 13 Uhr versammelte sich die gesamte Tunnelgesellschaft, mit Freunden und Verwandten in der großen Halle. Der Saal war festlich geschmückt. Überall standen farbenprächtige Blumengebinde. Überwiegend wurden rote und weiße Rosen verwendet, zum Zeichen der ewigen Treue und Liebe. Der Traualtar war ebenfalls geschmückt. Davor standen zwei kleine Hocker, worauf die beiden zum Schluss knien sollten, um ihren göttlichen Segen zu erhalten. Stühle und Tische, für die Hochzeitsgesellschaft, waren mit weißen Rosen, Spitzenbändern und weißen Tüchern verziert.
Ganz im Vordergrund, in der ersten Reihe, saßen die engsten Vertrauten von Catherine und Vincent. Darunter waren auch John und Viktor. Vincent stand bereits mit Vater am Traualtar. Die Schneiderinnen hatten extra für ihn einen schwarzen Anzug maßgeschneidert. Er stand ihm hervorragend. Nervös drehte er sich von einer Seite zur anderen.
„Nervös?“ fragte Vater seinen Ziehsohn.
„Und wie…“
„Es ist bald vorbei…“ versuchte er ihm die Aufregung zu nehmen. Vincent lächelte ihn an.
„Das ist sehr beruhigend, Vater!“
Doch plötzlich war jede Aufregung verflogen. Der erste Ton der Hochzeitsmusik ertönte, das große hölzerne Tor öffnete sich und da stand sie. Seine Catherine! Begleitet wurde sie auf der einen Seite von Mary und auf der anderen Seite von Peter. Langsam schritt Catherine den langen Gang entlang. Vincent hatte nur Augen für seine Catherine, die in seinen azur-blauen Augen sah, wie sehr sie ihm gefiel. Er betrachtete sie ausgiebig, jeder  Zentimeter ihres Kleides faszinierte ihn. Sie war wunderschön! Ihr schneeweißes, seidenes Kleid schimmerte im Kerzenlicht. Es reichte bis zum Boden. Ihre weißen, hochhackigen Schuhe waren darunter nicht zu sehen. Fast hätte man glauben können, sie schwebe zum Altar. An ihrem Dekollete funkelte die Halskette mit dem Bergkristall, den Vincent ihr zum ersten Jahrestag schenkte.
Die Haare waren  hochgesteckt, mit kleinen Löckchen. Kleine weiße, zarte Blümchen verzierten die Haarpracht. Catherine betrachtete ihren zukünftigen Ehemann ebenfalls. Seine blonde lockige Mähne leuchtete wie Gold. Der schwarze Anzug war sportlich geschnitten und betonte seine muskulöse Figur. Das weiße Hemd, welches er unter dem Anzug trug, schien, wie Catherines Kleid, aus feinster Seide zu sein, mit einem schmalen Stehkragen.
Der Weg bis zu Vincent kam Catherine endlos vor. Es war so, als würde die Zeit stehen bleiben. Doch dann war es soweit. Peter gab Catherine an Vincent weiter. Galant reichte er ihr die Hand, während Mary an der Seite Platz nahm. Verliebt sahen sich Catherine und Vincent an, küssten sich zärtlich und nickten sich aufmunternd zu.
„Du bist atemberaubend!“ flüsterte er ihr zu.
„Danke, du auch!“ gab sie verlegen zurück und lächelte verführerisch.
Peter und Vater waren ihre Trauzeugen und standen hinter dem Brautpaar. Ein Pfarrer trat vor die versammelte Gemeinde und begann mit seiner Rede.
„Liebe Anwesende, liebes Brautpaar! Wir sind heute hier zusammengekommen, um Catherine und Vincent in den heiligen Stand der Ehe zu geleiten. Sollte hier unter den Anwesenden jemand sein, der irgendwelche Einwände hat, möge er jetzt sprechen oder für immer schweigen…Gut…Das hatte ich erwartet.“ Gelächter ging durch die Halle und lockerte die Atmosphäre.
„Vincent! Hier und jetzt stelle ich dir die Frage: Möchtest du Catherine zu deiner angetrauten Ehefrau nehmen? Sie lieben und ehren, bis das der Tod euch scheidet?“
„Ja, ich will!“ Der Pfarrer reichte Vincent ein silbernes Tablett, worauf sich zwei Ringe befanden. Vincent nahm den Ring an sich, der für Catherine bestimmt war, und sagte:
„Nimm diesen Ring, als Zeichen meiner Liebe…“ langsam schob er den Ring auf ihren rechten Ringfinger und fuhr fort:
„Trage diesen Ring, zum Zeichen deiner Treue.“ Vincent atmete tief durch. Er hatte es geschafft. Nun war Catherine an der Reihe.
„Catherine! Auch dir stelle ich die alles entscheidende Frage: Möchtest du Vincent zu deinem angetrauten Ehemann nehmen? Ihn lieben und ehren, bis das der Tod euch scheidet?“
„Ja, ich will! Von ganzem Herzen…“ ein Raunen ging durch den Saal. Auch Catherine reichte der Pfarrer das silberne Tablett. Sie nahm den Ring und sagte:
„Nimm diesen Ring, als Zeichen meiner Liebe…“ und schob den Ring an seinen Ringfinger.
„Trage diesen Ring, zum Zeichen deiner Treue.“ Beide lächelten sich erleichtert an und knieten vor dem Pfarrer nieder.
„Reicht einander die rechte Hand.“ Der Pfarrer legte ein heiliges, geweihtes Tuch um ihre Hände, legte seine Hände auf ihre Köpfe und sagte:
„Da ihr euch das ´Ja´ - Wort gegeben habt, erkläre ich euch vor diesen Anwesenden und vor Gott, dem Allmächtigen, zu Mann und Frau. Was der Herrgott zusammengeführt hat, darf der Mensch nicht trennen.“ Damit löste er das Band von ihren Händen, die zwei standen auf und der Pfarrer sagte lächelnd:
„Du darfst deine Frau küssen.“ Überglücklich fielen sie sich in die Arme und küssten sich leidenschaftlich. Alle applaudierten vor Freude.
„Ich liebe dich, Vincent!“
„Ich liebe dich auch, Catherine Pater!“ betonte er extra. Lange lagen sie sich nicht in den Armen, da die Anwesenden auf sie zustürmten.
Als erste gratulierten Vater und Peter. Vater war den Tränen nahe und nahm Vincent spontan in die Arme.
„Ich bin unsagbar stolz auf dich, mein Junge. Und wünsche euch das Beste dieser Welt.“
„Danke, Vater. Vor allem für deine Geduld.“
Peter sagte zu Catherine:
„Ach mein Kleines. Es ist noch gar nicht lange her, als ich dich auf die Welt gebracht habe. Ich bin mir sicher, dass deine Eltern in diesem Augenblick vom Himmel herunter sehen und mit dir glücklich sind. Ich bin es jedenfalls!“
„Danke, Peter…“ Mehr konnte sie nicht sagen. Mit Tränen in den Augen trat Mary an Catherine und Vincent heran, nahm ihre Hände und sagte:
„Ich bin unwahrscheinlich stolz auf euch. Dass ihr diesen Schritt gemacht habt, ist für alle ein Segen Gottes. Ich wünsche euch alles Glück der Welt und solltet ihr irgendetwas brauchen, bin ich jederzeit für euch da.“ Gemeinsam nahmen sie Mary in die Arme. Als nächster war John an der Reihe. Die Männer reichten sich die Hände und sahen sich bewegt an.
„Vincent, ich…ich bin sehr glücklich heute hier sein zu dürfen. Das bedeutet mir sehr viel. Mehr als du dir vorstellen kannst. Was mich besonders ehrt ist, dass du deinen Geburtsnamen angenommen hast.“
„Das ist nun mal meine Identität. Und außerdem…an solch einem besonderen Tag ist es nun mal gang und gäbe, dass die Familie zusammen kommt. Da spielt die Entfernung keine Rolle!“ John druckste ein wenig herum. Vincent merkte, dass ihm eine Frage auf der Zunge lag.
„Darf ich dich mal in den Arm nehmen?“ Vincent stockte der Atem. Nach dieser Schrecksekunde schmunzelte er fast jungenhaft.
„Sicher…“ Vincent ließ sich nicht lange bitten und zog John an sich heran. Die beiden Männer umarmten sich, wie Vater und Sohn, die sich nach einer ewig dauernden Reise zum ersten mal wieder sehen. Die nebenstehenden Leute stupsten ihren jeweiligen Nachbarn an, die wiederum andere auf Vincent und John aufmerksam machten. Diese innige Umarmung, zwischen Vater und Sohn, war ein gewaltiger Schritt. Viktor hielt sich, im Gegensatz zu den anderen, weit abseits. Er wartete geduldig bis alle dran waren.
„Vincent?“
„Viktor…schön, dass du gekommen bist.“ Viktor reichte ihm die Hand und Vincent kam ihm entgegen.
„Forderst du mich heute wieder heraus?“
„Oh, nein…mit dir lege ich mich nicht mehr an. Die Nachwirkungen spüre ich immer noch. Du bist ein ernst zunehmender Gegner“, gab Viktor offen und ziemlich gelassen zu.
„Das freut mich!“ Catherine trat lächelnd an Vincent heran.
„Ich wollte euch beiden zu eurem Entschluss gratulieren und alles Gute wünschen. Und…“
„Und?“ bohrte Vincent weiter nach.
„Ich möchte das Kriegsbeil begraben und von vorn anfangen. Natürlich nur, wenn du ebenfalls dazu bereit bist.“
„Ich wollte nie etwas anderes und das weißt du!“
„Ja, ich weiß, aber das ist mir erst sehr spät klar geworden“, erwiderte Viktor.
„Lieber spät als nie! Komm, lasst uns essen. Ich habe heute früh keinen Bissen herunter bekommen.“ Gemeinsam mit Catherine und seinem Bruder Viktor ging Vincent zur prachtvoll gedeckten Tafel. Die beiden frisch Vermählten eröffneten das Buffet.
An diesem Abend wurde viel gelacht, ausgiebig getanzt und geredet. Einige schafften es bis zum nächsten Morgen durchzuhalten.

Die Hochzeit und die Feier selbst waren ein voller Erfolg. Eine große Familie feierte ihren Zusammenhalt, eine zerrissene Familie fand wieder zueinander und eine neue Familie entstand. Mehr konnte man nicht verlangen.

Zur Krönung aller, wurde nach neun Monaten ein besonderes Kind geboren. Ein Junge! Er bekam den Namen Jacob – John – Vincent Pater, junior. Er hatte blondes Haar und blaue Augen.



                                                               ENDE






















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