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Copy Paste: Fenster der Vergangenen

Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Romance / P18 / Het
Eustass Kid OC (Own Character) Sakazuki / Akainu Trafalgar D. Water Law Vergo
03.01.2018
16.09.2018
59
179.878
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03.01.2018 4.142
 
Die Zeit ist zu langsam, wenn man sie mit Warten vergeudet.
Sie ist zu vergänglich für jeden, der Veränderungen fürchtet.
Manche finden sie zu lang, weil sie nichts anderes tun, als zu bereuen.
Gleichzeitig ist sie zu kurz, weil sie alles überdenken.
Für wenige ist Zeit hingegen endlos.
Für jeden der liebt, lieben lernt oder geliebt hat.
Denn am Ende, gibt es immer mehr als eine Chance.

○○○


Der Zettel in ihren Händen war abgegriffener, als er sein sollte. Vermutlich hatte man sich nicht darauf einigen können, ob sie dem Auftrag folgen sollte oder nicht. Dabei tat sie den ganzen Tag nichts anders. Weil es ihre Kraft war. Ihre Stellung. Alles, was sie tun konnte, um die Welt besser zu machen.

Auch, wenn sich nicht jeder Fehler im Leben beheben ließ.

Die Worte, die man auf den Schnipsel geschrieben hatte, gaben nicht mehr preis, als den Ort, an dem man sie erwartete. Ein Haus am Ende der Stadt, die aus häuslichen Bauten bestand. Das Gestein reihte sich dicht aneinander und bot nur wenig Platz für Gassen, die vom belebten Hauptteil wegführten. Die Menschen auf dieser Insel hatten sich mit dem bisschen Platz arrangiert, den man ihnen gegeben hatte; und obwohl es meisterhaft erschien auf diese Art zu leben, so kam Naoe nicht umhin, all die Gebäude und Menschen als beengend zu empfinden. Kinder hatten an diesem Ort keinen Platz zum Spielen, Tiere gab es kaum. Alles bestand aus tristem Stein, sah man vom matschigen Sand ab, der die Insel umgab.

Mit einem Seufzen drängte Naoe sich durch die Menge, versuchte sich einen Weg nach vorn zu bahnen, während die Leiber anderer gegen ihren zierlichen Körper drückten und ihr die Orientierung raubten. Alles, was bliebt, war stickige Atemluft, die in der Kehle brannte.

Nur mit Mühe konnte sie eine der schmalen Gassen erreichen, die von all diesem Chaos wegführten – gefangen zwischen zwei Wänden, die genauso wenig Sauerstoff boten, wie die Lufträume zwischen den Leibern Fremder.

Kaum, dass Naoe sich freier bewegen konnte, verfiel sie in einen beständigen Trab. Stehenbleiben würde die Situation nicht verbessern und den Kunden warten zu lassen, zeugte von schlechter Arbeit. Oder schlechter Planung. Vielleicht auch von beidem; und soweit sie ihre Mithilfen kannte, hatte man sie vermutlich bereits angekündigt.

Halb in Gedanken folgte sie den Gassen, bog einige Male ab und folgte den langweilig grauen Wänden, die bei jeder Abzweigung immerzu gleich erscheinen. Wo auch immer man den Blick fixierte, es gab keine Unterschiede. Wäre sie nicht schon seit ein paar Tagen auf der Insel gewesen, hätte sie sich hoffnungslos verirrt. Ähnlich wie bei den ersten Malen, in denen sie nur schwerlich zurück in die Masse gefunden hatte – meist halb verhungert und den Tränen nahe.

Vorbei an schlecht gesetzten Fenstern, die niemals das Sonnenlicht sehen würden, schlüpfte sie letztlich auf einen breiteren Weg, auf dem sich die Türen dicht aneinanderreihten. Schmale Häuser, die kaum Platz boten, dienten als Unterkünfte. Es war ein Ort für diejenigen, die noch weniger hatten, als alle anderen. Weniger Geld, weniger Ansehen und vor allem weniger Einfluss.

Den Zettel noch immer fest in der Hand, musterte Naoe die Hausnummern, die dreckig und schief gegen das Gestein geschlagen worden waren. Ihr Ziel war die Nummer dreizehn, die dicht gedrängt neben sieben und zwanzig stand. Ausgerechnet zwischen zwei Zahlen, die kaum hätten weniger miteinander zu tun haben können. Es ließ sie eine Braue heben, animierte sie dazu den Blick wandern zu lassen, um ganz sicher zu gehen. Doch die Zahlen an den umliegenden Häusern besaßen ebenso wenig System, wie die Bauten vor ihr.

Es war erschreckend, wie wenig man sich um die Slums einer bereits viel zu kleiner Stadt kümmerte – wo sie letztlich doch alle zusammenlebten. Neben den armen Holzkonstruktionen und dem schief aufeinandergestapelten Stein, stiegen die reichen Bauten der Gewinner auf. Sie waren Nachbarn – Bekannte in unterschiedlichen Galaxien.

Der Anblick ließ Naoe lediglich den Kopf schütteln, wobei sie in einer fließenden Bewegung die Kapuze ihres dunkelblauen Ponchos überzog; einzig, um nicht weiter als nötig aufzufallen. Würde er sie finden, wäre der Auftrag verloren.

Er verfolgte sie schon viel zu lange. Von Insel zu Insel, mit wachsamen Augen, immerzu mit derselben Bitte auf den Lippen, die sie ablehnte. Stets mit derselben, gefährlichen Gewalt in seinem Körper, die sich nicht bändigen ließ. Kraft, der sie nicht gewachsen war.

Weglaufen war alles, was er ihr ließ.

Kurzerhand schüttelte Naoe noch einmal den Kopf. Sie durfte sich nicht ablenken lassen, musste sich dem Job widmen, der das leichte Pochen in der Brust ein wenig stärker machte.

Mit zaghaften Schlägen gegen das feuchte Holz, machte sie sich bemerkbar und wartete ab. Es dauerte eine Weile, bis ihr eine mollige Frau öffnete. Die blonden Haare streng hochgesteckt und den fülligen Leib in ein blaues Kleid gehüllt, hob die Fremde die Brauen und musterte Naoe von oben bis unten. Ein bisschen abschätzend, aber nicht minder von milder Interesse durchdrungen.

Ihrem Auftreten nach zu urteilen gehörte sie nicht an diesen Ort. Ihre Haltung, ihre leicht gekräuselte Nase, verrieten, dass sie sich in einer besseren Position sah – weit entfernt von den armen Irren, die ihr Dasein in stinkenden Gassen vergeudeten.

„Ich bin gekommen, um zu verändern, was einst vergangen ist.“ Wie immer sprach Naoe den einen Satz, der sie identifizieren sollte. Eine kleine Vorkehrung der Revolutionäre. Wann immer ein Auftrag eintrudelte, wurde der Kunde mit einem Satz betraut, den sie sagen würde, wenn sie eintraf. Um Scharlatane zu vermeiden. Und um die Gegenseite zu testen.

Die Frau ihr gegenüber schnaubte lediglich, verschränkte die Arme vor der Brust und atmete ein-, zweimal tief durch, bevor sie einen Schritt zur Seite machte. Naoe nahm es mit einem Nicken, schlich an ihr vorbei, nur um wenige Schritte später stehenzubleiben. Man hatte das Haus in die Länge gebaut, sodass ein schmaler Wohnraum und eine genauso schmale Küche ins Innere passten. Zwei Räume, die für den Alltag ausreichen mussten – kein Badezimmer, keine Türen.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“ Die Hände hinter dem Rücken gefaltet, ließ Naoe ihren Blick von der spärlichen Einrichtung zu einem Mann gleiten, der an einem Tisch ihr gegenüber saß und stur die Decke anstarrten. Neben ihm ließ ein kleiner Junge die Beine baumeln und musterte sie eindringlich.

Keiner von ihnen scherte sich um Konversation.

„Wie du wohl sehen kannst, müssen wir etwas Vergangenes verändern. Eines dieser elendigen Kartenspiele.“ Es war die Frau, die ihre Frage beantwortete. Ungeniert presste sie sich an Naoe vorbei, stieß sie an der Schulter an und ignorierte den zischenden Laut der Revolutionärin. „Mein nichtsnutziger Idiot von Ehemann hat vor ein paar Tagen eine Menge Geld in einem einfachen Pokerspiel verloren. Wie man wohl gut erkennen kann, hat das unsere komplette Existenz ruiniert.“

Naoe konnte nicht anders, als innerlich die Augen zu verdrehen. Der unhöfliche Ton, das erdrückende Verhalten, nichts davon gehörte zu den Dingen, die sie gerne bediente. Diese Frau war der Inbegriff einer verkommenen Gesellschaft, die man Abseits normaler Menschen fand. Ihre spitze, überschwängliche Stimme stach in den Ohren, pochte im Kopf und brachte zugleich nichts als belanglose Floskeln mit sich.

„Verstehe. Na dann … in diesem Fall kann ich Ihnen vermutlich helfen.“ Mit einer schnellen Handbewegung zückte Naoe eine kleine, handliche Sanduhr aus einer Innentasche ihres Ponchos. „Diese kleine Uhr gibt Ihnen zwei Stunden, um das Problem zu bereinigen. Deshalb ist es wichtig, dass Sie an den richtigen Moment denken, während wir zurückgehen. Wir müssen vor Ablauf der Zeit wieder hier sein. Hinzukommend dürfen Sie sich selbst nicht wiedererkennen, weshalb ich Sie darum bitten muss, einen Zeitpunkt zu wählen, an dem man Ihr vergangenes Ich verschwinden lassen kann. Behalten Sie außerdem im Hinterkopf, dass sich der jetzige Moment zusammen mit der Vergangenheit verändern wird. Ihre Erinnerungen werden überschrieben, und doch wird Ihnen dieses Leben einem Traum gleich erhalten bleiben. Als eine Art … Lehre für künftige Dinge.“

Während Naoe die üblichen Informationen herunterleierte, entging ihr nicht, wie der Mann, der zuvor noch die Decke angestarrt hatte, seinen Blick langsam auf sie legte.

„Ist das alles?“ Seine Stimme kratzte müde und rau an den schmucklosen Wänden als hätte er sich viele Nächte in Folge über seinen misslungenen Erfolg ausgelassen.

„Wenn Sie alles verstanden haben, dann können wir weitermachen. Ich werde bezahlt, bevor ich meine Dienste ausführe. Ich akzeptiere Berry, Gold, Sterlingsilber, gebrochene Herzen und Geheimnisse. Wie möchten Sie zahlen?“

„Silber.“ Fast beiläufig gab er dem Jungen am Tisch ein Zeichen, sodass er aufsprang und Naoe eine Halskette reichte, die sie prüfend entgegennahm. Die eingravierte Zahl verriet, dass es sich um hochwertiges Silber handelte, für das sie einen anständigen Preis bekommen würde – vorausgesetzt, sie würde in den nächsten Monaten die Zeit finden, einen Juwelier aufzusuchen.

„Ich habe die Bezahlung zur Kenntnis genommen. Kommen wir zum Geschäftlichen …“ Es brauchte nur wenige Schritte, um am Tisch zu stehen. „Ich brauche einen Tropfen Blut.“

Ihr Kunde zögerte nicht, interessierte sich nicht einmal für den Grund. Achtlos biss er sich an einer Seite des Fingers die Haut auf und reichte ihr die Hand, während die rote Flüssigkeit langsam aus der Wunde drang. Behutsam sammelte Naoe das Blut mit dem Zeigefinger auf, um es zwischen den Fingern zu verreiben.

Als hätte sie einen Pinsel getränkt, hob sie gleich darauf die Hand und wandte sich ab. Ein Kribbeln löste sich in ihren Fingerspitzen, betäubte die Kuppen und machte sie zugleich erschreckend empfindlich. Mit einem Mal verlangte ihre Teufelsfrucht klar und deutlich, benutzt zu werden. Sie wollte einen Nutzen haben. Die Welt verändern. Und Naoe gab sich dem Wunsch hin.

Ähnlich Zauberei zog sie die Form eines Vierecks in der Luft nach, sodass sich rote, dicke Linien abzeichneten. Sie fanden Halt im Nichts, wurden breiter, dunkler, stabiler. Gleichzeitig erfüllte das Knacken von Holz den Raum. Der Rahmen formte sich, bot Halt für Glas, das sich aus der Luft kristallisierte – bis ein Fenster mitten im Raum auftauchte. Es war ein Akt von Sekunden und dennoch kam es Naoe so vor, als würden Minuten vergehen. Vielleicht lag es daran, dass die Vergangenheit auf der anderen Seite dieses Fensters lag. Ein bereits bestrittener Lebensabschnitt, den sie nun verändern sollte.

Demonstrativ öffnete sie das Fenster, das nach innen aufschwang. Das schreckliche Quietschen der Scharniere ließ ihren Kunden zusammenzucken. Eine so menschliche Reaktion, dass Naoe nicht anders konnte, als ihm ein Lächeln zu schenken. Er verdiente die Freundlichkeit eines anderen.

Doch er fasste sich schnell, erhob sich von seinem Platz und ging so aufrecht wie nur irgendwie möglich auf den Durchgang zu. Er drehte sich nicht einmal mehr zu seiner Familie um, schenkte Naoe hingegen einen entschlossenen Blick, einen Hauch von Verbundenheit, ehe er durch die Öffnung stieg und verschwand.

„Das Ganze wird für Sie vielleicht fünf Minuten dauern. Gedulden Sie sich“, warf Naoe letztlich in den Raum, bevor sie dem Mann folgte. Der Atem in ihrer Kehle schwand, ihre Füße traten ins Nichts, das sie sanft in der Dunkelheit hielt. Dann stolperte sie zwei Schritte voran, spürte das Zerren an ihren Schultern und das Knacken im Inneren.

Jemand riss an ihren Haaren. Pochen breitete sich in ihrem Hinterkopf aus. Ihre Beine taumelten weiter, eine Hand tastete nach ihrem Schädel. Das Keuchen auf Naoes Lippen blieb stumm, verging in endloser Leere, in der kein einziger Schrei nach außen dringen konnte.

Dann folgte ein Stoß. Ein Tritt nach vorn, als sich etwas von ihr löste, als sich ihre Haut nach hinten riss und von ihrem Körper zu schälen schien, sodass das lautlose Kreischen ihrer Kehle in kläglichem Wimmern ertrank.

Es war immer dasselbe.

Ging sie in eine Vergangenheit, musste sie etwas zurücklassen. Ein Original. Sich selbst, während sie als billige Kopie ihrer selbst weiter voranschreiten durfte.

Taumelnd folgte Naoe der tiefen Schwärze, spürte, wie die Pein mit jedem weiteren Schritt verhallte. Nichts an ihr war beschädigt. Keine Schmerzen. Keine Verletzung. Nur sie selbst und dennoch nicht ganz beisammen.

Noch einmal atmete die Revolutionärin durch, bevor sie die Sanduhr in der Hand umdrehte. Gleichzeitig zeigte sich ein zweites Fenster in der Ferne. Ein heller Rahmen, der ihr den Weg leuchtete – sie von der Gegenwart in die Vergangenheit brachte.

Erst, als sie über das Holz der anderen Seite stieg, wagte sie es sich umzusehen. Ihr Kunde stand wenige Schritte vor ihr, musterte die dunkelgrünen Wände, den alten Holzflur, die Decke. Unglaube jagte einem bedeutungslosen Hauch gleich über seine Lippen.

Naoe, auf der anderen Seite, nahm den Flur einfach nur zur Kenntnis, bevor sie sich dem Mann widmete. „Wo sind Sie?“

„I-Ich befinde mich im Moment im Spielzimmer. Doch ich werde gleich für einen kurzen Moment das Zimmer verlassen.“ Konzentriert starrte der Mann die naheliegendste Tür an, wartete den Augenblick ab, in dem die Klinke sich langsam nach unten drückte. Dann sprang er mit einem Mal hinter Naoe, im verzweifelten Versuch sich zu verstecken.

Zumindest hatte er ihrer Ausführung gelauscht.

Etwas zu gelassen schlenderte sie voran, nur um zuzusehen, wie sein altes Ich den Raum verließ. Das spottende Lachen auf seinen schmalen Lippen passte nicht zum hageren Körper im Designeranzug. Dennoch war es genau das Bild, das er verkörperte und das selbst dann bestehen blieb, als die Tür ins Schloss fiel. Vermutlich waren die ersten Runden im Kartenspiel gut verlaufen.

Ihre Präsenz streifte ihn kaum einen Wimpernschlag später, rollte so plötzlich über ihn, dass er sich mit einem Ruck zu ihr umdrehte. Die Augen geweitet, nahm er sie zur Kenntnis, nur kurz, bevor sie ausholte und zuschlug. Mit einem kräftigen Hieb gegen die Schläfe, verlor er das Bewusstsein, klappte zusammen wie ein Kartenhaus, das man angepustet hatte.

Kurz darauf sah sie über die Schulter, deutete ihrem Kunden näherzukommen, um die nächste Lektion zu erhalten.

„Sie sollten die Kleidung wechseln, es sei denn, Sie wollen auffallen.“ Mit einer wegwerfenden Handbewegung drehte sie sich um. Das bisschen Privatsphäre zum Umziehen wollte sie ihm lassen. Während sie den Stoff hinter sich reiben hören konnte, ließ sie den Blick über die Wände gleiten – geziert mit überteuerten Gemälden. „Was planen Sie zu tun?“

„Ich werde da reingehen und eine meiner Karten nicht abwerfen. Ich weiß noch, was alle anderen auf der Hand haben. Dieses Mal werde ich es besser machen.“

„Vergessen Sie die Zeit nicht. Machen Sie ihren Zug, kommen Sie wieder raus und verschwinden Sie mit mir. Wenn Ihre Worte stimmen, dann werden wir uns bei Rückkehr in anderen Gefilden aufhalten. Ihre Frau und Ihr Sohn werden das Gefühl haben, niemals in dem Zustand gelebt zu haben, in dem sie nun sind. Auch, wenn Sie es besser wissen“, erklärte Naoe, ließ ihm die Hoffnung, das alles wieder gut werden würde. Vielleicht würde es das wirklich.

Doch am Ende des Tages, egal wie oft sie in die Vergangenheit zurückging, spielte es keine Rolle. Nicht für sie.

Er schloss kurz die Augen, um ihre Worte aufzunehmen, bevor der Mut kam. Den Rücken durchgedrückt, öffnete er die Tür zu Spielzimmer mit einem breiten, falschen Lächeln. Die passende Mimik, zu einem passenden Spiel, dem er nicht länger entkommen konnte, als er eintrat und die Absperrung hinter ihm zufiel.

Selbst ließ Naoe sich auf dem Boden nieder, auf dem sie auch die kleine Sanduhr abstellte. In Momenten wie diesen verlebte sie die Augenblicke, beobachtete die winzigen Körner dabei, wie sie fielen und über ein Schicksal bestimmten. Egal was kommen würde, irgendwann wären die zwei Stunden verstrichen und niemand würde sie davon abhalten. Selbst, wenn man die Uhr noch einmal umdrehte, rieselte der Sand unbeirrt in dieselbe Richtung weiter; von unten nach oben. Befand man sich einmal in einem Zeitfenster, gab es kein Zurück. Nicht einmal dann, wenn man scheiterte.

Jeder vergangene Punkt konnte nur ein einziges Mal betreten werden. Wissen, das sie mit ihrer Teufelsfrucht erlangt hatte. Das Wissen eines anderen, das einfach weitergereicht wurde, als wäre die Frucht selbst nichts weiter als ein großer Speicher gelebter Leben.

Laut den Erinnerungen, die nicht ihre waren, hatte es nur zwei Nutzer vor ihr gegeben. Menschen, die ihr Leben gelassen hatten, weil sie einen Fehler begangen hatten. Dummheiten, die zur Selbstzerstörung geführt hatten.

Vorsichtig winkelte Naoe eines ihrer Knie an und stützte den Kopf darauf ab. Die schwarze Jeans rieb an ihrem Kinn. Ihr Zeigefinger strich sachte über das dunkle Holz, das die kleinen Glasbehälter der Sanduhr hielt. Ein paar ihrer roten Haarsträhnen, kombiniert mit der pechschwarzen Front, die sie nach links gestrichen hatte, rutschten unter der Kapuze hervor. Die vorderen Strähnen waren länger als der Rest, reichten ein Stück über das Kinn hinaus und rahmten ihr volles Gesicht ein.

Ohne Ziel griff sie nach den Spitzen, wickelte sich das Haar um die Fingerknöchel und befreite sich kaum einen Moment später aus den Strängen. Ein Akt, der keinen Nutzen hatte, genauso wenig, wie ihre Präsenz auf dem Flur. Sie konnte nicht zusehen. Nur abwarten.

Das Stöhnen auf ihren Lippen verklang, als Naoe den Kopf in den Nacken legte und die Decke anstarrte. Schwaches Licht schien sie in grelle Funken zu baden, sie zu verschlingen, gehen zu lassen und beiseite zu werfen, bis sich die Tür zum Raum des Spiels erneut öffnete. Ihr Kunde trat zurück auf den Flur, kratzte sich verlegen am Hinterkopf, entschuldigte sich dafür, dass er noch einmal kurz verschwinden müsste und schloss die Absperrung ein letztes Mal. Gleich im nächsten Moment eilte er auf sie zu. „Ich habe alles erledigt. Nach dieser Runde bin ich damals gegangen, nicht nur, weil ich kein Geld mehr hatte, sondern auch, weil mich das Spiel gelangweilt hat. Wir können gehen.“

„Sie müssen sich zuerst umziehen.“ Sie winkte ab, vergrub das Gesicht in den Händen und wartete ab. Ewigkeiten, bis er sich umgezogen hatte – bis alles wieder so aussah, wie vor ihrer Ankunft. Nur sein bewusstloses Ich stellte eine Veränderung dar.

Der Wunsch zur Verbesserung war eingeleitet, zehrte an der Zeit, die noch immer durch die Sanduhr rieselte, sodass Naoe sich auf die Beine raffte und mit den Fingern schnippte. Als hätte es auf einen Einsatz gewartet, manifestierte sich das Fenster, durch das sie gekommen waren, erneut – lud sie dieses Mal jedoch zur Heimreise ein.

Ein weiteres Mal ließ sie ihrem Kunden den Vortritt und folgte ihm kurz darauf durch die Schwärze hindurch auf die andere Seite. Doch noch bevor Naoe das Licht der Gegenwart erreichte, presste sich etwas gegen ihren Leib. Haar wehte, Rippen schienen sich nach Innen zu pressen, ihre Stimme jagte irgendwo in der Ferne durch die Zeit, vermittelte Schmerz und Einigkeit.

Das, was sie zurückgelassen hatte, fand zu ihr zurück.

Und es blieb ihr erhalten, als sie in der Gegenwart ankam. Ihre Sohlen fanden Halt auf dem abgenutzten Holzboden, ihre Umgebung hüllte sich in Schweigen.

Die Mission brach zusammen.

Nichts hatte sich verändert. Noch immer hielt sich die Familie des Auftraggebers in dem schmalen Esszimmer auf, gefangen in diesem schäbig alten Haus, in dem dieser Rückgang überhaupt erst gestartet hatte.

Ihr Kunde stand stand mit dem Rücken zu ihr gewandt inmitten seiner verspielten Existenz, die Augen unschlüssig auf seine Frau gerichtet. Gleichzeitig zersprang das Fenster.

Holz splitterte durch den Raum, löste sich in den gleichen Atemzügen auf, während das Glas mit seiner Atmosphäre eins wurde. Die Vergangenheit rückte in den Hintergrund, wurde erneut zu einer Seite einer längst beendeten Geschichte, die Naoe mit gesenktem Blick verabschiedete.

„Wieso hat sich nichts verändert?“ Es war der Junge, der die angespannte Stille unterbrach. Seine Erinnerungen waren geblieben, beinhalteten nur eine winzig kleine Veränderung, die sich langsam im Raum ausbreitete. So erschreckend gemächlich, dass sich Naoes Kunde beinahe zu hektisch in ihre Richtung drehte, um sie an den Schultern zu packen.

Sein Blick traf flehend auf ihre blauen Augen, die seine Angst zu ignorieren wussten. Das, was er getan hatte, lag nicht in ihrer Verantwortung. Es war nicht ihr Leben. Es war nicht einmal ihre Position, ihm ein Lächeln zu schenken oder ihm gut zuzureden. Sie konnte nur zusehen, ihn nur dabei beobachten, wie der Atem schneller über seine Lippen fegte und seine Fingernägel sich in den Stoff ihres Ponchos bohrten.

„Wir müssen nochmal zurück. An genau diesen Ort!“ Seine Stimme glich einem Hauch, bitter durchdrungen vom Zittern seiner eigenen Schultern. „Ich werde es besser machen! Dieses Mal bekomme ich es hin!“

„Wir können nicht zurück“, gab Naoe sachte zurück. „Einmal, das habe ich gesagt. Wer zweimal denselben Fehler begeht, würde es auch bei einem dritten Mal nicht schaffen. Ich könnte Ihnen hundert Versuche schenken, sie würden alle gleich enden. Vielleicht ist dieses Leben noch nicht ernüchternd genug.“

„Ich habe dich bezahlt!“

„Genau genommen hat mich Ihr Sohn bezahlt. Für meine Dienste, die hiermit zu Ende sind.“

„Dann zahle ich mehr!“

„Hör endlich auf damit, du armseliger Idiot!“, unterbrach ihn seine Frau lautstark. Ihre Worte glichen einem Schrei, einer bodenlosen Kiste, die nichts als Reue übrig hatte, als sie den Kopf schüttelte. „Es reicht. Du … diese Frau … sie hat schon einmal was für dich verändert, nicht wahr? Und du elendiger Trottel hast einfach weitergespielt, weil dir alles andere egal ist! Und jetzt sieh uns an! Egal, wie oft du dein dummes Spiel gewonnen hast, am Ende hast du alles verloren!“

Hastig wandte er sich seiner Gattin zu. Eine unbedachte Geste, die Naoe nutzte, um an ihm vorbeizuhuschen und die Flucht zu ergreifen. Ihre Aufgabe war beendet, die Enge musste kein Teil von ihr werden. Die Unruhe im Inneren, das klare Gefühl angespannter Muskeln, nichts von alldem musste an diesem Ort, zwischen diesem Streit, hervorkommen.

Ihre eiligen Schritte klapperten auf dem Holz, dessen Knarzen sie bis zur Tür begleitete. Kaum, dass sie den ersten Fuß zurück in die Gasse gesetzt hatte, steuerte sie die engen Seitenwege an, die sie zurück in die Menge führen würden.

Die abgestandene Luft in ihren Lungen presste sich immer wieder über ihre Lippen, bis ein paar Schritte nur noch stockend über den Boden polterten und Naoe langsamer wurde.

Sie war davongelaufen. Wie ein feiges Huhn.

Aber es war die beste Option, die ihr geblieben war.

Erst, als sie außer Sichtweite des Armenviertels war und von schlecht eingemauerten Fenstern umzingelt wurde, kam sie zum Stehen. Mit spitzen Fingern zupfte sie den Poncho zurecht, klopfte die altrosa Rüschenbluse darunter ab, zog sich die Kapuze ein Stück ins Gesicht und entschied sich letztlich dennoch dazu, sie nicht zu tragen. Zwischen der Masse würde man ihr den Stoff wahrscheinlich ohnehin vom Kopf ziehen.

Ein weiteres Seufzen rollte über ihre Lippen, als sie sich mit einer Hand durch das kurze Haar fuhr und die Augen verdrehte. Der Abstand von dieser selbstverliebten Familie brachte Gewissheit mit sich. Sie hatte ihre Kraft verschwendet. Sie hatte eine erneute Veränderung eingeleitet, nur um zu beweisen, dass die Wenigsten mit den Konsequenzen umgehen konnten. Als wäre niemand dazu in der Lage, sich zu verändern. Als wären sie alle Sklaven ihrer eigenen Süchte.

Kurzerhand warf Naoe einen Blick zwischen die Leiber hindurch, die fast lückenlos aneinanderklebten. Irgendwo zwischen ihnen musste sie ein Luftloch finden, um diese Insel endlich zu verlassen. Sie konnte nicht noch länger bleiben, musste in Bewegung bleiben, musste ihm entkommen.

Und vielleicht hätte einer ihrer beiden Gehilfen auf der nächsten Insel einen neuen Auftrag zur Hand.

Alles, was sie dafür brauchte, war ein Schiff.

Langsam setzte Naoe sich wieder in Bewegung, um sich zwischen zwei Frauen zu quetschen, die sie geradewegs bis zum nächsten Zeitungsstand trugen, an dem sie ein wenig Platz fand, um auszubrechen. Hitze klebte an ihrem Körper, wallte bis in ihr Inneres und machte das Atmen nur noch schwerer.

Halb in Gedanken griff die Revolutionärin in eine ihrer Taschen, um ein wenig Kleingeld auf den schmalen Holzbalken zu legen, bevor sie eine der Zeitungen an sich nahm. Gleich darauf presste sie sich an die Wand, schob sich bis zur nächsten Gasse, in der das Leben wie ausgestorben schien. Es war einer der seltsamsten Aspekte dieser Insel: Jeder hielt sich auf dem Hauptweg auf und nahm die Enge in kauf, aber niemand setzte freiwillig Fuß in die Gassen.

Mit dem Rücken an die Wand gelehnt, nahm sie sich die Zeit die Zeitung aufzuschlagen und ein paar der wichtigsten Zeilen zu überfliegen. Piraten hatten die Schlagzeile eingenommen und obwohl es vermutlich die wenigsten freute, konnte Naoe nicht anders, als die Lippen zu einem Schmunzeln zu verziehen.

Big Mom war gefallen. Monkey D. Luffy und ein paar Mitglieder seiner Crew hatten es sich nicht nehmen lassen, die vier Kaiser auf drei zu reduzieren – wobei Charlotte Linlin noch am Leben war. Es war erstaunlich wie die Journalisten der Zeitung versuchten die Geschehnisse auf die Allianz zu schieben, die der Strohhut eingegangen war. Sie lieferten keine Fakten und machten dennoch „den grobschlächtigen Trafalgar D. Water Law“ für all den Tumult verantwortlich.

Dabei war er nicht einmal vor Ort gewesen – die Revolutionäre hatten ihn auf einer anderen Insel gesichtet, während das Chaos auf Whole Cake Island ausgebrochen war.

Die Berichterstattung war ein Witz. Die Vorhersagen für das, was geschehen würde, ausgemachter Blödsinn. Die meisten Katastrophen, die man in den Zeitungen voraussagte, traten niemals ein, während der Wahnsinn außerhalb unerkannt blieb.

Die Schlacht auf dem Marine Ford hatte niemand kommen sehen. Trafalgars Bemühungen, um einer der sieben Samurai der Meere zu werden, hatten die meisten ebenfalls überrascht. Den Artikel dazu hatte Naoe ganze zwei Mal gelesen.

Einmal als Neuigkeit und einmal als ein Fragment der Vergangenheit.
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