Nie wieder 14f13 [Kalender 2018]
von RamonaXX
Kurzbeschreibung
>Nie wieder 14f13, mit achtsamen Schritten auf den Spuren des Holocaust<, unter diesem Titel startet der Kalender für 2018. Zwölf Mal habe ich den Mut gefunden Gedenkstätten des Holocaust und Mahnmale aus der Zeit des Nationalsozialismus zu besuchen. Zwölf Mal war ich tief betroffen und aufgewühlt. Und zwölf Mal habe ich die Kraft aufgebracht meine Gefühle und Gedanken in einer Art Erlebnisbericht niederzuschreiben… [Wer sich nicht sicher ist, ob er das hier wirklich lesen möchte, findet in den ersten Kapiteln ein Geleitwort und einen Prolog.]
GeschichteDrama, Schmerz/Trost / P18 / Gen
01.01.2018
31.12.2018
15
51.875
13
Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
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15.05.2018
4.505
Mai
Der Begriff Genozid hat seine Wurzeln im Griechischen und Lateinischen. Es bedeutet so viel wie „Geschlecht“ oder „Rasse“, „töten“ beziehungsweise „morden“. Alternativ ist auch das Wort Völkermord gebräuchlich. Völkermord ist seit 1948 ein Tatbestand im Strafrecht der Vereinten Nationen (UNO), der niemals verjährt.
Gedenkstätte Flossenbürg, besucht am 18. November 2017
Würde ich auf einer Landkarte einen Strich von Nürnberg nach Prag ziehen, würde ich das Ziel meiner heutigen Reise nur haarscharf verfehlen.
Gestern bin ich mit dem Zug nach Weiden in der Oberpfalz gefahren, habe mich in ein kleines Hotel eingemietet und bin nun mit einem geliehenen Wagen auf dem Weg nach Flossenbürg. Genau dort, nur wenige Kilometer von der tschechischen Grenze entfernt, liegt die gleichnamige Gedenkstätte, die ich mir heute ansehen will.
Es ist noch früh am Vormittag und es wundert mich nicht, dass an diesem kalten Samstag die kleinen bayrischen Ortschaften, die ich durchfahre noch zu schlafen scheinen. Was mich hingegen sehr wundert, sind die kümmerlichen Reste halb geschmolzener Schneehaufen, die mit einer Schicht aus schwarzem Ruß der vorbeifahrenden Autos überzogen sind und links und rechts der kurvigen Straße liegen. In Bayern hat es dieses Jahr schon geschneit? Wow!
Bei uns im Norden kann von Schnee keine Rede sein, nicht Mitte November. Der klassische Spätherbst an der Küste ist kalt, nass und zunehmend dunkel – also mit dem Landschaftseindrücken, die ich hier auf meiner Fahrt gewinne, nicht zu vergleichen.
Und noch etwas lässt mich ganz deutlich spüren, dass ich weit weg von Zuhause bin – die steilen Straßen. Ich komm aus einer Gegend, wo das Land so platt ist, dass man sprichwörtlich samstags sehen kann, wer sonntags zum Kaffee kommt. Mit einem geliehenen Wagen mit Schaltgetriebe durch die Oberpfalz zu fahren, kann da schnell zu einem schweißtreibenden Abenteuer ausarten. Anfahren am Berg, wie ging das doch gleich?
Egal. Irgendwie schaffe ich es diverse Anhöhen und – ich möchte sagen – Berge mit dem Auto zu erklimmen und das Fahrzeug unbeschadet auf dem Besucherparkplatz von Flossenbürg abzustellen.
Ich steige aus und nehme diesmal einige weitere Sachen mit. Soweit weg, nur mit einem geliehenen Wagen und in einer Gegend, wo ich noch keine Menschenseele gesehen habe, bin ich doch lieber mit meinem Mobiltelefon in der Jackentasche unterwegs. Sicher ist sicher.
Straße und Lagertor
Warum der Schnee am Straßenrand nur halb geschmolzen ist, wird mir klar, als ich mich auf den Weg zum Lager mache. Es ist kalt. Verdammt kalt. So verdammt kalt, dass ich mich fast nicht draußen aufhalten möchte und sehr dankbar für meine Mütze, meinen Schal und meine Handschuhe bin.
Schräg gegenüber vom Parkplatz komme ich an Besuchertoiletten vorbei. An der Außenwand des kleinen Gebäudes hängen durchsichtige Kunststoffkästen mit Klappdeckel; darin Flyer zur Gedenkstätte in verschiedenen Sprachen. Interessiert entnehme ich ein deutsches Exemplar und finde auf der Rückseite einen Lageplan. Genau das, was ich gesucht habe. Alles klar, hier geht’s lang!
Mein Weg führt mich querfeldein und irgendwie ist es ein komisches Gefühl ganz allein in dieser Kälte und an diesem Ort unterwegs zu sein. Habe ich mich sonst immer von den anderen Touristen abgelenkt gefühlt und mich darüber mokiert, dass sie überall herumwuseln, habe ich hier nun praktisch die ganze Gedenkstätte für mich alleine und bin auch nicht zufrieden.
Ich komme an der SS-Kommandantur vorbei, einem großen Gebäude, das laut Plan heute der Verwaltung dient. Unter dem Gebäude ist ein weiter, bogenförmiger Durchgang. An den Wänden hängen große Infotafeln und es fällt mir reichlich schwer mich auf den Text zu konzentrieren, da es in dem Durchgang unerbittlich zieht. Als ich fertig bin mit Lesen – eine Einführung über die Geschichte des Lagers – will ich nur noch aus diesem scharfen Wind raus. Wo geht es hier zur nächsten Ausstellung, bitte?
Bis zum nächsten Gebäude, das mir Schutz bietet, ist es noch ein Stück und zuvor muss ich die alte Lagergrenze samt Lagertor passieren. Eigentlich eine machbare Aufgabe, wäre da nicht eine Straße in meinem Weg. Eine Straße? Irritiert bleibe ich stehen und schaue, einer antrainierten Angewohnheit folgend, nach links und nach rechts. Kein Autos weit und breit. Aber ist das hier wirklich eine Straße?
Ja, ist es.
Mitten über den Platz zwischen Kommandantur und Lagereingang verläuft eine asphaltierte, öffentliche Straße. Sie führt seitlich den Hügel hinauf in ein Wohngebiet – ein Anblick, an den ich mich einfach nicht gewöhnen kann, egal wie oft er mir begegnet. Kopfschüttelnd überquere ich die leere Straße und frage mich: Ist das Gedenkstättenkultur, dass man mit dem Auto über das Gelände eines ehemaligen Konzentrationslagers fahren kann, wie durch einen Safaripark?
Flossenbürg hat nicht wie andere Lager einen so bedrohlichen und einschüchternden Zugang wie es in Sachsenhausen mit dem „Turm A“ der Fall ist. Dennoch, die mahnenden Worte ARBEIT MACHT FREI standen auch hier. Auf Tafeln geschrieben, hingen sie an den Steinsäulen zwischen denen sich das Lagertor befand. Heute existieren diese Säulen nicht mehr, aber im Gedenken wurden an gleicher Stelle zwei neue errichtet. Hier stehe ich nun, lese den Infotext und kämpfe erneut gegen die fürchterliche Kälte an.
Bevor ich festfriere, entschließe ich mich zum Weitergehen. Zielorientiert tragen mich meine Füße über den großen, mit Kies ausgelegten Appellplatz zum nächstgelegenen Gebäude. Ich steige ein paar Stufen hinauf, öffne eine schwere Tür und kann es kaum glauben, als ich endlich aus dem Wind raus bin.
Wechselausstellung
In dem Gebäude ist es warm. Zu warm. Binnen kürzester Zeit sehe ich mich auf eine Überhitzung zusteuern und befreie mich schleunigst von Handschuhe, Mütze und Schal. So ist es schon besser.
Wieder akklimatisiert schaffe ich es meine Aufmerksamkeit erstmals auf die Umgebung zu richten. Ich habe das Gebäude mit der ehemaligen Lagerküche mittig der Längsseite betreten und stehe jetzt in einer Art Eingangssaal. Das Licht ist weitgehend herunter gedreht, ringsherum sind graue Wände aufgestellt und unter der Decke sehe ich verschiedene Lampen und Strahler. Nacheinander leuchten diese auf und projizieren für einige Sekunden einen kurzen Text auf die grauen Wände. Es sind die Aussagen und Eindrücke von Besuchern, die in diesem Lichtspiel gezeigt werden. Auf eine überraschende Weise finde ich das sehr passend und stimmig zu dem Ort, an dem ich mich befinde.
Links und rechts des Saales geht es zu den Ausstellungen. Von einer unbewussten Kraft gelenkt, schlage ich den Weg nach links ein, nachdem ich dem Lichtspiel eine Weile zugeschaut habe.
Ich finde mich im Bereich mit einer Wechselausstellung wieder und zum wiederholten Mal an diesem Tag fällt mir auf, dass ich allein bin. Kann das wirklich sein, dass ich der einzige bin, der heute diese Gedenkstätte besucht?
Mit einem Schulterzucken akzeptiere ich mein Eremitendasein und lasse mich auf die Ausstellung ein. Ein bitteres Schmunzeln kräuselt meine Lippen als ich die erste Überschrift lese. Alles was in diesem Teil des Gebäudes gezeigt wird, hat mit der „Aktion T4“ zu tun. In dem Wissen, dass mich keine leichte Kost erwartet, beginne ich zu lesen. Was mich dazu antreibt, ist eine Erwartung, die schon nach wenigen Minuten erfüllt wird. Es gibt hier viel Neues zu erfahren und viele Informationen aufzunehmen.
Es ist einer dieser Momente, wo mir mein Holocaust-Projekt ein bisschen wie eine Schnitzeljagd vorkommt. Überall liegen Hinweise, die ich als Detektiv bei meinen Besuchen aufsammle und anschließend zusammensetze. Je mehr Gedenkstätten ich besuche, desto mehr Puzzleteile habe ich zu Verfügung und desto feiner wird das Netz aus Informationen in meinem Kopf. Selbst wenn diese Informationen zuweilen lange Kreise in meinem Bewusstsein ziehen, bevor ich sie aus der Hand legen kann.
Eine neue Figur aus der NS-Zeit, der ich in dieser Ausstellung begegne, ist Karl Brandt – ein deutscher Mediziner, der sowohl Begleitarzt von Adolf Hitler war, als auch eine zentrale Rolle im damaligen Gesundheitswesen gespielt hat. Ich streife durch die Ausstellung und lese mich tiefer in die Biographien und geschichtlichen Abläufe ein.
Die „Aktion T4“ endete offiziell im August 1941, was danach folgte, liest sich wie die überdrehte Darstellung eines wahnsinnigen Horrorschriftstellers. In sogenannten „Heil- und Pflegeanstalten“ hat man Patienten absichtlich sterben lassen oder gezielt getötet.
Auf den folgenden Texttafeln werden die Methoden und deren Auswirkungen in allen Einzelheiten beschrieben. Angefangen mit der Vergabe des überdosierten Schlafmittels Luminal, das bei den Patienten zu einem Schlafzustand führte, der nach 2 bis 3 Tagen vom Tod abgelöst würde. Bis hin zu der Ernährung mit fettloser Hungerkost, die nach rund 3 Monaten den Tod zur Folge hatte und in der Heil- und Pflegeanstalt im bayrischen Kaufbeuren praktiziert wurde.
Mir wird schlecht und ich muss mich wirklich zwingen weiterzulesen. Vielleicht tue ich das aber auch nur in der verzweifelten Hoffnung irgendwo ein Ende dieser Gräueltaten zu finden. Ich stoße auf ein Bild von Brandt und Hitler und bleibe länger davor stehen. Irgendwie übersteigt es doch meine Vorstellungskraft, die in Erfahrung gebrachten Informationen mit den hier abgebildeten Personen in Verbindung zu bringen und das Ganze einem realitätsnahen Bewusstsein zuzuführen.
Was ich auf den Bildern hier sehe und auf den Texttafeln lese, mag real gewesen sein, verlasse ich aber diese Ausstellung und wende mich meiner eigenen Gegenwart zu, verliert das Geschehene einen Teil seiner Macht. Niemals würde ich den Holocaust leugnen, dennoch lebe ich in dem Bewusstsein, dass es nicht meine Gegenwart ist, was hier gezeigt wird.
Auf einer der letzten Tafeln finde ich eine Information, die ich keinesfalls als Genugtuung beschreiben möchte, mich aber doch irgendwie mit dem Thema abschließen lässt. Der Arzt Karl Brandt wurde 1947 während der Nürnberger Ärzteprozesse zum Tode verurteilt und das Urteil im Juni 1948 in Landsberg am Lech vollstreckt. Er hinterließ einen damals 12-jährigen Sohn, der später selber Arzt wurde.
Ziemlich geschafft verlasse ich die Wechselausstellung, durchquere den Eingangsbereich mit dem Lichtspiel und lasse mich auf die zweite Ausstellung – eine Dauerausstellung – ein. Was ich hier vorfinde, ist, verglichen mit den Inhalten von eben, bedeutend freundlicher. Wobei auch das der Sache kein bisschen gerecht wird, sondern mir bestenfalls nur meine eigene Abgestumpftheit vor Augen führt.
In der Dauerausstellung geht es um das Vermächtnis der Häftlinge. Es gibt viele Schaukästen mit Exponaten und im Zentrum hängen unter der Decke Installationen, die wie große Regenschirme aus durchsichtigem Kunststoff aussehen. Unbedarft trete ich unter eine dieser Hauben und zucke augenblicklich zusammen. Es regnet Text!
Eine Stimme fängt an zu sprechen und erzählt von der Geschichte eines Überlebenden. Schnell trete ich zur Seite – in dem Glauben, die Beschallung würde damit aufhören – laufe dabei aber unter die nächste Haube und aktiviere die zweite Sprachaufnahme. Gleiches passiert mir mit der dritten und vierten Aufnahme, bis ich mich an den Rand gerettet habe, wo keine dieser Installationen hängen.
Die Quaselhauben meidend drehe ich eine abschließende Runde um die Schaukästen und nehme auf, was die Ausstellungsstücke an Eindrücken preisgeben. Darunter ist auch eine Fotografie, die mich länger innehalten lässt. Zwei amerikanische Soldaten stehen neben dem Lagertor. Sie blicken auf einen Holzzaun, an dem ein weißes Banner befestigt ist. Darauf steht: PRISONERS HAPPY END! WELCOME! Hatte der Krieg wirklich ein glückliches Ende?
Mit diesem letzten Eindruck verlasse ich die Dauerausstellung.
Jüdische Gedenkstätte und Kapelle
Zurück an der frischen Luft, wird mir schnell bewusst, wie kalt dieser Novembertag doch ist und ich kann mir gar nicht schnell genug meine Handschuh, meine Mütze und meinen Schal anziehen. Inzwischen sind tatsächlich vereinzelte Besucher auf dem Gelände unterwegs und ich komme mir nicht mehr ganz so allein und abgeschieden vor.
Ich habe keine Ahnung wie viel Zeit ich in dem Gebäude verbracht habe, aber wenn ich nach dem Stand der Sonne gehe, ist kaum Zeit vergangen. Der Tag ist trüb und grau, und wird es allem Anschein nach bleiben. Mit hochgeschlagenem Jackenkragen mache ich mich auf den Weg, ohne ein konkretes Ziel zu haben.
Ich überquere den Appellplatz und lasse mich von meinen Füßen in eine Richtung tragen, die vom Häftlingslager wegführt. Im Nu finde ich mich auf einem befestigten Weg wieder, der sich sanft durch eine im Winterschlaf ruhende Ebene schlängelt. Eine winterharte Vegetation aus Bodendeckern und anderen immergrünen Pflanzen trotzt der Kälte und rahmt links und rechts des Weges ein paar bröckelige und zum Teil mit Moos überzogene Grabsteine ein.
Ich bleibe stehen und werfe einen Blick auf meinen kleinen Flyer. Dort, wo früher die Isolierblocks gestanden haben, befindet sich heute ein Ehrenfriedhof. Aufmerksam studiere ich den Plan und vergleiche die Anordnung der eingezeichneten Gräber mit jenen die ich passiert habe. Die größte Anziehung auf mich hat jedoch ein kleines Gebäude, das auf der gegenüberliegenden Seite des Friedhofes eingezeichnet ist.
Ich hebe den Kopf, sehe in die Richtung, die mir der Plan als Kompass vorgibt und bin erstaunt, wie nah sich das Gebäude befindet. Flossenbürg ist vergleichsweise klein. Nicht so wie Sachsenhausen, wo ich mir die Füße platt gelaufen habe, um von einer Seite des Dreiecks zur anderen zu kommen.
Mag sein, dass es mein Unterbewusstsein ist, das sich nach Wärme sehnt und mich deshalb zu dem kleinen Gebäude hinzieht. Vielleicht ist es aber auch etwas ganz anderes. Ich habe keine Ahnung, was ich in einer jüdischen Gedenkstätte erwarten soll. Dass die Bezeichnung jedoch zweifelsfrei zu dem Gebäude passt, wird selbst mir als wenig religiös bewanderten Menschen klar, sobald ich auf den Eingang zusteuere.
Eine dunkelgraue Schiebetür aus Metall empfängt mich und fragt mich im Stillen ob ich den Mut mitbringe, sie zu durchschreiten. Auf ihr prangt gut sichtbar ein Kerzenständer mit sieben Armen. Es ist ein Symbol des Judentums, ein Symbol für… für – Ach, hätte ich doch in der Schule beim Thema Weltreligionen besser aufgepasst!
Entschlossen schiebe ich die Tür zur Seite und betrete die kleine Gedenkstätte. Die Wände sind weiß, der Steinfußboden grau. Und trotz des trüben Wetters draußen, ist es überraschend hell hier drin, wenngleich sich die Temperaturen nahezu identisch anfühlen. An der Wand entdecke ich einen Schriftzug, in einer mir unbekannten Schrift. Die Buchstaben sind auffallend eckig, haben kaum Rundungen und bestehen überwiegend aus geraden Balken. Dann komme ich drauf, es ist Hebräisch!
Mit achtsamen Schritten gehe ich weiter. Es geht zwei, drei Stufen hinab. Mein Blick wandert über den Boden, folgt einer Linie aus glatten, dunklen Steinen, die ein großes Sechseck um mich herum bilden. Ich stehe im Zentrum der Gedenkstätte, schaue nach oben und recke den Kopf. Über mir befindet sich ein kleines Glasdach, darin mit dunklen Streben eingezeichnet ein Davidstern.
Zu der jüdischen Gedenkstätte gehört noch ein dritter Raum. Eigentlich ist es viel eher eine große, helle Nische, aber auch sie nehme ich bewusst in Augenschein. Grablichter, Blumen und Kränze sind hier niedergelegt, darüber ein Wort in Hebräisch, das ich nicht entziffern kann.
Dieser Ort gefällt mir sehr. Er hat etwas Magisches an sich. Und dass ich seine Kraft im vollen Ausmaß spüre, liegt sicherlich auch daran, dass ich ganz allein bin. Es gibt hier drinnen nur mich und die Wände rundherum, die eine atemberaubende Wirkung in dieser Stille und Kälte entfalten. Was genau die Magie dieses Ortes ausmacht, vermag ich nicht zu sagen. Ich kann jedoch festhalten, dass ich niemals geglaubt hätte in der Gedenkstätte eines Konzentrationslagers einen Ort zu finden, an dem ich Kraft tanken kann und der mich mit neuem Mut beseelt entlässt.
Mit dieser frischen Energie ausgestattet verlassen ich die jüdische Gedenkstätte und folge weiter dem befestigten Weg. Nach kurzer Zeit stehe ich vor einer kleinen Kapelle. Zu meiner Rechten führt eine lange, in den Fels gehauene Treppe hinab in ein großes Tal. Aber bevor ich den Abstieg in diese vom Nebel verhangene Senke wage, entscheide ich mich erst einen Fuß über die Schwelle des kleinen Gotteshauses zu setzen.
In der Kapelle ist es kaum einen Funker wärmer als draußen und unterschwellig spüre ich ein Seufzen durch meinen Körper gehen. Es ist einfach nicht das Wetter bei dem ich mich draußen aufhalten mag. Die grauen Dunstwolken hängen so tief am Himmel, dass die Feuchtigkeit, die von ihnen herab schwebt, mir über die Schultern bis in die Knochen kriecht. Ein unangenehmes Wetter, das aber auch eine ganz eigene Atmosphäre in sich trägt.
Jetzt habe ich erstmals – im metaphorischen, wie im wörtlichen Sinn – ein Dach über den Kopf und bin sehr dankbar dafür. Neugierig erkunde ich die Kapelle. Es riecht nach Holz; der typische Duft von alten Kirchenbänken. Meine Schritte hallen auf dem steinernen Fußboden wider und ein Blick nach oben verrät, dass die Holzdecke erst kürzlich renoviert worden ist. Überhaupt sieht diese Kapelle so aus, als würde sie regelmäßig genutzt werden. Der Altar ist geschmückt, Kerzenständer stehen an der Seite und an der Wand hängt eine Tafel mit den letzten Nummern aus dem Gesangbuch.
Mir fällt eine Büste aus Bronze ins Auge und interessiert daran, wer mich da mit Halbglatze und durch eine runde Brille anstarrt, trete ich näher. Die Aufschrift auf der Säule, lässt mich wissen, dass ich in das Gesicht von Dietrich Bonhoeffer blicke. Bonhoeffer?
Irgendetwas klingelt da bei mir. Hat der nicht Kirchenlieder geschrieben oder so? Und gibt es nicht auch ein Bonhoeffer-Institut? Oh, ich und mein gefährliches Halbwissen! Meine Augen wandern an der Säule nach unten und lesen folgende Zeilen:
Von guten Mächten
wunderbar geborgen
erwarten wir getrost,
was kommen mag.
Gott ist bei uns
am Abend und am Morgen,
und ganz gewiß
an jedem neuen Tag.
Das sanfte Schmunzel auf meinem Gesicht wird mir ernst bewusst, als ich den Vers ein zweites Mal lese und merke, wie mein Lächeln dabei breiter wird. Selten habe ich Worte mit mehr Zuversicht und Gottvertrauen gelesen, und nirgendwo erscheint mir ihr Sinn tiefgründiger und bedeutungsvoller als in der Gedenkstätte eines Konzentrationslagers. Halbwissen hin oder her, der Mann mit der runden Brille muss jemand besonderes gewesen sein, wenn er an diesem Ort zu einer solchen Ansicht gefunden und sich von ihr hat tragen lassen.
Mag ich selbst auch evangelisch getauft, konfirmiert und inzwischen wieder aus der Kirche ausgetreten sein, bin ich dennoch der Überzeugung, dass der Glaube an etwas Religiöses dem Menschen eine immense Kraft verleihen kann. An diesem wundersamen Ort spüre ich mehr denn je, was gemeint ist, wenn es heißt: Der Glaube versetzt Berge. Es ist ein Vergleich, der nicht wörtlich zu nehmen ist, sondern den es zu erspüren gilt. In den Worten Bonhoeffers kann ich es spüren.
Schnell ist der Satz in mein Notizbuch gekritzelt und ich setze meinen Streifzug durch die kleine Kapelle fort. Dort wo ich annehme, dass es zur Orgel geht, führt eine schmale Treppe hinauf. Neugierig steige ich nach oben. Keine Orgel. Dafür ein traumhafter Blick über die Kirchenbänke bis nach vorne zum Altar.
Von diesem einzigartigen Bild angezogen, trete ich näher an die Brüstung und lasse meinen Blick umher schweifen. Mein Atem kondensiert an der kalten Luft. Und wiederholt komme ich in den Genuss, einen Ort ganz für mich alleine zu haben und alles in mich aufzunehmen zu können, was er mit mitteilt. Es ist unbegreiflich still in der Kapelle. Alles was ich höre ist mein eigener Atem.
Die Kälte legt sich schwer auf meine Schultern und während meine Augen über die Bänke streifen fühle ich mich mit einem Mal an eine Filmszene erinnert. Ich vernehme ein leises Rascheln, höre das Knacken von Holz, gedämpftes Husten und sehe Dutzende müde Soldaten, die Zuflucht in einer Kirche gefunden haben. Erschöpft und mit schweren Gliedern sitzen sie da, hängen jeder ihren eigenen Gedanken nach oder dösen schläfrig vor sich hin. Abgespannte, verdreckte Gesichter, die nicht mehr lächeln können und deren Augen nach Trost suchen. Die Männer sind durchgefroren, hungrig und am Ende ihrer Kräfte.
Ich weiß nicht, warum ich gerade jetzt und hier zum ersten Mal auf meiner Holocaust-Tour an Band of Brothers und die Easy-Kompanie denke, aber die Bilder sind da – direkt vor mir und eigentlich doch nur in meinem Kopf. Ein wenig unsicher auf den Füßen steige ich die schmale Treppe wieder hinab und notiere in kurzen Stichworten, dass diese Kapelle ein weiterer magischer Ort ist, den ich hier niemals erwartet hätte zu finden.
Gedenken im „Tal des Todes“und Wiedersehen mit Bonhoeffer
Mit großem Widerwillen kehre ich zurück ins Freie, wo mich das feuchte Wetter augenblicklich umschließt und einhüllt. In der Hoffnung, dass mir durch ein bisschen Bewegung wärmer wird, nehme ich den zick-zack Abstieg ins Tal in Angriff.
Tatsächlich muss ich gut aufpassen, wo ich meine Füße auf den unwegsamen Stufen hinsetze. Immer weiter geht es nach unten und irgendwie bekomme ich das Gefühl, dass sich der graue Himmel über mir ebenfalls senkt.
Unten angekommen stoße ich auf einen ebene, grasbewachsene Fläche. Am Rand liegen große Steintafeln, darauf die Herkunftsländer der Häftlinge. Ich befinde mich auf dem „Platz der Nationen“ – die erste Station im Tal des Todes, das so heißt, weil hier die Asche von 15.000 Toten verstreut wurde. Ich drehe eine Runde über den Platz, sehe hier und da einen Kranz, ein Grablicht oder auch eine Rose auf den Steintafeln und gehe weiter.
Das nächste, was meinen Weg kreuzt ist ein kleiner quadratischer Hügel, an den vier Seiten mit Steinen befestigt und auf der Kuppe mit Gras bewachsen. Es ist die Aschepyramide, Namensgeber dieses besonderen Ortes. Auch hier setzte ich achtsam meine Schritte, studiere die Form des Hügels und versuche dabei eine Verbindung zu den hier anonym bestatteten Menschen zu finden. Entfernt erinnert mich die Pyramide an die Massengräber in Bergen-Belsen. Es fällt mir unglaublich schwer, mir vorzustellen, dass hier mehrere Tausend Menschen ihre letzte Ruhestätte haben sollen.
Aufmerksam setzte ich einen Fuß vor den anderen. Der Boden unter mir ist matschig; aufgeweicht von dem Tauwasser der letzten Tage. Im diesem Tal herrscht eine seltsame Atmosphäre. Die grauen Wolken hängen unverändert über mir. Um mich herum sammelt sich die hohe Luftfeuchtigkeit in den schweren Ästen der vielen Nadelbäume. Und durch die tiefe Senke hallt das Klopfen eines Spechtes irgendwo im angrenzenden Wald.
Mitten auf dem Weg treffe ich auf einen Gedenkstein. „[…] für Menschenwürde, Freiheit und Gerechtigkeit“ steht auf der steinernen Säule, die die SPD (Sozialdemokratische Partei Deutschlands) 1995 hier aufgestellt hat. Ein guter Ansatz, denke ich mir und passiere den Stein mit seinen drei lebensbejahenden Grundwerten. Ich habe das Tal des Todes so gut wie durchquert.
Auf der anderen Seite steige ich die ersten Stufen wieder hinauf. Rechts von mir liegt ein kleines Gebäude und der hohe Schornstein auf dem Dach, lässt keine Zweifel aufkommen, worum es sich dabei handelt.
Ich erinnere mich an mein letztes Zusammentreffen mit einem dieser Verbrennungsöfen und füge mich meiner Vernunft. Mir ist heute nicht nach Krematorium. Wirklich nicht. Und schon gar nicht in Anbetracht meiner schwindenden Ausdauer und ohne einen anderen Menschen in Sichtweite. Auf der moosbewachsenen Treppe daran vorbeizugehen und zu wissen, dass es da ist, muss für heute reichen.
Der Weg hinauf ist beschwerlich und auch hier schaue ich bewusst auf meine Füße, um nicht auszurutschen. Oben angekommen, bin ich reichlich aus der Puste und die kalte Luft sticht in meinen Lungen. Trotz der Handschuhe sind meine Finger eisig und es fällt mir schwer meine Gedanken ins Notizbuch zu schreiben; die Tinte im Kugelschreiber will nicht so wie ich.
Ich stecke meinen kleinen Begleiter nach Kurzem wieder in die Tasche, passiere einen der alten Wachtürme, der noch steht und bewege mich unwissentlich auf das letzte Ziel meines Besuches zu. Ich weiß nicht woher es kommt, aber etwas zieht mich zu den Überresten des ehemaligen Arrestbaus hin.
Wie schon den ganzen Tag, bin ich auch hier allein, als ich den Hof der Anlage überquere und den kleinen noch erhaltenen Teil des Zellentraktes betrete. Zwei winzige Zellen gibt es hier und unerwartet begegne ich Bonhoeffer wieder, der ebenfalls in einer solchen Zelle gefangen gehalten wurde.
Die Zellen sind nicht durch ein Gitter, eine Plexiglasscheibe oder ähnliches vom Gang getrennt. Sie sind frei zugänglich und dennoch gebietet mir mein Anstand einen würdigen Abstand zu halten. Hineinzuschauen ist in Ordnung. Aber hineingehen? Nein. Ich bin hier um einen Blick in eine vergangene Zeit zu werfen, nicht um mich der Wahnsinnigkeit zu opfern und ein Teil ihrer zu werden.
Nach kurzem, stillem Gedenken trete ich aus dem Zellentrakt ins Freie, stehe auf dem Arresthof und blicke auf mehrere Gedenktafeln an der gegenüberliegenden Hofmauer. Aufmerksam lese ich die Texte. Nicht nur Bonhoeffer wurde hier getötet, auch andere am Widerstand Beteiligte wurden hier hingerichtet.
Ich verlassen das Gelände des Arrestbaus und treffe dabei auf eine letzte Infotafel. Meine Füße und mein Herz bleiben praktisch zeitgleich stehen. Das Bild auf der Tafel zeigt jenen Teil der Anlage, der heute noch erhalten ist. Auf dem Hof, steht ein amerikanischer Soldaten, den Blick auf die Mauer gerichtet. Er steht auf genau derselben Stelle, wo auch ich gerade gestanden habe, mit genau dem gleichen Blick, wie ich ihn eben noch auf die Mauer gerichtet habe. Erschreckend. Nahegehend. Und nicht zuletzt bewegend.
Mit etwas Abstand folgen meine Füße meinem Herzen, das sich längst von dem Schreck erholt hat, und setzen sich wieder in Bewegung. Am Ende sind es die Gedanken an Dietrich Bonhoeffer, die mich zurück zum Besucherparkplatz tragen. Meinen gemieteten Wagen muss ich jetzt sicher zurück nach Weiden steuern, dort beim Leihunternehmen abstellen, den Schlüssel in eine Box werfen und eine knappe halbe Stunde Fußweg zum Hotel bewältigen. Und alles was ich mir für meinen Weg wünsche, ist, von guten Mächten wunderbar geborgen zu sein...
◦ Flossenbürg war in erster Linie ein Arbeitslager. Im nahegelegenen Steinbruch der Deutschen Erd- und Steinwerke (DESt) wurden bis zu 2.000 Häftlinge 12 Stunden täglich zu schwerster körperlicher Arbeit gezwungen. Neben den Häftlingen arbeiten im Steinbruch auch Steinmetze und verschiedene Angestellte der DESt, die wiederkehrend Kontakt zu den Häftlingen hatten.
◦ Dietrich Bonhoeffer wurde 1906 in Breslau (heutiges Polen) geboren. Er war evangelischer Theologe und engagierte sich bereits 1933 gegen die Politik des Nationalsozialismus und die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung. Im Zuge seines öffentlichen Widerstandes verhängt man gegen ihn ein Rede- und später auch ein Schreibverbot. Im April 1943 wurde er verhaftet und 1945 wenige Tage vor der Befreiung gehängt.
◦ Das Konzentrationslager Flossenbürg wurde am 23. April 1945 von Soldaten der 90. US-Infanteriedivision befreit. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich noch etwa 1.500 Menschen im Lager. Die anderen Häftlinge wurden in den Tagen und Wochen zuvor abtransportiert oder auf Todesmärsche geschickt.
Kommentar zu Flossenbürg, vom 05. Mai 2018
Ich glaube, ich habe es schon mal in einem meiner vergangenen Kommentare geschrieben, aber es ist immer noch aktuell: Es wird nicht langweilig die vielen verschiedenen Gedenkstätten zu besuche! Jeder Ort sieht anders aus, ist mehr oder weniger erhalten, wird durch Ausstellungen und verschiedenste Formen der Aufarbeitung bereichert und durch öffentliche Gelder, sowie ehrenamtliche Mitarbeiter gepflegt und gefördert.
Was die Orte eint, ist die Geschichte. Und was ihnen ihre Bedeutung gibt, ist ihr enges geographisches Geflecht, das sich über diesen Teil Mitteleuropas spannt.
Ich glaube inzwischen fest dran, dass man mehrere dieser Orte gesehen haben muss, um ein Gefühl für das Ausmaß dieser flächendeckenden Vernichtung zu bekommen. Sicherlich hat es seine Berechtigung, sich die großen und bekannten Lager anzuschauen, aber eine Karte in die Hand zu nehmen und die vielen kleineren Lager und Außenlager drauf eingezeichnet zu sehen, hat auf mich eindeutig die größere Wirkung.
Flossenbürg ist für mich ein wichtiger Teil dieser Wirkung. Was ich aus diesem Lager ganz klar mitgenommen habe, sind die Eindrücke aus der jüdischen Gedenkstätte, das kalte Wetter und die friedvolle Begegnung mit Dietrich Bonhoeffer – mit dem ich mich im Nachhinein noch eine Weile beschäftigt habe.* Insofern wird Flossenbürg für mich immer das „stille und friedliche Lager“ bleiben.
*Es war übrigens Dietrichs ältester Bruder, der Chemiker Karl Friedrich Bonhoeffer, der dem Bonhoeffer-Institut seinen Namen gab.