Nie wieder 14f13 [Kalender 2018]
von RamonaXX
Kurzbeschreibung
>Nie wieder 14f13, mit achtsamen Schritten auf den Spuren des Holocaust<, unter diesem Titel startet der Kalender für 2018. Zwölf Mal habe ich den Mut gefunden Gedenkstätten des Holocaust und Mahnmale aus der Zeit des Nationalsozialismus zu besuchen. Zwölf Mal war ich tief betroffen und aufgewühlt. Und zwölf Mal habe ich die Kraft aufgebracht meine Gefühle und Gedanken in einer Art Erlebnisbericht niederzuschreiben… [Wer sich nicht sicher ist, ob er das hier wirklich lesen möchte, findet in den ersten Kapiteln ein Geleitwort und einen Prolog.]
GeschichteDrama, Schmerz/Trost / P18 / Gen
01.01.2018
31.12.2018
15
51.875
13
Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
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15.01.2018
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Januar
Mit dem Kürzel „14f13“ wurde in den Akten der KZ-Häftlinge deren gezielte Ermordung verschlüsselt. Ausgeschrieben hieß es Sonderbehandlung 14f13, dabei ging es vor allem um das Beseitigen alter, kranker und nicht mehr arbeitsfähiger Häftlinge. Andere Kürzel waren beispielsweise: „14f1“ für natürlicher Tod, „14f2“ für Suizid oder „14f3“ für die Erschießung beim Fluchtversuch.
Gedenkstätte Bergen-Belsen, besucht am 01. Juli 2017
Heute ist es also soweit und ich starte zu meinem allerersten Besuch einer Gedenkstätte. Obwohl die Themen Nationalsozialismus und Holocaust lang und breit im Geschichtsunterricht durchgekaut worden sind, blieben sie doch über all die Zeit visuell in den Geschichtsbüchern haften. Eine Exkursion hat meine Klasse nie gemacht.
Meine Route führt mich in den Landkreis Celle, in das ehemalige Konzentrationslager Bergen-Belsen. Der Weg dorthin verläuft noch recht entspannt. Und trotzdem sitze ich hinter dem Lenkrad meines kleinen, schnuckeligen Autos und mache mir Gedanken darum, was mich wohl erwartet.
Was werde ich sehen, wenn ich über das Gelände gehe? Was werde ich fühle, wenn ich die Grenze zum Lager überschreite? Wird es da so etwas wie einen bewussten Moment geben? Das Gefühl in eine andere Zeit einzutauchen?
Je näher ich meinem Ziel komme, desto flatteriger werden meine Gedanken.
Was ist nach rund 75 Jahren noch vom Holocaust übrige? Was trägt der Ort für eine Stimmung in sich? Ist da eine Aura, die man erspüren kann? Eine Präsenz, die sich als Gewicht auf die eigenen Schultern legt? Ein unsichtbarer Vorhang, der jeden der ihn durchschreitet fühlen lässt, was sich hier zugetragen hat?
Es ist an der Zeit es herauszufinden und Antworten zu suchen!
Das Dokumentationszentrum
Mit dem Wetter habe ich Glück – zumindest aus meiner Sicht. Ich habe mir einen leicht verregneten Sommertag ausgesucht. Dass heißt keine Schulklassen, keine Reisegruppen, keine Touristen. Und tatsächlich ist der Besucherparkplatz so gut wie leer als ich am frühen Vormittag ankomme.
Der Himmel ist mit steingrauen Wolken behängt, aus denen ein konstanter Nieselregen fällt. Mein Mobiltelefon lasse ich bewusst im Auto als ich aussteige. Zeit soll bei diesem Besuch völlig unerheblich für mich sein. Ich will loslassen und mich dem öffnen, was mich an diesem Ort empfängt. Alles was ich mitnehme, ist mein kleines, schwarzes Notizbuch und mein Lieblingskugelschreiber.
Meine erste Station ist das Dokumentationszentrum. Vom Parkplatz aus gehe ich über eine große asphaltierte Fläche, auf der in kreisrund angelegten Beeten vereinzelt Bäume stehen. Hier und da machen Regenpfützen aus dem rauen Asphalt eine fast makellos glatte Fläche, die das Grau des Himmels spiegelt. Alles fühlt sich nass und kühl an. Und doch ist ganz klar, dass das hier neu ist; von Menschen angelegt, lange nach der Auflösung des Lagers.
Eine hohe Mauer verrät mir, dass ich am richtigen Ort bin. Auf ihr steht in großen Buchstaben: „GEDENKSTÄTTE BERGEN-BELSEN“. In der Mitte der Mauer klafft ein großer Durchlass. Das Tor zum Gelände steht demonstrativ offen. Ohne Zweifel keimt da eine Neugier in mir auf. Was werde ich sehen wenn ich dem Weg hinter dem Tor folge? Wohin wird er mich führen?
Ich überwinde meine Neugier, gehe an der Mauer – die nach wenigen Metern endet – entlang und bewege mich auf das Dokumentationszentrum zu. Ein massiver, zweistöckiger, fast weißer Klotz aus Stahlbeton stellt sich mir in den Weg. Auf den ersten Blick gibt es keine Fenster, aber eine Glasfassade gewährt Einlass ins Innere.
Nach kurzer Orientierung in der Empfangshalle bahne ich mir meinen Weg zur Ausstellung. Die hohen Decken wirken erhaben und bedrohlich zugleich. Die Wände bestehen aus nichts weiterem als dem nackten Stahlbeton. Dazu gesellt sich ein dunkler Fußboden. Alle Flächen sind so glatt gehalten, dass jeder Schritt in dem Gebäude hallt und wie von selbst verlangsamen sich meine Schritte um nicht allzu sehr aufzufallen.
In der Ausstellung angekommen, ist das erste was meine Aufmerksamkeit auf sich sieht eine Video-Präsentation. Zeitzeugen berichten hier von ihrer Verfolgung, ihrer Deportation und ihrer Demütigung, sowohl in ihrem sozialen Umfeld, als auch während ihrer Zeit im Konzentrationslager.
Lange bleibe ich davor sitzen und schaue mir die einzelnen Interviews an. Der Zugang zu diesem Thema auf diese Art fällt mir nicht leicht. Im Gegenteil, in die vom Alter gezeichneten Gesichter der Zeitzeugen zu schauen und mir vorzustellen, dass jedes ihrer Worte wahr ist, fällt mir schwer. Es kommt bei mir mehr wie eine fiktive Geschichte, wie eine ausgedachte Erzählung an. Nicht, dass ich ihren Worten keinen Glauben schenken möchte, aber der Blick in ihre faltigen Gesichter verzerrt meine Vorstellungskraft, schafft eine seltsame Art von Distanz. Die aufgenommenen Interviews sind jung im Verhältnis zu der Zeit über die ihre Redner berichten. Nichtsdestotrotz sind ihre Berichte rührend.
Irgendwann zieht es mich weiter durch die Ausstellung, die in diesem fast fensterlosen Gebäude in ein kaltweißes Licht aus Leuchtstoffröhren getaucht ist. An den Wänden hängen große Bilder, Fotos und Landkarten, die mit Texten auf Deutsch und Englisch beschriftet sind. Ich stöbere ein bisschen hier, lese ein bisschen dort und mache einen Schritt nach dem nächsten. Dabei fällt mir auf, dass jeder Schritt nach vorne, also weiter in die Ausstellung hinein, mir schwerer fällt. Es ist keine emotionale Schwelle gegen die ich anmarschiere. Es ist ein reales, physisches Gefühl! Oder ist es doch bloß Einbildung?
Egal. Ich gehe weiter und sauge auf, was die Ausstellung mir an Informationen bietet. Und genau das ist es auch was ich hier geboten bekomme – Information, sachlich und auf die Fakten ausgerichtet präsentiert. Auf meiner Autofahrt habe ich an ein Gefühl gedacht, nicht an eine Information. Je weiter ich voranschreite, desto einleuchtender erscheint mir, dass ich ein Gefühl hier drinnen nicht finden werde.
Dennoch gibt es einige spannende Dinge zu sehen und zu erfahren. Was mich tatsächlich eine Zeit lang beschäftigt sind die Schaukästen mit Fundstücken aus dem Lager. Die Kästen hängen nicht etwa an der Wand oder stehen auf einem Sockel. Sie sind in den Boden eingelassen und eine dicke Plexiglasscheibe trennt mich von dem, was mal Blechdosen, Goldzähne, Brillen, Spatenblätter und Folterinstrumente waren.
Schließlich erreiche ich das Ende dieser Ausstellungsebene und bin erstaunt von dem Ausblick, der sich mir bietet. Am Ende des Gebäudes, wo es definitiv nicht mehr weiter geht, gibt eine riesige Panoramafensterfront den Blick auf das stark bewaldete Gelände frei. Und wieder steigt da dieses Kribbeln in mir auf. Was ich hier drinnen erlebe ist Dokumentation für die Nachwelt, eine wichtige Arbeit, aber nicht der Grund, warum ich hergekommen bin.
Ich wende mich nach einiger Zeit von der Märchenwaldkulisse ab und folge der Ausschilderung ins obere Stockwerk. Dabei muss ich heftig gegen mein Schmunzeln ankämpfen. Meine Sinne haben mich nicht getäuscht. Die Schritte am Anfang sind mir deshalb so schwer gefallen, weil der Fußboden tatsächlich über die gesamte Länge des Gebäudes eine Neigung hat. Jetzt, bergab, fallen mir die Schritte ganz leicht.
Bevor ich das obere Stockwerk erklimme, nehme ich noch einmal Platz in einem abgedunkelten, kleinen Raum. Gezeigt wird ein Dokumentationsfilm von der Befreiung des Konzentrationslagers. Es sind Originalaufnahmen in schwarz-weiß, die die Britische Armee 1945 gemacht hat. Beim Anblick dieser Bilder stellt sich schon mehr ein Gefühl bei mir ein. Auch hier bleibt es schwer sich vorzustellen, dass das alles wirklich passiert ist. Aber gerade weil die Bilder so echt, so real, so zeitgebunden sind, schaffen sie für mich einen besonderen Zugang zu der Thematik.
Auf der zweiten Etage geht es dann damit weiter, wie das Leben für die Überlebenden nach der Befreiung ausgesehen hat. Und genauso lautete auch eine der ersten Überschriften, die ich an den Wänden lesen: „Leben nach dem Überleben“. Mein Kopf ist schon ziemlich voll mit Fakten und ich merke, dass es mir immer schwerer fällt noch neue Informationen auszunehmen. Die letzten Ausstellungsstücke und Texttafeln überfliege ich bloß noch.
Es ist eindeutig, dass ich mich dem Ausgang nähere. Die komplette Ausstellung ist chronologisch aufgebaut, fängt irgendwo 1938 an und endet in den Fünfzigern. Die letzten Infoboxen, die ich passiere handeln von den Prozessen, die die Briten damals gegen die KZ-Aufseher geführt haben, ihren Verurteilungen und auch ihren Hinrichtungen.
Mit einer Mischung aus Erleichterung und Erschöpfung finde ich mich in der Empfangshalle wieder. Auf meinem Weg nach draußen passiere ich noch eine Art Gästebuch. Ich blättere durch die Seiten und stelle fest, dass sich diverse Schulklassen hier verewigt haben, genauso wie auffallend viele der Einträge nicht in deutscher Sprache verfasst sind. Ich selbst schreibe nichts hinein.
Das Außengelände
Als ich das Dokumentationszentrum verlasse, hat es aufgehört zu nieseln. Der Himmel ist noch immer grau, aber ich bin recht dankbar dafür meine ersten Schritte über das Außengelände trockenen Fußes machen zu dürfen.
Diesmal erlaube ich meiner Neugier mich zu leiten und gehe durch das offenstehende Tor. Ein gepflasterter Weg führt mich durch ein winziges Waldstück. Die Bäume, die hier nicht allzu dicht gedrängt stehen, geben die Sicht auf den Himmel frei und verhüllen gleichzeitig was vor ihnen liegt. Manche der Bäume kommen mir sehr hoch vor und ich komme nicht umhin, mich zu fragen, ob einige davon nicht schon vor 75 Jahren hier gestanden haben und gesehen haben, wonach ich auf der Suche bin.
Nach einer guten Anzahl von Schritten bleibe ich unbewusst stehen. Mein Instinkt hält mich urplötzlich mitten auf dem Weg an und ich brauche einige Sekunden, um mir bewusst zu werden, was mich gestoppt hat. Ein Blick nach links und rechts bringt Klarheit in die Unordnung in meinem Körper.
Eine breite Schneise zieht sich zu beiden Seiten schnurgerade durch das Waldstück. Hier ist sie also, die ehemalige Lagergrenze von Bergen-Belsen. Und mein Unterbewusstsein hat mich tatsächlich davor gestoppt, als würden der Stacheldrahtzaun und die Wachtürme noch immer existieren. Aber alles was noch existiert, ist diese grasbewachsene Schneise, die sich auf unheimliche Art durch den Wald zieht.
Irgendwann fasse ich mir ein Herz und setze den nächsten Fuß nach vorne. Zu meiner Erleichterung passiert nichts, zumindest nichts Böses. Einzig das Gefühl eine Grenze überschritten zu haben, lässt sich nicht leugnen. Angst oder Furcht hingegen kann ich nicht bei mir feststellen, wohl aber die Gewissheit mich nun auf der anderen Seite zu befinden.
Ich folge dem Weg weiter und bin froh als sich die Bäume lichten und sich eine große, flache Ebene vor mir auftut. Doch bevor ich meinen Blick durch die Umgebung schweifen lasse, halte ich noch eine ganze Weile an einem Gedenkstein fest.
Eigentlich ist es gar kein Stein, sondern ein Mauerstück. Darauf steht: „BERGEN-BELSEN 1940 BIS 1945“. Wie bei manchen Grabsteinen ist die Schrift erhaben und steht einige Zentimeter hervor. Am Fuß der Mauer liegen verwelkte Blumen und ein kleiner, frisch gebundener Kranz. Hier kommen keine Menschen her, um sich zu informieren. Hier kommen Menschen her, um zu gedenken und zu trauern.
Doch was mich noch mehr in den Bann zieht, sind die vielen Steinchen, die in die Lücken zwischen die Buchstaben des Schriftzuges gesteckt, geklemmt oder einfach nur obendrauf gelegt sind. Warum machen Menschen mit jüdischem Glauben das noch mal, Steine auf ihre Gräber legen?
Mir fällt ein, dass mein Religionslehrer in der 12. Klasse das Mal erklärt hat, aber in diesem Moment kann ich mich partout nicht an seine Worte erinnern. Dennoch finde ich es eine wunderschöne Geste. Viel schöner als eines dieser roten Grablichter mit goldfarbenem Deckel anzuzünden und hinzustellen.
Von der Mauer weg führen zwei Wege. Ich entscheide mich für den linken.
Das nächste was meinen Weg kreuzt sind verschiedene Massengräber; jedes ein großer, rechteckiger, aufgeschütteter Hügel, mit Moos und Gräsern bewachsen. Um den Fuß jedes Hügels zieht sich eine niedrige Mauer und dort, wo die Mauer etwas höher ist, finde ich wieder eine Inschrift: „HIER RUHEN 1000 TOTE APRIL 1945“. Auch hier liegen unzählige Steine auf den Rand.
Ich bleibe stehen und versuche mir die Bilder aus dem Dokumentationszentrum in Erinnerung zu rufen, wie hunderte von Zivilisten am Rand dieser Gräber gestanden und unter Aufsicht der britischen Soldaten die Körper der Toten hineingezerrt haben. Es ist schwierig diese Vorstellung in Einklang mit dem zu bringen, was ich vor mir sehe. Ein grün bewachsener Hügel, verschieden blühende Pflanzen, einige Bienen und andere Insekten. Sogar einen Spatz und eine putzige Haselmaus kann ich entdeckten. Die Natur holt sich alles zurück. Sie kennt keine Orte der Andacht und Stille. Mit einem Gefühl der Ausgeglichenheit ziehe ich weiter.
Ich komme auf einen gepflasterten Platz, der von diversen Grabsteinen umgeben ist. Im Zentrum steht eine massige, quadratische Säule. Darauf steht in englischer Sprache geschrieben: „ISRAEL AND THE WORLD SHALL REMEMBER THIRTY THOUSAND JEWS EXTERMINATED IN THE CONCENTRATION CAMP OF BERGEN-BELSEN AT THE HANDS OF THE MURDEROUS NAZIS“ Und ein Stück darunter: „EARTH CONCEAL NOT THE BLOOD SHED ON THEE!“ Oben auf der Säule – wie sollte es auch anders sein – liegen wieder Steine. Außerdem erkenne ich jenes Symbol, das mir als Davidstern bekannt ist. Ein beeindruckendes Monument.
Unter den umliegenden Gräber ist auch das von Anne Frank, die hier im Konzentrationslager Bergen-Belsen gestorben ist. Mit gemischten Gefühlen blicke ich auf den schwarzen Grabstein, mit seiner weißen Inschrift. Das „Tagebuch der Anne Frank“ ist wieder so ein Stück der Geschichte, das in meiner Erinnerung im Geschichtsunterricht überdramatisiert wurde. Nicht, dass solche Aufzeichnungen nicht wichtig wären. Aber muss ich gleich voller Betroffenheit davor niederknien ohne die Hintergründe zu kennen?
Erneut zieht es mich weiter und mir wird bewusst, wie unglaublich groß dieses Lager gewesen sein muss. Ohne Schwierigkeiten kann man hier den einen oder anderen Kilometer zu Fuß zurücklegen. Und weil mich keine Uhr zur Eile antreibt, nehme ich mir die Zeit, mir alles in Ruhe anzuschauen und auf mich wirken zu lassen.
Mein nächster Halt ist eine lange Mauer. Die unterschiedlichsten Nationen haben hier in ihrer Landessprache ihr persönliches Trauerbekenntnis in den hellen Naturstein gemeißelt. Ich kenne diese Mauer aus den Medien. Persönlichkeiten wie Angela Merkel oder Joachim Gauck haben hier Kränze niedergelegt und vor einer Gruppe von Reportern sich noch mal gebückt, um die Schleife gerade zu rücken.
Ein paar flache Stufen führen mich von der Mauer weg und zurück auf den Rundweg. Ich gehe weiter, sehe wieder Grabsteine und Massengräber am Wegrand. Über allem liegt die nasskalte Stimmung dieses verregneten Sommertages. Es hat etwas Andächtiges. Den feuchten Geruch des Nieselregens – der wieder eingesetzt hat – in der Nase zu haben und über dieses Gelände zu streifen, bringt eine gewisse Ruhe mit sich. Auf diesem Boden sind grausame Dinge passiert und was ich nach all den Jahren an diesem Ort spüre, ist ein tiefes Bedürfnis nach Frieden. Wer weiß, vielleicht wäre meine Eingebung an einem heißen Sommertag, mit lärmenden Schulklassen um mich herum eine ganz andere?
Einen letzten Punkt gibt es dann doch noch, der mich für Minuten in Atem hält und mein Herz schneller schlagen lässt; die ehemalige Hauptstraße des Lagers. Wieder begegnet mir eine breite Schneise, die sich diesmal nicht durch ein Waldstück, sondern haarscharf begrenzend über das offene Gelände zieht. Ein unsicheres Gefühl steigt in mir auf als ich bemerke, dass ich genau dort stehe, wo einmal die mehrspurige Straße verlief. Wie viele Fahrzeuge und Pferdewagen sind hierüber gerollt und getrappelt? Wie vielen Soldaten in SS-Uniform marschiert? Wie viele ausgehungerte Häftlinge durch den Dreck gekrochen?
Die Antwort behält der Boden unter meinen Füßen für sich. Aber ich gehe mit dem Gefühl ein kurzes Aufblitzen der Wahrheit gespürt zu haben.
Der Nieselregen tröpfelt leise weiter und bringt die vielen Laubbäume um mich herum sanft zum Klingen, während ich mich Richtung Ausgang bewege. Ich bin vom vielen Umherwandern schon spürbar müde, jedoch liegt ein Weg noch vor mir.
Die Rampe
Als letzte Station suche ich die alte Verladerampe auf. Sie liegt etwa 6 Kilometer vom Lager entfernt und schon als ich diesen Ausflug geplant habe, war mir klar, dass ich dafür nicht das Auto nehmen würde.
Die Gefangenen, die mit den Deportationszügen ankamen, mussten die Strecke zum Lager zu Fuß bewältigen – ungeachtet von Krankheit, Gebrechen und Erschöpfung. Aus diesem Grund will ich die Strecke auch zu Fuß zurücklegen. Es ist mein ganz persönlicher Tribut, den ich hier lassen möchte. Meine Art dem nachzuspüren, was sich auf diesem Weg vor rund 75 Jahren abgespielt hat.
Ich bin trainiert darin zu Fuß zu laufen, auch mit Gepäck. Und bevor ich aufbreche, hole ich mir aus dem Auto noch meinen Rucksack mit der Wasserflasche. Ein kleiner, großer Luxus, den ich mir auf diesem Weg leiste; zumal ich mein Notizbuch, dessen Seiten sich an diesem Tag schon gut gefüllt haben, nicht die ganze Zeit in der Hand behalten will.
Entschlossen und doch von meinen bisherigen Anstrengungen ermattet, marschiere ich los.
Ganz offensichtlich bin ich nicht der erste Mensch, der hier auf den Spuren des Holocaust wandert. Ein Schild weist den geteerten Fuß- und Radweg als „Weg der Erinnerungen“ aus. Vor mir liegen gut 6 Kilometer, an einer zum Teil bewaldeten Landstraße entlang. Ich setze wie gewohnt einen Fuß vor den anderen und nutze die Chance mich rechts und links umzusehen.
Irgendwann komme ich an einer größeren Kreuzung vorbei, die von verschiedenen, alten Hofgebäuden umgeben ist. Auf einer Holztafel wird „Honig aus eigener Imkerei“ angeboten und etwas weiter stoße ich auf ein Schild mit der Aufschrift: „Frische Heidekartoffeln“. Es scheint, dass das normale Leben hier sämtliche Spuren verwischt und überwuchert hat. Im Schatten dieses sonderbaren Ortes wohnen gewöhnliche Menschen, in gewöhnlichen Häusern, die vermutlich ebenso gewöhnlichen Berufen nachgehen und ein ganz gewöhnliches Leben führen. Ich bin hier nur ein fremder Tourist.
Hinter dem Waldstück, das Bergen-Belsen umgibt, kommt recht schnell der Zaun von einem Militärgelände, das ich bereits auf der Hinfahrt skeptisch in Augenschein genommen habe. Das Gelände kommt mir gigantisch vor. Gute 20 Minuten flankiert der abweisende, mit Sichtschutz verhängte Stacheldrahtzaun meinen Weg.
Kurz vor dem Haupttor begegnet mir dann eine auffallende Kuriosität. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite liegt die bewachte Zufahrt zum Militärgelände und auf der anderen Seite, wo ich gehe, ein fragwürdiges Etablissement. Die Fensterscheiben des kleinen Gebäudes sind verklebt und auf den Werbeplakaten ranken sich zwei vollbusige, weibliche Geschöpfe in roten und schwarzen Dessous. Eine Aufschrift im Fenster daneben verkauft mir die jungen Damen als „Top Girls“.
Die geographische Nähe dieser beiden Örtlichkeiten ergibt für mich durchaus Sinn, aber ist es das, was mir von meinem Besuch in Bergen-Belsen langfristig in Erinnerung bleiben wird; ein Militärgelände und ein Puff?
Ich setzte meinen Weg fort und nachdem ich von einem kräftigen Schauer überrascht worden bin, den selbst meine Regenjacke – noch so ein Luxusartikel – nicht abhalten konnte, erreiche ich durchnässt die Einfahrt zur Rampe. Eine knappe Stunde war ich hierher unterwegs und daran, dass mein Auto auf dem Besucherparkplatz an der Gedenkstätte steht und ich den gesamten Weg noch zurück laufen muss, mag ich jetzt überhaupt nicht denken.
Auch hier ist die Militärpräsenz unausweichlich. Wo sich damals wunde Füße über das Kopfsteinpflaster geschleppt haben, werden heute Panzer und anderen Militärgüter verladen. Das Betreten der Rampe und der gesamten Anlage ist verboten. Allerdings führt ein Pfad neben einem Maschendrahtzaun daran entlang und hier und da kann ich einen Blick auf die Gleise erhaschen.
In der Ferne rauscht der Verkehr auf der Bundesstraße.
Nirgends habe ich mich der Geschichte und ihren Ereignissen so fern gefühlt wie hier, dabei bin ich genau dort, wo es passiert ist. Es führt mir vor Augen, wie viele Jahre vergangen sein müssen, beziehungsweise wie verdammt lange 75 Jahre eigentlich sind. Was habe ich denn erwartet? Dass hier noch alles erhalten ist und die Menschen in dieser Gegend sich an eine Vergangenheit klammern, die nicht ihre eigene ist? Ist es nicht genau das, was ich in meinen Prolog angeprangert habe – sich schuldig zu fühlen, für eine Generation, der man nicht angehört?
Ein Stück weiter bekomme ich dann doch die Gelegenheit einen ganz ungestörten Blick auf die Rampe zu werfen. Eine Pforte im Zaun gewährt Durchgang zu einem kleinen Flecken Erde, der sich direkt neben der Gleisanlage befindet. Dort ist ein Stück einer alten Bahnschiene verlegt, darauf steht ein antiker Güterwaggon der Deutschen Reichsbahn.
In eben diesen Waggons wurden die Häftlinge zwischen den Konzentrationslagern hin und her transportiert und tagelang ohne ausreichend Wasser und Lebensmittel darin eingesperrt. Es ist ein seltsames Gefühl in diesem Waggon zu stehen, den man tatsächlich über eine Holztreppe betreten kann.
Einige Minuten halte ich mich noch in der Nähe des Waggons auf und lese mir die Aufschriften auf den Informationstafeln durch, bis ich das Gefühl habe alles gesehen zu haben. Dann breche ich auf und trete mit müden Füßen meinen 6 Kilometer langen Rückweg an.
Eine gute Stunde später hat mein kleines, kuschliges Auto – das brav auf dem Parkplatz gewartet hat – mich wieder. Als die Fahrertür vertraut ins Schloss fällt, genieße ich für einen Moment die kleine, heile Welt, in der ich mich befinde. Unglaublich wie viel Sicherheit doch so ein Kasten auf vier Rädern und mit einer weichen Polsterung vermitteln kann.
Neugierig greife ich nach meinem Mobiltelefon und schaue auf die Uhr. Ich war insgesamt mehr als fünf Stunden unterwegs, wow.
Aber jetzt will ich nur noch nach Hause und diesen Ort hinter mir lassen. Schnell ist meine durchweichte Kleidung gegen ein paar trockene Ersatzklamotten getauscht und ehe ich mich versehe, hat die Autobahn mich wieder. Irgendwo vor Hamburg stellt sich dann sogar das Gefühl von Zuhause bei mir ein…
◦ Das Konzentrationslager Bergen-Belsen wurde am 15. April 1945 von Soldaten der britischen Armee befreit. In den Wochen danach starben noch mehrere tausend Menschen an den Folgen und Auswirkungen ihrer Inhaftierung.
◦ Der ehemaliger Lagerkommandant Josef Kramer wurde zwei Tage später gefangen genommen und im September 1945 vor ein britisches Militärgericht gestellt. Nach seinem Prozess wurde er am 13. Dezember gehängt.
◦ Das Militärgelände auf dem damals die Überlebenden nach der Befreiung untergebracht und versorgt wurden, wird heute von Soldaten der Bundeswehr und der NATO genutzt. In der unmittelbaren Umgebung befindet sich der größte Truppenübungsplatz Deutschlands (TrÜbPl Bergen).
Kommentar zu Bergen-Belsen, vom 04. Januar 2018
Mein Besuch in Bergen-Belsen liegt jetzt fast ein halbes Jahr zurück und wenn ich ehrlich bin, dann habe ich in der Zwischenzeit so viele andere Konzentrationslager gesehen, dass die Erinnerung an dieses erste ziemlich unscharf geworden ist.
Nichtsdestotrotz kommen mir immer wieder der Puff und das Militärgelände in den Sinn, wenn mich jemand nach meinem Besuch in Bergen-Belsen fragt. Es sind die Dinge, die ich dort am wenigsten erwartet hätte und wahrscheinlich haben sie sich gerade deshalb mit solch einer Hartnäckigkeit in mein Gedächtnis eingebrannt.
Das zweite was übriggeblieben ist, ist die Erinnerung an das weitläufige, grüne (und am besuchten Tag sehr nasse) Außengelände. Von der Vielzahl von Gebäuden, die dort einst gestanden haben, ist so gut wie nichts mehr erhalten. In Bergen-Belsen findet man allerhöchstens noch eine paar vermoderte Fundamente. Mit den vielen naturbelassenen Flächen wirkt das Gelände mehr wie ein Gedenkpark.
Zu guter Letzt kann ich sagen, dass ich immer wieder zu schmunzeln beginne, wenn ich an meine Erfahrung mit dem schrägen Fußboden in dem Dokumentationszentrum zurückdenke. Zu erleben, wie jeder Schritt einem das Gefühl gibt bergauf zu gehen, ist erstaunlich nachhaltig. Und ich habe es auch wirklich erst begriffen, als ich am höchsten Punkt stand und mich umgedreht habe. In diesem Sinne war Bergen-Belsen die Reise definitiv wert.