Nie wieder 14f13 [Kalender 2018]
von RamonaXX
Kurzbeschreibung
>Nie wieder 14f13, mit achtsamen Schritten auf den Spuren des Holocaust<, unter diesem Titel startet der Kalender für 2018. Zwölf Mal habe ich den Mut gefunden Gedenkstätten des Holocaust und Mahnmale aus der Zeit des Nationalsozialismus zu besuchen. Zwölf Mal war ich tief betroffen und aufgewühlt. Und zwölf Mal habe ich die Kraft aufgebracht meine Gefühle und Gedanken in einer Art Erlebnisbericht niederzuschreiben… [Wer sich nicht sicher ist, ob er das hier wirklich lesen möchte, findet in den ersten Kapiteln ein Geleitwort und einen Prolog.]
GeschichteDrama, Schmerz/Trost / P18 / Gen
01.01.2018
31.12.2018
15
51.875
13
Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
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28.12.2018
4.168
November
Wer nach dem Ursprung von „Arbeit macht frei“ sucht, gelangt zu verschiedenen Quellen, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Fakt ist, dass die Parole im Nationalsozialismus vielfach als Toraufschrift in Konzentrationslagern verwendet wurde. Ihre zynische Bedeutung wird besonders deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass in Konzentrationslagern das erklärte Ziel die „Vernichtung durch Arbeit“ war.
Gedenkstätte Dachau, besucht am 29. September 2018
Für meinen Besuch in Dachau habe ich einen grauen und kühlen Tag ohne Sonne erwischt. Es ist kaum zu glauben wie schnell die Temperaturen mit Beginn des Herbstes gefallen sind, aber so ist es. Und habe ich vor zwei Monaten noch in der prallen Sonne geschwitzt, habe ich jetzt Handschuhe und Mütze im Gepäck.
Losgefahren bin ich übrigens schon vor zwei Tagen. Denn ich will mich in den nächsten zwei Tagen hier unten in der Gegend zwischen München und Landsberg genauer umsehen und habe mich deshalb dazu entschieden das Auto zu nehmen; verglichen mit überfüllten und verspäteten Zügen, eine überaus angenehme Art zu reisen. Und weil mich niemand hetzt und ich alleine unterwegs bin, habe ich mir die über 900 Kilometer lange Fahrt auf zwei Tage aufgeteilt.
Nun stehe ich also hier auf dem Parkplatz und halte schon mal die ersten Gedanken über das Wetter und meine Anfahrt fest. Irgendwann klappe ich mein Notizbuch zu, greife alles was wichtig ist und steige aus dem Wagen. Optimistisch – oder doch eher leichtsinnig? – verzichte ich darauf Handschuhe und Mütze mitzunehmen. Wird schon nicht so kalt werden. Mit diesem Gedanken mache ich mich frohen Mutes auf den Weg.
Begegnungen mit der Religion
Vom Parkplatz führt ein Fußweg zur Gedenkstätte. Ich überquere eine schmale Straße mit Kopfsteinpflaster und einer Bushaltestelle, und keine Minute später finde ich mich vor dem Besucherzentrum umringt von Menschen wieder.
Wow, sind hier viele Leute unterwegs!
Es dauert gefühlt eine Viertelstunde, bis ich mich zum Infotresen durchgeschlagen und mich in der Schlange angestellt habe, bevor ich mein Anliegen vortragen darf. Die Besucher vor mir tragen fast alle Audioguids aus dem Besucherzentrum. Mich reizt das bis heute nicht, mir auf der Erkundung einer Gedenkstätte ein Ohr abkauen zu lassen. Insofern begnüge ich mich mit einem schlichten Faltplan – den es im Gegensatz zu den Sabbelkisten sogar kostenfrei gibt.
Vor dem Besucherzentrum bin ich umgehend wieder umringt von schnatternden Gruppen. Unsicher drücke ich mich irgendwo am Rand herum und studiere meinen Faltplan. Ich muss ehrlich zugeben, dass es mir noch nie so schwer gefallen ist den anderen Besuchern auszuweichen.
Irgendwann zieht die erste Gruppe ab und als sich auch eine zweite Gruppe zusammengewunken von einer Frau auf Französisch in Bewegung setzt, habe ich das Gefühl mich frei bewegen zu können. Es ist wie der erste Atemzug nach einem langen Tauchgang. Eine erste Übersicht des Geländes im Kopf, mache ich mich auf den Weg.
Die Flucht vor den Massen gestaltet sich allerdings nach wie vor schwierig, da wir ja alle das gleiche Ziel haben. Immer wieder muss ich einer Traube von Menschen ausweichen, die irgendwo auf dem Weg zum Lagereingang stehen und aufmerksam einem Menschen mit angeheftetem Namensschild zuhören, der sie auf ihrem Rundgang durch die Gedenkstätte führt.
Aber was mich noch mehr stört, ist das Gefilme und Geknipse überall. Alle machen die Leute mit großen Augen Fotos oder stellen sich an einer beliebigen Stelle auf, um sich von einem ihrer Begleiter filmen zu lassen und einen freien Text in die Kamera zu sprechen, wie bei einer selbst gedrehten Reportage. Ich halte währenddessen meinen Kopf gesenkt und kritzle in mein Notizbuch – unter anderem die Frage, ob es gut oder schlecht ist, diese digitale Art der Dokumentation?
Ruhe sich in diesen Ort einzusprühen, gibt es hier nicht. Dafür wird mir recht schnell klar, dass ich das Wetter unterschätzt habe. Es ist wirklich ein kalter, sonnenloser Herbsttag und ich ärgere mich Mütze und Handschuhe im Auto gelassen zu haben. Zurückgehen will ich aber auch nicht. Ich will nur fort von diesen vielen Menschen.
Der Gang durch das Lagertor – auch hier mit dem Spruch „ARBEIT MACHT FREI“ zwischen den Gitterstäben – wird in dem dichten Besucherstrom zu einem belanglosen Akt ohne jedes Gefühl. Endlich im Inneren stelle ich fest, dass das Lager nicht nur sehr groß, sondern auch sehr offen und weitläufig ist. Es bietet genug Platz den quirligen und schnatternden Besuchergruppen auszuweichen. Was ich auch gleich in Angriff nehme und zum entferntesten Punkt marschiere.
Ankommen tue ich an einem Gebäude, das mit seinen dicken Betonmauern aus dem Boden ragt wie ein unterirdischer Bunker. Dass dieser „Bunker“ eine Kirche seinen soll, will mir irgendwie nicht so recht in den Kopf, aber die Tatsache, dass ein Schild mit „geöffnet“ an der Tür hängt, lässt mich neugierig darauf zugehen.
Auf einer sanften Schräge geht es hinter der Tür einige Schritte bergab und dann stehe ich auch schon mitten in der evangelischen Versöhnungskirche. Es ist ein Raum mit ein paar einfachen Bänken ohne Rückenlehne, einer kleinen Orgel und einem massiven Steinsockel als Altar. Alle Wände um mich herum sind aus grauem Beton, es gibt in dieser Kirche keinen Schmuck, aber eine große Fensterfront in meinem Rücken sorgt für viel Licht.
Ich nehme auf einer der Bänke Platz und beginne in mein Notizbuch zu schreiben. In der Stille dieser kleinen Kirche klingt das Kratzen meines Kugelschreibers auf dem Papier unglaublich laut. Aber ich fühle mich hier wohl, was sicherlich auch etwas damit zu tun hat, dass ich hier allein bin, fern ab vom Trubel am Besucherzentrum oder dem Lagereingang.
Beten war noch nie etwas, das ich mit Überzeugung gekonnt habe, aber vor dem Rausgehen zünde ich noch ein Teelicht an, stelle es zu den anderen und werfe 50 Cent in die Sammelbox. Dann verlasse ich diesen ruhigen und entspannten Ort und mache mich auf zum Nächsten, was mir auf meinem Weg begegnet.
Ich muss nur ein paar Schritte gehen, um auf ein weiteres Gotteshaus zu treffen. Die Todesangst-Christi-Kapelle steht hier als Symbol für alle Katholiken. Und wenn es nicht schon der Name sagen würde, so wäre es der Anblick dieses Gebäudes: Die Katholiken sind einfach anders; irgendwie demütiger.
Es ist einer der Gründe, warum ich ganz zufrieden damit bin evangelisch getauft worden zu sein. Für mich steckt da etwas Positives drin, nicht in der Taufe als solche, sehr wohl aber im evangelischen Glauben. So wie es Bonhoeffer gesagt hat und ich es gerne glauben möchte: „Von guten Mächten wunderbar geboren…“
Anders sieht es bei den Katholiken aus, dort bekomme ich immer das Gefühl ich müsste das Haupt senken, zu Boden schauen und mich schuldig fühlen. Und genau diesen Eindruck vermittelt mir auch das mächtige Gebäude vor dem ich jetzt stehe.
Es ist ein hoher, runder Turm aus riesigen Steinblöcken, der an der Vorderseite von unten bis oben eine durchgehende Öffnung hat. Wie einer dieser Kreise, deren Öffnungsrichtung man beim Sehtest angeben soll – nur eben als gemauerter Turm. In der Mitte befindet sich, über ein paar Treppenstufen zu erreichen, ein Altar. Darüber hängt ein mächtiges Holzkreuz, das ungewöhnlicher Weise vier gleich lange Schenkel hat. Vor schlechtem Wetter geschützt, wird dieser freiluftig Ort von einem runden Kuppeldach aus Holz.
Hier möchte ich keine Kerze anzünden.
Mit einem fast schön bedrückenden Gefühl verlasse ich nach einer kurzen Runde um den Altar die Kapelle und ziehe weiter. Und wieder sind es nur ein paar Schritte bis ich vor der nächsten religiösen Gedenkstätte stehe.
Nicht nur die Christen haben in Dachau einen Gedenkort ihres Glaubens errichtet, auch die Juden haben hier eine eigene Gedenkstätte und dass diese sich wesentlich von den ersten beiden unterscheidet, ist auf den ersten Blick zu sehen.
Von einem Dach überschattet, liegt ein kleiner gemauerter Raum halb in der Erde versenkt. Eine sanfte Schräge führt hinab zu diesem – auf den zweiten Blick mit einer Eisenpforte verschlossenen – Raum, der mich im ersten Moment an ein begehbares Grab auf einem Friedhof erinnert.
Achtsam setze ich einen Fuß vor den anderen und folge der flachen Schräge. Über dem Eingang lese ich einen Bibelspruch, der auf die Worte endet: „ERFAHREN SOLLEN DIE VÖLKER, DASS SIE STERBLICH SIND. Psalm 9,21“ Die Eisenpforte steht offen und auf ihr prangt ein goldener Davidstern. Mit dem Gefühl einen andächtigen Ort zu betreten, wage ich mich hinein.
Im Inneren ist es nicht so dunkel wie ich erwartet habe. Licht fällt durch die offene Pforte und meine Augen gewöhnen sich schnell an die Dunkelheit. Die Wände mit Gedenktafel auf Hebräisch und ein paar welken Blumen geschmückt, endet der ovale Raum in einer Säule aus weißem Marmor, an der das Licht aus einer Öffnung in der Decke wie ein Wasserfall runter zu fließen scheint.
Auch wenn ich mich wenig mit dem jüdischen Glauben beschäftigt habe, muss ich doch sagen, dass ich an diesem Ort eine deutliche Anteilnahme und so etwas wie Verbundenheit spüre.
Es ist ein wundersames Gefühl, als ich mich nach einigen Minuten des Stauens und Schweigens auf den Weg nach draußen mache, die Schräge wieder hinauf gehe und mir eine blendende Sonne genau ins Gesicht scheint. Es ist, als würde ich aus dem Dunkel ins Licht laufen, geradewegs in den Himmel hinein.
Die Pappeln der Lagerstraße
Wieder auf ebener Erde angekommen, stelle ich fest, dass ich nicht im Himmel aber zurück auf dem Lagergelände von Dachau bin. Die Sonne die eben kurz durch die Wolken geblinzelt hat, ist genauso schnell wieder verschwunden und ihre plötzlich fehlende Wärme, erinnert mich daran wie kalt es an diesem Tag ist. Kurzerhand fasse ich den Entschluss als nächstes eine beheizte Ausstellung aufzusuchen, um mich etwas aufzuwärmen.
Der Weg zur Hauptausstellung führt von den religiösen Gedenkstätten über die Lagerstraße und zwischen den Baracken hindurch. Nichtsahnend was mir auf dieser breiten Allee aus Pappeln begegnen könnte, gehe ich los.
Ich brauche mich gar nicht allzu weit zu bewegen, bis ich das erste Mal erstaunt stehen bleibe. Ein gutes Stück von mir entfernt steht eine Frau mittleren Alters, die ihr offenes, langes und rostbraunes Haar mit der Hand aufschüttelt und es lasziv über ihre Schulter fallen lässt, bevor sie eine präsentierende Körperhaltung einnimmt.
Keine fünf Meter entfernt entdeckte ich ihren Begleiter, der eifrig auf den Auslöser seiner Kamera drückt. Ist ein Konzentrationslager der richtige Ort um posierende Fotos zu machen? Wohl kaum. Ich schüttle den Kopf über dieses Verhalten und setze mich wieder in Bewegung, unwissend, dass mir heute noch weitere dieser Kuriositäten begegnen werden.
Über den breiten Kiesweg zu gehen, der rechts und links von hohen Pappeln und den Fundamenten der Baracken flankiert ist, sorgt bei mir für gemischte Gefühle. Es fällt mir schwer diesen Ort zu „fassen“, denn da sind überraschend viele Nebenbegebenheiten, die ablenken. So zum Beispiel die laute Bundesstraße, die die Gedenkstätte von einem Gewebegebiet trennt oder der Lärm der Flugzeuge, die über das Lager hinweg fliegen um am Münchener Flughafen zu landen.
Schnell gewinne ich den Eindruck, dass der Boden unter meinen Füßen stumm ist, sich ausschweigt über die vielen Häftlinge, die ihn beschritten haben. Als wären in den vergangenen Jahrzehnten zu viele Besucher achtlos darüber hinweg getrampelt.
Dachau kommt mir „abgelaufen“ vor. Und genau diesen Gedanken sehe ich bestätigt, wenn ich in die Gesichter der Menschen schaue, die mir entgegenkommen. Sie schlendern, flanieren oder schlurfen und machen dabei Fotos. Ziel- und planlos knipsen sie in der Gegend umher, aber keiner von ihnen fühlte oder nimmt sich die Zeit dem Ort als solchem zu lauschen.
Was mit einer posierenden Frau zum Fotoshooting vor der falschen Kulisse begann, wird von einer Gruppe junger Asiatinnen um Längen getoppt. Mir entgegenkommen fünf, vielleicht sechs wild schnatternde Frauen, ein helles Lachen auf den Gesichtern und – mit Selfie-Sticks in den Händen?!
Wie in Gottes Namen (und ich benutze diese Worte nicht leichtfertig) kann man so unverfroren sein?
Die schnatternden Gänse ziehen an mir vorbei, fröhlich mit ihren Selfie-Sticks wedelnd, in denen teure Smartphones mit dem angebissenen Apfel stecken. In der Tat brauche in einen Moment um mich von diesem Schock zu erholen. Und dann kommt mir plötzlich der Gedanke, dass mein eigener Horizont eventuelle etwas zu enge gesteckt ist, um dieses Verhalten richtig einzuordnen.
Vielleicht unterschätze ich schlicht die Bedeutung von Technik in der asiatischen Kultur? Ich meine, sieht man die Touristen aus Asien nicht auch sonst mit großen Kameraobjektiven und Selfie-Sticks übers Oktoberfest in München und um den Kölner Dom laufen?
Als die Gruppe weit genug entfernt ist und ich die Bilder aus meinem Bewusstsein geschoben habe, finde ich zurück zu diesem Ort. Endlich gehe ich ein paar Schritte allein, ohne dass mir jemand begegnet. Der Kies knirscht unter meinen Schuhsohlen, der Wind frischt auf und eine kräftige Böe lässt die welken Blätter auf dem Boden in einem kleinen Tornadowirbel tanzen.
Einer inneren Eingebung folgend bleibe ich mitten auf der Straße stehen, schließe meine Augen und nehme etwas wahr, was ich schon für verloren hielt. Die Pappeln singen ein Lied. Es ist ein melancholisches Lied, voller Trauer und Schmerz aber auch von Hoffnung und Frieden. Ein Lied, dem ich gerne lausche.
Ausstellung im Wirtschaftsgebäude
Auf dem letzten Stück der Lagerstraße begegnet mir eine Reisegruppe aus Bolivien, was an der Aufschrift der bedruckten Jacken ihrer Reiseleiter gut zu erkennen ist. Ich selbst bin gerade mal 900 Kilometer mit dem Auto gefahren um nach Dachau zu kommen. Aber aus Südamerika nach Europa zu reisen und sich dann einen solchen Ort anzusehen, hinterlässt ein Gefühl des Beeindruckt-Seins bei mir.
Das ehemalige Wirtschaftsgebäude ist imposant und erinnert mich stark an meinen Besuch in Neuengamme, wo ich sprachlos vor dem gigantischen Klinkerwerk gestanden habe. Bevor ich jedoch den Eingang zur Ausstellung aufsuche, tragen mich meine Füße noch zum internationalen Mahnmal, das vor dem Gebäude steht.
Es ist ein Mauerstück, auf dem nicht mehr steht als „1933 – 1945“. Darüber sehen ich – bereits aus weiter Ferne gut zu erkennen – ein übergroßes aus Eisen geschmiedetes Stück eines Stacheldrahtzauns. Doch Halt! Was ist das?
In dem Zaun hängen hagere, ausgezehrte Menschen. Ich muss direkt davor treten und mag es auch dann noch nicht vollkommen begreifen. Was ich für geschmiedete Zaunelemente gehalten haben, sind in Wahrheit die aus Eisen geformten mageren Glieder und Körper von Menschen. Die Menschen sind der Zaun!
Atemlos stehe ich vor diesem Mahnmal und blicke auf. Es ist mir unmöglich die Formen wiederzufinden, die ich für Stacheldraht gehalten habe, alles was ich sehen kann, sind Arme, Beine, Hälse, Rippen und Köpfe mit eingefallen Gesichtern.
Erst das Plärren eines Kindes sorgt dafür, dass ich mich verwirrt von dem Gebilde löse. Die angespannte Mutter, die schaukelnd den Kinderwagen vor sich herschiebt, ihr älteres Kind an der Hand, kommt mir unwirklich vor. Es ist, als würden sich die Grenzen zwei grundverschiedener Universen hier und jetzt an genau diesem Punkt, zu exakt dieser Zeit schneiden.
Benommen setze ich mich in Bewegung und bevor es wirklich in die Ausstellung geht, mache ich noch einen letzten Schlenker. Auf einer Steintafel die zum Mahnmal gehört, entdecke ich die Aufschrift: „NIE WIEDER“. In meinem Kopf ergänze ich 14f13 und alles ergibt einen Sinn.
Kaum in der Hauptausstellung wird mir schnell wieder bewusst, dass ich mich in einer der meistbesuchten Gedenkstätten befinde. Der Andrang ist wirklich groß und ich bleibe eine Weile im Eingangsbereich stehen, lasse die neugierigen Scharren an mir vorbeiziehen und studiere dabei eine übergroße Karte auf der nahezu alle Gedenkstätten eingezeichnet sind, die ich bis jetzt besucht habe.
Dann ziehe auch ich los und mache mich auf den Weg durch das entkernte und renovierte Gebäude, dem man sein Alter aber durchaus ansieht.
Die Ausstellung ist umfangreich und mehr als gut besucht. Beinah kommt es mir so vor als würde ich hier durch ein Museum streifen, in dem irgendeine angesagte Ausstellung über Dinosaurier oder den menschlichen Körper stattfindet. Nur wie ein Ort des Gedenkens an etwas furchtbar Schreckliches kommt es mir nicht vor.
Auf einer Infotafel, wo alte Werbeplakate abgedruckt sind, lese ich: „Ein Frontsoldat wählt Adolf Hitler.“ Gut das ich kein Frontsoldat bin, denke ich mir und gehe kopfschüttelnd weiter. Es ist wirklich schwer nachzuvollziehen, wie die Menschen solchen Aussagen damals Glauben schenken konnten. Andererseits habe ich nicht in ihrer Zeit gelebt.
Die Ausstellung zieht sich hin und immer mal wieder muss ich einer großen Traube von Menschen ausweichen, wenngleich sich an keinem ihrer Sammelort das präparierte Skelett eines Tyrannosaurus auftut. Stattdessen gibt es hier unzählige Informationen zu den Opfern, ihrer Geschichte und ihrer Herkunft, als auch über die Zustände und die Entwicklung und Geschichte des Lagers. Es sind ohne Frage mehr Details als ich aufnehmen oder in mein Notizbuch schreiben kann.
Irgendwann erreiche ich den Kinosaal und nehme Platz um mir die angekündigte, 20 minütige Vorstellung über das Lager auf Deutsch anzusehen. Es verblüfft mich, als ich den dunklen Kinosaal wieder verlasse und feststelle, dass ich erst die Hälfte der Ausstellung gesehen habe, wo mein Zeitgefühl mir doch sagt, dass ich schon seit mehreren Stunden hier umher wandere.
Ich hätte nicht erwartet das zu sagen, aber diese Ausstellung ist eindeutig zu groß.
Reichlich mit Informationen gesättigt, schleppe ich mich durch die zweite Hälfte. Ich bin umringt von fremden Leuten, die fremde Sprachen sprechen und von Portraits, die Biographien erzählen, die ich mir nicht merken kann. Es ist alles zu viel. Zu viele Geräusche, zu viele Informationen, zu viele Flyer in den Händen anderer Besucher, die meine Augen automatisch abscannen und anhand der Aufschrift auf die Nationalität des Trägers schließen.
Auch in dieser Ausstellung findet sich ein Abschnitt über medizinische Experimente und die Nürnberger Prozesse. Die gezeigten Bilder summieren sich mit meinen bisher gesammelten Eindrücken und multiplizieren sich mit meiner Müdigkeit. Und so stelle ich mir ernsthaft die Frage, ob es nicht doch einen Punkt gibt – weit entfernt von meinem bisherigen Horizont – an dem das Töten von Mördern gerechtfertigt ist?
Den gedanklichen Anstoß zu einer Antwort, liefert mir (wie schon in Ravensbrück) Karl Marlantes, ein Vietnam-Veteran und Buchautor. Erst kürzlich las ich in einem seiner Bücher: »Die Antwort auf Gräuel durch gefallene Standards besteht darin, niemals ein Verhalten zu erlauben, das von den öffentlich deklarierten Idealen abweicht. Das heißt, es gilt, auch kleine Verfehlungen schnell zu betrafen, und das mit Mitgefühl und Verständnis.« (2)
Ich trotte weiter dem unverhofften Ausgang der Ausstellung entgegen und frage mich, was eigentlich der Sinn und Zweck einer Bestrafung ist. Geht es um Vergeltung? Um Rache? Um Genugtuung für die Opfer?
Der biblisch angehauchte Satz: „Was Du nicht willst, das man dir tue, das füg auch keinem andern zu“ hat in meinen Augen einen überaus wahren Kern. Aber habe wir das Recht ihn einfach so umzukehren in: „Was Du getan hast, das fügen wir nun dir zu“?
Mir gefällt der Gedanke mit »Mitgefühl und Verständnis« zu bestrafen, und nicht aus Hass, Wut oder blindwütigem Zorn. Andererseits, wer kann im Angesicht der Gräueltaten des Nationalsozialismus noch behaupten objektiv zu sein?
Tatsächlich am Ausgang angekommen, stoße ich noch kurz auf einen Teil des originalen Lagertors, bevor mich eine Wand mit allerhand Namen anzieht. Nein, keine Opfer und auch keine Täter. Es sind die Namen der Menschen, die an dieser Ausstellung mitgewirkt und die geschichtlichen Informationen zusammengetragen und aufbereitet haben.
In der langen Liste findet sich kaum ein Name, der nicht mit Professor, Doktor oder zumindest Diplomingenieur beginnt – von den Mehrfachtiteln mit Habilitation mal ganz abgesehen. So viele schlaue Akademiker drehen und bewegen sich um dieses Thema, und dann stehe ich hier, als einfacher Autor mit meinem Notizbuch in der Hand.
Ein letztes Krematorium
Raus aus dem Gebäude und zurück an der frischen Luft, bin ich überrascht, dass es sonnig und spürbar wärmer geworden ist. Den Wunsch mir eine Mütze aufzusetzen und Handschuhe anzuziehen, kann ich nicht mehr bei mir entdecken.
Theoretisch hätte ich allen guten Grund, mich jetzt mit meinem vollkommen überfrachteten Kopf auf den Weg zu meinem Auto zu machen, aber der Faltplan in meiner Hand erinnert mich daran, dass ich mir einen wichtigen Ort noch nicht angesehen habe – das Krematorium.
Ich wäge einen Moment ab. Will ich wirklich noch Mal bis ans andere Ende des Lagers stapfen, um etwas zu sehen, was im Kern nichts Neues beinhaltet? Eigentlich nicht. Aber was, wenn dort doch eine Erkenntnis auf mich wartet und sich der Weg lohnt?
Ungeachtet der vielen Eindrücke aus der Ausstellung ziehe ich los, hauptsächlich von dem Gedanken getragen, dass dieses Krematorium, das letzte ist, welches ich mir ansehe.
Der Weg dorthin gestaltet sich interessanter als erwartet, da ich plötzlich das entdecke, was ich am Anfang vermisst habe: Menschen, die fühlen. Ich sehe eine Frau, die reglos auf der Lagerstraße steht und zu den Pappeln aufblickt. Ein Mann, der abseits auf einer Grünfläche steht und nacheinander in jede Himmelsrichtung schaut. Und noch eine Frau, fast schon eine alte Dame, die mit ihrem Rollator vor einem der Barackenfundamente steht und… betet?
Überraschend wach setze ich einen Fuß vor den anderen und frage mich, wo plötzlich all diese fühlenden Menschen herkommen. Das Gegenteil lässt nicht lange auf sich warten, denn bereits am Eingang zum Gelände des Krematoriums sehe ich zwei halbstarke Teenager, die offensichtlich gebannt vor einer bebilderten Texttafel stehen.
Die beiden Jungen sind vielleicht 16 oder 17. Sie zücken ihre Mobiltelefone und machen Nahaufnahmen von einem schwarz-weiß Bild, das einen nackten, toten Körper zeigt. Von einem gewissen Standpunkt aus, kann ich ihnen ihr Handeln nicht verübeln. Denn seien wir doch mal ehrlich, das Morbide zieht den sicheren Menschen an! Warum sonst verkaufen sich Kriminalromane und Horrorgeschichten (neben Erotikliteratur) so gut? Sex und Gewalt faszinieren den Menschen – und dass nicht erst seit gestern.
Das Gelände des Krematoriums erinnert mich stark an einen hübsch angelegten Garten, mit geschnittenen Hecken, feinen Kieswegen und Beeten. Es gibt Orte, die sollte man nicht betreten. Und die offenen Desinfektionskammern, die ich mir als erstes ansehen und die so hoch sind, dass ich aufrecht hindurch spazieren könnte, gehören eindeutig dazu.
Von einem Dutzend anderer Besucher umgeben und doch mit einem mulmigen Gefühl betrete ich das Hauptgebäude. Die Gaskammer ist niedrig und auch wenn es nur wenige Schritte zur anderen Seite sind, verfolgt mich auf dem kurzen Stück ein taubes Gefühl. Und dann stehe ich auch schon vor ihnen – den letzten Öfen, die es zu betrachten gilt.
Ihre Form unterscheidet sich nicht und auch die Art wie sie auf stille Weise mahnend dastehen und dezent mit welken Trauerkränzen geschmückt sind, ist nicht anders als in anderen Gedenkstätten. Sich vorzustellen, wie viele Menschen hier den Tod fanden, lässt mich unruhig nach einem Ausgang suchen, einem emotionalen Ausgang.
Im Angesicht von so viel Leid, rückt mir wieder ins Bewusstsein, wie viel Bedeutung Spiritualität im Krieg und gegen Grausamkeit hat. Nicht umsonst wenden sich Menschen in der Not einer Religion zu, finden ganz allgemein zu Gott, oder erzählen sich alte Kriegerstämme Mythen und bereiten sich ebenso mit Ritualen auf den Kampf vor, wie sie damit ihre Toten ehren und betrauern. Es ist der emotionale Ausgang, den wir vermutliche alle brauchen, um unseren Frieden mit einer Sache zu finden, die unser Verständnis von der Welt übersteigt.
Mit dem Gefühl einen guten Schlussstrich gezogen zu haben, verlasse ich das Krematorium. Inzwischen ist es frühlingshaft-herbstlich heiß. Zeit nach Hause zu gehen.
◦ Die 1965 gegründete Gedenkstätte von Dachau zählt heute zu den mit Abstand bekanntesten in Deutschland. Nur 20 Kilometer von Münchens Stadtzentrum entfernt, ist Dachau eine Anlaufstelle für viele internationale Touristen und zählt jährlich über 800.000 Besucher.
◦ Direkt an das Lagergelände angeschlossen und über dieses zugänglich liegt ein kleines Kloster. Unter dem Namen „Karmel Heilig Blut“ befindet sich dort seit 1964 ein Kloster der Karmelitinnen, in dem rund 20 Schwersten leben.
◦ Von allen Konzentrationslagern, die in der Zeit des Nationalsozialismus entstanden, war Dachau das erste. Es wurde bereits im März 1933 – kurz nach der Ernennung von Hitler zum Reichskanzler – errichte. Bis zum Eintreffen amerikanischer Truppen im April 1945 vergingen volle 12 Jahre. Kein Lager in der Geschichte hat länger existiert.
Kommentar zu Dachau, vom 09. Dezember 2018
Die Erinnerungen an die letzte große Gedenkstätte auf meiner Liste sind erstaunlich lebhaft. Was sicherlich auch daran liegen mag, dass mein Besuch dort erst zwei Monate her ist. Dachau ist groß, groß und überdurchschnittlich gut besucht, soviel lässt sich sagen. Man muss schon wirklich ganz genau hinsehen und -spüren, wenn man dort einen ruhigen Moment des Gedenkens finden will.
Dennoch würde ich sagen, dass sich ein Besuch mehr als lohnt. Allein die Ausstellung ist es wert, sich von der Fülle an Informationen kurzeitig erschlagen zu lassen. Im Flyer habe ich übrigens nachgelesen, dass die Ausstellung sage und schreibe 4.000 m² umfasst. Kein Wunder, dass meine Aufnahmekapazität da irgendwann die Segel gestrichen hat.
Was mir erst aufgefallen ist als ich schon längst zurück im Hotel war, ist, dass es auf dem weitläufigen Gelände noch einen Ort mit einer Ausstellung gibt, nämlich das ehemalige Lagergefängnis. Ich kann heute wirklich nicht mehr sagen, warum mein Blick beim Betrachten des Faltplanes nicht einmal daran hängen geblieben ist, aber ich hab das Gebäude glatt übersehen.
Abschließend kann ich sagen, dass mein Besuch in Dachau sich wie ein sinnvoller Abschluss angefühlt hat. Und wer wissen will, wie es dort ist, dem empfehle ich sich an einem windigen Tag auf die Lagerstraße zu stellen und zuzuhören. Die Pappeln erzählen, was keine Worte jemals fassen können.
Zitatnachweis:
(2) Karl Marlantes, Was es heisst, in den Krieg zu ziehen (Arche Literatur Verlag AG, Deutsche Erstausgabe, 1. Auflage 2013), Seite 148.