Nie wieder 14f13 [Kalender 2018]
von RamonaXX
Kurzbeschreibung
>Nie wieder 14f13, mit achtsamen Schritten auf den Spuren des Holocaust<, unter diesem Titel startet der Kalender für 2018. Zwölf Mal habe ich den Mut gefunden Gedenkstätten des Holocaust und Mahnmale aus der Zeit des Nationalsozialismus zu besuchen. Zwölf Mal war ich tief betroffen und aufgewühlt. Und zwölf Mal habe ich die Kraft aufgebracht meine Gefühle und Gedanken in einer Art Erlebnisbericht niederzuschreiben… [Wer sich nicht sicher ist, ob er das hier wirklich lesen möchte, findet in den ersten Kapiteln ein Geleitwort und einen Prolog.]
GeschichteDrama, Schmerz/Trost / P18 / Gen
01.01.2018
31.12.2018
15
51.875
13
Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
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25.11.2018
3.740
Oktober
Ist der menschliche Körper über längere Zeit einer Mangelernährung ausgesetzt, stellt der gesamte Organismus seinen Energiehaushalt um. Wird dem Körper dann urplötzlich wieder eine normale Nahrungsmenge zugeführt, ist er mit der aufgenommenen Energie überfordert. Es entsteht ein lebensbedrohliches Ungleichgewicht, das zu Wassereinlagerungen, Herzproblemen, Störungen der Atmung, sowie Koma und Krämpfen führen kam – dem so genannten Refeeding-Syndrom.
Gedenkstätte Natzweiler-Struthof, besucht am 03. August 2018
Es kommt mir wie ein Déjà-vu vor, als ich halb verschlafen meine Umgebung betrachte und feststelle, dass ich mal wieder zu unmenschlicher Zeit im Zug sitze, unterwegs zu meiner zweiten Auslandsreise. Allerdings geht es diesmal in eine andere Richtung. Statt auf Südost zeigt mein Kompass heute nach Südwest. Noch präziser ausgedrückt, auf die Deutsch-Französische Grenze bei Straßburg.
Die lange Zugfahrt endet nach einem chaotischen, heißen Sommertag mit Zugausfällen und Verspätungen in Offenburg, wo ich mir ein Hotelzimmer gebucht habe. Wie ein Stein falle ich nach der anstrengenden Reise im klimatisierten Zimmer ins Bett, um noch etwas Schlaf zu tanken, bevor es morgen mit dem Mietwagen über die Grenze und nach Natzweiler zur Gedenkstätte geht.
Der Rucksack mit den wenigen Sachen, die ich auf meiner Reise brauche, ist am nächsten Morgen schnell gepackt und die Tankstelle gegenüber vom Mietwagenzentrum sorgt für den nötigen Proviant. Grundsätzlich fahre ich nicht weit, aber wer weiß, was unterwegs alles passieren kann?
In Österreich habe ich mich schnell akklimatisiert, was sicher nicht zuletzt daran lag, dass ich darauf vertrauen konnte alles auf Deutsch zu regeln und mich zurechtzufinden. Aber Frankreich? Das ist für mich absolut neues Terrain (sieht man mal davon ab, dass meine Eltern mit mir und meinem Bruder zu Kindertagen in Disneyland gewesen sind) und mein gegenwärtiger französisch Wortschatz umfasst sage und schreib fünf Vokabeln. Wie soll ich damit nur klarkommen?
Da hilft es mir auch nicht viel, mich daran zu erinnern, dass Freunde mir vor meinem Aufbruch auf die Schulter geklopft und zu mir gesagt haben, dass im Elsass heute noch viele Einheimische Deutsch sprechen oder es zumindest verstehen. Und überhaupt, es wäre so oder so eine Touristengegend und ich sollte mir da mal keinen Kopf machen.
Tue ich aber trotzdem. Und der Gedanke, der sich fortwährend auf der Fahrt wiederholt, lautet: Bloß keinen Unfall bauen… Bloß keinen Unfall bauen… Unruhig umklammere ich das Lenkrad etwas fester, den Blick auf die Straße vor mir gerichtet. Plötzlich bin ich auf einer Brücke und überquere schon im nächsten Moment den Rhein.
Willkommen in Frankreich!
Kunst und bunte Bilder
Ich fahre gut eineinhalb Stunden, bevor ich mit der Hilfe eines unzuverlässigen Navigationssystems und meinem handfesten Autoatlas – der tatsächlich zu den Dingen gehört, mit denen ich angereist bin – mein Ziel erreiche. Allein dafür habe ich das Gefühl ein Schulterklopfen verdient zu haben.
Wieso zum Henker hat mir eigentlich vorher keiner gesagt, dass der Elsass eine zerklüftete Berglandschaft ist und ich steile Serpentinen mit einem gemieteten Schaltwagen erklimmen muss? Für so einen Küstenfisch wie mich, der am Strand stehen und Kilometer weit über die Ostsee schauen kann, sind das hier alpine Verhältnisse!
Aber egal, ich hab’s ja unfallfrei rauf geschafft. Also, nur Mut und auf geht’s zur Besichtigung der Gedenkstätte.
Der Parkplatz ist recht klein, mit hohen Hecken bepflanzt und es dauerte einen Moment bis ich mich orientiert habe. Was mir sofort auffällt und auch nicht auszublenden ist, ist die stechend helle Sonne, die mir ins Gesicht scheint. Ohne Frage wird es ein heißer Tag werden, selbst wenn es jetzt zum Vormittag noch eine Temperatur hat, die einen ein Picknick planen lässt.
Ich sehe in den Himmel auf und reflexartig schnellt meine Hand an die Stirn, um meinen Augen Schatten zu spenden. So geschützt, lässt sich ein selten gesehenes Phänomen beobachten. An einem klaren, hellblauen Himmel steht nicht nur eine leuchtende Sonne, sondern auch ein prachtvoller, weißer Mond mit grauen Tupfern, als wären die Krater auf seiner Oberfläche Sommersprossen. Es gibt diese Tage, an denen der Mond heller zu leuchten scheint als in der Nacht. Solch ein Tag ist heute.
Mein Notizbuch in der Jackentasche und die Jacke – aufgrund der sommerlichen Temperaturen – über dem Arm ziehe ich los. Immer der Nase nach. Oder einfach dem Schild mit der Aufschrift „Exhibition“ folgend.
Es geht ein paar Stufen rauf, dann durch eine schmale Öffnung in einer grauen Wand, die den Parkplatz vom Weg zur Gedenkstätte trennt und mit einem weiteren Schritt stehe ich einem mächtigen Kunstwerk gegenüber.
Auf dem Grünstreifen vor mir befindet sich ein beachtliches Gemälde, das in seinen Abmessungen mehrere Meter betragen mag, aufgedruckt auf ein Material, das wetterfest und beständig erscheint. Doch weder die Größe, noch die Machart halten meinen Blick fest. Es ist eindeutig das Motiv.
Nein, keine Szene aus dem Holocaust, sondern etwas Abstraktes, das gleichzeitig leuchtend bunt ist und mit der Sonne um die Wette zu strahlen scheint. Es ist ein, in meinen Augen, schönes Bild, das mich eine gewisse Zeit festhält, bevor ich mich mit einem Lächeln löse und zum nächsten weitergehe. Tatsächlich steht eine ganze Reihe dieser Kunstwerke hier draußen und flankiert den Weg zum Besucherzentrum.
Einen so freundlichen Empfang habe ich noch in keiner Gedenkstätte erlebt. Wobei ich nicht leugnen möchte, dass das Wetter seinen Teil dazu beiträgt. Ich befinde mich hier auf über 700 Meter Höhe, mit einem klaren Himmel samt Sonne und Mond über mir und umringt von hohen Kiefern, die mit ihren grünen Nadeln die nicht vorhandenen Wolken kitzeln.
Je näher ich dem Besucherzentrum komme, desto mehr rückte die schöne Natur in den Hintergrund und ich erinnre mich wieder daran, wo ich hier bin und was ich hier will. Ein wenig unsicher bleibe ich vor dem Eingang stehen und beobachte die wenigen anderen Besucher, die sich hier rumtreiben. Aus einiger Entfernung versuche ich auszumachen, was ich tun muss, um an einen Eintrittskarte zu kommen. Denn dass ich die in Natzweiler brauche, habe ich vorher schon im Internet rausgefunden.
Mein bestes Touristenenglisch zusammenkratzend, nehme ich Kurs auf den Eingang, grüße wie die zwei Besucher vor mir den Pförtner an der Tür mit einem Nicken und steure auf den Empfangstresen zu. Wäre doch gelacht, wenn meine Besichtigung an einer Sprachbarriere scheitert!
Widerstand im Kartoffelkeller
Wie sich schnell herausstellt, ist alles halb so wild. Ein paar Sätze einfachstes Englisch und schon halte ich eine Eintrittskarte zum Außengelände und einen Faltplan auf Deutsch in der Hand. Diese Hürde wäre genommen.
Mein erster Weg im Besucherzentrum führt mich in einen kleinen Kinosaal, wo es laut der Dame am Empfang ein Einführungsvideo zu sehen gibt. Das Video läuft auf Französisch mit englischem Untertitel als ich Platz nehme und von den bewegten Bildern auf der Leinwand magisch angezogen werde.
Selbst wenn ich nur einzelne Vokabeln verstehe und überwiegend dem Untertitel folge, greife ich nebenbei in meine Jackentasche und kritzle eilig einige Eckdaten hinein. Darunter zum Beispiel, dass die Sterblichkeitsrate in Struthof 40 Prozent betrug und die Gedenkstätte in den Wintermonaten wegen der starken Schneemassen geschlossen ist. Wie es für die Häftlinge gewesen sein muss mit dieser harten Witterung klarzukommen, ist schwer vorstellbar.
Die zweite Version des Videos läuft in Englisch und auch dieser schenke ich meine ganze Aufmerksamkeit. Als dann im dritten Durchlauf eine deutsche Version gezeigt wird, habe ich das Gefühl genug gesehen zu haben und ziehe weiter.
Ich weiß nicht ob es Zufall oder vom Architekten des Gebäudes angelegte Absicht ist, aber an einer Seite des Kinosaals führt eine Treppe runter ins Dunkle und Unbekannte. Und wie sooft wird meine erste Vorsicht rasch von meiner großen Neugier überblendet. Gespannt steige ich hinab.
Das erste was mit auffällt, ist die Kälte. Es ist diese typische klamme Kälte, wie man sie in leicht feuchten Kellern findet. Unangenehm riechen tut es hier unten nicht. Dafür ist das zweite, was mir auffällt, die Tatsache, dass ich kaum etwas erkennen kann. Es ist düster in diesem großen, fensterlosen, flachen Raum, der nur von einzelnen Spots unter der Decke und beleuchteten Schaukästen und Texttafel an den Seiten erhellt wird.
Alles klar, ich bin in einer Ausstellung gelandet!
Interessiert wende ich mich dem ersten Schaukasten zu, lasse die Bilder auf mich wirken und beginne zu lesen. Wie das Eingangsvideo ist die Ausstellung dreisprachig gestalte. Und was das Ganze besonders spannend für mich macht, ist der Fakt, dass ich hier auf französischem Boden stehe. Wie sieht, dokumentiert und präsentiert ein anderes Land die deutsche Geschichte in ihrer Zeit des Nationalsozialismus?
Auf diese Frage bekomme ich recht schnell eine Antwort, kaum dass ich zum zweiten Schaukasten gewechselt habe. Die gesamte Ausstellung befasst sich mit dem Thema des „Widerstandes“. Angefangen damit wie Hitler an die Macht kam, die Wehrpflicht wieder eingeführt wurde und England und Frankreich am 03. September 1939 dem Deutschen Reich den Krieg erklärten.
Das klingt vielleicht nach trockenen, historischen Fakten, aber die Art wie sie in diesem Keller aufbereitet sind und sich als kleine Schnitzeljagd von einer Texttafel zur nächsten ziehen, weckt den „Schnitzeljägerinstinkt“ in mir. Es hat eine magnetische Wirkung auf mich, mich in die Ereignisse und Zusammenhänge einzulesen und dabei festzustellen, dass durchaus Namen auftauchen, die ich schon einmal gehört habe. Namen wie Churchill oder De Gaulle.
Das Einzige, was es wirklich schafft mich für einen Moment von den Texten und Bildern abzulenken, ist der Fußboden. Ich muss unwillkürlich an meinen Besuch in Bergen-Belsen denken, als mir auffällt, dass der Boden unter meinen Füßen auf der einen Seite des Kellers ansteigt und auf der anderen wieder abfällt.
Es ist eine durch und durch bemerkenswerte Ausstellung, die sich hier unten in dem ehemaligen Kartoffelkeller befindet. Und irgendwie bin ich dankbar, dass ich sie fast für mich alleine habe, da nicht viele Besucher ihrer Neugier nachzugeben scheinen und den Abstieg wagen.
Verlassen tue ich den Kartoffelkeller auf gleichem Weg, wie ich ihn betreten habe, allerdings mit der bewegenden Geschichte einer ganzen Widerstandsbewegung im Rücken.
Museum und Außengelände
Draußen geht es weiter. Meine Jacke über dem Arm, folge ich dem Weg zum Lagergelände. Es ist sehr warm und irgendwie habe ich das Gefühl, dass die Tageshöchsttemperatur noch nicht erreicht ist.
Die hohen Schatten spendenden Tannenbäume am Wegrand enden abrupt und ich finde mich auf einem kleinen umzäumten Vorplatz wieder, mit einer Aussicht, die ihresgleichen sucht!
Wie Wattenmeer und Leuchttürme aussehen ist für mich kein Geheimnis und hat auf mich als einheimisches Nordlicht kaum eine Faszination – aber Berge! Noch nie habe ich eine so unebene Landschaft gesehen, die sich grün bewaldet als unregelmäßige Formation bis zum Horizont zieht.
Der Ausblick ist fantastisch und dass es vor meiner Nase mit satten 20 Prozent Gefälle abwärts geht und in meinem Rücken ein bedrohliches Lagertor aus Holz und mit Stacheldraht bespannt steht, blende ich für die ersten Minuten gänzlich aus.
Erst die vereinzelten Besucher, die sich hier und da ebenfalls an den Holzzaun stellen und auf ähnliche Weise von der Natur begeistert sind, erinnern mich daran, dass ich eine Mission habe.
Widerwillig löse ich mich von der traumhaften Landschaft und gehe auf das Tor zu. Meine Bewegungen rufen mir in Erinnerung wie heiß es ist und dass ich besser daran getan hätte regungslos an dem Zaun stehenzubleiben, aber ums Schwitzen werde ich heute wohl kaum herum kommen.
Das Lagertor hat eine düstere und abschreckende Ausstrahlung und es mir bewacht von Männern in SS-Uniform vorzustellen, und mit gebückten Kreaturen, die hindurch trotten, ist gruselig. Wie schon in anderen Gedenkstätten bin ich dankbar, dass ich nicht den direkten Weg hindurch nehmen muss, sondern eine kleine Pforte an der Seite es mir erspart, das Gewicht des Holocaust über mir zu spüren.
Ich bin keine fünf Meter von dem Durchgang entfernt, als plötzlich ein junger Mann aus einem kleinen Häuschen rauskommt und mich auf Französisch anspricht. Offenbar mache ich einen so geschockten Eindruck, dass er seine Worte prompt mit einer Geste untermalt und vor meinem Gesicht mit einer Zange rumknipst.
Ah! Er möchte meine Eintrittskarte sehen. Jetzt hab ich’s verstanden.
Mit frisch entwerteter Eintrittskarte in der Hand nehme ich den erstbesten Weg, der gleich hinter dem Lagertor einige Stufen nach unten, zu einer Baracke mit der Aufschrift „Musée“ führt. Ich bin etwas überrascht als ich am Eingang einen Appell lese, der zur Stille und zum Respekt aufruft. Mit der hoffentlich nötigen Andacht betrete ich das Museum.
Der alte Fußboden in der Baracke gehört zu den ersten Dingen, die mir ins Auge stechen; sogar bevor ich beginne mich mit den Ausstellungsstücken zu beschäftigen. Dazu gehören eine Menge Fotos und Abbildungen, aber auch ein großes Modell des Lagers in einem Glaskasten. Die meisten Bildunterschriften und Text sind hier auf Französisch – teilweise auch auf Englisch – also halte ich mich in diesen Räumlichkeiten vermehrt an die Bilder; sehe sie mir an und höre ihnen zu.
Auch wenn an den Wänden Infotafeln mit Dokumenten und anderen Sachen hängen, und sich unter der Decke ein System aus Schienen und Lampen entlang zieht – der Museumsbaracke haftet eine unheimliche Spannung an.
Mein Gefühl in dieser Sache verstärkt sich um ein Vielfaches, als ich den nächsten Raum betrete und einem dieser alten Waschbrunnen gegenüberstehe. Dieser hier hat sogar noch einen Wasserhahn!
Vollkommen zugänglich ohne jede schützende Barriere steht das Objekt im Raum. Und im Gegenzug zu den beiden halbstraken Jungendlichen, die an mir vorbeihuschen und abschätzig mit dem Knöcheln des Zeigefingers dagegen klopfen, als wollten sie prüfen ob der Brunnen auch nicht aus Pappe ist, verspüre ich überhaupt keinen Reiz so nah mit dem Ding in Kontakt zu treten. Meine Devise lautet: Ja nix anfassen! Sonst bleibe ich womöglich kleben.
Weiter hinten gibt es einen Bereich, der sich mit den medizinischen Versuchen befasst, die hier wie in vielen anderen Konzentrationslagern durchgeführt wurden. Neben den Bildern aufgestapelter, nackter Leichen finde ich auch die Abbildung eines Mannes, der mir seltsam bekannt vorkommt. Irgendwo habe ich dieses unfreundliche Gesicht schon einmal gesehen – und dann fällt es mir ein. Ich stehe vor einem Bild von Josef Kramer, der nicht nur Bergen-Belsen Lagerkommandant gewesen ist, sondern auch hier in Struthof.
Zusammen mit den dokumentierten Experimenten drängt sich mir eine Frage auf, die man – und davon bin ich inzwischen überzeugt – erst richtig versteht, wenn man den Willen hat, sich mit dem Holocaust zu befassen. Die Frage, was man diesen Menschen eigentlich angetan hat? Und vor allem warum?
Es ist eine Frage, die nicht in muffigen Klassenzimmern gestellt werden sollte. Sondern überall dort, wo es passiert ist. (Eine Antwort muss dann jeder für sich allein finden.)
Wieder raus aus dem Museum stelle ich fest, dass es noch wärmer geworden ist, um nicht zu sagen heiß. Die Sonne steht hoch am blauen Himmel und ein schattiges Plätzchen scheint genauso rar zu sein, wie ein kühler Windhauch. Dennoch mache ich mich auf den Weg das Außengelände weiter zu erkunden.
Gegenwärtig befinde ich mich am höchsten Punkt des Lagers und von hier wird noch einmal sehr deutlich, was 20 Prozent Gefälle im Gelände eigentlich bedeuten. Auf mehreren Ebenen, die wie Höhenlinien auf einer Karte in den Hang geschlagen und über Treppen miteinander verbunden sind, geht es steil abwärts. Wenn hier bei Starkregen das Wasser runterkommt? Oha!
Die Hauptstraße durchs Lager flankiert ein hoher Zaun, und die Wachtürme, die ich passiere, sehen so aus als wären sie erst kürzlich verlassen worden. Dass sie seit über sieben Jahrzehnten ungenutzt sind, will mir bei ihrem realen Anblick einfach nicht in den Kopf. Überhaupt habe ich den Eindruck, dass dieses Lager eines der wenigen ist, die sich für mich zu echt anfühlen. Gleiches trifft auch auf die Appellplätze zu.
An dem steilen Hang wird schnell klar, dass es keine ebene Fläche gibt, die groß genug für alle Häftlinge gewesen wäre. Somit hat jede Ebene – auch „Terrasse“ genannt – vor der Baracke ihren eigenen Appellplatz. Ich staune nicht schlecht und bleibe einem gesunden Reflex folgend automatisch stehen, als ich sehe, dass auf der zweiten Terrasse als Mahnmal der Galgen mit Strick steht.
Dass in dieser Sekunde ein plötzlicher Windstoß aufkommt, lässt mich in der Hitze erleichtert aufatmen, aber zu sehen wie sich der Strick bewegt, macht mich nervös. Nach Ablenkung suchend richte ich meinen Blick auf den Horizont und muss ein weiteres Mal die galaktische Aussicht bewundern. Was ich sehe und was ich fühle, passt einfach nicht zusammen. Der strake Widerspruch aus Ort und Landschaft, den ich hier erfahre, ist nervenaufreibend.
Gefängnis und Krematorium
Ich nehme den abschüssigen Weg, der seitlich an den Baracken vorbei nach unten führt. Grillen zirpen neben mir im Gras und obwohl die Sonne nach wie vor von oben brennt und ich schwitze, habe ich das Gefühl, dass es ein sehr kalter Abstieg ist.
Unten angekommen, stehe ich einem weit weniger emotionalen Problem gegenüber. Es geht darum einem Schwarm von Besuchern auszuweichen. Bis hier war ich weitgehend allein und konnte mich ungestört bewegen, aber jetzt kreuzen gleich zwei Besuchergruppen meinen Weg. Kurzerhand ändere ich meinen Plan und entschließe mich mir das Gefängnis zuerst anzusehen.
Der Trakt mit den vielen Zellen unterscheidet sich wenig von den anderen Lagergefängnissen, die ich bis jetzt gesehen habe. Misshandlung und Isolationshaft haben hier ebenso stattgefunden wie in anderen Konzentrationslagern. Ein Prügelbock in einer der Zellen erinnert heute noch daran, und in diesen kalten Mauern ist es einzig und allein der restaurierte Fußboden, der mich in der Gegenwart verankert.
Als ich das Gefängnis verlasse, kommt mir gerade die erste Besuchergruppe entgegen. Ohne lange zu zögern überquere ich den sandigen Platz, der Gefängnis und Krematorium am Fuß des Lagergeländes voneinander trennt und suche Zuflucht vor der stechenden Sonne.
Zuflucht ist von allen möglichen Worten, die ich hätte wählen können das schlechteste. So geht es mir zumindest durch den Kopf, als ich das Gebäude betrete und mich umgehend mit einem Verbrennungsofen konfrontiert sehe. Das schwarze Ungetüm ist wie viele seiner baugleichen Artgenossen mit Blumen und vertrockneten Kränzen geschmückt. Doch lange bleibt mein Blick nicht daran haften.
Zu meiner Rechten sehe ich die Überreste des Lastenaufzugs, mit dem die toten Körper aus dem Leichenkeller geholt wurden. Darüber hängt eine Gedenktafel an der Wand, auf ihr die Namen von über 100 Widerstandskämpfern, die alle am gleichen Tag hingerichtet wurden. Mit einem unguten Gefühl gehe ich weiter.
Ich komme in einen Flur, zur einen Seite ein Zimmer mit blass-geblümten Tapetenresten an den Wänden – ganz offensichtlich ein ehemaliges Büro – und zur anderen ein Raum, bis unter die Decke voll gestapelt mit Urnen. Am Ende des Flures befindet sich der Sezierraum. Der weiß geflieste Tisch mit seinen Rillen und ein Waschbecken sind noch erhalten.
Bei der Frage länger in diesem Gebäude zu verweilen oder mir in der Nachmittagssonne einen Sonnenbrand zu holen, brauche ich nicht lange um mich zu entscheiden. Auf schnellstem Wege verlasse ich das Krematorium.
Irgendwo auf dem sandigen Platz komme ich wieder zu mir. Hier unten zu stehen und auf den steilen Hang zu blicken, hinterlässt ein ganz anderes Gefühl, als von oben über das Lager zu schauen. Ich fühle mich klein. Dennoch kann ich für mich einen Lichtblick am Horizont ausmachen.
Selbst wenn vor mir die Überreste von Struthof liegen, so sehe ich darüber am obersten Rand des Lagers zwei Flaggen wehen; die Nationalflagge Frankreichs und die der Europäischen Union. Es ist ein Anblick, der mich stärkt und mir irgendwie die Kraft verleiht mich an den Aufstieg zu wagen. Denn eines ist mir bewusst, um zurück zu meinem Auto zu kommen, muss ich den verdammten Hang wieder hoch!
Zum wiederholten Mal an diesem Tag spüre ich den Schweiß meinen Rücken runter laufen. Mir tun die Füße weh und wenn ich mich so umschaue, bin ich nicht der einzige Besucher, der sich hier keuchend abrackert.
Das letzte Stück von meinen Rückweg kürze ich ab und gehe über die Terrassen. Jedoch erweist sich dieser Plan als nicht sehr klug, da die steilen Treppenstufen für mich an diesem heißen Sommertag schwer zu erklimmen sind und jede Stufe ein anderes Maß hat. Wie muss es wohl für die Häftlinge gewesen sein diese Stufen nach einem mörderischen Tag voller Demütigung und Zwangsarbeit zu betreten?
Würde ich stehen bleiben und innen halten, mich konzentrieren, würde ich vermutlich etwas fühlen. Aber meine Kräfte sind in der Hitze des Tages aufgeschmolzen und das einzige was mich antreibt, ist der unbändige Wunsch zum Auto, zurück über den Rhein, nach Deutschland, ins Hotel und nach Hause zu kommen.
Ich bin reichlich erschöpft als ich meinen Mietwagen erreiche und mit einem lauwarmen Getränk im Schatten der offenen Kofferraumklappe stehe. Bevor es zurück in die Heimat geht, muss ich noch einmal durchatmen und die letzten Gedanken in meinem Notizbuch festhalten. Dann heißt es für mich: Auf Wiedersehen, Frankreich!
◦ Zu Natzweiler-Struthof gehörte eine Vielzahl von Außenlagern. Die meisten davon befanden sich rechts vom Rhein (also auf deutscher Seite), einiger aber auch links auf französischer Seite. Heute ist das Konzentrationslager Struthof das einzige auf französischem Boden, das derart umfangreich zu einer Gedenkstätte ausgebaut wurde.
◦ Seit 2005 befindet sich auf dem Gelände das „Europäische Zentrum des deportierten Widerstandskämpfers“. Die Geschichte vom Widerstand im Nationalsozialismus hat hier einen hohen Stellenwert und noch heute werden regelmäßig Gedenkveranstaltungen und Zeremonien abgehalten.
◦ Die klimatischen Bedingungen in der Gegend sind aufgrund der geografischen Lage sehr wechselhaft. Im Sommer liegt das Lager wegen seiner stark abschüssigen Hanglage bei sehr hohen Temperaturen fast den ganzen Tag in der Sonne, während im Winter die Temperaturen zwischen -10 und -20°C pendeln und unter eisigem Wind bis zu 1,5 Meter Schnee fallen.
Kommentar zu Natzweiler-Struthof, vom 11. November 2018
Auch wenn es in Frankreich vergleichbar heiß war wie in Österreich, habe ich an meinen zweiten Auslandsbesuch detailliertere Erinnerungen. Zum Beispiel war es im Kartoffelkeller angenehm kühl und von der bewegenden Geschichte des Widerstandes ist doch eine Menge bei mir hängen geblieben.
Ähnliches gilt auch für das Museum. Denn ich habe festgestellt, dass es nicht nur die unerwarteten Dinge sind, die sich mir auf meinen Reisen einprägen, sondern auch jene Dinge, denen ich mehrmals begegne. Verbrennungsöfen in Krematorien, Berichte über medizinische Experimente, Bilder und Namen von Tätern…
Auch in Natzweiler-Struthof hätte es noch einiges mehr zu sehen gegeben. Unter anderem das Haus mit der Gaskammer, den Granitsteinbruch und die Sandgrube – alles fußläufig zu erreichen, aber wegen der großen Hitze und meiner langen Anreise nicht auf meiner Tagesliste. Dennoch hoffe ich hier einen guten Überblick gezeigt und mich als Berichterstatter bewehrt zu haben.
Zu guter Letzt möchte ich noch anmerken, dass ich rundum unbeschadet mit dem gemieteten Wagen durch Frankreich gefahren bin und in den wenigen Situationen, in denen ich Franzosen begegnet bin, sehr freundliche Menschen getroffen habe. Die Eintrittskarte – welche auf der Vorderseite eine Bleistiftzeichnung aus dem Lager zeigt und nach wie vor einen Zangenabdruck hat – trage ich übrigens seit meinen Besuch in meinen Portemonnaie mit mir rum. Ich konnte dieses kleine Stückpapier einfach nicht wegschmeißen.