Nie wieder 14f13 [Kalender 2018]
von RamonaXX
Kurzbeschreibung
>Nie wieder 14f13, mit achtsamen Schritten auf den Spuren des Holocaust<, unter diesem Titel startet der Kalender für 2018. Zwölf Mal habe ich den Mut gefunden Gedenkstätten des Holocaust und Mahnmale aus der Zeit des Nationalsozialismus zu besuchen. Zwölf Mal war ich tief betroffen und aufgewühlt. Und zwölf Mal habe ich die Kraft aufgebracht meine Gefühle und Gedanken in einer Art Erlebnisbericht niederzuschreiben… [Wer sich nicht sicher ist, ob er das hier wirklich lesen möchte, findet in den ersten Kapiteln ein Geleitwort und einen Prolog.]
GeschichteDrama, Schmerz/Trost / P18 / Gen
01.01.2018
31.12.2018
15
51.875
13
Alle Kapitel
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Dieses Kapitel
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29.10.2018
4.117
September
Zu den Nürnberger Prozessen zählen heute dreizehn Gerichtsprozesse, die zwischen 1946 und 1949 im Justizpalast von Nürnberg stattfanden. Von einem Internationalen bzw. US-amerikanischen Militärgericht angeklagt wurden u.a. Ärzte, Juristen, Minister, Politiker und Wirtschaftsfunktionäre, sowie Angehörige der SS und der Wehrmacht. Vorgeworfen wurden ihnen in den meisten Fällen „Kriegsverbrechen“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Neben Freisprüchen und langjährigen Haftstrafen kam es auch zu Todesurteilen.
Gedenkstätte Mauthausen, besucht am 01. Juni 2018
Ich bin zugegeben ein bisschen nervös als ich in aller Herrgottsfrühe im Zug sitze und sehe wie der Intercity-Express sich schleichend aus dem Bahnhof quält. Dies wird meine erste Auslandsreise. Wobei eigentlich geht es in meine zweite Heimat. Es geht nach Österreich, besser gesagt nach Linz.
Mit Linz verbinde ich kaum etwas, mit Österreich, besonders mit der schönen Hauptstadt Wien hingegen schon. Meine Paten leben dort und haben ein tolles Sommerhaus mit Swimmingpool im 19. Bezirk. Als ich noch klein war, haben meine Eltern mit mir und meinem Bruder oft den Sommerurlaub dort verbracht.
Ich glaube, ich wüsste heute noch, wie ich ohne Karte den Weg vom Sommerhaus durch die Siedlung zu dem Hotel finde, in dem wir immer übernachtet haben. Auch an bestimmte Straßenzüge, Spielplätze und natürlich das Eingangstor vom Tiergarten Schönbrunn kann ich mich gut erinnern. Es sind die Orte, die einen als Kind anziehen.
Jetzt, mit 26, bin ich kein Kind mehr und große Spielplätze, wie man sie im Türkenschanzpark findet, haben ihren Reiz verloren. Zumal ich bei diesem Besuch etwas ganz anderes sehen will, was nicht mal in der Nähe von Wien liegt. Auch Linz ist nur die Stadt, in der ich mir für zwei Nächte ein Zimmer gemietet habe. Was ich sehen will, liegt 25 Kilometer weiter östlich. Es ist die Gedenkstätte von Mauthausen.
Aufbruch – Ankunft – Aufstieg
Mein Weg nach Mauthausen beginnt am nächsten Tag früh morgens am Linzer Bahnhof. Ich war doch ein wenig überrascht, als ich beim Planen meiner Anreise feststellen musste, dass der Mietwagen so viel teurer ist, als das Nutzen der öffentlichen Verkehrsmittel. Also vertraue ich mich heute der ÖBB (der Österreichischen Bundesbahn) an und hoffe, dass sie mich sicher und heil an mein Ziel, und später auch wieder zurück nach Linz bringt.
Im Prinzip ein guter Plan, wären da nicht die sprachlichen Hindernisse. Ich bin noch so schläfrig nach einer viel zu heißen Sommernacht mit Tageshöchsttemperaturen von 32°C, dass ich mit dem typischen österreichischen Dialekt nicht sofort klarkomme. Aber die Frau am Schalter ist geduldig und nach mehrmaligem Nachfragen halte ich mein Tagesticket in der Hand. Nah dann kann’s ja losgehen!
Der Nahverkehrszug braucht nur etwa 25 Minuten bis nach Mauthausen; ein kleines verschlafenes Örtchen, dessen Umgebung rund um den Bahnhof nicht darauf schließen lässt, was hier einmal passiert ist. Für den Weg zur Gedenkstätte bediene ich mich anschließend meiner liebsten Reisemethoden – dem zu Fuß gehen.
Mit meinem selbst ausgedruckten Stadtplan in der Hand und ausnahmsweise mal mit einem Rucksack auf dem Rücken, laufe ich eine gute Stunde und stelle fest, dass der Teufel mal wieder im Detail steckt. Mein zweidimensionales Blattpapier erweist sich nämlich als nur bedingt kompatibel mit dem tatsächlichen Gelände, das – Wer hätte es gedacht? – dreidimensional ist. Oder um es anders auszudrücken: Die Gedenkstätte liegt weit oben auf einem Plateau, während der Bahnhof von Mauthausen sich unten nahe dem Ufer der Donau befindet.
Nun gut, auch der stärkste Anstieg ist irgendwann geschafft und ich bin sehr froh oben angekommen zu sein. Selbst wenn zum jetzigen Zeitpunkt ein leichter Wind weht, ist mir nach meinem langen Aufstieg so heiß, dass mir die Schweißperlen unter dem T-Shirt den Rücken runter laufen. Durstig und verschwitzt stehe ich am Rand des Besucherparkplatzes, trinke aus meiner Wasserflasche und beobachte, wie die erste Seniorengruppe im gemäßigten Tempo von ihrem Reisebus zum Eingang trottet.
Bevor ich mich auf meinen eigenen Rundgang begeben, lasse ich mir im Besucherzentrum noch einen kostenlosen Flyer aushändigen und mache mich schnurstracks wieder auf den Weg nach draußen. An der frischen Luft sein und ein bisschen ausdünsten, ist jetzt genau das, was ich brauche.
Vom Gedenkpark zur „Fallschirmspringerwand“
Wie bei jedem Besuch, versuche ich zunächst den schwappenden Besucherwellen auszuweichen und wähle den erstbesten Weg, der verspricht etwas weiter weg zu führen. Auf einem großen Vorplatz passiere ich noch eine zweite Rentnergruppe, die – wie meinen aufmerksamen Augen nicht entgeht – sowohl mit Audioguides, als auch zum Teil mit tragbaren Klappstehhilfen ausgestattet ist.
Das nächste, was meine Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist… Ein Burgtor? Moment mal, ich dachte ich besichtige hier die Gedenkstätte eines Konzentrationslagers und keine alte Ritterburg?
Doch die steingrauen, gemauerten und massiv ausschauenden Wände, auf die ich zugehe, geben mir genau dieses Gefühl. Ich durchschreite ein riesiges, offenes Tor und erst die Reihe aus Holztoren, an der Seite, lässt mich eine Verbindung mit der Geschichte herstellen. Ich befinde mich auf dem Garagenhof.
Es ist ein wirklich großer Garagenhof, der selbst trotz des völlig fehlplatzierten Bagger, der hier zwecks Restaurationsarbeiten steht, mit seinen meterhohen Mauern zu allen vier Seite eine einschüchternde Wirkung hat. Ich schaue nach oben und sehe Schwalben, die pfeilartig durch den blauen Himmel jagen. Unwohl fühle ich mich dennoch in diesem gemauerten Freiluftgefängnis und ich bin ehrlich erleichtert, als es am Ende des Hofes eine breite und steile Treppe hinauf geht.
Oben angekommen heißt es erst mal Orientierung finden. Ich zücke meinen Flyer mit dem Lageplan und verschaffe mir einen Überblick. Nach kurzem Überlegen nehme ich Kurs, auf das was vor meiner Nase liegt – der Gedenkpark.
Ich gehe über einen geteerten Weg – breit genug für ein Auto – der durch eine Art Parklandschaft führt. Blumen oder andere farbige Naturtupfer sind hier nicht zu finden, dafür Unmengen an Skulpturen, Bauten und Tafel aus Bronze, Stein, Stahl und Rost. Ich lasse meinen Blick von einer zur anderen Seite wandern und stelle fest, dass viele Nationen und Gruppen hier ein Denkmal errichtet haben.
Mich dem Ort zu öffnen fällt mir jedoch schwer, selbst wenn ich augenblicklich nicht von anderen Besuchern umringt bin. Irgendwie finde ich den Gedenkpark überfrachte. Die vielen unterschiedlichen Denkmäler stehen so dicht beieinander, dass keines seine Wirkung frei entfalten und mich für längere Zeit bei sich halten kann. Ein wenig planlos schlendere ich umher, bis doch noch etwas mein Interesse weckt.
Für Deutschland stehen in Mauthausen zwei Denkmäler, eines von der Deutschen Demokratischen Republik und eines von der Bundesrepublik Deutschland errichtet. Ich schmunzel für einen kurzen Augenblick, als mir bewusst wird, dass ich inzwischen zwar ein Gefühl für den Holocaust entwickelt habe, mich die Deutsche Teilung aber weitgehend unberührt lässt – und das, obwohl sie deutlich jünger und präsenter in den Köpfen der Menschen ist, als die Zeit des Nationalsozialismus.
Am Ende muss ich sagen, dass mir das ostdeutsche Denkmal besser gefällt, was nicht zuletzt den in Stein gemeißelten Worten von Berthold Brecht geschuldet ist. Dort steht geschrieben: „O DEUTSCHLAND BLEICHE MUTTER! WIE HABEN DEINE SÖHNE DICH ZUGERICHTET DASS DU UNTER DEN VÖLKERN SITZEST EIN GESPÖTT ODER EINE FURCHT!“
Zugegeben, die Sprach ist mir ein bisschen zu geschraubt, aber dem Kern der Botschaft kann ich etwas abgewinnen. Gerade diese eine Zeile lässt mich in Zustimmung, dass sie die Sache auf den Punkt bringt, innerlich nicken. „WIE HABEN DEINE SÖHNE DICH ZUGERICHTET“ Eine berechtigte Frage in meinen Augen.
Hinter dem Gedenkpark liegt der Steinbruch, der sogenannte „Wiener Graben“, ein Ort an dem die Häftlinge Zwangsarbeit leisten mussten und der – wenn ich mich so umschaue – offensichtlich der Publikumsmagnet in dieser Gedenkstätte ist. Überall stehen die Besucher in kleinen Grüppchen zusammen und werfen neugierige Blicke in den tiefen Graben, während ihre Reiseführer auf Englisch oder Französisch von den Arbeitsbedingungen und der harten Zwangsarbeit erzählen.
Auch ich ergattere irgendwann einen Platz an dem kleinen Vorsprung mit der hohen Plexiglaswand und schaue runter in den alten Steinbruch, der heute auf dem Grund mit Gras und an den Hängen mit Bäumen bewachsen ist. Oh-oh... Das geht aber ganz schön tief runter. Keine Ahnung wie tief, aber tiefer als ich es aus meinem Heimatlandstrich gewohnt bin und definitiv tief genug, dass es mir ein ungutes Gefühl in den Nacken treibt – wobei ich kein bisschen unter Höhenangst leide.
Zu erfahren, dass das Wachpersonal aus Willkür und zu seiner Belustigung Häftlinge von diesem Vorsprung in den Tod gestoßen hat, verstärkt das Kribbeln in meinem Nacken. Es klingt in meinen Ohren viel mehr unmenschlich denn zynisch, zu erfahren, dass der steile Hang vor mir „Fallschirmspringerwand“ genannt wurde und die hinunter gestoßenen Häftlinge als „Fallschirmjäger“ bezeichnet wurden.
Theoretisch ist der Steinbruch auch zu besichtigen. Viele, sehr viel Stufen führen seitlich in den Graben hinab, die auch die „Todesstiege“ genannt werden. Doch ich habe mit der Wahl meines Besuchszeitpunktes in diesem Fall kein glückliches Händchen bewiesen. Die Stiege (zu dt. Treppe) ist wegen Sanierungsarbeiten gesperrt. Folglich verzichte ich auf den Abstieg und die Erkundung des Grabens, da der zweite Zugang weit außen um das Lager herumführt und ich heute ja schon ein gutes Stück zu Fuß zurückgelegt habe.
Mein Blick geht über den Graben hinaus in die Ferne, dorthin, wo das Gelände vergleichsweise sanft wieder ansteigt. Eine Landstraße schlängelt sich durch satt-grüne Sommerwiesen und zusammen mit ein paar verstreuten Hofgebäuden bildet sie eine malerische Landlandschaft, die sich bis zum Horizont zieht. Ich höre eine Kuh blöken, sehe wieder die Schwalben über mir in der Luft und kurz darauf kräht irgendwo ein Hahn. Mit dem zufriedenen Gefühl hier alles gesehen zu haben, suche ich mir ein neues Ziel.
Klagemauer und Lagergefängnis
Ich verlasse den Gedenkpark auf dem gleichen Weg wie ich gekommen bin und staune nicht schlecht, als ich auf das Eingangstor vom Häftlingslager zugehe. Nein, es ist keines dieser Gebäude mit einem vergitterten Torbogen und dem Schriftzug „ARBEIT MACHT FREI“. Auch ist es keine simple Holzkonstruktion, die mit Stacheldraht bespannt ist. Es ist wieder so eine Art Burgtor, mit zwei großen, wuchtigen Türmen zu beiden Seiten, die eindeutig den Eingang zum Garagenhof an Masse und Einschüchterung überbieten.
Es wirkt auf mich fast wie ein Gefängnis. Ein Gedanke, für den ich mich im nächsten Moment beinah entschuldigen möchte, war das, was hinter diesen Mauern passiert ist doch vermutlich für die Menschen weit schlimmer, als die Inhaftierung in einem Gefängnis. Etwas weniger emotional betrachtet, hat es schon wieder einen Reiz; immerhin ist es ein weiteres Puzzleteil vom Holocaust, die ich bereits seit einer ganzen Weile aufsammle. Dabei habe ich ehemalige Konzentrationslager gesehen mit Zäunen, hinter Mauern, unter der Erde oder aber wie hier in einer Festung.
Kaum dass ich das große Tor durchschritten habe, fühle ich mich wieder daran erinnert, wo ich hier bin. Und doch hält das Gefühl nicht lange an. Vor mir erstreckt sich der Appellplatz – lang und weit, eben und betoniert. So ganz ohne jedes Grün und mit den letzten erhaltenen Baracken, die in diesem Lager längs zum Appellplatz stehen, wirkt die übergroße versiegelte Fläche fast wie ein frisch gefegter Kasernenhof.
Es ist nicht das erste Mal an diesem Tag, das dieser Ort es mir schwer macht, ihn zwischen den vielen anderen Eindrücken in meinem Kopf einzuordnen und mit etwas Vorhandenem zu verknüpfen. Diese gewaltige Festung mit ihren dicken Mauern, steht für mich in großem Widerspruch zu dem typischen Bild eines Konzentrationslager mit einfachem Holztor, Stacheldrahtzaun, einer schlammigen Lagerstraße und hoffnungslos überfüllten Baracken, das sich so überraschend fest in mein Gedächtnis eingeprägt hat. Irgendwie ist hier alles ein bisschen anders.
Mein Weg führt mich nach rechts und angezogen von einer ersten Gedenktafel gehe ich auf die Außenmauer zu. Eine weitere Tafel verrät mir wo ich bin, oder besser, worauf ich starre. Ich stehe an der Klagemauer.
Stück für Stück lese ich mich durch die vielen Gedenktafeln, die hier angebracht sind (sofern sie in einer Sprache verfasst sind, die ich lesen kann) und folge ihrem Verlauf ohne genau zu wissen, wo sie mich hinführen. Dass um mich herum nur ein paar vereinzelte Besucher stehen und ich mittlerweile aufgehört habe zu schwitzen, macht die Sache deutlich leichter.
Die Klagemauer geht um eine Ecke und irgendwie fühle ich mich nicht gut, als ich meinen Blick von der letzten Gedenktafel nehme und feststelle, dass ich allein bin. Gewillt den verpassten Anschluss – denn, irgendwie so fühlt es sich an – wieder aufzuholen, tragen meine Füße mich weiter an der Mauer entlang auf das nächste Gebäude zu, das aus der Ferne den Anschein erweckt, als könne es betreten werden.
Als ich jedoch näher komme und meine Augen die Aufschrift „Krematorium“ lesen, drehen meine Füße schneller um, als mein Kopf den Befehl dazu geben kann. Verflucht! Was ist nur heute mit mir los? Ich meine, ich bin schon öfter einem Krematorium ausgewichen, aber so extrem?
Wie zu erwarten, lässt mein Fluchtinstinkt mich nicht gerade klar denken und führt mich blindlings ein paar Stufen hinauf, bis ich mich unvorbereitet im Lagergefängnis wiederfinde. Hier drinnen ist es überraschend ruhig – zu ruhig. So ruhig, dass ich nervös den Atem anhalte und meine Schritte mit großer Vorsicht setze, als mir klar wird, dass ich hier ebenfalls allein bin und die Vergangenheit spürbar an den Wänden klebt.
Ich weiß nicht ob es die Fliesen sind oder die Holzdielen, die ich im Nebenraum finde, aber irgendetwas hier wirkt bedrückend, um nicht zu sagen bedrohlich. Gut möglich, dass es auch der Schatten von dem ist, was hier passiert ist. Fest steht jedenfalls, dass dieser Ort so unverändert wirkt, dass mein Kopf viel zu schnell die mit Kreide beschriebene Klappe vor der Kamera zuschnappen lässt und ein Film beginnt, den ich lieber nicht sehen möchte.
Ich blicke den Gefängnistrakt mit den vielen Zellen hinab und sehe einen Mann in schwarzer Uniform und mit einer tief ins Gesicht gezogenen Schirmmütze, der genau auf mich zu läuft, mich aber nicht zu sehen scheint. Ist das etwa…. Tom Hanks? Verflucht, wie komme in den Film „The Green Mile“ und vor allem, wie komme ich hier wieder raus?
Die Figur von Paul Edgecomb schreitet an mir vorbei als wäre ich Luft und als mein Blick ihm folgt und hinter seinen Schritten auf den Boden fällt, stelle ich fest, dass die grüne Meile wieder aus schwarz-weißen Fliesen besteht. Tom Hanks ist verschwunden.
Noch nicht ganz sicher, ob ich mich wirklich zurück in der Wirklichkeit befinde, huscht mein Blick zur Wand, wo mir zum ersten Mal die Kritzeleien auffallen. „Wir waren hier! Sabrina und Hanna 2011“, steht dort als einer von vielen Sprüchen und rasch lese ich noch ein paar mehr. Wie zum Beispiel: „Paul und Jonas und die ganze 7B“ oder „ L+N 2008“.
Die getaggten Wände überzeugen mich davon, dass ich das gruselige Filmset verlassen habe, was nicht zuletzt an den vergleichsweise jungen Datierungen liegt, die mich zurückholen. Sobald ich die Füße in meinen Schuhen wieder spüre und meinen Kopf einmal innerlich geschüttelt habe, um den Schauer loszuwerden, verlasse ich schnellstmöglich das Gebäude.
Wer es für „cool“ hält die Wände im Gefängnis eines ehemaligen Konzentrationslagers zu taggen, wie die Doppelstockbetten in einer Jugendherberge, darüber werde ich mir wohl ein anderes Mal den Kopf zerbrechen.
Hauptausstellung
Wohin ich in meinem verwirrten Zustand laufe, wird mir erst bewusst, als ich meine Position versuche auf dem Lageplan wiederzufinden. Ich stehe vor dem Gebäude mit der Hauptausstellung; lustlos und kein bisschen neugierig.
Liegt es an mir oder bin ich nach so vielen Monaten und den langen Reisen einfach müde mich mit dem Holocaust zu befassen? Ich spüre nicht den Funken eines Antriebs mir die Ausstellung anzusehen und das Gebäude überhaupt zu betreten kostet mich echte Überwindung.
Einmal drin, werde ich positiv überrascht. Die Ausstellung zieht sich durch einen langen Flur und die links und rechts angrenzenden Räume. Helle, weiße Farbtöne mit grauen und dunklen Akzenten schaffen eine Stimmung, die beruhigt und die Aufmerksamkeit auf die Inhalte richtet. Dennoch fehlt mir irgendwie die Motivation mir einen Einstieg zu suchen und mich durch die Texte zu lesen, die die Geschichte von Mauthausen erzählen. Stattdessen grüble ich darüber nach, wieso ich heute so schlapp bin.
Ist es die Tatsache, dass ich in der vergangenen Nacht kaum geschlafen habe, weil es im Hotelzimmer so verflucht warm war? Oder ist es, weil es heute wieder heiß ist und ich den langen Marsch vom Bahnhof zur Gedenkstätte unterschätzt habe? Vielleicht hat es auch etwas damit zu tun, dass ich so weit weg von Zuhause bin?
In meinen eigenen Gedanken versunken und wenig beim Thema schlendere ich von Vitrine zu Vitrine und sehe Dinge, die mir nicht neu sind: rostige Löffel, ein verbeultes Kochgeschirr, blau-grau gestreifte Häftlingskleidung.
Draußen ist es so sonnig gewesen, dass ich kein einziges Mal in Versuchung gekommen bin meine Jacke aus dem Rucksack zu kramen. Hier drinnen hingegen ist die Klimaanlage so kühl eingestellt, dass ich mir bereits nach kurzer Zeit einbilde zu frieren und meine Jacke gar nicht schnell genug überziehen kann.
Ich setze gerade meinen Rucksack wieder auf und rücke die Träger zurecht, als mein Blick auf eine Wand fällt, die sich ausgiebig mit Täterprofilen beschäftigt. Neugierig trete ich näher. Nun gut, es ist nicht die erste Ausstellung, die ich besuche und die sich mit den Tätern beschäftigt, aber etwas ganz bestimmtes hat meine Aufmerksamkeit geweckt und binnen Sekunden gefesselt.
Es ist eine Art Karteikartensammlung. Auf dünne Kunststoffplatten aufgedruckt, befindet sich eine ganze Reihe von Steckbriefen bekannter SS-Männer, die diesem Lager zugeteilt waren. Die Karten lassen sich wie ein Register durchblättern und oben links in der Ecke stehen immer die gleichen Angaben; Name, Geburtsdaten und Ort, sowie Familienstand und Todesdatum samt Ort. Und noch etwas ist gleich. Die letzten beiden Angaben ähneln sich auf nahezu jeder Karte.
„Gehängt in Landsberg, 1945“. Ich blättere weiter. „Hingerichtet in Landsberg, 1946“. Dann wieder „Gehängt, 1945“, „1947“ und nochmal „Hingerichtet, 1946“. Immer schneller blättere ich durch die Steckbriefe und schaue nur auf diese eine Angabe und immer wieder heißt der Ort Landsberg, Landsberg, Landsberg.
So, meine lieben „Befreier“! Jetzt mal Butter bei die Fische! (Oder etwas weniger Norddeutsch:) Lasst uns mal Klartext reden.
Glaubt ihr wirklich, dass ihr einen guten Job gemacht habt?
Ihr habt als junge Menschen eure besten Jahre gegeben, eurer Seele eine große Last aufgebürdet und einen Weltkrieg ausgefochten, der ohne euch vermutlich anders ausgegangen wäre. Aber seit ihr wirklich davon überzeugt, dass ihr die Ordnung einer zerrissenen Gesellschaft wieder herstellt, in dem ihr allen „Bösen“ den Prozess macht und sie zum Tode verurteilt? Ist das eure Bild von Gerechtigkeit, von Vergeltung, vom Wert eines Menschenlebens?
So viele Historiker und Forscher gehen heute den Geschichten und Schicksalen der Opfer nach, aber wer besitzt eigentlich die Courage sich mit traumatisierten Täter zu beschäftigen?
Ich kann gewiss nicht behaupten, dass ein jeder als „Nazi-Verbrecher“ verurteilter, mit dem Kriegsende ein Gefühl der Reue und Schuld in sich getragen hat. Viele von ihnen sind aus ihrem Glauben und ihrer Treue zu Hitler und seinen Idealen freiwillig in den Tod gegangen. (Auch das etwas, dem mit Respekt gegenüber zu treten ein hohe moralische Entwicklungsstufe voraussetzt.) Aber ich will auch nicht glauben, dass diese Menschen keine Angst, keine Verzweiflung, keine Hoffnungslosigkeit empfunden haben.
Warum sonst haben so viele von ihnen den Selbstmord gewählt, sich zum Teil gemeinsam mit ihrer Familien umgebracht, sind untergetaucht oder haben sich versteckt, um am Ende doch gefasst, verurteilt und in vielen Fällen in Landsberg hingerichtet zu werden?
Das ungelöste Puzzel von der „Rolle der Alliierten Soldaten“ hat sich umgekehrt, in die Frage nach einem gesunden „Mitgefühl für die Täter“. Eine 180° Wendung, die ich nicht vorhergesehen habe und die mich bis zum Ende der Ausstellung verfolgt.
Kapelle
Nach langer Zeit wieder aus dem Gebäude und in die drückende Wärme eines viel zu heißen Sommertages eingehüllt, ziehe ich die Jacke wieder aus und stopfte sie zurück in den Rucksack.
Meine letzte Station für heute ist ein Gebäude, das von außen nicht erkennen lässt, was sich im Inneren verbirgt. Und die Tatsache, dass keine Menschen darauf zu gehen oder hinaus kommen, lässt mich einen Moment zögern. Dann siegt jedoch meine Neugier und mit geschärften Sinnen betrete ich das Gebäude, das äußerlich einer der Baracken ähnelt.
Vor mir liegt ein großer, heller Raum; eigentlich schon fast ein Saal, mit Holzdielenfußboden und lichtdurchfluteten Fenstern zu beiden Seiten. Doch was meine Augen wirklich in den Bann zieht, sind die vielen Flaggen. Zu beiden Seiten hängen sie entlang der Fenster. Sie reichen nicht bis auf den Boden, hängen aber tief genug, um im Vorbeigehen mit der Hand durch das stille Meer aus weichem Stoff und leuchtenden Nationalfarben zu streichen.
Unwissend wohin mich meine Füße tragen, folge ich ihnen in den angrenzenden Raum und kann kaum glauben mich in einer Kapelle wiederzufinden. Aber so ist es. Zwei geordnete Reihen aus Kirchenbänken stehen vor mir und weiter vorne, in einem runden Erker steht ein Altar, schlicht und unbestechliche und aus grauem Stein.
Kein Schmuck, kein Gold, kein für die Kirche so typischer Prunk ziert diese Kapelle. Sie ist so auf das Minimalste beschränkt, dass ihre Nüchternheit mich sprachlos durch den Mittelgang zum Altar schreiten lässt. Nicht mal ein Kreuz hängte dort. Nur das Wort „PAX“ (lat. für Frieden) ist eingraviert.
Von guten Mächten wunderbar geboren, erwarten wie getrost was kommen mag.
Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, dass mir diese Worte gerade tatsächlich über die Lippen gekommen sind und ich sie nicht bloß in meinem Kopf wiederholte habe. Was ich hier spüre, an diesem wunderbaren Ort, an dem ich ganz alleine und in absoluter Stille bin, ist nicht Bonhoeffer selbst, es ist die Kraft und die Tragweite seiner weisen Worte.
Vollkommen in mir ruhend stehe ich vor dem Altar und schaue auf zu dem runden Fenster – ein blaues Glas, das am Rand lila schimmert und zur Mitte hin weiß verläuft. Wie ein beruhigendes, waberndes Licht scheint es über den Altar zu schweben und ich hab ein ehrliches, erleichtertes Lächeln auf den Lippen als ich mich umdrehe.
Was ich sehe verschlägt mir den Atem. An der Rückwand der Kapelle hängen drei übergroße, gemalte Bilder. Sie alle zeigen Häftlinge in gestreifter Kleidung; sowohl auf dem Weg zum Krematorium, als auch bei der Zwangsarbeit und im Steinbruch. Auf allen drei Bildern steht ein Häftling symbolisch im Mittelpunkt und als käme ihm die Rolle eines Propheten zu, schwebt über seinem Haupt ein Lichtschein.
Es sind bewegende Gemälde, die an diesen Ort gehören, auf eine Weise für die ich keine Worte finde. Den ganzen Tag bin ich umher gelaufen, ohne etwas zu finden, dass mich die Vergangenheit spüren lässt, ohne mir Angst einzujagen. Hier habe ich es gefunden. Und als würden die Bilder zu mir sprechen, kommt mir meine Frage aus der Hauptausstellung wieder in den Sinn. Vielleicht habt ihr doch „das Richtige“ getan, liebe „Befreier“ – gemessen am Leid dieser Mensch.
Diesen friedlichen Ort zu verlassen, fällt mir nicht leicht. Ein Teil von mir möchte hier bleiben, den Frieden genießen und die Augen geschlossen halten, bis ich mit einem Blinzeln wieder Zuhause bin. Zuhause… Das Wort klingt lange in meinen Kopf nach. Und ich stehe noch eine ganze Weile in der Kapelle, bevor ich meinen langen Heimweg antrete…
◦ Zu Mauthausen gehörten über 40 Außenlager, die über ganz Österreich verteilt lagen. Zählt man alle Opfer zusammen, belaufen sich die Zahlen auf etwa 190.000 deportierte Menschen, wovon 90.000 ums Leben kamen.
◦ Im Februar 1945 gelang nach einem Angriff auf die Wachtürme über 400 Häftlingen die Flucht. Die Lagerleitung veranstaltete anschließend eine Hetzjagd (die sogenannte „Mühlviertler Hasenjagd“) und rief unzählige Organisationen, sowie die Zivilbevölkerung zur Beteiligung auf. Gefasste Häftlinge wurden auf der Stelle erschlagen oder erschossen.
◦ Mauthausen war eines der letzten Konzentrationslager, das durch die vorrückenden alliierten Streitkräfte befreit wurde. Am 5. Mai 1945 trafen Soldaten der 11. US-Panzerdivision ein. Nur drei Tage später war der Krieg in Europa offiziell vorbei.
Kommentar zu Mauthausen, vom 12. Oktober 2018
Das erste was mir heute zu meiner Reise nach Mauthausen einfällt, ist das verflucht heiße Wetter. Es war wirklich unerträglich heiß in den drei Tagen, die ich in Österreich verbracht habe. Und nicht wenige meiner Erinnerungen sind in der Hitze geschmolzen, bevor sie sich in meinem Kopf setzen konnten.
Dennoch bezeugt mein Notizbuch, dass ich mir viele Dinge an dem Tag angesehen habe, mehr als ich in diesen Bericht schreiben konnte. So habe ich mir beispielsweise das Krematorium mit den Öfen später doch noch angesehen. (Allerdings ohne größere Besonderheiten oder Eingebungen, so dass ich es eben nur kurz in diesem Kommentar erwähne.)
Ein weiterer, im Bericht nicht genannter Ort, an den ich mich in Mauthausen erinnere, ist der „Raum der Namen“. Ein fensterloser Kellerraum, in dem die Namen von über 80.000 Toten auf riesige Glasplatten aufgedruckt sind. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie die weißen Linien aus Namen und Buchstaben vor meinen Augen angefangen haben zu flimmern. Ein Raum, den man unbedingt besuchen sollte, wenn man in Mauthausen ist. (Und den zu erreichen voraussetzt, dass man sich an einem der Öfen vorbeitraut.)
Fazit von meinem ersten Auslandsbesuch? Es war definitiv zu heiß und zu anstrengend, aber es war Teil meiner Reise und ich bin sehr stolz es durchgezogen zu haben.