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1997

von cucumber
Kurzbeschreibung
GeschichteAllgemein / P16 / Gen
29.12.2017
15.09.2018
11
16.006
2
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29.12.2017 851
 
Kapitel 1



Alles was man vergessen hat, schreit im Traum um Hilfe. (Elias Canetti)

Er läuft. Schnell, immer schneller. Die Füße trommeln auf den Asphalt, der Atem geht stoßweise. Er schwitzt, immer stärker. Hebt die Hand, versucht, sich den Schweiß aus den Augen zu wischen.
Jetzt läuft er nicht nur mehr, er rennt. Hinterher. Als ginge es um sein Leben. Und trotzdem – das, was er zu erreichen sucht, wozu er so verzweifelt aufzuschließen versucht, das entzieht sich ihm. Immer wieder. Was ist es? Wer ist es?
Da! Ein nach ihm ausgestreckter Arm, der plötzlich hinter einer Hausecke verschwindet. Langes Haar, das ihn an der Schulter streift, aber im nächsten Moment nicht mehr zu spüren ist. Noch einmal steigert er das Tempo, als ob die Verzweiflung seine letzten Reserven mobilisiere.
„Haaaalt!“ Er schreit es heraus, stoppt dann ab, keuchend, kraftlos auf einmal. Beugt sich vornüber, die Hände auf die schmerzenden Oberschenkel gestützt, und versucht, wieder zu Atem zu kommen.
Und da hört er es, ganz leise.
„Papa!“ Er hebt den Kopf, richtet sich auf, wie elektrisiert, und dreht sich in alle Richtungen. Wo ist sie?
„Anna! Bist du das? Wo bist du?“ – „Papa! Siehst du mich nicht? Ich bin hier vorne!“
Er macht einen, zwei Schritte nach vorn, streckt tastend die Hände aus.
„Anna! Ich kann dich nicht sehen! Warte doch, ich –“
Doch ihre Stimme wird leiser, schwächer, entfernt sich von ihm. Trotzdem kann er genau hören, was sie sagt.
„Papa, du musst mitkommen. Du musst mich finden. Du fehlst mir so. Wann kommst du denn endlich, endlich zurück?“
Die letzten Worte werden auf einmal undeutlicher, überlagert von einem anderen Geräusch. Von einem Lachen, das zusehends lauter wird. Hämisch, schrill, herausfordernd. Ein Frauenlachen, das schließlich verebbt und in einem Kichern ausläuft.
„Rolf…du wirst es nicht schaffen. Ohne mich?  Niemals. Du brauchst mich doch. Gesteh‘ dir das endlich ein…“

Er schreckt hoch, dankbar, aus diesem bedrückenden, immer wiederkehrenden Traum entfliehen zu können. Setzt sich auf, lehnt sich am Kopfteil des Bettes an und atmet langsam und etwas zittrig aus. Es ist unangenehm schwül, trotz der geöffneten Fenster, durch die sich lediglich ein schaler, kaum spürbarer Luftzug gequält seinen Weg ins Schlafzimmer bahnt.
Er dreht sich zur Seite und streckt den Arm aus nach dem Wasserglas auf dem Nachttisch, wirft aber dabei den Wecker um, der polternd zu Boden fällt und dabei das Glas mitnimmt.
„Mist!“ Er richtet sich wieder auf und wirft einen Blick auf die schlafende Gestalt neben ihm. Glück gehabt. Sie regt sich nicht. Vorsichtig beugt er sich ein wenig zu ihr hinüber, aber nein, ihr Atem geht weiterhin ruhig und regelmäßig. Er zuckt mit den Schultern, nichts anderes hat er erwartet. Sie hat immer schon schlafen können wie ein Stein. Selbst früher, als die Kinder klein waren, hat sie nie ihr Rufen in der Nacht gehört. Beneidenswert, eigentlich. Als ihm etwas in die Nase steigt, beugt er sich noch ein wenig näher und schnuppert, verzieht gleich darauf dann das Gesicht.
Rauch. Zwar nur ganz, ganz schwach, aber dennoch. Auf der Bettkante sitzend schüttelt er den Kopf. Sie hat ihm doch versprochen, damit aufzuhören. Hoch und heilig.
Er wendet noch einmal den Kopf in Richtung seiner schlafenden Frau, überlegt, eine kurze Sekunde lang, ob er sie wecken soll, und entscheidet sich dann dagegen. Steht auf, durchquert das Schlafzimmer und zieht die Tür leise, aber mit Nachdruck hinter sich zu.
Im Flur ist es bereits etwas weniger warm. Er betritt das Wohnzimmer, zögert einen Moment und geht dann weiter, öffnet die Tür zum Wintergarten. Ein kühler Luftzug schlägt ihm entgegen und er bleibt dankbar stehen, atmet tief ein.
Wie ihm die Wanduhr verrät ist es kurz vor halb vier, diese unselige Stunde also, in der die Nacht am dunkelsten ist. Er weiß aus Erfahrung, dass er nicht wieder einschlafen wird, wenn er um diese Zeit aufwacht. Unschlüssig steht er, eine Minute, zwei. Starrt ins Dunkel, schüttelt dann den Kopf, und macht sich auf den Weg in sein Arbeitszimmer. Kurz hatte er überlegt, sich im Wohnzimmer niederzulassen, aber dort  fühlt er sich … unwohl, fehl am Platz. Ist es das?
Aufgeräumt ist das Zimmer, auf penible Weise. Nichts steht herum, nichts liegt herum, nicht einmal eine Zeitung. Kein Staubkorn, natürlich nicht. Seelenlos, wie in einer Möbelausstellung. Wann hat sie eigentlich damit angefangen? Räumen und putzen. Inzwischen ein Lebensinhalt für sie? Er weiß es nicht.
Fast flüchtet er sich in sein Arbeitszimmer und schließt erleichtert die Tür, bevor er mit einem Seufzer in seinen alten, aber bequemen Ledersessel sinkt, den er fast solange besitzt, wie er denken kann. Er knipst das Lämpchen auf dem kleinen Beistelltisch an und schließt die Augen, konzentriert sich.
Er möchte das Hochgefühl von heute Nachmittag zurückholen, das ihn überkam, als er endlich, nach langer Überlegung, den Entschluss gefasst hatte, der alles verändern soll. Wenn ihm dies gelingt, dann wird er bestimmt auch den unangenehmen Traum vergessen. Ach was, es wird gar nicht nötig sein, sich um ein Vergessen zu bemühen, denn die Ereignisse werden es von selbst richten, so dass der Traum nicht wiederkehren wird. So muss es einfach sein. Er will fest daran glauben.
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