Winter's Flame
von Sunny
Kurzbeschreibung
Einige Zeit nach dem großen Kampf gegen Hades beginnt ein jeder wieder seinen eigenen Weg zu gehen. Sonnenkönig Avad möchte die Völker in der chaotischen Nachkriegszeit zusammenbringen und macht sich gemeinsam mit Erend persönlich auf den gefährlichen und langen Weg nach Osten. Währenddessen reist Aloy nach dem mentalen Abschied von Elisabet Sobeck zurück in die Lande der Nora, um endlich ihren festen Platz bei den Stämmen zu finden, was ihr aber mehr als schwer fällt. Und obwohl beide aus vollkommen entgegengesetzten Welten stammen – ihr jeweiliges Vorhaben wird sie bald ein zweites Mal zusammenführen.
GeschichteAbenteuer, Liebesgeschichte / P16 / Gen
18.10.2017
03.05.2018
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03.05.2018
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Ein freier Tag
So gleißend und prachtvoll sich die Sonne am Vortage noch über die weiten Wälder erstreckt und die Gemüter etwas aufgewärmt hatte, so trüb und blass zeigte sich der weißgraue Himmel am heutigen Morgen. Es würde mit einiger Sicherheit bald wieder anfangen weiter zu schneien, aber noch war alles, was man in der Ebene wahrnehmen konnte, eiserne Stille. Kein schneebedeckter Baum, kein Strauch und kein Tier regte sich im dichten Unterholz, kein Vogel traute sich sein heiteres Lied anzustimmen. Allesamt bereiteten sich auf den baldigen tiefen und langen Friedensschlaf vor, der sie einige Monate hinweg durch den Frost tragen sollte, bis zum nächsten Frühling.
Rost hatte ihr vor vielen Jahren einmal davon erzählt, wie der volle runde Mond die Sonne komplett verschluckt und sie sich einverleibt habe. Er war gerade auf Jagd gewesen und da sah er es – schwarz, riesig und atemberaubend hatte die Finstersonne das Firmament und die Welt in aussichtsloses, mattes Dunkel gehüllt. Doch nur ein paar Augenblicke später hatte sich das Licht seinen Weg zurück erkämpft, zurück an seinen rechtmäßigen Platz droben über den Wolken. Licht würde immer stärker sein als das Dunkel, dafür habe es immer schon Beweise gegeben. Nach jeder Nacht kam ein neuer Morgen, nach jedem eisigen Winter, egal wie trostlos er auch sein mochte, ein neuer Frühling. Das waren seine Worte gewesen.
Aloy hielt inne und begutachtete aufmerksam die gewaltigen Fußabdrücke vor ihr im Schnee, deren Verursacher sich zweifelsohne Richtung Westen bewegte. Die Spuren waren frisch, die Flocken von gestern Nacht hatten sie noch nicht bedeckt. Er musste also ganz in der Nähe sein, doch ihr Fokus zeigte ihr nichts, außer zwei Kaninchen, die sich schlummernd in ihrer Höhle zusammengerollt hatten. In ihrem Rücken vernahm sie den musternden Blick und den knirschenden Pulverschnee, als Avad hinter sie trat. Für Außenstehende musste das Benutzen dieser Art von Technik durchaus ein ungewöhnliches Schauspiel abgeben, immerhin sah Aloy damit Dinge, die über die Instinkte und den Verstand der meisten anderen hinausgingen.
Avad hingegen hatte sich bei weitem längst daran gewöhnt, dass die junge Nora in vielerlei Hinsicht anders war als alle anderen, nicht nur im Hinblick auf ihren Fokus. «Was genau suchen wir eigentlich hier draußen?», war seine etwas skeptische Frage nach einem Blick auf den riesigen Fußabdruck und beinahe einer Stunde Fußmarsch durch den kalten kahlen Wald.
Seine Frage wurde jedoch jäh unterbrochen durch ein wohl bekanntes Grollen, welches den Erdboden augenblicklich zum Beben brachte, bevor Aloy auch nur eine Antwort formulieren konnte. Avads Puls beschleunigte sich sofort und ihm stieg die Hitze den Nacken hinauf, obwohl die Quelle des Bebens noch etwa zweihundert Meter entfernt war.
«Ist das dein Ernst?» Er verstand plötzlich, was Aloy vorhatte, doch die junge Frau grinste nur. Sie hatte eine wahrhaft selbstmörderische Vorstellung von Freizeitgestaltung.
Und tatsächlich, hinter der nächsten Böschung tat sich die beeindruckende Gestalt auf, die seelenruhig ihre Runden um die Lichtung zog. Die Macht, welche der Donnerkiefer ausstrahlte, glich der kraftvollen Abendsonne über Meridian, die sich ebenso darin verstand, alles und jeden einzunehmen. Das aufkommende Déjà-vu hatte kaum Zeit sich in seinen Gedanken einzunisten, denn schnell musste der junge König realisieren, dass Aloy nicht mehr neben ihm stand, sondern bereits damit begonnen hatte, sich an die Maschine heran zu schleichen.
Diese Frau!
Er wollte schreien und sie zurückrufen, aber das wäre vermutlich keine kluge Idee gewesen. Sie war ohnehin schon zu weit weg, sodass Avad nur noch verzweifelt dabei zusehen konnte, wie sich die Nora in einen dichten Strauch am Rande der Baumgrenze duckte und auf das Biest wartete. Sie wollte das doch nicht wirklich versuchen! Blut rauschte so laut in seinen Ohren, dass es sich wie ein tosender Wasserfall anhörte, der alle anderen Geräusche einfach schluckte. Aber einen Hechtsprung aus dem Geäst und gleißende Lichter aus dem Speer später färbte sich die aufgewühlte gelbe Miene des Donnerkiefers friedlich blau wie der Ozean, während er sich umdrehte und die Nora neugierig musterte.
Avad rutschte sein Herz einige Stockwerke tiefer und ein ausgiebiges und kopfloses Ausatmen pfiff aus seinen Lungen. Diese Aktion war mindestens so waghalsig gewesen, wie sich mit schwingenden Fahnen und Schwertern in ein Nest voll mit wütenden Grauharbichten zu stürzen. Dennoch schien die Nora genau zu wissen was sie tat, ihr Mut ließ keinen Raum für Furcht oder Zweifel zu.
Vollkommen mit Beeindrucken gefüllt trat Avad hinaus zu Aloy auf die Lichtung, um ebenfalls seine Hand auf dem glatten Metall des gebändigten Riesen abzulegen. Es fühlte sich warm und lebendig an, sodass man schnell meinen konnte, er wäre kein seelenloser Zerstörer, sondern ein übergroßer Bewohner dieses Waldes. Ein Beschützer. Die Maschine verharrte an Ort und Stelle und bewegte sich nur leicht auf und ab, als würde sie atmen. Ein tiefes und ehrliches Lächeln zog sich über das Gesicht des Sonnenkönigs, während er alles andere auf der Welt vergaß.
«Ich dachte, dass du vielleicht mal einen aus der Nähe sehen willst. Ich meine, nach der Begegnung am See, von der du erzählt hast», erklärte Aloy ihr Tun, während sie sanft über die glänzende Oberfläche strich.
«Das ist der Wahnsinn, wirklich», lächelte Avad noch immer, wendete seinen fixierten Blick nun erstmals von dem Donnerkiefer ab und sah die junge Frau an, «Ich danke dir.»
Die Jägerin bemerkte, wie ihr die Wärme ins Gesicht schoss und sie befürchtete, dass sich alsbald eine drohende Erkältung in ihren Körper schlich. Dass Avad sich plötzlich auf dem schneebedeckten Boden niederließ und ihr deutete, es ihm gleich zu tun, verstärkte dieses Gefühl noch zusätzlich. Aber an aufkeimendes Fieber wollte sie in diesem Moment nicht denken, sondern setzte sich einfach neben ihn. Das isolierende, gegerbte Leder und das dichte Fuchsfell ließen keine Kälte an die Haut heran.
«Ich hätte wirklich mit allem gerechnet, aber nicht damit», betonte der junge Mann nochmals sein Erstaunen, während er seinen Blick gedankenverloren gen grauen Himmel richtete, von dem allmählich wieder kleine Flocken zu rieseln begannen.
«Gibt es etwas aus deiner Heimat, was du hier ganz besonders vermisst?» Aloy legte sich auf ihren Rücken und presste ihre Schultern in den weichen weißen Untergrund. Eiskristalle kitzelten kühl an ihrer Kopfhaut und in ihrem Nacken. Die Wärme, das ging ihr durch den Kopf. Wer würde nicht diese prickelnde Wärme süßlicher schwerer Abendstunden vermissen? Die sanften Strahlen, die einem auf dem Gesicht kribbelten, und die unvergleichlichen und einzigartigen Sonnenuntergänge.
«Ganz ehrlich? Es mag sich komisch anhören, aber am meisten fehlen mir die saftigen Papayas von Nubes Feldern», Avad begann die Augen schließend in seine Erinnerungen abzuschweifen, «Nube ist ein Obstbauer in Meridian Dorf. Seine Früchte sind bis weit über die Stadt bekannt. So süß und reif und so lecker. Für eine davon würde ich glatt mit einem von denen hier ringen.» Er grinste breit und zeigte auf den im Kreis trottenden Donnerkiefer, der wachsam um die beiden herum stapfte.
«Was ist eine Papapa?», fragte Aloy amüsiert.
«Papa-ya. Das Beste überhaupt. Ich muss dir unbedingt eine davon zum Probieren geben, wenn du das nächste Mal in Meridian bist!»
Diese Vorstellung gefiel der jungen Frau ungemein. Wieder durch die verwinkelten Straßen der Carja-Hauptstadt schlendern und dabei jeden Eindruck aufsaugen wie ein ausgehungerter Schwamm. Tage ganz ohne Pflichten und Verantwortung. Aber das alles erschien ihr so ungreifbar weit entfernt. Was würde ihr Stamm dazu sagen? Ganz abgesehen von den Erzmüttern, die sie zum ethischen Vorbild aller Nora ernannt hatten. Und sie konnte den Stamm doch jetzt nicht allein lassen, kurz vor dem gnadenlosen Winter. Die Häuser und Hütten waren fast alle wiedererrichtet worden, doch die Seelen der Menschen hatten noch immer tiefe Wunden zu beklagen. Geliebte waren gestorben und das psychische Elend hing gegenwärtig vielen schwermütig in den Gliedern. Genauso klar war Aloy, dass Avad und Erend nicht mehr ewig bleiben würden. Sein Ziel war es, die Herzen der Stämme zu vereinen, und das schien gute Wurzeln zu schlagen. Auch wenn es noch viele Skeptiker in den Reihen gab, jeden Tag bekannten sich ein paar mehr Nora zum gegenseitigen, endgültigen Frieden.
Sein Zuhause war der riesige Palast von Meridian, in welchem sein Thron sehnsüchtig auf ihn wartete.
Lange Nächte im Palast können sicherlich einsam sein.
Verdammter Mist, wieso stolperte Aloy gerade jetzt Juuras Bemerkung von gestern in den Sinn?
Avad legte sich nun ebenfalls rücklings in den Schnee, um den Himmel zu beobachten. Aloy bemerkte, wie mehr und mehr und immer dickere Schneeflocken gen Erde tänzelten. Es war ihr egal. Ebenso egal wie die Tatsache, dass sie von einem überaus attraktiven Mann, in den besten Jahren, nur wenige Zentimeter entfernt auf einer Waldlichtung lag.
«Darf ich dir was anvertrauen?»
Aloy sah seine Augen nicht, weil sie von ihrer Position aus nicht hinter seine Kapuze schauen konnte, aber er klang plötzlich so ernst, wie an dem Abend, als er sich den Erzmüttern stellte.
«Sicher, ja.»
«Ich denke manchmal, dass das was ich hier mache, vollkommen egoistisch ist. Mein Volk bedeutet mir alles und Frieden ebenso. Aber vielleicht hat meine Mutter recht gehabt. Vielleicht habe ich diese Reise nur für mich gemacht», Schweigen folgte seinen überlegten Worten und ihrer beider Blick nach oben wurde durch den Donnerkiefer gekreuzt, der sich kurz über sie beugte und dann weiter trottete. «Ich meine, findest du es verächtlich, wenn ich meine Stadt verlasse, um auf Reisen zu gehen?» Der junge Carja drehte seinen Kopf zur zuhörenden Nora und schaute ihr in die Augen.
Jene überlegte für einen Augenblick stillschweigend und lächelte dann, «Ganz und gar nicht. Ich verstehe das nur zu gut.» Mehr musste sie nicht hinzufügen, Avad verstand bereits. Aloy kreuzte seinen versunkenen Blick und verfing sich dabei unbewusst in seinen warmen dunkelbraunen Augen, die einen willkommenen Kontrast zur kalten Winterwelt des Ostens abgaben. «Darf ich dich auch etwas fragen?»
«Natürlich.»
«Ist es wahr, dass du deinem Vater selbst ein Ende gesetzt hast? Wie hat sich das angefühlt?»
Avad richtete sich stirnrunzelnd auf und fächelte sich die vorwitzigen Eiskristalle aus den Haaren über seiner Stirn. Mit dieser Frage hatte er nicht gerechnet und jedes Mal brachte ihn diese Angelegenheit in tiefe Überlegungen und qualvolle Erinnerungen. «Sag du es mir. Wie hast du dich gefühlt, wenn du Schatten-Carja ausgeschaltet hast?»
«Es erschien mir immer als notwendig. Aber dein eigener Vater?»
«Wie du sagtest, es war notwendig. Für mich war er dann bereits niemand anderer als ein Feind meiner übrig gebliebenen Familie. Und die musste ich um jeden Preis beschützen.» Für Avad war es noch immer schwer, sich auf dieses Thema vollständig gedanklich einzulassen. Alle hatten ihm gesagt, dass es das Richtige gewesen wäre. Aber dennoch fühlte er sich diesbezüglich, als hätte er damals versagt, als hätte es noch einen anderen Weg gegeben, auch wenn das absurd war. Es war wieder ein Akt der Gewalt in der Königsfamilie gewesen.
Ein Sohn der seinen Vater im Kampf umbringt, nur um nach ihm auf den Thron zu steigen. Damals erschien es ihm als einzige Lösung, um endlich das Blutvergießen und den Terror zu beenden. Sein Volk war ihm dankbar, aber innerlich zerfraß es ihn in stillen Nächten bis heute.
Dazu kam dieses ungute Bauchgefühl beim Gedanken daran, Aloy damals mit Ersa verglichen zu haben. Avad könnte sich immer noch selbst dafür ohrfeigen. Ersa war immer für ihn da gewesen, hatte mit ihm Seite an Seite gekämpft. Und es hatte eine Zeit gegeben, da hatte so etwas wie eine Verliebtheit zwischen ihnen existiert. Doch am Ende wäre es niemals gut gegangen. Kurz vor ihrem Tod hatte die Oseram zu ihm gesagt, dass ihr Herz anders empfand. Und der junge Mann selbst wusste ebenso gut, dass es nichts weiter war als die aufregenden, elektrisierenden Wogen der ersten Liebelei seines Lebens. Er hatte nie die Zeit und den freien Kopf gehabt, um sich mit an ihm interessierten Frauen zu beschäftigen. Für ihn zählte stets nur sein Pflichtbewusstsein und seine zerrüttete Familie. Und dann nach seiner Flucht vor seinem Vater aus Meridian, war die Oseram schlichtweg einfach da gewesen. Er hatte sich bei ihr nie Gedanken um richtig oder falsch gemacht. Mit dem Wissen von jetzt hätte er sich vermutlich nie auf die Affäre eingelassen. Es hätte sie beide niemals glücklich machen können, sie wären für jeweils andere Wege bestimmt gewesen.
Dann kam aus heiterem Himmel diese ungewöhnliche junge Nora in seinen Palast gestürmt, die wilden Haare vom Wind zerzaust und das Mundwerk frei von jedweden Zwängen. Offen und gnadenlos ehrlich, unvoreingenommen und unsagbar fair. So jemandem war er noch nie zuvor begegnet. Sie hatte ihr Leben ohne zu Zögern seinem Volk verschrieben, aus reinem Ehrgefühl heraus. Nichts weiter als bescheidenes, aufrichtiges Strahlen hatte stets in ihren Irden geleuchtet und ihre ungezähmte Natur zog ihn an wie der Honig die Bienen. Ihr Gesicht herrlich spontan wieder zu sehen, vor ein paar Tagen im Wald, hatte ihm klar gemacht, dass sich nicht das Geringste daran geändert hatte. Sie hatte gegeben und genommen und ihn in einen Rausch fallen lassen, aus dem er sich kein Entkommen vorstellen konnte.
Und nun, wie sie so neben ihm im Schnee lag, rief ihm das sanfte Lächeln auf ihren Lippen unfreiwillig wieder in Erinnerung, wie sehr er sich in sie verliebt hatte. Absolut. Allen Regeln und jeglicher Vernunft zum Trotz.
«Komm schon», beendete der Carja schnell seine eigenen Gedanken und das unlautere Thema von eben, erhob sich und nahm ihre beiden Hände, um auch Aloy wieder auf die Füße zu ziehen, «Erend hat mir gesagt, er hätte für heute Abend noch was geplant.»
«Klingt vielversprechend», säuselte die Nora leicht sarkastisch und nickte einverständlich. Der Donnerkiefer schaute ihnen zum Abschied fragend hinterher.
Auf ihrem Weg zurück nach Mutterherz verfolgten sie wieder diese ausspähenden Augen, die jeden ihrer Schritte außerhalb des Dorfes beäugten, von einer entfernten Anhöhe aus. Der in dichte Gewänder eingehüllte Mann beobachtete jeden ihrer Schritte, «Heute schlagen wir zu», gab er seinem Kumpanen zu verstehen, der neben ihm auftauchte, «Es ist soweit, gib den anderen Bescheid. Heute Nacht.»
***
«Wie bitte?! Gesöff? Ich hab‘ mich wohl verhört! Das ist ein überaus edler Tropfen aus meiner Heimat, du Stümper!»
Auf Erends Stirn hatte sich eine überdeutliche Zornesfalte abgezeichnet, derweilen er unverhalten Damin anbrüllte. Jener war heute nach Mutterherz gestoßen. Er sollte noch ein paar Tage länger in Zweizahn bleiben, um beim Errichten der Hütten für die Flüchtlinge zu helfen und damit das Weiterreisen für Avad und Erend allein sicherer war. Umso erleichterter waren die beiden gewesen, als er heute wohlbehalten zu ihnen gestoßen war. Inzwischen hatte die dunkle Nacht das Dorf in seine sanften Arme geschlossen und die ansässige Kneipe war überaus gut besucht.
So auch von Avad, Damin, Aloy und Erend, die an einem der Tische saßen und vom vor Stolz platzenden Oseramhauptmann persönlich seinen mitgebrachten Schnaps serviert bekamen. Erend hatte behauptet, dass sein guter Selbstgebrannter besser als alles war, was man hier in den Noralanden vorgesetzt bekam. Und Damins Betitelung des Oseramgebräus als Gesöff hatte für einen unaufhaltsamen, temperamentvollen Kurzschluss gesorgt.
«Beruhige dich und kipp uns was ein», seufzte Damin.
Erend tat prompt wie ihm geheißen und schenkte den beiden Männern und sich selbst einen ordentlichen Schluck in die Becher. In Aloys Gefäß füllte er nur einen winzigen Schwaps, was der wiederum natürlich nicht entging.
«Ich will genauso viel, also bitte!» Sie sah ihn entsetzt an und hielt ihm ihren Becher vor sein bereits leicht angeheitertes Gesicht.
«Ganz sicher, Kleine? Wenn du so etwas Starkes und Reines nicht gewohnt bist, dann haut dich das garantiert aus den Socken», prustete Erend lauthals los. Alle hier waren bereits sehr ausgelassen und fröhlicher Stimmung, und die Geräuschkulisse verschwamm zu einem lauten und grölenden Brei.
Aloy sah zwischen Avad und Damin hin und her, als erwartete sie eine Art Unterstützung in dieser Angelegenheit. «Er hat nicht ganz Unrecht, das Zeug ist absolut tödlich», grinste Avad in seinen Becher, als er an dem Teufelszeug roch.
Nun erst recht. «Ich bin mehr als alt genug, also los.» Klein beigeben kam nicht in Frage. Widerwillig und mit einem frivolen Grinsen füllte Erend den Becher der jungen Frau genauso voll wie die anderen und verdrehte skeptisch die Augen.
«Auf eine Nacht ohne Erinnerung!», jauchzte der kräftige Oseram und sie alle stießen an.
Das nächste, was Aloy spürte, war ein tosendes Brennen in ihrer Kehle, welches sich anfühlte, als speie ein Brüllrücken loderndes Feuer in ihrem Hals, als sie das Getränk in einem Zug hinunterkippte. Ein heiseres Husten entbrannte ihrem Gaumen und ihre Lider kniffen sich so angeekelt fest zusammen wie nie zuvor. Doch gerade als sie ihre Augen wieder öffnete, musste sie dabei zusehen, wie Erend bereits die zweite Runde ausschank.
«Wer einen schafft, schafft auch zwei», lachte er schallend. Avad und Damin sahen sich gegenseitig mit einem wissenden Blick an. Das würde auf Garantie nicht gut ausgehen.
Die nächsten zwei Stunden bestanden zum größten Teil aus Trinken, Nachschenken und Gegröle. Erend hatte im Laufe des Abends zwei leere Holzschälchen, die normalerweise Knabberei beherbergten, gefunden und sie seither als Büstenhalter missbraucht und auf holde Jungfrau gemacht. Er schien sich sehr mit seiner Rolle zu identifizieren, denn immer wenn Damin versuchte, seine neu erworbenen Rundungen anzufassen, schlug der Oseram gespielt seine Hand weg und japste mit hoher Stimme ein «Du lasziver Schuft!»
Aloy wusste nicht, wann sie das letzte Mal so herzhaft gelacht hatte. Dem entgegen stand ihre komplett verschwommene Wahrnehmung, die zweifelsohne aus dem Kippen von Erends Teufelsschnaps herrührte. Ihr Gehirn schien lediglich aus Pudding zu bestehen, ihre Finger zitterten und alles verschwamm vor ihren Augen.
Avad blieb das nicht unbemerkt und er musterte die Nora besorgt, «Geht’s dir gut? Soll ich dich lieber nach Hause begleiten?»
Seine zweite Frage brannte sich unfreiwillig in ihre wirren Gedankenstränge ein, obwohl er es nur aus reiner Fürsorge heraus zu betonen schien. Dennoch wollte Aloy nicht schwach wirken, immerhin war sie an ihrem Schlamassel selbst Schuld, hatten die Männer sie doch vorher vor den Nebenwirkungen gewarnt. Trotz der fabelhaften Vorstellung, von Avad in ihre Hütte begleitet zu werden, erhob sich die junge Frau langsam und schwankte dabei gefährlich von einem Fuß auf den anderen.
Erend ließ nun ebenfalls seine übrige Aufmerksamkeit weg von seinem hölzernen Büstenhalter zu Aloy wandern, die aber dankend abwinkte und sich auf den Weg raus in die Nacht machte.
Verdammt, was ist los?
Torkelnd und nicht mehr bei Sinnen wanderte die mehr als Betrunkene durch das inzwischen eingeschlafene Mutterherz, versuchte verzweifelt den Weg zu ihrem Bett zu finden, aber jedes Haus sah gleich aus. Lediglich aus der Kneipe waren noch Gespräche und Gelächter zu hören, ansonsten war alles um sie herum todesstill. Morgen früh würde sie sich selbst und Erend derbe dafür verfluchen.
Dieser elende Schnaps!
Ihr Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen und ein Stechen durchfuhr ihren labilen Körper, als sie bereits den halben Weg hinter sich hatte. Oder war sie in die falsche Richtung gegangen? Im Moment jedenfalls verteufelte sie ihr nutz- und orientierungsloses Hirn.
«Ich werde nach ihr sehen», beschloss Avad urplötzlich und stand vom Kneipentisch auf, «Lasst euch nicht stören», kommentierte er Damins und Erends schallende Späße über Erends falschen Brüste. Der junge König musste ernüchternd feststellen, dass er selbst auch nicht mehr ganz standfest unterwegs war.
Um Aloy drehte sich alles. So elend und zeitgleich berauscht hatte sie sich noch nie in ihrem Leben gefühlt. Hätte sie doch bloß nie von dem Zeug getrunken. Schon wie es da im Becher vor sich hin geglänzt hatte. Farblos und gefährlich. Beim bloßen Gedanken daran verkrampfte sich wieder ihr gesamter Bauch. Diesmal so schlimm, dass sie an der nächsten Hauswand Halt machte und ihre rechte Hand kraftlos daran abstützte.
Sie hickste einmal, zweimal, dann entleerte sich ihr gesamter Mageninhalt über die Holzwand, welche zur Hütte von weiß Gott wem gehörte.
Die Nora spürte den widerlichen Gallegeschmack in ihrem gesamten Rachen. Aus ihrem Mundwinkel tropfte ein letzter Rest. Oh man.
Wie gerne wäre sie jetzt einfach gestorben, das hätte zumindest gefühlt nicht schlimmer sein können als das hier. Müde und benommen hickste sie wieder. Einen gewissen Zu-Bett-Bringer hätte sie im Moment unter keinen Umständen weggeschickt. Ganz im Gegenteil. Aloy überkam die leise Ahnung, dass sie sonst einfach nicht nach Hause finden würde.
Die hastigen Schritte hinter sich bemerkte sie erst, als diese unmittelbar hinter ihr waren.
«Ava-?»
Doch bevor Aloy sich umdrehen konnte, verspürte sie einen dumpfen und unsagbar kräftigen Schlag auf ihren sowieso schon benebelten Hinterkopf, der sie zu Boden streckte und dann wurde alles um sie herum pechschwarz.