Schriftgröße  Schriftart  Ausrichtung  Zeilenabstand  Zeilenbreite  Kontrast 

Winter's Flame

von Sunny
Kurzbeschreibung
GeschichteAbenteuer, Liebesgeschichte / P16 / Gen
18.10.2017
03.05.2018
7
14.872
16
Alle Kapitel
31 Reviews
Dieses Kapitel
5 Reviews
 
27.03.2018 2.256
 
Neuland



Hart und unnachgiebig fühlte sich das kalte Metall in ihrer gepressten, angespannten Hand an. Die Sehne war bis auf das Äußerste gedehnt, sodass ihre Finger leicht brannten vor Schmerz, und wartete auf das erlösende Zurückschnellen. Der handgemachte Pfeil mit gehärteter Eisenspitze verharrte ungeduldig und gleichzeitig totenstill im Anschlag, wartete auf seine schnelle Reise zu seinem Ziel. Tief und langsam atmete sie aus, schloss dabei ihre Lider für eine Sekunde, nur um im nächsten Moment ihre Finger um die Munition zu lösen, und sie spürte sofort das Entlangzischen des Pfeiles an ihrer Wange, bevor er blitzschnell hervorschoss und sich tief im Scheinwerfer des verwirrten Wächters vergrub.

Dieser funkelte augenblicklich blau und weiß auf und zerbarst unter der Wucht des Eindringens. Vollkommen ohne Chancen taumelte das Wesen von einem Bein auf das andere, bevor es demoliert auf die Seite kippte und im hohen schneebedeckten Gras landete. Nach einem letzten mechanischen Ächzen war es wieder still auf der Wiese. Aloys Lippen überkam ein flüchtiges, selbstzufriedenes Lächeln, bevor sie ihre kalten Hände mit dem Bogen sinken ließ und auf ihre soeben erlegte Beute zu stapfte.

Die Sonne gab sich am heutigen Tag ausnahmsweise von ihrer besten Seite, sodass sich ihre gleißenden, weißgoldenen Strahlen auf der Schneedecke brachen und gnadenlos alles blendeten, was sich auf der weitläufigen Wiese befand. Das konnte man als Vor- oder Nachteil auslegen, Aloy zumindest nutzte es zu ihrem Jagdvorteil, die Wächterlinsen und Spulen wuchsen schließlich nicht einfach an Bäumen.


«Ich bin nicht gekommen, um die Taten meines Vaters zu entschuldigen oder rechtzufertigen. Das wäre selbst in einhundert Jahren nicht möglich. Ich weiß, es mag eigensinnig und töricht klingen, aber wir sind hier, um zu helfen. Ich will mir nicht anmaßen, eure Verluste einzuschätzen. Dazu bin ich keineswegs Weise in der Lage. Aber wir alle haben im Krieg Menschen verloren, die wie lieben. Verbundenheit ist heute wichtiger geworden als jemals zuvor. Darum bin ich gekommen.»


Mutterherz war so endlos friedlich an diesem Morgen. Es schien, als wären die kalten und erbarmungslosen Geister des Winters für einen Moment abwesend oder voll mit Empathie für die Menschen, denen in dieser Zeit nichts sehnlicher fehlte als warmes, kitzelndes Sonnenlicht auf ihren Gesichtern. Aloy zumindest konnte sich nicht entsinnen, wann sie das Dorf das letzte Mal so belebt gesehen hatte, beinahe als wäre jeder einzelne Nora dem Wetter verfallen. Auch wenn das muntere Dorftreiben und die zahlreichen Gesichter für viele aufmunternd sein konnten, genoss die junge Jägerin die erhabene Einsamkeit und die stille Schönheit der Wälder um ein Vielfaches mehr. Am Tage gab es nichts Vergleichbares auf der Welt. Sie war hier draußen aufgewachsen.

Jedoch vermochten die Nächte ihr den Schlaf zu rauben, Ängste sollten sie in ihren Träumen einholen. Schwarze Schatten und roter Rauch, brennende Luft und Schreie, welche gefüllt waren mit Hoffnungslosigkeit und verzweifelter Kapitulation. Das Einschlafen war zu ihrem bittersüßen Erzfeind geworden.


«Zweifel, Misstrauen, Krieg, Wut, und Argwohn haben unser Leben viel zu lang bestimmt und gezeichnet. Ich werde nie wieder zulassen, dass unter meiner Herrschaft so etwas noch einmal passiert. Ich kann euch nur mein Wort geben, denn es ist alles, was ich bei mir trage.»


Vor dem Eingang von Mutterherz kam Aloy ein zweideutiges Gesicht entgegen, und ihre trüben Gedanken wurden allmählich durch Überraschung abgelöst. So ernst sah sie ihn nur sehr selten.

«Alles in Ordnung?», lächelte die junge Frau neugierig, während sie ihren Freund eindringlich musterte. Teb hingegen schien weniger das Grinsen zumute zu sein. Er hatte ein paar Kieferholzpfeile und einen leichten Bogen geschultert und einen großen Tragebeutel an seinem verzierten Gürtel. Aloy erkannte, dass er sich wieder in den Wald aufmachte, um nach seltenen Naturstoffen und Maschinenüberbleibseln zu suchen, die er in seine Kleidung verarbeiten konnte. Den Bogen nahm er stets nur mit, um im Falle einer Konfrontation nicht vollkommen schutzlos zu sein. Das Jagen und Kämpfen überließ er vorzugsweise erfahrenen Stammesmitgliedern.

«Wie man es nimmt. Es ist fast tiefster Winter und oben herrschen weibische Frühlingsgefühle. Versteh einer die Frauen», grummelte er im Vorbeigehen und Aloy schaffte es noch, ihm einen verwunderten Blick nach zu werfen, bevor sie nach oben zum Eingangstor des Dorfes schaute, schmunzelte, und genau verstand, was er damit gemeint haben musste.

Als die Sucherin das Tor passiert hatte und den Hauptpfad zwischen den Holzhütten entlang streifte, fielen ihr zwei junge Frauen ins Auge, die die Köpfe zusammengesteckt auf einer Bank saßen und sich leise kichernd unterhielten. Als sie Aloy erblickten, wurde diese sogleich von einer der beiden herangewunken.

«Hallo, sag mal, wie haben uns gerade unterhalten, und… ist es wahr, was man sich hier erzählt? Bist du wirklich mit dem Sonnenkönig und dem Hauptmann befreundet?», fragte Juura interessiert und ihr Augenmerk schweifte ab in Richtung Marktplatz. Als Aloy ihrem Blick folgte, wurde ihr einiges mehr als klar.


«Ich spreche für alle Carja, ich spreche für ganz Meridian. Bitte, ich wäre unendlich dankbar, wenn ihr uns die Chance gebt, mein Wort auch einzuhalten.»


Am Rande des Marktplatzes standen Erend, Avad und der hiesige Hüttenarchitekt sowie der Schmied, die offensichtlich versuchten, eine neue Holzhütte fertig zu bauen. Das Gerüst stand bereits, nur das massive Dach fehlte noch. Der meisterliche und stets verlässliche Architekt hatte sich im Kampf gegen einen Todbringer vor knapp zehn Wochen einen Leistenbruch zugezogen und kämpfte gegenwärtig noch mit dessen schleppender Abheilung. Er hatte das Angebot der Hilfe schnell angenommen, immerhin gab es nicht viele so starke Männer im Dorf wie den gestandenen Oseram. Und wer konnte schon sagen, wie lange der noch zur Verfügung stehen würde.

Zumindest schien Erend bei der schweißtreibenden Arbeit überaus heiß zu sein, hatte er sich doch seiner Oberbekleidung entledigt und präsentierte seine Muskeln sämtlichen Einwohnern. Avad beließ es immerhin bei einem kurzärmligen Aufzug. Gemeinsam stemmten sie die Dachbalken nach oben, um die Hütte noch vor dem Wintereinbruch fertig zu stellen. Der zukünftige Eigentümer, Schmied Tras, beaufsichtigte aufmerksam und stolz das fleißige Voranschreiten. In Gedanken sah er sich schon vor dem offenen Feuer auf seinem neuen eigens gebauten Sessel aus Birkenholz und Fuchsfellen.

Aloy wandte ihren Blick wieder zu Juura und Kalla, die die jungen Männer bei ihrer Arbeit beobachteten. «Nun ja, ich denke, so kann man das nennen.»

«Wirklich, das ist so spannend! Dann weißt du bestimmt auch, ob es eine besondere Frau an der Seite vom König gibt, oder?», fragte Juura schonungslos ehrlich heraus. Sie war die Tochter vom Anführer der Jäger hier in Mutterherz. Ihr Vater hatte sich auch in Mutterkrone und darüber hinaus einen Namen gemacht. Seit dem Tod ihrer Mutter passte ihr Vater noch verstärkter auf seine Tochter auf. Sie war sein Augapfel, sein Alles. Kein Mann konnte ihm jemals gut genug für sie sein. Gerade darum hatten sehr viele Junggesellen ein Augenmerk auf die hübsche Brünette als potentielle Braut geworfen - der verbotene Honig schmeckt viel süßer, lockt besonders viele Bienen an. Und Juura war sich dessen durchaus bewusst, sie liebte die ihr zukommende Aufmerksamkeit und spielte gern damit.

Neben ihr saß Kalla, die knallrot anlief, weil sie mit der Unverblümtheit ihrer Freundin nur schwer umgehen konnte. Sie war viel mehr von schüchterner Natur. Nun erkannte Aloy auch, warum Teb so mürrisch gewesen sein musste. Immerhin liebäugelte seine Angebetete hier zwei andere Männer. Das musste sich furchtbar anfühlen.

«Juura! Das klingt ja schlimm», lachte die Tochter des Schmieds. Wenn jener wüsste, dass seine Kleine keine fünfzig Meter weit weg von ihm klammheimlich Männer beobachtete.

«Wieso schlimm?», die selbstbewusste Brünette schaute ihre lächelnde Sitznachbarin kokett zwinkernd an, «Ich wollte schon immer mal in die Sonnenstadt. Vielleicht nimmt er mich mit. Und lange Nächte im Palast können sicherlich einsam sein, meinst du nicht auch?»

Als die beiden wieder untereinander kicherten, bemerkte Aloy, wie Juuras Worte ein unangenehmes Grollen in ihrer Magengegend auslösten. Es fühlte sich an, als hätte sie etwas Verdorbenes verspeist und alles rumorte nun in ihrem Inneren. Sie konnte sich weder ein solidarisches Lächeln abgewinnen, noch ihre Gedanken von den Worten lösen. Solche Thematiken hatten eigentlich noch nie viel Platz in ihr eingenommen, weder in ihrem Kopf noch in ihrem Herzen.

Es hatte sie kaum interessiert, wenn die Frauen im Dorf über diese eine Sache redeten und tratschten, wenn ihre Männer nicht zuhörten. Sie hatte sich nie den Kopf darüber zerbrochen, es hatte immer Dinge gegeben, die ihr im Leben viel wichtiger und tragender erschienen. Dass die junge Frau nun von plötzlichen leichten Bauchschmerzen überrannt wurde, kam ihr selbst dementsprechend viel zu überraschend.

«Also Aloy», grinste Juura wieder frivol in deren Richtung, «Nun sag schon.»

Die junge Nora hörte die Aufforderung im ersten Moment gar nicht, bevor sie nach einigen Sekunden den Blick vom Bau des Daches abwenden konnte und kurz überlegte, «Ich bin nicht sicher. Vielleicht hat er jemanden.»

Es war mehr eine Ausrede und eine Ablenkung, als die ehrliche Wahrheit, welche sie aber aus irgendeinem Grund nicht über ihre Lippen bringen konnte. Juura schaute mit einer Mischung aus Misstrauen, gegenüber der unbefriedigenden Antwort, und gespielter Enttäuschung Kalla an. Ebenso hatte sie keinen Narren an Aloy gefressen. Im Gegenteil, vor dem Krieg und vor der Berufung zur Sucherin, noch vor der Jagdprüfung, die von Helis vereitelt worden war, hatte Juura großen Gefallen daran gehabt, sich über die Ausgestoßene lustig zu machen. Die außergewöhnliche Außenseiterin, die seltsame Unerwünschte. Sie war oft das Gesprächsthema gewesen. Aber seit Aloy als Kriegsheldin mit offenen Armen und Pforten begrüßt worden war, konnte die Jägerstochter sichtlich schwer damit umgehen, den Großteil der Aufmerksamkeit abzugeben. Juura zumindest war fest entschlossen, ihr Ziel noch nicht komplett aufzugeben.

Aloy wandte sich zum Gehen, legte ihre erbeuteten Wächterlinsen wie üblich auf der Treppe der Schmiedewerkstatt ab und schlenderte hinüber zu ihren beiden Freunden, in der Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft. Diese hatten gerade die Anweisung vom Architekten bekommen, den nächsten Querbalken möglichst gerade in der Waagerechten zu halten, damit Tras ihn mit Seilen provisorisch befestigen konnte, bevor es an den Hammer ging. Also standen Erend und Avad nebeneinander, beide die Arme ausgestreckt über dem Kopf, die den massiven Holzstamm unter viel Kraft und Mühe oben hielten. Beiden lief jeweils eine kleine Schweißperle über die Stirn und ihre Gesichter lachten sich die Anstrengung gegenseitig weg.

«Hallo Jungs», wurden sie heiter von Aloy begrüßt, welche die wacklige Balkenangelegenheit skeptisch musterte. Die beiden schauten gleichzeitig zu ihr hoch und fingen prompt an zu grinsen, was einen unsagbar amüsanten Anblick abgab, «Ihr kommt voran?»

«Darauf kannst du wetten, Kleine. Aber der hier ist so eine Schufterei nicht gewohnt», lachte der Oseram fröhlich und deutete auf seinen Balkennachbarn, «Ich allein hätte die Bude längst zusammengeschustert!»

«Ist das dein Ernst? Dank deiner winzigen Blase müssen wir andauernd Pausen einlegen», konterte Avad kopfschüttelnd, «Du allein bekommst das nicht mal in drei Jahren hin.»

Aloy schmunzelte. Die beiden gaben ein ungleiches aber eingespieltes Team ab. Man vermochte nicht zu glauben, dass das hier der erhabene, königliche Amtsträger und sein erster Hauptmann waren. Es tat ihnen anscheinend mehr als gut, die hoheitliche Etikette ab und zu etwas schleifen zu lassen. Besonders Avad entdeckte für sich völlig neue Seiten des Alltags. Es gab hier keine Palastwache, keine Bediensteten, die alles für ihn erledigten. Er hatte das einfache, harte Leben gewollt und er sollte es bekommen, mit allem was dazu gehörte.

Aloy hingegen war sich der aufmerksamen Blicke seitens Juura bewusst, die sich eines Speeres gleich in ihren Rücken bohren mussten. Ihr kamen wieder die lasziven Äußerungen von eben in den Sinn, die ihr Unbehagen erneut aufflammen ließen. Das war völliges Neuland, sie bewegte sich nun auf unerforschtem Terrain.

Warum genau, fiel ihr noch immer nicht ein, aber irgendetwas in ihrem Gefühl trieb sie an, Avad folgende Frage zu stellen: «Werdet ihr mit dem Dach heute noch fertig? Ich möchte dir morgen etwas zeigen. Natürlich wäre das nur nützlich für eure Reise», fügte sie den letzten Satz schnell hinzu, als sie von den beiden Männern überrascht angestarrt wurde, «Erend, meinst du, du könntest ihn einen Tag entbehren?»

Der Hauptmann grinste bloß nickend in sich hinein.

«Ja, gerne», erwiderte Avad freudig perplex und ließ beinahe den schweren Balken fallen, der gerade noch wieder aufgefangen werden konnte.

«Scheiße!», prustete Erend, der seine komplette Muskelkraft aufbringen musste, um das gute Stück wieder auf Kurs zu bringen.


Der Schnee auf den Dächern glitzerte und blitze strahlend hell wie ein unendliches weißes Meer. Nur der beißende Nordwind konnte einen jeden heute daran erinnern, dass man sich nicht der falschen Finte der Sonne hingeben durfte, denn der Winter stand vor der Tür.

Teersa verweilte in der hölzernen Eingangstür zur Hütte der Erzmütter und beobachtete das Ganze auf dem Marktplatz mit einem Lächeln. Ihr entgingen jedoch nicht die ein oder anderen missmutigen Blicke einiger Nora, die die Entscheidung vor zwei Tagen, den Carjakönig in Mutterherz zu dulden, nicht guthießen. Sie standen fest hinter Lansra und waren mit ihrer Meinung dahingehend nicht allein. Aber der Großteil des Dorfes war zum Glück positiver gestimmt in dieser Hinsicht. Das lag nicht im geringen Teil daran, dass sie jede Tat ihrer angesehenen Sucherin voll und ganz respektierten.

Die Erzmutter hoffte, dass nun endlich eine Zeit des Friedens anbrechen würde. Ebenso wollte sie es nicht bereuen, den Fremden eine Gelegenheit eingeräumt zu haben, den Nora zu helfen. Sie hatte immerhin ihr Wort und somit ihre Ehre für die beiden eingesetzt. Es musste viel besprochen werden, aber Teersa war sich sicher, dass der junge Avad den Willen und die Aufrichtigkeit besaß, die Fehler der Vergangenheit auch dort zu belassen. Sie hatte es im Gefühl, und dieses hatte sie bisher nie getäuscht. Weder damals bei der Segnung von Aloy, noch hoffentlich dieses Mal.

Trotz allem waren sie noch jung und impulsiv, und einen Tag Ablenkung von der anstrengenden Reise und der Diplomatie hatte noch niemandem geschadet, auch keinem König.
Review schreiben
 Schriftgröße  Schriftart  Ausrichtung  Zeilenabstand  Zeilenbreite  Kontrast