Nachts über den Dächern Venedigs
von soloza
Kurzbeschreibung
Die nackten Füße tragen ihn durch Venedigs Gassen und über die Dächer. Die Sichel des Mondes scheint ihn zu beobachten, ihn zu verspotten. Warum bist du weggelaufen?, hört er sie fragen und ist sich ziemlich sicher, dass das Einbildung ist. Außerdem hat er doch auch keine Antwort auf diese Frage. [Scipio/Prosper]
OneshotLiebesgeschichte / P12 / MaleSlash
Prosper
Scipio
04.10.2017
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Nachts über den Dächern Venedigs
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„Macht das eigentlich Spaß?“
„Was meinst du?“, Scipio hebt fragend eine Augenbraue.
„Na das nächtliche Herumturnen in den Gassen und auf den Dächern“ Bonifazius‘ Kopf schnellt nach oben, als er Prospers Worte hört.
„Würde ich es denn immer noch tun, wenn es keinen Spaß machen würde?“, stellt Scipio grinsend eine Gegenfrage. Prosper sieht ihn amüsiert an, während er weiter Kartoffeln schält. Ida hat sie zum Essen eingeladen, aber das heißt ja nicht zwangsläufig, dass sie auch kocht. Also schält Prosper Kartoffeln und Scipio schneidet diese in Würfel, um sie in einen großen, mit Wasser gefüllten Topf zu werfen. Bo sitzt am Küchentisch und macht seine Hausaufgaben. Oder auch nicht.
„Kannst du mich endlich mal mitnehmen?“, fragt er und springt, vor kindlichem Enthusiasmus nur so sprühend, auf die Füße. Scipios Blick wandert kurz zu Prosper, welcher entsetzt den Kopf schüttelt und dann wieder zu dem blondgelockten Jungen.
„Also dein Bruder ist ganz offensichtlich dagegen, aber“, er beugt sich zu Bos Ohr hinunter und flüstert so laut, dass auch Prosper es hören kann: „ wenn Prop schläft, schleichen wir uns raus, in Ordnung?“ Bo nickt begeistert.
„Das hab‘ ich gehört“, meint Prosper, einen gespielt verärgerten Unterton in der Stimme. Scipios darauffolgendes Lachen lässt seinen Körper angenehm kribbeln. Eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht streichend, wendet er sich wieder seiner Tätigkeit zu.
„Kommt ihr voran?“ Ida schaut in der Küche vorbei. Scipio bejaht hastig und stellt sich wieder an den Herd. „Bo, mach jetzt deine Aufgaben. Wir haben dich nicht in einer Schule angemeldet, damit du nichts tust“ Bo grinst von einem Ohr zum anderen, setzt sich aber wieder gehorsam an den Tisch.
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„Die Kartoffelsuppe ist uns gut gelungen“, ein zufriedenes Lächeln zupft an Prospers Mundwinkeln.
„Jaa, sie war akzeptabel“, eine Faust trifft Scipio nach diesen Worten spielerisch in die Seite. Er beginnt zu lachen. „Schon gut, das war ein Scherz. Sie war exzellent zubereitet, aber das ist ja kein Wunder bei den Köchen“ Nun grinst auch Prosper. Sie haben es sich nach dem Essen auf dem Bett in Idas Gästezimmer bequem gemacht. Wahrscheinlich werden sie auch hier übernachten. Nachdem sie das Stella zwangsläufig erstmal verlassen mussten, hat Prosper damit begonnen arbeiten zu gehen und das Geld für eine Wohnung zu sparen. Im letzten Monat ist er bei Scipio untergekommen, aber auch nur weil sein Vater eine längere Zeit im Ausland ist. Nächste Woche kommt dieser zurück und bis dahin muss er eine Alternative gefunden haben. Wenn nicht, bleibt er halt doch noch für eine Weile in dem alten Kino, wobei das ziemlich einsam werden könnte, weil Bo ja jetzt bei Ida wohnt. Er möchte nicht unbedingt ihre Gastfreundschaft überstrapazieren.
Aber heute Nacht will er sich nicht damit beschäftigen. Heute denkt er lieber über andere Dinge nach. Über Bo zum Beispiel, sein Unterricht soll seinen Erzählungen nach so langweilig sein, dass er lieber vor sich hinträumt. Oder über Viktor, der immer noch um Ida herumschleicht, weil er sich nicht traut, endlich auf sie zuzugehen und sie auf ein Date zu bitten. Aber das Lieblingsthema seiner Gedanken ist schon seit einiger Zeit ein gewisser dunkelhaariger Junge, der ganz zufällig gerade neben ihm an der Wand lehnt und seinen eigenen Gedankengängen nachhängt. Prosper wendet den Kopf um den Anderen anzusehen. Seine Augen registrieren die weiche, helle Haut, die gerade Nase und die dunklen Haare, in denen er so gern seine Hände vergraben würde. Der Blick aus braunen, fast schwarzen Augen fixiert nachdenklich die Wand gegenüber, bevor er sich von ihr löst, um sich auf Prosper zu richten.
„Weißt du, manchmal frage ich mich, ob es nicht ein Fehler war, das Karussell nicht zu besteigen“, sagt Scipio leise.
„Warum sollte das ein Fehler gewesen sein?“, fragt Prosper verwirrt.
„Naja, ich könnte jetzt schon ein bisschen älter sein und nicht mehr bei meinem Vater leben. Dann wäre ich frei und könnte richtig für euch sorgen. Oder ich könnte endlich meinen Traum verwirklichen und durch die Welt reisen“, ein trauriges Lächeln legt sich auf Scipios Lippen.
„Aber dann wären wir nicht mehr gleich alt. Und du würdest die letzten Jahre vor dem Erwachsensein verpassen. Außerdem wissen wir nicht, ob du es überhaupt geschafft hättest, rechtzeitig abzuspringen. Wir bekommen das auch so hin, schon vergessen?“, Prosper sieht ihn aufmunternd von der Seite an. Scipio seufzt.
„Ich bin froh, dass du mich überzeugt hast, es nicht zu benutzen und es jetzt kaputt ist. So komm ich auch nicht auf falsche Ideen“
„Gern geschehen“, grinst Prosper und schließt die Arme um den Anderen. „Sag mal, warum turnst du eigentlich immer noch auf den Dächern herum?“ Scipio lehnt sich an ihn.
„Es gibt mir das Gefühl frei zu sein, alles tun und lassen zu können. Und…es hilft mir meine Angst an vollen Orten wie dem Markusplatz zu vergessen. Sie ist natürlich nicht weg, aber naja…“
„Warte mal. Du hast Platzangst?“
„Ja…das erste Mal, wo ich das gemerkt habe, war ich mit meiner Mutter in einem Kino. Da waren viel zu viele Leute und als dann auch noch Licht ausgegangen ist, da hatte ich das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen. Unser Sternenversteck ist in Ordnung, aber das wird ja schließlich nicht mehr benutzt“
„Okay“ Stille entsteht.
„Venedig ist bei Nacht wunderschön“, murmelt Scipio noch einen weiteren Grund, dann überlässt er Prosper kurz wieder seinen Gedanken. Der Satz bringt ihm zum nächsten Thema.
„Du hast doch nicht wirklich vor, das mit Bo durchzuziehen, oder?“, er versucht unbeschwert zu klingen, aber die Sorge und Angst um seinen kleinen Bruder ist nicht zu überhören.
„Wenn du das nicht möchtest, werde ich es nicht drauf ankommen lassen“, verspricht Scipio. Eines von so vielen Versprechen, die er schon gegeben hat. Auch wenn er dieses halten wird, nicht so wie einige andere. Nicht so wie das, sie nie anzulügen.
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Prosper wollte seinen Augen nicht trauen, als er dem Herrn der Diebe, einem vermeintlichen Waisenkind, und dessen Vater in der Casa Massimo begegnete. Scipio hatte sie ausdruckslos angeblickt, nur seine Augen strahlten Reue aus und gemeint, er hätte es ihnen sowieso sagen wollen. Als ob das irgendwas geändert hätte. Es löste ein merkwürdiges Gefühl in Prosper aus. Dieses Gefühl, die Enttäuschung, ließ seine Miene hart werden und ihn sich abwenden, nachdem er Scipio die Meinung gegeigt hatte: „Die Beute kam nur aus diesem Haus, oder? Für den reichen Jungen war der Herr der Diebe nicht mehr als ein Spiel. Und wir sind auf dich reingefallen“ Aus dem letzten Satz sprach das Bedauern. Schnellen Schrittes verließ er mit Bo das Haus und stürmte die Gasse mit Mosca und Wespe auf den Fersen davon. Jeder von ihnen war maßlos enttäuscht und wütend. Riccio lief nochmal zurück, um sich davon zu überzeugen, dass die Brüder die Wahrheit sagten. Die traurigen Augen Scipios brannten sich in Prospers Gehirn. Und als er des Abends auf seiner Matratze im Stella lag, mit Bo in seinen Armen, dachte er nach. Er kam zu dem Schluss, dass er überreagiert hatte. Im Inneren vergab er dem Dunkelhaarigen zu diesem Zeitpunkt. Aus einem Grund, gegen den sich sein Verstand noch eine Weile wehrte, bis auch er es akzeptierte, dass er nicht gegen das Herz ankam. Und dann war da die darauffolgende Nacht, ihr Zusammentreffen in Idas Haus.
„Geh lieber nachhause, Scipio. Die anderen sind ziemlich wütend auf dich. Sie verstehen nicht, was du getan hast“, Prosper sah den Herrn der Diebe mitleidig an.
„Bist du wütend? Kannst du es verstehen?“, der hoffnungsvolle Blick traf ihn vollkommen unvorbereitet. Ist es Scipio wichtig, dass ich es verstehe? Diese Frage geisterte durch Prospers Kopf, als er in den dunklen Seelenspiegeln versank und sein Herz ein bisschen schneller schlagen spürte.
„Ich versuch’s“, erwiderte er, denn wirklich verstehen tat er es noch nicht. Das tat er erst, als Scipio ihn mitten in der Nacht weckte, sie sich aus dem leerstehenden Kino schlichen, darauf bedacht niemanden zu wecken und er es ihm erklärte. Dass er sich in Gegenwart seines Vaters wie das Waisenkind gefühlt hatte das er später auch sein wollte. Dass er irgendwann begonnen hatte, Sachen aus dem Haus seines Vaters mitgehen zu lassen, die dieser sowieso nicht vermissen würde. Mit dem klaren Sternenhimmel über ihnen dauerte es nicht lange. Sie lagen still nebeneinander, bis Prospers Stimme die Ruhe durchbrach.
„Ich habe dir längst vergeben“, sagte er und Scipios ungläubiger Blick, mit den funkelnden Augen, ließ seinen Körper unruhig werden. Er setzte sich auf und legte den Kopf auf seine angezogenen Knie, den Blick auf die Lagune gerichtet.
„Danke“ Scipios auf einmal rau klingende Stimme bescherte ihm eine Gänsehaut. Prosper blickte zu ihm und war relativ geschockt als er die einzelne, im Mondlicht schimmernde Träne entdeckte.
„Scipio?“, der erschrockene Unterton war nicht zu verstecken. Der Herr der Diebe begann leicht zu kichern und wischte die Träne unwirsch weg. Doch je mehr er lachte, desto mehr Tränen flossen. Prosper war so irritiert, dass er nichts machen konnte. Und Scipio konnte nicht aufhören zu lachen. Irgendwann steckte er den Anderen an und sie lachten und lachten und wussten gar nicht mehr worüber eigentlich.
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Prosper lächelt leicht, als er an diese Nacht zurückdenkt. Seine Finger fahren durch das dunkle Haar Scipios und verfangen sich in den Spitzen. Scipio lässt ein zufriedenes Seufzen vernehmen und kuschelt sich an Prosper, der alle Kraft der Welt braucht, um sich nicht einfach gehen zu lassen und Scipio einen Kuss auf die Stirn zu hauchen oder etwas Ähnliches.
Und das ist der Moment, in dem die Tür aufgeht. Ein blonder Lockenschopf taucht auf und plötzlich steht ein hellwacher Bo vor ihnen. Er mustert die Beiden kurz nachdenklich.
„Prop schläft ja noch gar nicht“, sagt er dann mit trauriger Stimme, aber das Grinsen lässt sich nicht aus seinem Gesicht wischen. „Stör ich euch? Ich kann auch später wiederkommen“ Scipio schüttelt den Kopf und setzt sich auf. Er sieht Bo bedeutungsvoll an und legt ihm die Hände auf die Schultern.
„Hör mal, ich glaube, es ist eine ganz schlechte Idee nachts mit dir da rauszugehen. Und ich will wirklich nicht, dass dir was passiert“, sagt er.
„Prop hat dich überzeugt, oder?“, die blauen Augen blicken Scipio neugierig an. Der Dunkelhaarige nickt.
„Wir könne das gerne mal machen, wenn du ein bisschen älter bist, aber bis dahin gehe ich lieber kein Risiko ein, das Vertrauen deines Bruders zu missbrauchen“ Prospers erleichterten und zugleich verwunderten Blick kann er nicht sehen, aber Bo nimmt ihn wahr.
„Du hast ihn gern“, eine Feststellung, keine Frage. Und sie ist an Beide gerichtet. Scipio zögert kurz.
„Ja natürlich hab‘ ich ihn gern. Ich hab‘ auch dich gern und Wespe, Mosca und Riccio. Selbst Viktor ist mittlerweile in Ordnung“
„Nein“, Bo schüttelt den Kopf. „Ich meine, du magst ihn viel mehr als alle anderen. Du guckst ihn so an, wie Viktor Ida anguckt“
„Was meinst du?“, Scipio blickt den kleinen Jungen fragend an.
„Du liebst ihn!“, Bos Stimme klingt überzeugt, während sein Blick zu Prosper huscht,
„Was?“, Scipio schaut ihn entsetzt an. Und Prosper? Der schließt die Augen, versucht sein zu schnell klopfendes Herz zu ignorieren. Dann steht er auf und verlässt den Raum, das Haus. Die nackten Füße tragen ihn durch Venedigs Gassen und über die Dächer. Die Sichel des Mondes scheint ihn zu beobachten, ihn zu verspotten. Warum bist du weggelaufen?, hört er sie fragen und ist sich ziemlich sicher, dass das Einbildung ist. Außerdem hat er doch auch keine Antwort auf diese Frage. Er lässt sich am Rand eines Daches nieder und den Blick über die Lagune streifen. Sein Herzschlag hat sich wieder normalisiert. Vielleicht hat Bo ja unrecht? Vielleicht meint er es anders? Vielleicht hat der Blonde irgendwas falsch gedeutet? Vielleicht-
„Hier bist du“, die gekeuchten Worte lassen ihn vor Schreck beinahe vom Dach fallen. Prosper presst die Lippen aufeinander und blickt zur Seite als der Andere sich neben ihn setzt. Er kann ihn grad nicht anschauen. „Hör mal, Prop“, setzt Scipio atemlos an. Er muss ihm ziemlich eilig hinterhergerannt sein. Prosper reagiert nicht. Eine Hand dreht seinen Kopf am Kinn zu Scipio. „Hörst du mir zu?“ Der Herr der Diebe sieht ihn bittend an, seine Atmung beruhigt sich wieder. Prosper nickt, bemerkt, dass sich das Mondlicht silbern in Scipios Augen spiegelt.
„Gut…also eigentlich hat Bo mir das ziemlich versaut. Also das, was längst überfällig ist. Das, was ich dir schon längst hätte sagen sollen“ Der Andere blickt ihn mit ausdrucksleerer Miene an und Scipio muss allen Mut zusammenkratzen, den er finden kann. „Also was ich sagen will“
„Komm zum Punkt“, unterbricht ihn Prosper, immer noch mit diesem undurchsichtigen Gesichtsausdruck. Das letzte bisschen Mut in Scipio verfliegt.
„Was? Ich…Ähm“ Hilflos blickt in Prospers nussbraune Augen. „Bo hat recht“, sagt er dann. Prosper blinzelt. Jetzt ist er daran ein ungläubiges „Was?“ zu hauchen. Und Scipio entschließt sich, ihm die Wahrheit zu sagen, auch wenn er damit ein Risiko eingeht.
„Als ich dich das erste Mal getroffen habe, da war ich beeindruckt. Du hast deinen Bruder beschützt und versucht für ihn stark zu sein. Und das hat irgendwas in mir ausgelöst. Ich hatte später das Gefühl, dass nur ich sehe, dass es dir nicht gut geht. Ich bin nicht der einzige, der eine Maske trägt, Prop. Du trägst auch eine. Eine, hinter der du deine Einsamkeit, deinen Schmerz und deine Angst versteckst.
Als ich deinen enttäuschten Blick gesehen habe, als du herausgefunden hast, dass ich euch – dich – angelogen habe, da ist etwas in mir zerbrochen. Und dann auf dem Dach, da hast du dieses Etwas wieder zusammengesetzt. Dieses Etwas…das ist mein Herz, weißt du? Ich hab‘ das noch nie erlebt, dass jemand sowas mit mir machen kann, so eine Macht über mich und mein Herz hat. Ich hab‘ immer versucht niemanden da rein zu lassen. Das hat ganz gut geklappt. Bis du kamst. Und…“, Scipio stockt, ist verwundert über die ganzen Worte, die gerade seinen Mund verlassen haben. Prosper sieht ihn an, mit einem Blick, den er nicht deuten kann. „Prosper? Ich liebe dich“, sagt er schlussendlich und Prospers Herz schlägt einen Salto.
„Darf ich“, der Braunhaarige räuspert sich, um den Kloß in seinem Hals loszuwerden, der sich nach diesem Geständnis dort gebildet hat. „Darf ich dich küssen?“, fragt er leise, unsicher. Scipio bejaht genauso leise. Also legt er seine Lippen vorsichtig auf die des Anderen. Ein Feuerwerk von Gefühlen explodiert in seinem Inneren, sobald Scipio den Kuss sanft erwidert. Als sie sich voneinander lösen, lehnt Prosper seine Stirn an Scipios, die Hand nach den Fingern des Dunkelhaarigen tastend.
„Ich liebe dich auch“, flüstert er. Die Worte sollen ein Geheimnis der Nacht bleiben.
Als sie Hand in Hand durch die Gassen zurück zu Idas Haus schlendern, sieht Prosper hinauf zum Mond. Und entweder spielt sein Verstand ihm einen Streich oder er sagt wirklich: „Hachja, noch einmal die erste Liebe erleben. Was ich da nicht alles für geben würde…“