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Scarlett Standish - Ein Leben beim RFDS - Kapitel 1-17

Kurzbeschreibung
GeschichteAllgemein / P12 / Gen
28.08.2017
28.08.2017
17
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28.08.2017 4.025
 
Ben steuerte den Wagen sicher über die staubige Piste. Seit zwei Stunden waren sie nun schon unterwegs. Musik von Scarletts CD begleitete sie auf der Fahrt. Ben war noch immer nicht sehr gesprächig. Hatte Scarlett die Weite des Outbacks auf der Hinfahrt noch genossen, wurde sie nun schon wieder schläfrig. Sie hatte sich diese Fahrt irgendwie anders vorgestellt.

Scarlett reckte sich gähnend: „Ich werde schon wieder müde.“

„Gestern war ein anstrengender Tag für dich. Du kannst ruhig etwas schlafen, das macht mir nichts aus.“ meinte Ben.

„Aber wenn ich dich ablösen soll, weckst du mich!“ mahnte sie.

Er warf ihr einen schmunzelnden Blick zu. „Ich halte schon noch etwas durch.“

Kurze Zeit später war Scarlett im Sitz etwas hinuntergerutscht und hatte ihren Kopf halb an die Fensterscheibe gelehnt. Gleichmäßige Atemzüge signalisierten Ben, dass sie schon eingeschlafen war. Die scheinbar endlos geradlinige Straße ließ es zu, dass er sie mit einem längeren Blick betrachtete. Seufzend wandte er sich schließlich wieder ab und konzentrierte sich auf die Fahrt.



„Scarlett!“ Ben stieß sie unsanft an der Schulter an. „Scarlett, wach auf!“

Sein fordernder Ton drang leise in Scarletts Bewusstsein.

Wieder stieß er sie heftig an. „Scarlett!“

„Hm, was ist denn los?“ murmelte sie verschlafen und blinzelte.

„Da vorn. Ein Auto scheint von der Straße abgekommen zu sein.“ Er deutete mit der Hand voraus. Scarlett war mit einem Schlag wach, als sie erkannte, dass in Sichtweite, ein paar Meter neben der Straße, ein Auto auf dem Dach lag. „Mein Gott!“

„Funk die Zentrale an.“

Sie griff sofort zum Funkgerät vor sich. „Kilo, Hotel, Bravo Mobile an Sierra, Tango, Omega. Bitte kommen.“

Es knackte, rauschte kurz und dann hörten sie Sues klare Stimme: „Kilo, Hotel, Bravo Mobile, hallo Scarlett. Was gibt es?“

„Sue, wir sehen hier eine Unfallstelle. Wir sind noch zu weit entfernt, um Genaueres sagen zu können, aber ein Wagen hat sich überschlagen und liegt unweit neben der Straße. Bleibt bitte auf Empfang.“

„Okay, wo seid ihr?“

Scarlett schaute Ben fragend an. „80 km hinter der Abzweigung nach Beringa.“ antwortete er angespannt. Sein Blick war auf das Auto geheftet, dessen Metall in der Sonne blinkte.

Als Scarlett die Position durchgab, stoppte Ben den Wagen kurz vor der Unfallstelle und sprang im nächsten Augenblick auch schon hinaus.

Scarlett zögerte kurz, sagte Sue dann, sie solle warten und eilte ebenfalls hinaus. Sie holte Bens Arztkoffer aus dem Kofferraum und brachte ihn zum Unfallauto. Sie traute sich kaum, in den Wagen zu schauen. ‚Wann war der Unfall passiert? Hatten sich die Insassen befreien können? Kam ihre Hilfe schon zu spät?’ Die Fragen schwirrten nur so in ihrem Kopf.

Ben war mit dem halben Oberkörper in dem Seitenfenster der Fahrerseite verschwunden. Scarlett beugte sich hinunter. „Und?“ fragte sie schließlich.

Sie erkannte nun, dass sich auf den vorderen Sitzen noch immer zwei Personen, ein Mann und eine Frau, befanden. Beide waren bewusstlos.

Bens linke Hand angelte nach hinten: „Mein Koffer!“ Als hätte er gewusst, dass Scarlett ihn hergebracht hatte. Sie schob ihn geöffnet am Boden möglichst nah ans Fenster. „Wir brauchen das Flugzeug. Zwei Liegendtransporte! Sie sollen sich beeilen. Alles weitere später.“ drang es aus dem Wageninneren.

„Okay!“ Scarlett lief zurück und gab die Information an Sue weiter.

„Mark und Patrick sind auf Kliniktour. Sie brechen sofort auf. Geschätzte Entfernung 30 Flugminuten. Wie sind die Landemöglichkeiten bei euch?“

Instinktiv suchte Scarlett die Umgebung mit den Augen nach Landeschwierigkeiten ab: „Die Straße ist in einem guten Zustand. Das Umland bietet keine Möglichkeit, überall sind verstreute Sträucher und Bäume im Weg. Gibt es eine Landepiste in der Nähe?“

„Nein, nicht in unmittelbarer Nähe. Es kommt also auf die Dringlichkeit an, ob eine Straßenlandung in Betracht gezogen werden kann.“ meinte Sue nachdenklich.

„Dazu kann nur Ben etwas sagen.“ Scarlett schaute zum Unfallwagen und sah, dass Ben sich bemühte eine Person aus dem Wagen zu ziehen. „Sue, ich muss Ben helfen. Ich melde mich gleich wieder.“

Scarlett lief zu Ben, um ihm zu helfen, doch er hatte es schon fast geschafft. Keuchend legte er den Mann ab und drehte ihn sofort in die stabile Seitenlage. „Bleib bei ihm. Achte auf seine Atmung und ruf mich sofort, wenn sich etwas ändert!“ wies er sie an.

Scarlett nickte: „Mache ich.“ Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Zwanzig Minuten hatten sie auf jeden Fall noch, ehe eine Entscheidung über die Landung getroffen werden musste.

Scarlett kniete neben dem bewusstlosen Mann und betrachtete ihn. Er hatte helle Haut und einen Sonnenbrand im Gesicht. Leichte Falten zogen sich um die Augen. Scarlett schätzte ihn auf Mitte 40. Seine Kleidung war leger, Jeans und T-Shirt. Vermutlich ein Tourist.

Sie hörte Ben plötzlich im Unfallwagen fluchen. „Ben, was ist? Kann ich dir helfen?“ rief Scarlett.

„Nein, bleib, wo du bist!“ rief er zurück.

„Okay, hier ist alles unverändert!“ meldete sie, sein Tonfall machte ihr Angst.



Ein paar Minuten später zog Ben auch die Frau aus dem Wagen. Scarlett sah entsetzt, dass Bens T-Shirt mit dicken Blutspritzern übersät war. „Was ist passiert?“ fragte sie heiser.

„Scarlett, ich brauche jetzt deine Hilfe. An ihrem Oberschenkel hat sich ein Campinghering in das Bein gebohrt. Als ich sie bewegte, ist er verrutscht. So, wie das Blut herausspritzte ist die Beinaorta verletzt. Ich muss es sofort versorgen, sonst verblutet sie.“ erklärte er und sah sie eindringlich forschend an.

Scarletts Blick war an der Wunde hängen geblieben. Ben hatte einen Verband angelegt, der bereits blutgetränkt war. Sie schluckte schnell und nickte dann.

„Du wirst genau tun, was ich sage!“ forderte er und fixierte sie wieder.

Scarlett starrte noch immer auf den Verband und stimmte langsam nickend zu. „Okay.“

„Hier, zieh, Mundschutz, den Kittel, Haube und die Handschuhe an.“ bestimmte er. Trotz Unglauben, was die sterile Kleidung hier draußen nutzen sollte, tat Scarlett es, ohne nachzufragen. Während dessen untersuchte Ben den noch immer bewusstlosen Mann noch einmal.

Als Scarlett fast fertig war, kam Ben zu ihr und half ihr mit den Handschuhen. Dabei erklärte er: „In der rechten Seitentasche findest du ein kleines OP-Besteck und weitere sterile Tücher. Lege alles paarweise untereinander auf ein Tuch. Wenn ich „dritte, links“ sage, gibst du mir das Instrument, welches in der dritten Reihe, auf der linken Seite liegt.“

„Ja, hab ich verstanden.“ bestätigte sie.

Nun zog sich auch Ben Mundschutz, Haube und Handschuhe an. Als Scarlett alle Instrumente gut sichtbar in ihrer Griffweite neben der Frau ausgebreitet hatte, hockte sich Ben auf die andere Seite.

„Bist du bereit?“ fragte er.

Scarlett blickte in seine blauen Augen über dem Mundschutz, die sie abermals musterten. „Ja.“ antwortete sie mit fester Stimme.

„Okay, bereite ich darauf vor, schnell zu reagieren. Das Blut wird vielleicht spritzen, aber das darf dich nicht abschrecken. Du musst sofort reagieren und genau das tun, was ich sage!“

„Okay, ich bin bereit.“ stimmte sie nochmals zu. Sie war angespannt und glaubte schon jetzt, ihr würde in wenigen Augenblicken schlecht werden. Aber Ben würde sie nicht um Hilfe bitten, wenn er es allein schaffen könnte. Es gab keine andere Chance.

„Gut, fangen wir an!“ Er hielt die Hand auf, blinzelte kurz zur Seite und forderte: „Vierte, rechts.“

Scarlett reichte ihm die Schere.

„Test bestanden.“ nickte er aufmunternd. Dann sah er auf den vom Blut verfärbten Verband. „Ich werde jetzt den Verband lösen.“ Während er schnitt, schob er seine linke Hand neben dem Schnitt unter den Verband. Als der Verband gelöst war, sah Scarlett pulsierend Blut zwischen Bens Finger hervorquellen, als seine Hand auf der freien Wunde lag. Ihr wurde heiß.

„Ich werde jetzt gleich den Hering herausziehen. Egal was passiert, du wirst die Wunde mit den Fingern deiner linken Hand schließen!“

Scarletts Mund war staubtrocken. Sie nickte nur.

„Leg deine linke Hand neben meine.“

Scarlett gehorchte. Ihre Hand zitterte. Sie starrte auf den Hering, dessen gebogene Spitze zwischen Bens Mittel- und Zeigefinger hervorschaute.

Ben musterte sie kurz, dann legte er seine rechte Hand an den Haken. „Ich zähle auf drei.“

„Eins.“

„Zwei.“ Er faste fester um den Haken.

„Drei.“ Mit aller Kraft zog er den Hering heraus.

Augenblicklich spritzte das Blut fontänenartig umher. Scarlett schrie auf. Sie sah die Wunde nicht mehr! Ihre Finger tasteten sich in der Blutlache vor und fanden schließlich die Öffnung. Sie schob die drei mittleren Finger hinein und die Fontäne versiegte.

Zitternd suchte sie Bens Blick.

„Gut gemacht.“ bestärkte er sie nickend. Sein Blick beruhigte sie etwas.

„Erste, links.“ forderte er jetzt konzentriert.

Scarlett reichte ihm mit der freien rechten Hand das Skalpell.

„Ich werde die Eintrittsstelle nun etwas weiten, um besser an die Aorta zu kommen und sie schließlich zu nähen. Halte deine Finger ganz still. Nicht bewegen!“

Scarlett konzentrierte sich. Sie durfte jetzt nicht zusammenbrechen. Allein würde es Ben nicht schaffen. Sie musste durchhalten!

Schließlich nickte Ben. „Okay, jetzt kommt der schwierige Teil.“

‚Was war es denn bisher?’ wollte sie schon entgeistert fragen, schluckte es aber gerade noch hinunter.

„Ich kann nicht gut sehen wegen dem ganzen Blut. Löse bitte nur einen Finger.“

Scarlett zog den Ringfinger hoch. Sofort pulsierte mehr Blut heraus.

„Nimm ein Tuch und versuch das Blut aufzunehmen.“

Scarlett tupfte unbeholfen auf der Wunde herum. Es hatte kaum Erfolg, aber für Ben waren die Sekunden scheinbar ausreichend, um die Aorta abzuklemmen.

„Ich werde jetzt versuchen, den Riss zu nähen. Nach und nach ziehst du auf mein Kommando langsam einen weiteren Finger heraus.“

Er setzte den Faden an und während er langsam den Faden zog, spürte Scarlett, wie das Gefäß um ihre Finger enger wurde. Ein weiterer Stich und Ben wies sie an, langsam einen weiteren Finger herauszuziehen. Sie spürte, wie sich die Öffnung verengte. Nun steckte nur noch ihr Zeigefinger direkt in der Ader. Wieder ein neuer Stich und Scarlett löste den Finger.

„Tupfen.“ forderte Ben.

Schließlich hob er den Kopf und sah Scarlett an. „Dann wollen wir mal sehen! Ich löse jetzt die Klemme.“

Beide hielten sie den Atem an. Ben zog die Klemme ab und sie sahen, wie sich das Gefäß füllte und dann pulsierend das Blut vorwärts pumpte. Sie Naht hielt.

Ben sah Scarlett an. „Den Rest schaffe ich allein. Setz dich ins Auto und ruh dich aus.“

Er konzentrierte sich wieder auf die Wunde.



Scarlett Anspannung fiel ab. Unfähig aufzustehen und einen Fuß vor den anderen zu setzen, setzte sie sich zurück. Zitternd und mit butterweichen Knien kroch sie einfach ein Stück zur Seite, löste den Mundschutz, streifte die Handschuhe ab und zupfte sich die Haube vom Kopf. Der Kittel war auf der Brust blutgetränkt. Das war also der Grund nicht die Sterilität. Es war Scarlett egal. Sie stützte die Hand nach hinten auf den Boden, legte den Kopf in den Nacken und versuchte einfach nur ruhig ein- und auszuatmen. Als sie die Augen einen Moment schloss, wurde ihr flau. Schnell zwang sie sich wieder in den Himmel zu schauen. Das Blau kam ihr unnatürlich grell vor.



Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie so bewegungslos dort gesessen und in den Himmel gestarrt hatte, bis plötzlich Bens Schatten in ihr Gesicht fiel.

„Alles in Ordnung?“

„Mir ist ziemlich schlecht. Ich glaube, wenn ich mich bewege, kippe ich sofort um.“ murmelte sie.

Er setzte sich zu ihr.

Stumm blieben sie nebeneinander sitzen und starrten beide in den Himmel.



Plötzlich zog Motorengeräusch ihre Aufmerksamkeit an.

„Ben! Das habe ich ganz vergessen! Sue hat gefragt, ob eine Straßenlandung gerechtfertigt ist!“ Sie sprang auf und schwankte.

Ben reagierte sofort und hielt sie fest. „Ganz langsam. Ich geh schon.“

Er lief zum Funkgerät und ließ sich mit Mark verbinden. Er erläuterte die Verletzungen und sie kamen überein, eine Straßenlandung zu versuchen. Als Scarlett am Wagen ankam, hatte Ben die Verbindung gerade schon wieder geschlossen.

„Setz dich ins Auto. Hier hast du etwas Schatten und kannst dich erholen. Patrick versucht, hier zu landen.“ Er gab ihr noch die Wasserflasche. „Trink etwas.“

Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Ihre Kehle war noch immer staubtrocken. Erschöpft fiel sie in den Sitz.

Ben kehrte zu seinen Patienten zurück.

Ein paar Minuten später sah sie Patricks erfolgreichen Landeversuch auf der Straße vor ihnen.

‚Hatte sie das wirklich alles getan?’ Allein der Gedanke ließ sie jetzt erschaudern.

Scarlett spiegelte sich im Seitenspiegel und erschrak noch einmal. Ihre Gesichtsfarbe war fast weiß und stand im totalen Gegensatz zu dem blutbespritzten Kittel. Das hatte sie bis jetzt gar nicht wahrgenommen. Mit Gänsehaut auf dem Rücken zog sie ihn schnell aus und warf ihn einfach auf den Boden neben der Tür.

„Hey, Scarlett. Ben meinte, ich soll dich holen. Das Auto bleibt hier stehen. Wir nehmen euch mit nach Charleville.“ Patricks lockerer Ton unterschied sich von seinem besorgten Blick.

„Gut, ich wäre jetzt auch nicht in der Lage zu fahren.“ nickte sie zustimmend.

Scarlett stand auf und spürte, dass sie noch immer weiche Knie hatte. Sie hielt sich am Autodach fest. „Im Kofferraum sind noch unsere Taschen. Würdest du sie bitte tragen? Mir...“ sie stockte. „Mir ist nicht so gut.“

„Klar, kein Problem.“ willigte Patrick sofort ein.

Auf dem Weg zum Flugzeug wich er nicht von ihrer Seite. Dankbar ließ sie sich von ihm auch beim Einsteigen helfen und sank dann auf der hinteren Bank auf ihren Platz.

Die beiden Verletzten waren schon an Bord und Mark nickte ihr kurz zu. Leicht lächelnd nickte sie zurück.

Ben schloss die Tür und Patrick bat alle, sich anzuschnallen und auf einen holprigen Start vorzubereiten.

Scarlett lehnte den Kopf zurück an die Kopfstütze und schloss nun erstmals ruhig die Augen. Nach dem holprigen Start spürte sie, dass sich jemand zu ihr setzte, schaute sie wieder auf.

Ben musterte sie. „Geht es dir besser?“

Sie nickte. „Etwas.“

„Hier, trink das. Es sind ein paar Tropfen darin, das wird dir gut tun.“ Er hielt ihr einen kleinen Becher hin.

Sie nahm ihn an und schnupperte misstrauisch daran.

Ben schmunzelte: „Kein Gift, keine Kräutermischung, einfach nur ein paar Kreislauftropfen.“

„Ich wollte nur sicher gehen!“ grinste sie und trank den Becher aus.

„Deinen Humor hast du jedenfalls nicht verloren.“ stellte er zufrieden fest. Er nahm ihre Hand und drückte sie sanft. „Ohne dich hätte ich das nicht geschafft! Danke.“

„Mir wird schlecht, wenn ich nur daran denke, was ich getan habe.“ schauderte sie erneut. „Ich sehe mich auf alle Fälle darin bestätigt, dass ich im Gegensatz zu meinen Eltern keine Ambitionen in der Medizin hege! Vermutlich werde ich wochenlang Albträume haben.“ Sie schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben. „Werden die Beiden durchkommen?“

Ben blickte zu den Verletzten und nickte: „Wenn keine Komplikationen auftreten, haben sie beide guten Chancen. Der Unfall kann noch nicht so lange her gewesen sein. Sie haben tausend Schutzengel gehabt.“

Ben hielt noch immer ihre Hand. Sie genoss das Gefühl und schloss wieder die Augen. Ob es die Tropfen oder Bens Nähe waren, Scarlett spürte, wie die Kraft in ihre Glieder zurückkehrte. Sie wagte aber nicht, sich zu bewegen, um die Situation so lange wie nur möglich aufrecht zu halten.

„Ich muss wieder nach vorn. Du bekommst wieder etwas Farbe im Gesicht.“ Er zwinkerte ihr lächelnd zu und stand dann auf.



Scarlett beobachtete Ben. Er besprach sich mit Mark, kontrollierte die Werte der Patienten und kletterte ins Cockpit, um sich über die Ankunftszeit zu informieren. In Gedanken ließ Scarlett die letzten 24 Stunden noch einmal Revue passieren. Welche unterschiedlichen Seiten sie von Ben erlebt hatte! Der entspannte, philosophische Ben, der bei den Kindern im Camp für seine Geschichten beliebt war. Dann dieser Umschwung zu einem in sich gekehrten und verschlossenen Ben. Als sie daran dachte, war ihr immer noch unklar, wie es dazu gekommen war. Der Arzt Ben, der konzentriert alles für seine Patienten tat und um ihr Leben kämpfte. Und nicht zuletzt der Ben, der eben noch neben ihr gesessen hatte und ihr so ein guter Freund geworden war!

Scarlett blickte aus dem Fenster hinunter auf die Landschaft des Outbacks. Wie wunderschön es von hier oben aussah und doch hätte es den beiden Menschen beinahe das Leben gekostet. Sie hörte Bens Stimme wie er mit Patrick sprach. Ihr Herz tat einen Sprung: ‚Ben!’

Schließlich gestand sich Scarlett ein, dass sie für Ben mehr als Freundschaft empfand. Sie hatte immer gedacht, noch nicht für eine Beziehung bereit zu sein. Jetzt wünschte sie sich jedoch nichts sehnlicher, als heute Abend mit Ben heimzugehen und die Nacht mit ihm zu verbringen. Ihr kam wieder der Moment auf dem Bergplateau in den Sinn. Was war da geschehen? Empfand Ben anders? Er hatte sich so plötzlich abgewandt. Den magischen Moment so plötzlich gebrochen.

Es würde jetzt ganz schön kompliziert werden, das war klar. Scarlett seufzte.

Mark horchte sofort auf, musterte sie aus der Ferne und fragte: „Alles in Ordnung, Scarlett?“

Sie lächelte und nickte. „Ja, es geht mir schon viel besser.“ Dann wanderte ihr Blick zum Cockpit. Ben schaute Co-Pilotensitz sich zu ihr um und zwinkerte ihr lächelnd zu. Scarletts Herz tat wieder einen Sprung und sie zwinkerte zurück.



Nach der Landung fuhren Mark und Ben mit dem Krankenwagen ins Krankenhaus, während Patrick Scarlett nach Hause brachte.

„Wie oft hast du schon bei solchen Eingriffen helfen müssen?“ erkundigte sich Scarlett.

Patrick zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Hin und wieder mal. Für gewöhnlich ist ja auch noch eine Krankenschwester an Bord, die das übernimmt. Es ist eine Ausnahme.“

Scarlett schüttelte den Kopf und rutschte in ihrem Sitz tiefer: „Und ausgerechnet mir muss so etwas dann passieren!“

„Ben war von dir begeistert!“ entgegnete Patrick anerkennend und schaute zu ihr hinüber. Scarlett lächelte: „Ich hätte trotzdem darauf verzichten können.“ In Gedanken fügte sie hinzu, dass sie viel lieber die Strecke mit Ben alleine zurückgelegt hätte. Dann richtete sie sich wieder auf: „Patrick, ist dir eigentlich klar, was in meinem Leben alles passiert ist, seit ich in Charleville angefangen habe? Wenn das so weiter geht, habe ich bald schon die ersten grauen Haare! Ich bin ausgebildete Funkerin, sonst nichts!“

„Eine sehr gute und engagierte Funkerin.“ kommentierte Patrick lachend. „Scarlett, mach dir nicht so viele Gedanken darüber.“

„Du bist lustig! Was machst du denn, wenn du so einen Tag erlebst?“ wollte Scarlett wissen. Zu ihrer Überraschung stoppte Patrick den Wagen. Er schaltete den Motor ab und blickte sie ernst an. „Scarlett, man sieht dir an, wie sehr dich das heute mitgenommen hat, aber das Ergebnis zählt. Du hast geholfen, zwei Menschen das Leben zu retten. Ich an deiner Stelle würde feiern gehen. Aber das liegt daran, was jeder einzelne in seinem Leben schon durchgemacht hat.“ Patrick starrte geradeaus auf die Straße.

‚Heute ist definitiv der Tag, an dem sich mir meine Freunde auf neue Weise offenbaren.’ schoss es Scarlett irritiert durch den Kopf, denn so einen Gesichtsausdruck hatte sie bei dem stets lebenslustigen Patrick auch noch nie gesehen.



Er sah sehr ernst und nachdenklich aus. Außerdem schien Patrick seine Gedanken zu ordnen. Schließlich holte er tief Luft: „Weißt du, die meisten Menschen, die freiwillig ins Outback ziehen, haben ihren Grund dafür. Ich glaube, es ist etwas anderes, wenn man, wie du, in so einer Gegend aufgewachsen ist. Ich kann nicht für die anderen sprechen, aber ich hatte ein Erlebnis, das mein Leben völlig auf den Kopf gestellt hat.“ Er machte wieder eine Pause. „Als ich 16 Jahre alt war, sind meine Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Fliegen war meine Therapie. Danach habe ich es dann zu meinem Beruf gemacht. Mir war alles egal. Hauptsache, ich konnte fliegen. Irgendwann half ich dann mal beim RFDS aus und ich erkannte, dass dies genau das Richtige für mich ist. Das Land kämpft hier genauso ums Überleben wie die Menschen. Eine riskante Landung macht manchmal wertvolle Minuten aus. Du hast heute geholfen, zwei Leben zu erhalten, Scarlett. Heute Abend wird im Pub richtig gefeiert, das ist sicher. Viele hier draußen nehmen so etwas zum Anlass. Viele schätzen das Leben so, weil sie eine Krise überstanden haben und sich selbst danach ein neues Leben formten. Aber ich verstehe auch, dass du dich vielleicht nicht danach fühlst. Du musst für dich mit der Sache ins Reine kommen. Wenn du Zeit zum Nachdenken brauchst oder lieber mit Marie telefonierst, entscheide dich dafür. Wenn ich dir irgendwie helfen kann, mache ich es gern, aber es gibt da kein Patentrezept.“

Scarlett starrte ihn einfach nur an.



Schließlich startete Patrick wieder den Motor und die restliche Strecke legten sie schweigend zurück. Scarlett dachte über Patricks Worte nach, während sie aus dem Seitenfenster schaute. Natürlich war ihr bekannt, dass sich viele Schicksale im Outback fanden, aber Patricks Offenbarung hatte sie überrumpelt. Es war einfach alles zu viel an diesem einen Tag! Wie schön war es doch gestern Abend noch auf der Veranda bei Tom und Chris gewesen!

Als sie vor ihrem Haus stoppte, bedankte sich Scarlett bei Patrick: „Danke, für’s Herbringen und deine offenen Worte. Ich werde mal schauen, ob ich heute noch in den Pub komme.“

„Wenn ich etwas für dich tun kann, melde dich.“ bot Patrick ihr noch einmal an.

Sie nickte ihm zu und stieg dann aus.



Im Haus ließ sie sich sofort auf das Sofa fallen. Es war gerade erst Mittag und sie fühlte sich, als hätte sie zwei Nächte durchgearbeitet. Entsprechend dauerte es nicht lange, bis ihr die Augen zufielen und sie einschlief. Scarlett träumte wirres Zeug in dem sich alles vermischte, was sie in den letzten 24 Stunden erlebt hatte.



Ein Klingeln riss sie in die Wirklichkeit zurück. Scarlett brauchte eine Weile, bis sie wusste, was es war. Sie rappelte sich auf und ging zur Tür. Als sie öffnete stand Ben vor ihr.

„Hi!“ begrüßte sie ihn freudig überrascht.

Ben musterte sie. „Hallo. Habe ich dich geweckt?“

„Oh, sieht man das?“ schnell rieb sie sich durch das Gesicht und strich sich die Haare glatt. „Komm rein. Ich war auf dem Sofa eingeschlafen.“ Sie schaute auf die Uhr, zwei Stunden waren vergangen seit sie nach Hause gekommen war.

Er folgte ihr ins Wohnzimmer. „Mark hat mich heim geschickt. Unseren beiden Patienten geht es den Umständen entsprechend gut.“

„Das ist schön.“ Sie setzten sich.

„Hast du dich auch erholt? Ich habe mir ein wenig Sorgen gemacht!“

‚Wie mitfühlend er ist!’ dachte sie und lächelte ihn an.

„Es war alles etwas zu viel in den letzten Stunden. Ich habe einen blutrünstigen Traum gehabt, in dem wir mit Tom und Chris durch die Siedlung liefen, wo ständig irgendwelche Unfälle passierten und ich helfen musste. Ich bin dir echt dankbar, dass du mich mit deinem Klingeln erlöst hast!“ berichtete sie.

„Du warst da draußen eine echte Hilfe. Solange es darauf ankam, hast du dich zusammengerissen. Das hat mich wirklich beeindruckt. Das schafft nicht jeder.“

Scarlett strahlte. ‚Ich habe ihn wirklich beeindruckt!’ jubelte sie innerlich.

Ben stand wieder auf. „Okay, du kommst zurecht, wie ich sehe. Dann gehe ich jetzt mal wieder. Wenn etwas ist, ruf mich an. Egal wann.“

„Oh, du kannst gern noch bleiben.“ meinte sie schnell.

Ben schüttelte den Kopf. „Tut mir leid. Ich muss noch einiges erledigen. Wer weiß, wann ich sonst dazu komme. Der freie Nachmittag passt mir ganz gut.“

„Gehst du heute in den Pub? Patrick meinte, da wird heute vermutlich eine kleine Feier stattfinden.“ erkundigte sie sich bemüht.

Ben nickte. „Ja, vermutlich schon.“

„Okay, vielleicht sehen wir uns ja dann.“ schloss sie zufrieden und entließ ihn.

Kaum war sie allein, schüttelte sie über ihr Verhalten den Kopf. ‚Ich bin doch kein Teeny mehr!’ dachte sie ärgerlich.



Scarlett hatte den Nachmittag dahinplätschern lassen. Nach langem hin- und Herüberlegen, war nun doch entschlossen, noch in den Pub zu gehen. Sie zog sich gerade die Schuhe an, als ihr Pieper ging. Fluchend macht sie ihn aus, griff ihre Hausschlüssel und war schon auf dem Weg zur Zentrale.

Sue empfing sie. „Hallo, ich weiß, du hattest schon einen harten Tag und jetzt auch noch ein Notfall. Stu Hutskin hat angerufen. Einer seiner Farmhelfer hatte einen Unfall mit einem Traktor. Bei einem Erdrutsch ist der Farmhelfer unter dem Traktor eingeklemmt worden.“

Scarlett nickte. „Okay. Wer fliegt raus?“

„Ben und ich. Mark muss doch morgen zum Seminar.“ erklärte Sue.

Im gleichen Augenblick kamen Patrick und Ben in die Zentrale. Sue informierte sie ebenfalls. Dann griffen sie sich nur noch ihre Sachen und waren auch schon auf dem Weg zum Flugplatz.

Scarlett setzte sich an ihren Platz und informierte Stu darüber, dass sie nun die Betreuung übernahm. Sie ließ sich von ihm noch einmal informieren und organisierte bei einem Nachbarn eine zusätzliche Seilwinde.

Es hörte sich an, als würde es eine lange Nacht werden.
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