[TKKG] Granaten im Fliederfeld
von Gonda
Kurzbeschreibung
Die TKKG-Freunde bekommen den Auftrag herauszufinden, weshalb in einem Dorf außerhalb der Millionenstadt eine nagelneue Scheune in die Luft fliegen konnte. Der Verdacht fällt auf einen älteren Herrn, der sich zum Zeitpunkt, zu dem es geschah, in der Nähe der Scheune herumgedrückt hat und sich auch sonst sehr auffällig benimmt. Doch während ihrer Ermittlungen stoßen TKKG auf einen als verschollen geltenden Bunker sowie Mörsergranaten, beides augenscheinlich aus Kriegszeiten. Doch was hat das mit der Explosion in der Scheune zu tun? Und wer steckt dahinter? TKKG ermitteln …
OneshotKrimi / P12 / Gen
14.08.2017
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Wieder einmal räumte Klößchen mehrere Kartons Schokolade in seinen Kleiderschrank in der Internatsbude ADLERNEST.
Tim sah ihm gelangweilt zu. Bei der Ankunft des Paketes, das der Chauffeur von Klößchens Eltern geliefert hatte, hatte er seine üblichen Vorträge über gesunde Ernährung vom Stapel gelassen, was Klößchen ähnlich gelangweilt mit seinen natürlichen Vorlieben und Prioritäten abgetan hatte.
»Manchmal frage ich mich«, begann Tim jetzt, »wieviel Schokolade du seit unserem ersten Fall vertilgt hast.«
»Frag Karl«, gab Klößchen zurück. »Der rechnet dir das in Sekundenbruchteilen aus.«
»Da könntest du nicht ganz verkehrt liegen«, meinte Tim. »Ich werde ihn bei der nächsten Gelegenheit fragen.«
»Ich wüsste gerne, welche Meinung er zu der Frage hat …« Klößchen unterbrach sich mit einem lautstarken Ächzen, er hatte wohl einen besonders schweren Karton erwischt, »… also was er glaubt, welchen von unseren zahllosen Fällen er für den spannendsten unserer Karriere hält.«
»Da gehen die Meinungen sicherlich auseinander.«
»Gaby favorisiert vermutlich eine ihrer Entführungen. Vielleicht die zweite. Oder die dritte. Ich denke, der Fall mit dem verschwundenen Baby und dem Diebstahl im Juweliergeschäft gehört auf jeden Fall mit dazu. Allein schon, weil ich ihn praktisch im Alleingang gelöst habe.«
»Karl wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit für den Fall mit der Abzocke in dem Internetchat da.« Tim ließ einige Schnellhefter in seine Schultasche gleiten. »Eine gute Gelegenheit sein geballtes technisches Fachwissen auszubreiten.«
»Und was meinst du?«
»Ich denke, der spannendste Fall ist immer der, an dem wir momentan arbeiten. Und jedes Detektivteam, das engagiert genug arbeitet, wird mit dieser Auffassung übereinstimmen.«
»Das ergibt Sinn.«
»Brauchst du eigentlich noch länger?« wollte Tim wissen.
»Weshalb?«
»Weil wir gleich losmüssen. Gaby erwartet uns um halb vier bei sich zu Hause. Es gibt Kaffee und Kuchen.«
»Schokoladenkuchen?«
»Gut denkbar.«
»Ich bin so gut wie fertig.« In diesem Moment erwischte Klößchen den letzten Karton unglücklich; er rutschte ihm aus der Hand und fiel mit einem lauten Poltern zu Boden.
Tim lachte. »Das kommt, wenn man sich nicht konzentriert.«
Gaby hatte tatsächlich Schokoladenkuchen gebacken, welcher, wie sie beteuerte, ausschließlich aus Sauerlich-Schokolade zubereitet worden war, da sie der Auffassung war, die Verwendung eines jeden anderen Produktes hätte Klößchen in seiner Familienehre verletzt. Vielleicht hätte er den Kuchen gar nicht angerührt – trotz seines Appetits – und wäre unverrichteter Dinge und leeren Magens wieder abgezogen. Das hätte niemand zulassen wollen.
Gabys Mutter war noch im Feinkostgeschäft, während Gabys Vater im Polizeipräsidium von seinem Schreibtisch aus Verbrecher jagte.
»Ihr seid ganze zwei Minuten zu spät«, tadelte Gaby die Jungs.
»Wir standen im Stau«, entgegnete Klößchen.
»Wo denn? Auf dem Fahrradweg?«
»Klößchen kam nicht aus dem Tritt«, vermeldete Karl. »Er hat dringend nachsehen müssen, ob die Schokolade aus seinem herabgefallenen Karton noch ganz ist.«
»Dass es sich nur um zwei Minuten handelt, verdanken wir der Tatsache, dass Tim wieder mal den Oberkommandanten hat spielen müssen«, meinte Klößchen. »Er fährt wie Henker, das glaub' aber mal.«
»Ist klar. So, die Getränke sollten jetzt kühl sein. Bis auf den Kaffee, selbstredend. Ich lasse ihn aber in der Maschine. Meine Eltern wollen bestimmt nachher noch welchen.«
»Gibt es eigentlich was zu feiern?« erkundigte sich Karl. »Oder wie haben wir uns diesen unter doch reichlich großem Aufwand vorbereiteten Nachmittagskaffee zu erklären?«
»Geburtstag hat ja keiner«, warf Klößchen ein, »und die Zweihundert-Fälle-Feier kann das auch noch nicht sein. Die dürfte erst so in zwei bis drei Jahren stattfinden.«
»Nichts von alledem.« Gaby stellte eine Flasche Orangensaft auf den Tisch.
»Hier ist noch ein Stuhl frei«, bemerkte Tim. »Ich vermute, wir kriegen Besuch.«
»Richtig. Der Besuch müsste gleich da sein.« Gaby schaute auf die Uhr. Fünf nach halb. »Ist jetzt kein Staatsbesuch, aber immerhin jemand, der augenscheinlich einen neuen Fall für uns hat. Und ich wollte ohnehin mal dieses Kuchenrezept austesten.«
Es klingelte.
Gaby stand auf, ging zur Tür und öffnete. »Ah, da bist du ja. Komm rein. Die werten Herrn Kollegen warten schon. Bis auf den Herrn Sauerlich, der interessiert sich vorzugsweise für den schokoladigen Teil dieser Angelegenheit.«
»Ich versteh schon. Tag, Jungs!«
Miriam Pauling betrat den Raum und ging zielstrebig zum extra für sie freigelassenen Platz. Gaby schloss die Tür und ging ebenfalls zurück ins Esszimmer.
»Ihr solltet euch erinnern«, meinte sie.
In der Tat. Der Fall, aus dem sie Miriam kannten, lag noch nicht allzu lange zurück. [Anm. des Autors: Fanfiction »Alarm auf dem Reiterhof!«] Sie genoss regelmäßige Aufenthalte auf dem ›Fasanenhof‹, einem großflächigen Reiterhof, der Ludger Schulze und seiner Tochter Kati gehörte. Beide kannten TKKG von deren früheren Ermittlungen. Bei ihrem letzten Fall dort hatte Miriam ihnen einen entscheidenden Hinweis geliefert.
Miriam war fünfzehn Jahre alt, hatte blonde Haare, ungefähr Gabys Größe und Figur und war allgemein für ihr lockeres Mundwerk bekannt, mit dem sie bereits im letzten Fall aufgetrumpft hatte und sich allgemein um Kopf und Kragen reden konnte, wenn ihr danach war.
»Gaby hat durchblicken lassen, du hast einen Fall für uns?« Tim nahm sich ein mittelgroßes Stück vom Schokokuchen.
»Richtig.« Miriam bediente sich ebenfalls. »Kati hatte mir ja schon vor dem letzten Fall von euch erzählt, und jetzt habe ich mir von ihr Gabys Adresse geben lassen. Ich hätte auch anrufen können, aber mein Handy ist kaputt und unser Telefon spinnt momentan. Außerdem wollte ich ohnehin in die Stadt, das trifft sich dann ganz praktisch.« Sie goss sich O-Saft ein und nahm sogleich einen Schluck.
»Dann schieß mal los«, forderte sie Karl auf. »Wo drückt der Schuh?«
»Ihr wisst ja, dass die Gegend um den ›Fasanenhof‹ zum größten Teil aus Wald und Wiesen besteht, so wie der ganze Landkreis überhaupt. Zu dem gehören ja auch die Orte Bad Finkenstein und Lergries, die einzigen größeren Ortschaften.«
Auch diese Orte waren TKKG aus Ermittlungen hinreichend bekannt.
»Dazwischen liegt nichts, aber auch wirklich nichts«, fuhr Miriam fort. »Ideale Reitwege. Es gibt zwei Landstraßen, der Rest sind Radwanderwege und bessere Trampelpfade. Gestern habe ich einen davon eingeschlagen. Ich kenne die Gegend. Ein Großbauer hat dort letztens erst eine ziemlich große Scheune bauen lassen. Nagelneu, mit allem, was dazugehört. Sie steht etwa einen halben Kilometer vom Bauernhof entfernt, zu dem sie gehört.«
Tim nickte. »Und weiter?«
»Wie gesagt, ich bin da gestern noch entlang geritten – und da ist auf einmal die Scheune explodiert.«
»Bitte was?« Gaby starrte Miriam mit weit aufgerissenen Kornblumenaugen an.
»Du hast schon richtig gehört. Mich hätte es fast aus dem Sattel gehauen. Gut, dass ich weit genug weg war.«
»Wie konnte das passieren?« fragte Klößchen.
»Keine Ahnung. Auch der Bauer und ein paar eine Leute waren in der Nähe. Sie haben Feuerwehr und Polizei verständigt. Aber die haben wohl nichts herausgefunden; jedenfalls stand das so heute morgen in der Zeitung.«
»Und wir sollen herausfinden, was dort vor sich gegangen ist?«
»So sieht's aus.« Miriam nippte an ihrem O-Saft. »Ich bin in unmittelbarer Nähe zufällig an einen alten Mann geraten, der sich dort herumgedrückt hat. Ich hab ihn gefragt, ob er was beobachtet hätte, aber er hat mich nur angepampt.«
»Wieso das?« fragte Karl.
»Ich weiß nicht. Er hat sich ganz komisch benommen. Er scheint aus der Gegend zu sein. Mir persönlich erscheint er verdächtig, aber das kann natürlich täuschen, und gute Indizien dafür gibt’s auch nicht.«
»Hm, ich denke, wir sollten uns der Sache annehmen«, fand Tim. »Wir haben schon öfter Fälle gelöst, bei denen die Polizei nicht weiterkam.«
»Versuchen können wir's jedenfalls«, meinte Klößchen. »Aber erst wird aufgegessen, ja?«
»Niemand spricht von heute«, sagte Tim. »Morgen nach der Schule fahren wir hin.«
»Am besten zur letzten S-Bahn-Haltestelle, da können wir uns treffen«, warf Miriam ein. »Weit ist es von dort nicht.«
»Alles klar. Und jetzt guten Hunger. Klößchen frisst uns sonst alles allein auf.«
Die S-Bahn-Linie endete in dem Dorf, an dessen Rand sich der ›Fasanenhof‹ befand. Die TKKG-Freunde stiegen aus und trafen umgehend auf Miriam, welche mit dem Fahrrad da war. TKKG hatten ebenfalls ihre Drahtesel mitnehmen können. Zu fünft fuhren sie aus dem Dorfe heraus und über einen Radweg zwischen Feldern und Wiesen her.
Zehn Minuten später bogen sie auf einen Feldweg ein. Rechts davon befand sich ein Waldstück, während links davon weiterhin Wiesen und Felder lagen, die nur durch ein paar mickrige Maschendrahtzäune vom Wege getrennt waren. Die Sonne hatte sich hinter Wolken versteckt, doch es war recht warm. Für T-Shirt und kurze Hosen reicht es jedoch noch nicht.
Noch einmal wenige Minuten brauchten sie, bis Miriam, welche den Trupp anführte, stehenblieb. Die Trümmerteile der explodierten Scheune waren deutlich zu sehen. Offensichtlich hatte hier niemand aufgeräumt. Stellenweise qualmte es noch.
»Der Großbauer heißt Rotveitl«, erklärte Miriam. »Der Hof erstreckt sich über mindestens einen Kilometer. Das nächstgelegene Dorf heißt Oberschrödersheim, es liegt gleich hinter dem Bauernhof.«
»Ist es eine größere Ansammlung?« wollte Karl wissen. »Ich kenne es nicht – muss ich zu meinem Leidwesen gestehen.«
»Noch lange nicht so groß wie Lergries, aber immerhin knapp fünfhundert Einwohner«, gab Miriam Auskunft.
»Also schon relativ groß für die Gegend.«
»Ja, und noch nicht einmal so abgelegen wie die Zwanzig-Seelen-Dörfer im restlichen Landkreis. Von Oberschrödersheim führt eine Landstraße zur nächsten Bundesstraße, welche Lergries mit der Autobahn verbindet.«
Karl nickte. »Das kenne ich wieder.«
»So, und das hier sind die Überreste der Scheune«, wechselte Tim das Thema.
»Das sind sie.« Miriam stieg vom Fahrrad ab. »Die Scheune war nicht mal klein, es erfordert eine gewisse Sprengkraft, um sie komplett zu zerstören.«
»Man sieht's.« Teile des Fundaments waren noch auszumachen. Anhand der Überreste schätzte Karl die Grundfläche auf etwa achthundert bis tausend Quadratmeter.
»Die Frage ist«, begann Gaby, »wer ist in der Lage eine solche Sprengkraft aufzuwenden? Womit hat er sie in die Luft gejagt und vor allem, warum?«
»Seht mal!« Miriam wies den Feldweg herunter, wo ein Mann mit Hut und in Jagduniform auf die fünf zukam. »Da ist der Alte von gestern.«
»Ach, das ist er?« vergewisserte sich Tim. »Ich bin höchst gespannt, was er uns mitzuteilen hat.« Er stieg ebenfalls ab. Karl, Klößchen und Gaby nun ebenfalls. »Heh, Meister!« rief Tim dem Alten zu, der sich langsam näherte.
»Was ist?« fragte dieser salopp und in reichlich unfreundlichem Tonfall.
»Wir hätten da mal 'ne Frage.«
Der etwa siebzigjährige Mann mit einem sehr spitzen Gesicht blieb vor ihnen stehen und musterte sie argwöhnisch. Da erkannte er Miriam wieder. »Aha, du bist doch die Göre, die mir gestern dumm kam. Und gleich mit Anhang. Ihr seid bestimmt keinen Deut besser!«
»Sehr richtig, Wertester. Es handelt sich in der Tat um das Mädchen von gestern. Ein Mädchen! Nur ein ungehobelter Klotz besäße die Frechheit sie eine ›Göre‹ zu nennen.«
»Du fängst dir gleich eine Ohrfeige.« Der Alte sprach mit einem ziemlich breiten Akzent der hiesigen Mundart.
»Werter Herr, Sie werden doch wohl nicht gleich handgreiflich werden. Ich möchte dies ebenfalls ungern tun. Wenn Sie sich jedoch unglücklich machen wollen, lässt sich das leider nicht vermeiden. Wir haben nur eine Frage.«
»Was wollt ihr?«
»Wie Ihnen bekannt ist, ist diese Scheune«, Tim deutete mit einer fahrigen Geste auf die Trümmern selbiger, »vorgestern Nachmittag in die Luft geflogen. Wir wüssten gerne, ob Sie irgendwelche Beobachtungen gemacht haben.«
»Nein, habe ich nicht. Ist das alles?«
»Mitnichten. Können Sie sich erklären, weshalb jemand das getan haben sollte?«
»Was weiß ich.«
»Natürlich nicht. Sie haben keine Ahnung, wie?«
»Was soll das heißen?! Willst du Lümmel etwa behaupten, ich wäre das gewesen?!«
»Davon ist keine Rede. Aber gut. Sind Sie es gewesen?«
»Nein! Keine Ahnung, wer das war! Irgendwelche Kriminellen wahrscheinlich. Ist mir auch egal. Könnten auch irgendwelche Kiddies gewesen sein. Die Göre da«, er zeigte auf Miriam, »hat sich hier herumgedrückt. Frag' die doch mal, Spargeltarzan!« Tim verkniff sich ein Grinsen angesichts des Ausdrucks, der seinen früheren Spitznamen enthielt. »Aber was sage ich! Ihr steckt bestimmt alle mit drin, jawohl!«
»Klar, deshalb erkundigen wir uns ja auch nach einem möglichen Täter. Weil wir das ja selbst waren.«
Karl fügte hinzu: »Und wir verfügen ja auch über die nötige Ausrüstung, um so was zu veranstalten. Das da war eine kontrollierte Sprengung. Ein wenig viel für einen Lausbubenstreich, meinen Sie nicht?«
»Sonst noch was?!«
»Können Sie sich vorstellen, dass es jemand auf den Eigentümer des Bauernhofs abgesehen haben könnte?« fragte jetzt Gaby.
»Ach, der Rotveitl. Dem geschieht das recht. Geldhai, depperter! Er ruiniert die Kleinbauern! Alles kauft er auf! Es wurde Zeit, dass dem einer das Handwerk legt. Dass ihm das Dorf noch nicht gehört, ist alles.«
»Ach so?«
»So, ich gehe jetzt weiter!« Er stiefelte an den Jugendlichen vorbei.
»Dürften wir noch Ihren Namen wissen?«
»Nichts da! Schert euch zum Teufel, Saubande!« Ohne ein weiteres Wort stapfte der alte Mann von dannen.
Die TKKG-Freunde und Miriam beschlossen die Gegend abzusuchen, die Möglichkeit erwägend, sie könnten einen brauchbaren Hinweis auf den Täter finden.
Sie teilten sich auf. Tim übernahm die Überreste der Scheune und die Gegend drumherum; Gaby und Miriam gingen den Feldweg entlang; Karl und Klößchen durchkämmten das Waldstück. In weiser Voraussicht hatte die TKKG-Bande ihre Walkie-Talkies mitgebracht.
Tim war der Erste, der fündig wurde. Im Gras, etwa zwanzig Meter vom Trümmerhaufen entfernt, lag ein verschmortes Stück Metall, an dem ein paar kleine Kabelreste hingen.
In diesem Moment piepste das Funkgerät.
Tim sandte ein Signal zurück, als Zeichen, dass er hörte.
»Kommt alle schnell her!« war Klößchens Stimme zu vernehmen. »Das glaubt ihr nie! Wir sind circa hundert Meter abseits vom Feldweg, auf so 'ner großen Wiese!«
»Hier gibt’s tausende von Wiesen«, gab Tim zurück. »Das Ganze nennt man Land.«
»Hier wachsen diese lila Teile … wie heißen sie noch, dieses Gewächs da …«
»Flieder?«
»Genau. Alles voll davon, könnt ihr nicht verfehlen. Beeilt euch!«
Tim legte einen Sprint ein. Auf halbem Wege traf er auf Gaby und Miriam, die sich ebenfalls ins Zeug legten.
Die Wiese glich mehr einem Feld. Schon aus der Ferne schimmerte es violett zwischen den Bäumen her. Alles war voller Flieder. In der Tat war das Feld so nicht zu verfehlen.
Die Mädchen waren bereits etwas aus der Puste. Tim hingegen war solche Kurzstreckenläufe als Sportler gewohnt und bemerkte fast nichts davon.
»Was ist los?« wollte er wissen. »Was habt ihr entdeckt?«
»Guckt euch das an!«
In einer der vielen Furchen, die sich über das ganze Feld zogen, lagen, mit etwas Erde überschüttet, aber noch erkennbar, ein paar seltsame Gegenstände. Sie waren offensichtlich aus Metall, hatten aber gewaltig Rost angesetzt. Sie waren lang und dick und spitzten sich nach vorne hin abgerundet zu.
Mörsergranaten.
»Da haben wir die Erklärung«, murmelte Klößchen.
»Die Mörsergranaten, wie wir sie entdeckt haben, stammen ganz eindeutig aus dem Zweiten Weltkrieg, das zeigt uns allein schon der Rost auf dem Metall«, dozierte Karl.
Die TKKG-Bande und Miriam hatten auf einer nahen Sitzecke Platz genommen. Hier standen zwei Bänke und ein Tisch, offensichtlich aus Baumstämmen hergestellt.
»Ja, aber wer lässt sie in einem Feld liegen?« meinte Miriam.
»Bereits nach dem Zweiten Weltkrieg begannen die Sucharbeiten nach sogenannten Blindgängern, also Munition, die verschossen wurde, aber nicht explodiert ist.« Karl putzte seine Nickelbrille. »Die sind allerdings bis heute nicht abgeschlossen. Immer wieder werden Kampfmittel gefunden, selbst an Stellen, an denen man sie nicht vermutet hätte. Teilweise sind sie in Wäldern heruntergekommen, wo in der Zwischenzeit Wohnsiedlungen oder Ackerbauflächen errichtet wurden. Dadurch kann es passieren, dass jemand plötzlich diese über siebzig Jahre alte Munition in seinem Garten findet. Diese Munition ist meistens noch scharf und kann bei der kleinsten Berührung explodieren.«
»Das wissen wir ja«, sagte Klößchen. »Wir hatten ja schon Fälle, die damit zu tun hatten. Aber wieso in so einem Feld?«
»Das sagte ich doch gerade.«
»Aber wie kann das sein, dass sie nie einer gefunden hat? Oder wurden die Granaten am Ende dort hingeschafft?«
»Das müssen wir herausfinden.«
»Also hat jemand die Granaten gefunden und möglicherweise damit die Scheune in die Luft gejagt«, schloss Miriam. »Entweder direkt dort, oder er hat sie dorthin geschafft.«
»Und wenn es ein Unfall war?« meinte Klößchen.
»Wie stellst du dir das vor?« entgegnete Miriam. »So weit rollen Granaten nicht.«
»Da steckt Absicht hinter«, stellte Tim fest. »Anders kann ich mir diese kleine Gerätschaft nicht erklären.« Er hielt sein Fundstück hoch und legte es dann vor sich auf den Tisch.
»Was soll das sein?«
»Ich gehe mit ziemlicher Sicherheit davon aus, dass es sich um einen Fernzünder handelt«, meinte Tim.
»Das ergibt Sinn«, fand Gaby. »Der oder die Täter haben einige Granaten benutzt, um die Scheune in die Luft zu sprengen. Nicht alle allerdings, denn dort liegen ja noch welche. Oder sie haben nicht alle gefunden. Auf jeden Fall stammen sie von unserem Fundort, das zeigen einige Einkerbungen in der Gegend, bei denen offensichtlich vorher was gelegen hat. Und mit dem Fernzünder haben sie einen Sprengsatz – nämlich dieses Ding hier – aktiviert, um die Explosion in Gang zu bringen.«
»Hört sich logisch an«, fand Karl. »Der Täter muss sich in einiger Entfernung befunden haben; er wollte ja nicht auffallen.«
»Tja, der Einzige, den ich gesehen habe«, sagte Miriam, »ist dieser alte Mann, der mir etwas suspekt vorkommt. Von den dort anwesenden Leuten vom Bauernhof wird das keiner gewesen sein.«
»Die Frage ist, wie die Granaten dort hinkamen«, meinte Klößchen. »Ob die wirklich siebzig Jahre lang dort herumgelegen haben?«
»Das glaube ich nicht«, sagte Gaby. »Ich könnte mir eher vorstellen, dass sie dort hingeschafft wurden. Dafür spricht, dass wir auf dem Feldweg Reifenspuren entdeckt haben, die von einem großen, schweren Fahrzeug stammen müssen. Sie führen bis kurz vor das Fliederfeld.«
»Wieso überhaupt Flieder?« wunderte sich Klößchen. »Was kann das überhaupt?«
»Dazu kann ich dir was sagen«, begann Karl erneut zu dozieren, »der Gemeine Flieder, lateinisch syringa vulgaris, gehört zur Familie der Ölbaumgewächse, lateinisch oleaceae. Es handelt sich um sommergrüne Sträucher oder Bäumchen, die in der Regel zwischen zwei und sechs Meter hoch wachsen. Blütezeit sind die Monate April und Mai. Sehr verbreitet ist der Gemeine Flieder in Vorderasien und auf dem Balkan, ging allerdings als invasive Art, macht sich also in Deutschland breit und verdrängt auf Dauer andere Arten. Die Pflanze bildet bräunliche Kapseln als Frucht, die im September …«
»Okay, wir haben es gerafft«, unterbrach ihn Tim. »Die Frage ist, was wir als nächstes machen.«
»Wir müssen die Polizei umgehend über den Granatenfund informieren«, befand Gaby. »Der Kampfmittelräumdienst muss die Munition entfernen, bevor eine weitere Katastrophe geschieht.«
»Ich bin dagegen«, wandte Tim ein. »Ohne sachdienliche Hinweise findet auch die Polizei nicht heraus, was hinter der ganzen Sache steckt. Da sind wir im Vorteil. Wir kriegen erheblich schneller Ergebnisse zusammen als die Polizei. Wenn es noch mehr scharfe Munition gibt, kann der Einsatz nur unterbunden werden, wenn geklärt, wer das zu verantworten hat.«
»Im Zweifelsfalle du, weil du die Polizei nicht informieren willst.«
»Pfote, ich bleibe dabei. Es ist sicherer, wenn wir dranbleiben. Und wenn wir schnell sind, ist der Fall gelöst, bevor noch irgendwas in die Luft geht.«
»Dein Wort in Gottes Gehörgang.«
»Wir müssen los«, sagte Klößchen. »Wir sollten ausnahmsweise pünktlich zur Arbeitsstunde aufkreuzen, sonst macht uns Assessor Langbein wieder die Hölle heiß.«
»Hast recht. Wir machen morgen weiter. Nach dem Mittagessen kommen wir wieder.«
Gaby war die Erste, die sich von den anderen absetzte, da sie den kürzesten Weg von der Bahnstation aus hatte. Normalerweise wäre sie von den Jungs nach Hause begleitet worden, doch ihnen fehlte die Zeit. Außerdem war es wirklich nicht weit, sodass auch aus Tims Sicht keine zwingende Notwendigkeit eines Konvois vorlag.
Gaby setzte sich auf ihr Rad und fuhr los. Auf halbem Wege fiel ihr ein, dass sie noch zum Tierarzt wollte, um sich zu erkundigen, wie es ihrem Hund Oskar soweit erging.
Sie drehte und bog in eine Seitenstraße ein, wo eigentlich nie viel los war, obwohl sie mitten in der Innenstadt lag.
An der Straße parkte ein schwarzer Lieferwagen ohne Aufschrift. Gaby beachtete ihn nicht weiter, sondern zog an ihm vorbei.
Da fuhr der Lieferwagen los.
Immer noch beachtete sie ihn nicht – bis der Motor aufheulte.
Er kam bedrohlich näher. Sie bemerkte noch, dass zwei Männer drin saßen. Das Kennzeichen konnte sie jedoch nicht lesen. Es war total verdreckt.
Er wurde immer schneller.
Will der mich übern Jordan schicken? – schoss es ihr durch den Kopf.
Jetzt war der Lieferwagen nur noch wenige Meter hinter ihr.
Gaby wollte nach rechts abbiegen, wo ein Fußgängerweg begann, der für Autos nicht zu passieren war.
Doch in ihrer Panik verfehlte sie die Einfahrt.
Sie fuhr mit dem Rad voll vor eine etwa anderthalb Meter hohe Mauer, die ein Grundstück von der Straße trennte.
Im hohem Bogen flog sie drüber hinweg.
Sie rechnete mit einem harten Aufprall – doch dazu kam es nicht.
Wie durch ein Wunder landete sie auf einem großen Trampolin. Sie wurde nach oben gefedert, machte ein paar Sprünge und landete schließlich ganz darauf.
Ein paar Kinder standen drumherum, welche Gaby erst verblüfft und dann verärgert ansahen.
»Ey, das ist unser Trampolin! Geh woanders spielen!«
Gaby vergewisserte sich kurz, dass das hier real war, dann stand sie auf. Sie blickte sich kurz um und sagte zu den Kurzen: »Merkt euch eins, Kinder – fahrt nie schneller als euer Schutzengel fliegen kann.«
Dann stieg sie wieder über die Mauer.
Nachdem Miriam die TKKG-Bande am Bahnhof abgesetzt hatte, begab sie sich heimwärts. Das Haus, in dem sie mit ihren Eltern lebte, lag etwas außerhalb des Dorfes. Es war ein eher kleiner Bauernhof, den es auch noch nicht besonders lange gab.
An der Ortsausfahrt wurde sie von einem Auto überholt, auf das sie nicht besonders achtete.
Nach wenigen hundert Metern erreichte sie ihr Elternhaus.
Sie bog in die Einfahrt ein und fuhr durch bis zu einem Holzschuppen, in dem sie immer ihr Fahrrad abstellte.
Der Schuppen machte nicht den Eindruck, als sei er frisch zusammengezimmert. Er sah eher etwas verranzt aus – so gar nicht passend zum ebenfalls neuen Hause.
Beide Bauten wurden von ein paar Kirschbäumen getrennt.
Miriam betrat den Holzschuppen und kettete ihr Rad an einer dafür vorgesehenen, in die Wand eingelassenen Metallstange an.
Da hörte sie ein Geräusch.
Sie blickte nach draußen, konnte jedoch nichts erblicken.
Innerlich zuckte sie die Achseln und verschloss den Schuppen.
Plötzlich wurde ihr der Mund zugehalten.
Sie gab ein paar erstickende Laute von sich, doch das half nichts.
»Nicht schreien!« sagte jemand.
Die Hand lockerte sich, ließ ihren Mund schließlich ganz los. Dann wurde sie an den Armen festgehalten und gegen die Wand des Schuppens gedrückt.
»Au! Wer sind Sie?«
»Pscht!« zischte die Stimme. Eine Männerstimme.
Dann sagte eine andere Stimme, ebenfalls männlich: »Du warst heute mit diesen Schnüffelkids auf dem Bauernhof bei Oberschrödersheim, wo die Scheune in die Luft gegangen ist.«
»U… und wenn?«
»Haltet euch aus unseren Angelegenheiten heraus«, befahl die Stimme. »Diese Sache ist zu groß für euch! Wenn ihr nicht spurt, werden wir Gewalt anwenden müssen! Das wird euch nicht gefallen! Lasst die Finger davon!«
»Hast du das kapiert?« fragte die andere Stimme.
Miriam sagte nichts.
Der Typ, der sie festhielt, ließ sie los. Sofort machten sich die beiden vom Acker.
Miriam sah gerade noch, wie sie zu dem Auto liefen, das sie im Ort überholt hatte. Doch es war zu weit weg, um etwas erkennen zu können. Das Kennzeichen hatte sie sich nicht gemerkt.
Am nächsten Nachmittag fuhren die TKKG-Freunde wieder raus aufs Land. Die Fahrradfahrt vom Bahnhof zum Fundort der Mörsergranaten nutzten sie zum gegenseitigen Austausch der gestrigen Erlebnisse.
Als sie am Fliederfeld ankamen, begaben sie sich umgehend zur exakten Fundstelle. Doch sie mussten eine schlimme Feststellung machen.
Die restlichen Granaten waren weg.
»Ist das zu fassen«, stieß Gaby aus.
»Hätten wir mal doch die Polizei verständigt«, meinte Karl.
»Wir wissen nicht, wann die Granaten weggekommen sind«, entgegnete Tim. »Es hätte ja sein können, wir hätten die Polizei geholt, und die Granaten wären schon weg gewesen. Das passt auch zum Anschlag auf Gaby und dem Überfall auf Miriam. Die müssen uns beobachtet haben. Wahrscheinlich haben sie die Granaten entfernt und uns anschließend verfolgt oder sich anderweitig kundig gemacht, wer wir sind und wo wir wohnen.«
»Und was tun wir jetzt?« wollte Karl wissen.
»Wir können nur abwarten und hoffen, dass nichts Schlimmes passiert«, meinte Klößchen.
»Was die Granaten angeht, ja«, stimmte Tim zu, »aber in der Sache Rotveitl können wir was unternehmen. Der komische Alte von gestern und vorgestern hat ja ziemlich über den gewettert. Vielleicht hat Rotveitl sogar was mit der Sache zu tun oder jemandem sehr übel mitgespielt. Das muss doch zu klären sein.«
»Stimmt, dazu kann ich sogar was beisteuern«, meldete sich Miriam zu Wort. »Ich habe ja gesagt, Oberschrödersheim ist ein kleines Nest, knapp fünfhundert Einwohner. Ich habe eine Freundin, die dort wohnt, Sarah Tendril. Sie weiß über ziemlich jeden Bescheid, wie das auf dem Dorf eben so ist. Wir könnten hinfahren und sie fragen. Es ist ja nicht weit.«
»Guter Plan«, fand Tim. »Und wenn dieser Alte aus dem Ort ist, was wir annehmen müssen, dann kann es ja sein, sie kennt ihn.«
»Dann auf ins Gefecht«, sagte Klößchen. »Und passt auf schwarze Lieferwagen auf.«
Sarah Tendril war vierzehn Jahre alt, hatte mittellange dunkle Haare, ebenso dunkle Augen und trug eine schwarze Brille. Im Gegensatz zu Miriam und Kati wohnte sie nicht außerhalb, sondern mitten im Dorf. Das offensichtlich in die Jahre gekommene Backsteinhaus stand unweit des Dorfplatzes von Oberschrödersheim.
Miriam wollte klingeln, doch das war nicht nötig, denn Sarah saß mit einem Buch auf der Terrasse. Die Sonne ließ sich wieder blicken, und jetzt war es deutlich wärmer als gestern.
Miriam erklärte Sarah kurz, wenn sie da im Schlepptau hatte, dann nahmen sie, so gut es ging, auf einer Bank Platz.
»Was jetzt unsere Frage wäre«, begann Tim, »wie gut ist die hiesige Bevölkerung auf Großbauer Rotveitl zu sprechen? Was hält man hier von dem?«
»Er ist zwar ziemlich reich im Vergleich zu den anderen«, antwortete Sarah, »doch ist er allgemein eigentlich recht beliebt. Klar, ein paar gibt’s immer, die an allem was auszusetzen haben, aber das ist normal. Oberschrödersheim hat ihm viel zu verdanken, von seinen Investitionen profitieren wir alle. Den Dorfbrunnen auf dem Platz zum Beispiel. Den hat er komplett finanziert und selbst bauen lassen. Er ist ein Zugezogener, allerdings lebt er hier schon seit zwanzig Jahren, außerdem ist er hier geboren. Er ist einer von uns.«
»Was ist mit denen, die an allem was auszusetzen haben?« fragte jetzt Karl genauer nach. »Zu welchen Maßnahmen gegen Rotveitl wären sie bereit?«
»Zu welchen Maßnahmen?« wiederholte Sarah. »Du meinst die Explosion in seiner Scheune. Das traue ich eigentlich niemandem hier zu. Selbst wenn jemand die Ausrüstung für so was haben sollte … also nein. Ein solches Zerstörungswerk. Das bringt keiner.«
»Aber es muss ja offensichtlich jemanden geben, der Rotveitl die Pest an den Hals wünscht«, meinte Miriam. »Dir fällt echt keiner ein?«
Sarah dachte kurz nach. »Nein. Niemand. Denkt ihr an jemanden Bestimmtes?«
»Und wie. Ich war zufällig dabei, als die Scheune explodierte.« Sarah machte kurz große Augen, da sie von Miriams Erlebnis nichts gewusst hatte. »Dabei habe ich einen angetroffen, den wir auch gestern an derselben Stelle gesehen haben.«
»Ein alter Mann, ungefähr siebzig Jahre alt«, übernahm Tim. »Ein ziemlich übellauniger Typ. Er läuft anscheinend vorzugsweise in Jagduniform herum, hat ungefähr meine Größe und ein spitzes Gesicht. Die Wangen sind ziemlich nach vorne gezogen, und seine Nase könnte er als Grillspieß verwenden. Fällt dir dazu jemand ein?«
»Ach ja, ich weiß wen ihr meint. Der alte Naumann. Immer schlechte Laune hat er, und an allem mäkelt er herum, nichts passt ihm in den Kram. Er ist wohl nie drüber weggekommen, dass das Dorf nicht mehr so aussieht wie vor vierzig Jahren. Als Kind hatte ich einen Heidenbammel vor dem. Und irgendwie hat sich das nie geändert.«
»Naumann also.«
»Reinhold Naumann heißt er. Wohnt auf seinem Bauernhof am südlichen Rande des Dorfes. Verschanzt sich da in seiner Festung. Wenn er mal rauskommt, staucht er jeden zusammen, der bei drei nicht aufm Baum ist. Aber im Grunde ist er friedlich. Zu deiner Frage – nein, ich glaube nicht, dass er eine Scheune in die Luft jagen würde. Sachbeschädigung, erst recht in dem Ausmaß, passt nicht zu ihm.«
»Eine Frage noch«, sagte Klößchen. »Wir gewinnen zunehmend den Eindruck, dass wir es mit einer richtigen Verbrecherbande zu tun haben. Die müssen sich ja auch irgendwie verbunkern. Gibt es irgendwo in der Nähe von Rotveitls Bauernhof einen Ort, an dem man etwas, jemanden oder sich selbst gut verstecken kann?«
Sarah überlegte kurz. »Hm, ja. Im Ennslinger Forst. Das ist nicht weit vom Hof Rotveitl. Dort gibt es Ecken, da kannst du dich für Jahre verstecken, es merkt keine Sau.«
»Okay, besten Dank. Wir müssen los«, sagte Tim.
»Ich meld' mich, wenn der Fall gelöst ist«, verkündete Miriam.
Der Plan lautete nun, die Gegend um den Fundort der Mörsergranaten, und vor allem den Ennslinger Forst, gründlich abzusuchen. Niemandem war klar, wonach genau gesucht wurde, doch man hoffte irgend etwas zu finden, was darauf hinwies, was sich jüngst in diesem Areal ereignete, und vor allem warum.
Der Ennslinger Forst war ein großes und dichtes Waldstück, das sich von Oberschrödersheim über mehrere Kilometer hinweg erstreckte. Tatsächlich wäre das Absuchen dieses Waldstücks eigentlich eine Arbeit für ausgebildete Suchtrupps gewesen. In Ermangelung der Walkie-Talkies, welche zu Hause vergessen worden waren, blieben die TKKG-Freunde und Miriam dieses Mal zusammen, um sich nicht zu verlieren. Handyempfang gab es vermutlich keinen.
Bereits nach einigen Minuten stellte sich ein Erfolg ein: In einem schluchtähnlichen Gebilde fand Klößchen einen rostigen Deckel aus Metall.
»Ob es hier weitergeht?« meinte er. »Zum Beispiel zu einem Bunker?«
»Glaube ich nicht«, meinte Miriam. »Ein Bunker aus Kriegszeiten in dieser Gegend wäre bekannt. Der einzige Bunker war damals in der Nähe vom ›Fasanenhof‹. Ansonsten gibt es hier nirgendwo einen, da bin ich mir sicher.«
»Aber was sollte hier sonst sein?« wandte Gaby ein.
»Ich mach mal auf«, beschloss Klößchen. Er hob den schweren Deckel an. Er fiel mit einem Poltern auf die andere Seite.
Ein steinerner Abstieg führte in den Untergrund – in einen kleinen Raum.
»Na bitte«, sagte Klößchen. »Wenn das kein Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg ist, dann weiß ich auch nicht.«
»Würde zu den Granaten passen«, meinte Tim. »Dabei war das hier doch kein typisches Abwurfgebiet.«
»Typische Abwurfgebiete gab es nicht«, wandte Karl ein. »Blindgänger haben sich überallhin verirrt, nicht nur in Gebiete mit strategischen Zielen wie die Brücke von Dormagen im Rheinland oder ähnliche Regionen. Das macht sie ja so gefährlich. Wenn man genau wüsste, wo Blindgänger herumliegen, müsste man sie nicht suchen, und erst recht nicht noch fast siebzig Jahre nach Kriegsende.«
Sie stiegen hinab.
»Taschenlampen wären hilfreich«, bemerkte Miriam.
»Woher hätten wir das denn wissen sollen«, meinte Gaby.
»Ich habe eine mit«, sagte Klößchen. Er zog etwas aus seiner Tasche. »In weiser Voraussicht immer dabei. Wie den Rucksack mit Proviant.« Prompt war der Raum erleuchtet.
Ein alter Bunker – nichts Ungewöhnliches. Falls er jemals wohnlich gewesen sein sollte, so war er es jetzt bestimmt nicht mehr. Hier lag nur etwas Schutt herum.
Ein Schriftzug war an der Wand zu erkennen: ›80 OSH I, 1941‹
OSH stand offensichtlich für Oberschrödersheim.
»Viel Licht hab ich nicht mehr«, sagte Klößchen. »Der Schein ist schon deutlich schwächer als sonst. Die Batterie ist bald alle.«
»Das macht nichts«, gab Tim zurück, »den Ausgang finden wir so.«
Plötzlich glänzte es auf.
»Was war das?« Klößchen leuchtete in die Richtung, aus der der Schein kam. In einer Ecke lag etwas, das offensichtlich stark reflektierte.
»Kneift mich mal«, entfuhr es Tim. »Ist das wahr jetzt?«
In der Ecke lag ein Goldbarren!
»Wo kommt der denn her?« wunderte sich Gaby. »Aus Kriegszeiten bestimmt nicht.«
Tim hob ihn auf. »Vom Gewicht her könnte es echt sein. Unwahrscheinlich, dass das nur Messing oder so was ist.«
Klößchen leuchtete den Barren direkt an, sodass Tim ihn sich genauer ansehen konnte. Der Barren trug eine Gravur: Die Buchstaben MNB und eine lange Nummer.
»Wichtiges Beweisstück«, sagte Tim. »Das Ding kommt mit. In deinen Rucksack damit, Willi.«
»Aber der ist doch so schwer?« wandte Klößchen ein.
»Du bist der Einzige hier, der einen Rucksack mit hat. Und offen herumtragen werden wir das Ding unter Garantie nicht. Wenn es das ist, um was es geht, ist es zu gefährlich. Und erklären können wir das notfalls auch keinem.«
»Wenn's denn sein muss.«
»Und jetzt raus hier. Wenn mein Verdacht zutrifft, sollten wir uns besser nicht allzu lange hier aufhalten.«
Sarah Tendril hatte ihr Buch fertiggelesen. Sie legte es zur Seite und schloss für einen kurzen Moment die Augen.
Als sie sie wieder öffnete, stand ein rotes Auto vor dem Grundstück. Zwei Männer stiegen aus.
Wollen die was von uns? – wunderte sich Sarah.
Die Männer, beides hochgewachsene Gestalten um die Dreißig, gingen geradewegs auf das Haus zu.
Also doch.
»Guten Tag«, sagte der eine.
»Guten Tag. Wollen Sie zu meinen Eltern?«
»Nein, zu dir. Du bist doch Sarah Tendril?«
»Ja, sicher …«
»Du kennst doch die eine da, wie hieß sie noch …«
»Miriam Pauling«, half ihm der andere auf die Sprünge.
»Äh, ja, klar. Was gibt’s denn?«
Sie musterte die Gestalten. Sie trugen beide Mäntel, offen. Sie sprachen mit einem merkwürdigen Akzent.
»War sie zufällig mit vier weiteren Jugendlichen hier? Drei Jungen und einem Mädchen?«
»Ich … ja. Aber …«
»Was wollten sie?« unterbrach der eine.
»Ach, nichts Besonderes.«
»Nicht? Sie wollten nicht zufällig wohin?«
»Nein, nicht dass ich wüsste …«
»Ah, weißt du nicht mehr.« Der eine schob wie beiläufig seinen Mantel ein Stück auf. Sarah erschrak. Zum Vorschein trat ein silberner Revolver, der in der Sonne glänzte.
»Es ist besser, wenn du dich erinnerst«, meinte der andere.
Die TKKG-Bande und Miriam sahen zu, dass sie das Weite suchten. Sie beschlossen zu Miriam nach Hause zu fahren, um alles in Ruhe besprechen zu können.
Ihre Eltern waren draußen auf dem Hof zugange.
Gerade als sie das Haus betraten, klingelte das Telefon. Miriam nahm den schnurlosen Apparat sofort ab. »Bei Pauling?«
»Miriam!« scholl es aufgeregt durch den Hörer, sodass selbst TKKG es aus etwas Entfernung hören konnten.
»Sarah! Was ist los?«
Sie hörte eine Zeitlang zu, dann sagte sie: »Beruhig dich. Alles gut, wir passen schon auf. Bis dann!«
Sie legte auf, wandte sich an TKKG und erzählte ihnen, was Sarah erlebt hatte.
»Ein starkes Stück«, meinte Tim. »Da tauchen diese Typen am hellichten Tage auf und schüchtern Sarah ein. Sie wissen also wirklich, wer wir sind und wo wir uns aufhalten könnten.«
Miriam schaute kurz aus dem Fenster, als befürchte sie, die Männer, die sie überfallen hatten, könnten wieder auftauchen.
»Ich ruf Papi an«, beschloss Gaby. »Es wird zuviel. Wir werden gejagt, und wir brauchen dringend Klarheit.«
»Gute Idee«, fand Miriam. »Sarah konnte sich das Kennzeichen von dem Wagen merken. Vielleicht bringt das ja was.«
»Okay. Habt ihr einen Lautsprecher am Telefon?«
»Ja, sicher.«
Gaby wählte die Nummer des Polizeireviers, bei dem Kommissar Glockner arbeitete.
»11. Polizeirevier, Ettel?«
»Guten Tag, ich bin's, Gaby Glockner. Ist mein Vater zufällig da?«
»Leider nein, er ist im Außendienst. Aber der Herr Oberinspektor Sadić ist zu sprechen. Soll ich durchstellen?«
»Ja, bitte.«
Es tutete erneut. Dann knackte es. »11. Polizeirevier, Sadić?«
»Guten Tag, Herr Oberinspektor. Gaby Glockner.«
»Ah, Gaby. Was gibt’s?«
»Polen offen, Holland in Not – das Übliche.«
Sadić lachte. »Dann muss ich mir ja keine Sorgen machen. Oder etwa doch?«
»Wir brauchen eine Auskunft, und zwar über den Halter eines Fahrzeugs.« Miriam hatte Gaby die Nummer bereits aufgeschrieben. »Eine Nummer aus der Stadt. Und dann: … BB 1080.«
»Einen Moment.« Man hörte, wie Sadić etwas in den Computer eingab. »Da haben wir's ja. Der Wagen hat seit seiner Erstzulassung 2006 ganze viermal den Besitzer gewechselt, und zwar haben zwei Personen ihn immer wieder getauscht.«
»Immer hin und her? Wer denn?«
»Das ist einmal der Herr Adrian Sellert. Geboren am 4. November 1978 in Wien. Gegen ihn liegt nichts vor, nicht mal eine Anzeige wegen Diebstahls von Schokoriegeln.«
»Schade«, murmelte Klößchen.
»Der andere ist ein Tibor Szalay, geboren am 17. März 1981 in Tatabánya, Ungarn. Ebenfalls keine Anzeige oder ähnliches vorliegend.«
»Aber welche Verbindung besteht da?«
»Das kann ich dir nicht sagen, Gaby. Aber interessant, wieviele Ungarn hier neuerdings herumgeistern.«
»Was? Wieso?«
»Hm, eigentlich darf ich es ja nicht sagen. Aber naja, ich denke, wir fassen die Typen bald sowieso. Im Jahre 2005 gab es in Budapest einen nahezu unbemerkten Diebstahl, bei dem sie Goldreserven der Nationalbank im Wert von etwa 200 Millionen ungarischen Forint abtransportiert haben, das sind heute etwa 750.000 Euro. Da man kein öffentliches Aufsehen wollte, hat man den Vorfall zwar gemeldet und sämtlichen Polizeibehörden Europas mitgeteilt, jedoch um strengste Geheimhaltung gebeten. Der Mann, den sie damals festgenommen haben, bekannte sich zu der Tat, machte aber keine weiteren Angaben. Die ungarischen Behörden haben immer vermutet, der Mann habe nichts mit alledem zu tun, er behauptete es aber steif und fest. Neun Jahre hat er gesessen. Nun ja, die sind jetzt vorbei. Und es wird vermutet, László Ferenc Nagyvár hält sich in Deutschland auf. Weder die Mittäter, noch das Gold wurden jemals gefunden.«
»Okay, sehr interessant. Sie haben uns sehr geholfen.«
»Wo seid ihr da reingeraten?«
»Erfahren Sie noch, keine Sorge. Bis dann!«
Gaby legte auf.
Sie blickte in die Runde. »Freunde, das ist der Hammer!«
Während Gaby und Miriam zu Gaby nach Hause und Tim und Klößchen ins Internat fuhren, beschloss Karl einige Recherchen anzustellen.
In der Universitätsbibliothek, die zur lokalen Hochschule gehörte, herrschte um diese Zeit wenig Betrieb, da Semesterferien waren. Dennoch hatte Karls Vater hier viel zu tun.
Zunächst nahm er sich einen Wälzer vor, in dem man über die Zufluchtsorte der Bevölkerung in und um die Millionenstadt während des Zweiten Weltkriegs aufgeklärt wurde.
Bereits auf der dritten Seite wurde Karl fündig.
›80 OSH I – Oberschrödersheim
Die Errichtung dieses Bunkers in einem Waldgebiet, das heute Ennslinger Forst heißt, erfolgte im Stillen. Am 4. Dezember 1941, drei Tage vor dem Angriff der Kaiserlichen Japanischen Marine auf Pearl Harbor, wurde dieser Bunker fertiggestellt. Obwohl die Zeichen für die deutschen Truppen zu der Zeit noch gut standen, war man in einigen Gegenden durchaus auf einen Gegenschlag der alliierten Truppen vorbereitet.
Bereits am 19. September 1942 erfolgte ein Luftangriff der Royal Air Force. Bis Kriegsende folgten weitere sechzehn Bombardements. Über Angriffe auf das Umland ist wenig bekannt, doch zahlreiche Funde sogenannter Blindgänger vom Kriegsende an bis in die heutige Zeit (Stand: 2014) zeugen von der Notwendigkeit der Bevölkerung außerhalb der Großstadt, sich vor Luftangriffen zu schützen.
Auch der heutige Ennslinger Forst war betroffen. Dennoch ist augenscheinlich während keines einzigen Angriffes jemals ein Bunker benutzt worden. Der Bau von 80 OSH I ist dokumentiert, allerdings nicht die exakte Lage. Sucharbeiten nach Kriegsende ergaben keinen Hinweis. Die Gemeinde Oberschrödersheim erklärte somit am 14. Februar 1957 den Bunker 80 OSH I als nicht existent. Noch heute ist der Bunker eine Art moderner Mythos.‹
Karl war erstaunt. Schon mal ein Rätsel, das sie gelöst hatten. Zwar durch puren Zufall, aber das spielte keine Rolle.
Als nächstes suchte Karl nach einem ziemlich neuen Grundbuch von Oberschrödersheim. Als er nicht fündig wurde, ging er an den PC und durchforstete das Internet.
Nach kurzer Zeit hatte er einige Suchergebnisse. Zahlreiche Felder und Wiesen waren unter dem Namen Rotveitl eingetragen, doch kein Waldstück. Bei der Suche nach »Ennslinger Forst« stieß er auf einen anderen Namen, der Übereinstimmungen mit Grundstücken aufwies, die Rotveitl erworben hatte, von Krainburg.
Was hatte das zu bedeuten?
Er schloss das Fenster, stand auf und wollte soeben die Bibliothek verlassen, als er den Stapel fremdsprachiger Zeitungen vor sich erblickte, den er letztens erst für seinen Vater am Hauptbahnhof abgeholt hatte.
Er sah sie sich kurz durch. Die zweite Ausgabe war deutschsprachig. Eine Gazette aus der Stadt, allerdings etwas älter; sie war Ende 2005 erschienen.
Die Überschrift auf der Titelseite lautete: Verkehrsunfall – ungarischer Lkw raste ungebremst in eine Leitplanke.
Darunter, als Unterschrift: Offensichtlich aufgebrochen – Ladung spurlos verschwunden – Fahrer Zoltán L. leichtverletzt, erinnert sich angeblich an nichts mehr.
Karl begann zu lesen.
Kaffee und Kuchen fielen dieses Mal flach, trotzdem gab es eine Lagebesprechung bei Gaby zu Hause, wo es ihnen trotzdem allem sicherer erschien. Miriams Eltern hatten sie mitgeteilt, Miriam würde bei Gaby übernachten, was geplant war.
Tim und Klößchen konnten aufgrund der Arbeitsstunde erst später dazustoßen. Doch hatten sie offenkundig nicht viel verpasst.
»Es ist nicht zu glauben«, sagte Karl. »Nach allem, was wir herausgefunden haben, kann es nur um die Beute aus dem Diebstahl gehen.«
»Und es ist sicher, dass es kein Zufall sein kann?« meinte Miriam.
»Absolut sicher. Die Gravur auf unserem Barren zeigt es eindeutig. Die Buchstaben MNB stehen für Magyar Nemzeti Bank – Ungarische Nationalbank. Dies ist zweifelsohne ein Barren aus den Goldreserven, die damals entwendet wurden.«
»Wie wir das auch immer schaffen«, meinte Klößchen, »in die spektakulärsten Fälle hineinzurutschen. Da freut man sich über einen einfachen Fall in der freien Natur – und landet durch puren Zufall mitten in einem der am längsten geheimgehaltenen, staatstragenden Fälle in der europäischen Kriminalgeschichte.«
»Noch ist die Sache ja nicht ausgestanden«, bemerkte Tim. »Die Typen wissen, dass wir wissen, was wir nicht wissen sollen. Da heißt es Obacht.«
»Wir müssen uns fragen, wie das zu dem Fall mit der Scheune passt«, gab Miriam zu bedenken. »Den dürfen wir nicht aus den Augen verlieren.«
»Ich schätze mal, das hängt mit dem Großbauern Rotveitl zusammen«, mutmaßte Gaby. »Vielleicht stand er ihnen mit seinen ausgedehnten Bauten einfach im Wege.«
»Das ist sehr wahrscheinlich«, stimmte Karl zu. »Ich habe in der Zeit eurer Abwesenheit mal im Grundbuchamt recherchiert. Da hat sich herausgestellt, dass Rotveitl sein Gelände bereits erweitert hat und zu erweitern plant. Die umliegenden Felder sind so gut wie sein.«
»Und der Ennslinger Forst?« fragte Klößchen.
»Der nicht, allerdings gehören weite Teile vermutlich sehr bald einem anderen, dem Adelsherrn Siegfried Graf von Krainburg.«
»Von Krainburg?« wiederholte Miriam. »Kenne ich. Seine Tochter Birgit von Krainburg ist ebenfalls regelmäßig auf dem ›Fasanenhof‹.«
»Stimmt.« Karl erinnerte sich, wie immer, an alles. »Als wir zuletzt da waren, hat Kati neben deinem Namen auch Birgit genannt. Als wir wissen wollten, wer dort regelmäßig reitet.«
»Ja – Birgit, Linda Morgenthau und ich. Und Kati selbst natürlich. Der Rest wechselt, wie's gerade passt, oder ist nicht regelmäßig dort.«
»Von Krainburg jedenfalls gehören ausgedehnte Waldgebiete in der Gegend – und so gut wie beschlossen ist sein Ankauf des Gebietes zwischen Oberschrödersheim und dem Naturschutzgebiet Finkenstein-Niederau.«
»Und genau dort liegt der Bunker, von dem keiner was weiß.«
»Richtig. Der wurde übrigens damals gebaut, aber nicht benutzt und geriet in Vergessenheit. Manche behaupten sogar, er hätte nie existiert.«
»Das erklärt alles.«
»Und noch was. Einige Ländereien haben einen doppelten Eintrag; sie sind sowohl auf von Krainburg als auch auf Rotveitl notiert. Sie haben also offenkundig gemeinsames Land.«
»Also arbeiten sie zusammen«, stellte Tim fest.
»Wir müssen was unternehmen«, sagte Gaby.
»Was willst du unternehmen?« fragte Karl.
»Ich spreche jetzt wirklich von Unternehmungen. So freizeitmäßig. Wie wär's damit. Morgen könnten wir ja mal den ›Fasanenhof‹ besuchen. Kati freut sich bestimmt. Und meinen Pferdeverstand kann ich so auch mal wieder auffrischen.«
»Gaby, was ist mit dir los? Wir werden von irgendwelchen Ungarn gejagt, und du denkst jetzt ans Reiten?«
Gaby nickte. »Genau das. Ich hab einen Plan …«
Am darauffolgenden Nachmittage trafen die TKKG-Freunde mit Verspätung ein. Miriam, Birgit, Linda und Kati waren bereits auf dem ›Fasanenhof‹, wo sie TKKG erwarteten. Gaby hatte sich mit Miriam entsprechend verabredet. Auch Sarah war anwesend, obwohl sie hier zurzeit ein eher selten gesehener Gast war. Sie hielten sich vor dem recht großen Pferdestall auf.
Alle fünf trugen die zum Reiten notwendige Montur. Der Stall wurde gesäubert, die Pferde versorgt und auch bewegt. Es war ein ganz normaler Tag.
»Schön, euch mal wiederzusehen!« wurden sie von Kati begrüßt. »Auch wenn das letzte Mal noch nicht so weit zurückliegt. Egal. Freuen kann man sich ja immer.«
»Grüß dich.«
»Die Stammrunde ist vollzählig«, stellte Gaby fest. »So, haben alle getan, was sie tun sollten?«
Miriam schlug die Hacken zusammen, salutierte und grinste. »Jawohl! Kati und ich sind übers ganze Gelände geritten. Habe ihr alles gezeigt. Das Schlachtfeld ist sondiert, die Mission kann beginnen.«
»Gut.« Auch Gaby musste grinsen. »Jungs?«
»Wir sind mit dem Fahrrad quer durch den ganzen Ort gefahren«, vermeldete Klößchen. »Eine Straße rauf, die nächste runter, wie angeordnet. Habe die komplette Ausrüstung dabei, inklusive aller Fundgegenstände.«
»Alles klar. Weitermachen.«
Sie betraten den Pferdestall, in dem noch einige andere Gäste, vorzugsweise Mädels, zugange waren.
Klößchen stellte seinen schweren Rucksack ab und nahm eine angebrochene Tafel Schokolade heraus, von der noch ein Stück verblieb.
Karl sagte: »Irgendwann bringt dich dein Hang zu übermäßigen Süßwarengenüssen nochmal ins Grab.«
»Unsinn. So schnell geht das auch nicht«, gab Klößchen zurück und schluckte den letzten Bissen herunter.
»Wenn du meinst. So trägt dich jedenfalls kein normales Pferd.«
»Den Verdacht hab' ich auch«, meldete sich Kati zu Wort. »Oder, Miriam? Was meinst du? Könnte Azuro ihn noch tragen?«
»Nicht, wenn er ein Rennen zu gewinnen gedenkt.« Miriam lachte.
In diesem Moment vernahmen sie deutlich, wie einige Männer zu beiden Eingängen des Stalls hineinkamen.
Kurze Zeit später sahen sie sie auch.
Sie wussten, wer sie waren. Zumindest einige der acht Gestalten erkannten sie wieder.
Ihre Jäger.
»Ah, hier sind sie also!« rief einer von ihnen. Er hatte einen hörbaren Akzent. »Die uns das Leben schwermachen!«
Sie hatten Pistolen.
»Tut, was wir euch sagen, sonst passiert was!« Der zweite Mann hatte ebenfalls einen Akzent, allerdings eher einen wienerischen. Das musste Adrian Sellert sein.
Ohne ein Kommando abzuwarten, hoben alle die Hände.
Einer der Ungarn lachte. »Aha, ihr kennt das also schon.«
Ein anderer erblickte Klößchens Rucksack. »Ist da der fehlende Goldbarren drin?«
»Ja, Sir«, sagte Klößchen.
»Mach mal Platz, Dicker! Du auch, Tendril!«
Sarah erschrak kurz, fing sich aber wieder und ging zur Seite. Der Typ kannte Sarah und sah jünger aus als die anderen neben ihm, einschließlich Sellert. Also war das vermutlich Tibor Szalay.
Klößchen sagte: »Den Edelquader können Sie haben, aber lassen Sie meine Schokolade.«
Szalay grinste. Er öffnete den Rucksack, nahm den Goldbarren raus und stellte den Rucksack neben Klößchen. »Damit du nicht hungern musst.«
»Leider haben wir ein Problem«, sagte jetzt Sellert. »Nämlich euch.« Er trat etwas näher an Birgit heran und sagte: »Leider erreichen wir deinen Daddy nicht. Also bist du halt dran. Aber ich bin sicher, er wird einlenken und mit dem Verkauf noch etwas warten. Zumindest, bis wir uns ein neues Versteck gesucht haben.«
»Nichts da!« rief auf einmal ein anderer dazwischen. »Szalay, Sellert, es ist aus! Wir schnappen uns den Zaster und verschwinden!«
»Wie wollt ihr das anstellen?« gab Szalay zurück. »Ihr steckt in derselben Scheiße wie wir.«
»Du meinst die Kurzen, Szalay? Euer Pech.«
»Genauso wie es dein Pech war, dass du neun Jahre umsonst gesessen hast.« Hier wurde Tim klar, dass das nur László Ferenc Nagyvár sein konnte.
»Okay, dann macht ihr euer Ding halt ohne Rückversicherung«, meinte Sellert.
»Niemals!« Nagyvár sprang vor, erwischte Miriam am Arm und zog sie zu sich. »Wenn ihr nicht wollt, dass eine Katastrophe passiert, folgt uns besser nicht!«
Einer von Nagyvárs Gefolgsleuten ergriff Kati.
»Ich begreife.« Gaby sah klar. »Zwei Banden.«
Nagyvár ignorierte den Zwischenruf. »Szalay, Sellert, macht Platz, sonst passiert was!« Er drückte Miriam den Revolver fester an die Schläfe.
» Horvát«, sagte jetzt Szalay. »Also doch.«
Vier Bewaffnete verließen den Stall.
»Hoffentlich bringen die uns Miriam und Kati heile wieder«, meinte Klößchen.
»Ruhe!« befahl Sellert. »Nichts wird passieren, solange niemand Dummheiten macht. Wir kriegen schon noch, was wir wollen. Bis dahin fügt ihr euch, verstanden?«
In diesem Moment war ein lautes Knallen zu hören, eine Explosion. Dann gleich die nächste hinterher.
Vor Schreck fuhr Sellert herum.
So nicht Szalay. Er packte Sarah und verschwand mit ihr durch den zweiten Ausgang.
Miriam und Kati hatten es geschafft sich loszueisen und legten sich auf den Boden. Von überall her kamen Polizisten. Sie machten Nagyvár und Konsorten dingfest.
Aus der Ferne erblicken sie Sadić mit einigen Kollegen. »Sellert! Geben Sie auf! Sie beide da auch! Waffen runter! Fegyverek a földre, gyerünk!«
Sellert und die zwei verbliebenen Ungarn schienen zu überlegen, ob sie es mit einer Geiselnahme versuchen sollten, überlegten es sich jedoch anders.
Endlich konnten TKKG und der Rest die Hände herunternehmen. Sie wurden langsam schwer.
»Szalay fehlt noch«, sagte Tim. »Er hat sich vom Acker gemacht.«
»Nein, ich bin da«, kam die Stimme vom zweiten Ausgang. Szalay hatte seine Waffe eingesteckt und Sarah losgelassen. »Ich wollte nur nicht unnötig beim Einsatz stören.« Szalay hatte einen Ausweis und eine Dienstmarke in der Hand. »Sie gestatten, Tibor Szalay. Ich bin vom ungarischen Geheimdienst.«
Am nächsten Tage saßen die TKKG-Bande und Miriam auf ihrer Sitzecke, wo sie die erste Lagebesprechung nach dem Fund der Granaten gefunden hatten. Sie sahen zu, wie sich der Suchtrupp in die Büsche und Bäume schlug.
Da stieß Tibor Szalay zu ihnen.
»Da seid ihr ja, Kinder.« Szalay lachte. »Oder darf man das nicht mehr sagen? Muss ich euch schon als Kollegen bezeichnen? Geht notfalls auch.« Er schien gern zu scherzen; mit seinem ungarischen Akzent klang es noch eine Spur lustiger.
»Wir haben uns fünfzehn Jahre lang dran gewöhnt«, meinte Klößchen. »Kollege werde ich ohnehin nicht. Ich muss noch Schokolade herstellen.«
Szalay nahm Platz. »Ich bin sehr gespannt, ob sie die Barren finden werden. Ich bin diesen Banden jetzt fast zehn Jahre auf der Spur. War nicht ganz einfach.«
»Sie haben sich also dort eingeschleust«, mutmaßte Karl.
Szalay nickte. »Ich wurde damals von der MNB beauftragt unauffällig die Sache aufzudecken und die Goldbarren zurückzubringen. Dass ich fast ein Drittel meiner Lebenszeit darauf verwenden würde, konnte ich nicht wissen. Sie suchten einen, und ich hab Ja gesagt.«
»Haben Sie Nagyvár damals dingfest gemacht?« wollte Tim wissen.
»Nein. Nagyvár hat sich freiwillig gestellt. Ich hatte gleich den Verdacht, dass er den wahren Täter hat decken wollen. Aber er ging in den Bau, wollte nichts aussagen. Die Polizei musste es dabei belassen. Was hätten sie tun sollen? Sie hätten ihn ja schlecht foltern können, das ist ja auch in Ungarn nicht erlaubt.«
»Die Polizei musste also aufgeben.«
»Ja, aber wir vom Geheimdienst NBSZ blieben dran, schließlich sahen wir eine Gefährdung der nationalen Sicherheit. Da kann ja jeder kommen und den Laden leerräumen. Wir verfolgten damals die Spur nach Deutschland, wo wir erfuhren, dass hier in der Nähe ein ungarischer Lkw verunglückt ist. Die Ladung fehlte. Da die ungarisch-österreichische Grenze noch nicht offen war, stellten wir fest, dass der Fahrer Zoltán Lengyel einige Stunden zuvor an der Autobahn Budapest-Gy?r-Wien die Grenze passiert hat. Auch das Kennzeichen passte. An Bord war auch ein gewisser András Horvát, der allerdings bereits in Österreich verschwand, wie uns die österreichische Polizei mitteilen konnte.«
»Aber der Lkw verunfallte«, stellte Gaby fest.
»Den Unfall hielten wir für inszeniert. Lengyel hat vermutlich mithilfe von Komplicen die Goldbarren unauffällig beiseite schaffen wollen. András Horvát verschwand in Österreich und tauchte unter. Er wurde nie aufgefunden und deshalb für tot erklärt. Ich ergriff die Gelegenheit an Horváts Stelle zu treten. Ich suchte Lengyel auf und erklärte ihm, ich wäre ein Vetter von Horvát und wüsste von allem. So erfuhr ich das Versteck der Goldbarren. Ich wollte es aber nicht preisgeben, da ich hoffe, wir könnten die ganze Bande hochnehmen. Jahrelang sind alle untergetaucht. Bis vor einem Monat. Da wurde László Ferenc Nagyvár aus dem Gefängnis entlassen. Er scharrte Gefolgsleute um sich, denen er weismachen konnte, sie könnten ans ganz große Geld kommen. Der Plan war, die Regierung Ungarns zu erpressen. Entweder, sie würde bezahlen, oder das Gold würde in den Orient verkauft und die Geschichte der Öffentlichkeit preisgegeben.«
»Hat sich da die Bande aufgespalten?« fragte Klößchen.
»Ja, genau zu dem Zeitpunkt. Lengyel hatte andere Pläne. Er wollte alles unter allen aufteilen und sich nach Südamerika absetzen. Nagyvár, der mit dem Raub nichts zu tun hatte, aber den Kopf hingehalten hat, wollte hingegen alles für sich. Und ausgerechnet, als sich dieser Konflikt zugespitzt hat, seid ihr aufgetaucht, habt euch hinter die Sache mit der Scheune geklemmt, die Lengyels Männer hochjagen mussten, um Rotveitl und von Krainburg vom Ankauf von Gebieten im Ennslinger Forst abzuhalten – und die Granaten gefunden. Ehe wir handeln konnten, haben Nagyvár und Konsorten das Gold weggeschafft. In der ganzen Eile haben sie einen Barren liegenlassen. Der, den ihr gefunden habt. Das bedeutete die eigentliche Katastrophe. Wir wussten, sie würden euch jagen, also haben wir das ebenfalls getan. Wir haben gehofft, wir kämen so an das Gold dran.«
»Da passte ja Gabys Plan«, sagte Miriam. »Möglichst auffällig herumlaufen. Bis allen klar war, dass wir uns auf dem ›Fasanenhof‹ aufhielten. Da kam die ganze Bande zusammen.«
»Der Plan war – im wahrsten Sinne des Wortes – Gold wert«, bemerkte Szalay. »Alle waren vollzählig. Und erst dort habe ich Horvát wiedergetroffen, den ich für tot hielt. Da wurde mir klar, dass er sich abgesetzt hatte, um hinterher Nagyvár zu helfen, an das Gold heranzukommen. Doch das half ja nicht.«
»Woher kamen jetzt eigentlich die Mörsergranaten?« fragte Tim.
»Wir haben sie in der Nähe in der Nähe des Verstecks gefunden«, antwortete Szalay. »Das traf sich gut, um die Scheune zu sprengen. Ausgeführt haben diesen Plan allerdings Nagyvár und vermutlich Horvát. Bis wir bemerkten, dass ihr die Granaten gefunden habt, wussten wir nichts davon. Nagyvár muss sie vergessen haben. Ein Riesenfehler. Aber gut für uns.«
»Wird die Geschichte jetzt eigentlich an die Öffentlichkeit kommen?« fragte Karl.
»Wir hoffen, nicht. Wenn ihr stillschweigen könnt, wäre das wunderbar. Mit eurem, ähm, Kollegen«, Szalay musste grinsen, »Oberinspektor Sadić habe ich bereits abgeklärt, dass er dafür sorgt, dass die Presse nichts erfährt. Wenn Fragen aufkommen bezüglich des Suchtrupps, wird einfach behauptet, man suche einen entlaufenen Knasti oder so was.«
»Ah, deshalb haben Sie sich mit Sadić unterhalten«, bemerkte Klößchen. »Das habe ich mitbekommen, aber natürlich nichts verstanden, schließlich scheitere ich in der Schule schon an Englisch. Wie kam das eigentlich, dass Sie mit Sadić Ungarisch gesprochen haben? Er ist doch aus Serbien? Und was er den Gangstern da zugerufen hat, war doch auch Ungarisch?«
»Ja, ich war selbst etwas verblüfft. Aber er kommt gebürtig aus der Vojvodina, einer weitgehend eigenständigen Region zwischen Belgrad und der ungarischen Grenze. Es ist die zweitgrößte ungarische Ansammlung außerhalb Ungarns nach Siebenbürgen, und Ungarisch ist dort neben Serbisch zweite Amtssprache. Daher kann Sadić ein wenig Ungarisch.«
»Ein wenig? Wie gut spricht er es denn?«
Szalay lachte. »Nun ja, er bemüht sich. Er spricht es für einen Serben recht gut, aber da ist noch gewaltig Luft nach oben. Er ist neidisch. Er würde gerne so gut Ungarisch sprechen wie ich Deutsch. Aber ich fürchte, sein Dienstplan wird das vereiteln.«
»Sehen Sie, wir kennen Sadić nicht erst seit gestern, aber das wussten wir gar nicht. Wenn das nächste Mal Ihre Landsleute die Gegend hier unsicher machen, gibt es keine Ausrede.«
»Und wieso sind die Polizisten nicht auch auf Sie gegangen?« fragte Gaby. »Dass Sie vom Geheimdienst sind, konnten sie ja nicht wissen.«
»Tja, Gaby, das ist ganz einfach.« Erneut lachte Szalay. »Was die Amerikaner können, kann ich schon lange. Ich habe mir erlaubt dein Handy anzuzapfen. Dadurch bekam ich mit, dass du, bevor ihr zum ›Fasanenhof‹ gefahren seid, Sadić verständigt hast. Ich habe das Gleiche getan und ausgemacht, dass ich mich im rechten Moment verstecken würde, damit die Aktion einfacher vonstatten geht. So konnte ich die Fluchtautos der restlichen Bande per Fernzünder und mit den restlichen Granaten in die Luft jagen, um deren Flucht zu verhindern. Sicherheitshalber habe ich Sarah Tendril mitgenommen, was aber nicht vonnöten war, da die Polizisten geblickt haben, dass sie die Richtigen erwischen. Immerhin konnte ich mich bei Sarah für meinen Auftritt auf ihrem Grundstück entschuldigen. Ich hätte es gern vermieden, aber es war nötig.«
In diesem Moment kam ein Polizeiauto heran. Sadić stieg aus.
»Ah, da seid ihr. Sie haben das Gold gefunden. In einem schwarzen Lieferwagen steht es, gleich auf einem Waldweg.«
Szalay sagte zu Sadić etwas auf Ungarisch. Sadić musste kurz nachdenken, dann antwortete er, wobei er ein wenig stotterte.
»Sag ich doch.« Szalay lachte. »Serben und Ungarisch …«
»Ja, genau. So, jetzt muss ich Herrn Glockner anrufen. Gaby, dein Vater wird außer sich sein, wenn er Wind davon bekommt, was ihr da wieder angestellt habt.«
»Er muss es ja nicht wissen«, erwiderte Gaby und grinste. »Schließlich ist die Sache streng geheim, oder wie habe ich das verstanden?«
– ENDE –
Tim sah ihm gelangweilt zu. Bei der Ankunft des Paketes, das der Chauffeur von Klößchens Eltern geliefert hatte, hatte er seine üblichen Vorträge über gesunde Ernährung vom Stapel gelassen, was Klößchen ähnlich gelangweilt mit seinen natürlichen Vorlieben und Prioritäten abgetan hatte.
»Manchmal frage ich mich«, begann Tim jetzt, »wieviel Schokolade du seit unserem ersten Fall vertilgt hast.«
»Frag Karl«, gab Klößchen zurück. »Der rechnet dir das in Sekundenbruchteilen aus.«
»Da könntest du nicht ganz verkehrt liegen«, meinte Tim. »Ich werde ihn bei der nächsten Gelegenheit fragen.«
»Ich wüsste gerne, welche Meinung er zu der Frage hat …« Klößchen unterbrach sich mit einem lautstarken Ächzen, er hatte wohl einen besonders schweren Karton erwischt, »… also was er glaubt, welchen von unseren zahllosen Fällen er für den spannendsten unserer Karriere hält.«
»Da gehen die Meinungen sicherlich auseinander.«
»Gaby favorisiert vermutlich eine ihrer Entführungen. Vielleicht die zweite. Oder die dritte. Ich denke, der Fall mit dem verschwundenen Baby und dem Diebstahl im Juweliergeschäft gehört auf jeden Fall mit dazu. Allein schon, weil ich ihn praktisch im Alleingang gelöst habe.«
»Karl wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit für den Fall mit der Abzocke in dem Internetchat da.« Tim ließ einige Schnellhefter in seine Schultasche gleiten. »Eine gute Gelegenheit sein geballtes technisches Fachwissen auszubreiten.«
»Und was meinst du?«
»Ich denke, der spannendste Fall ist immer der, an dem wir momentan arbeiten. Und jedes Detektivteam, das engagiert genug arbeitet, wird mit dieser Auffassung übereinstimmen.«
»Das ergibt Sinn.«
»Brauchst du eigentlich noch länger?« wollte Tim wissen.
»Weshalb?«
»Weil wir gleich losmüssen. Gaby erwartet uns um halb vier bei sich zu Hause. Es gibt Kaffee und Kuchen.«
»Schokoladenkuchen?«
»Gut denkbar.«
»Ich bin so gut wie fertig.« In diesem Moment erwischte Klößchen den letzten Karton unglücklich; er rutschte ihm aus der Hand und fiel mit einem lauten Poltern zu Boden.
Tim lachte. »Das kommt, wenn man sich nicht konzentriert.«
Gaby hatte tatsächlich Schokoladenkuchen gebacken, welcher, wie sie beteuerte, ausschließlich aus Sauerlich-Schokolade zubereitet worden war, da sie der Auffassung war, die Verwendung eines jeden anderen Produktes hätte Klößchen in seiner Familienehre verletzt. Vielleicht hätte er den Kuchen gar nicht angerührt – trotz seines Appetits – und wäre unverrichteter Dinge und leeren Magens wieder abgezogen. Das hätte niemand zulassen wollen.
Gabys Mutter war noch im Feinkostgeschäft, während Gabys Vater im Polizeipräsidium von seinem Schreibtisch aus Verbrecher jagte.
»Ihr seid ganze zwei Minuten zu spät«, tadelte Gaby die Jungs.
»Wir standen im Stau«, entgegnete Klößchen.
»Wo denn? Auf dem Fahrradweg?«
»Klößchen kam nicht aus dem Tritt«, vermeldete Karl. »Er hat dringend nachsehen müssen, ob die Schokolade aus seinem herabgefallenen Karton noch ganz ist.«
»Dass es sich nur um zwei Minuten handelt, verdanken wir der Tatsache, dass Tim wieder mal den Oberkommandanten hat spielen müssen«, meinte Klößchen. »Er fährt wie Henker, das glaub' aber mal.«
»Ist klar. So, die Getränke sollten jetzt kühl sein. Bis auf den Kaffee, selbstredend. Ich lasse ihn aber in der Maschine. Meine Eltern wollen bestimmt nachher noch welchen.«
»Gibt es eigentlich was zu feiern?« erkundigte sich Karl. »Oder wie haben wir uns diesen unter doch reichlich großem Aufwand vorbereiteten Nachmittagskaffee zu erklären?«
»Geburtstag hat ja keiner«, warf Klößchen ein, »und die Zweihundert-Fälle-Feier kann das auch noch nicht sein. Die dürfte erst so in zwei bis drei Jahren stattfinden.«
»Nichts von alledem.« Gaby stellte eine Flasche Orangensaft auf den Tisch.
»Hier ist noch ein Stuhl frei«, bemerkte Tim. »Ich vermute, wir kriegen Besuch.«
»Richtig. Der Besuch müsste gleich da sein.« Gaby schaute auf die Uhr. Fünf nach halb. »Ist jetzt kein Staatsbesuch, aber immerhin jemand, der augenscheinlich einen neuen Fall für uns hat. Und ich wollte ohnehin mal dieses Kuchenrezept austesten.«
Es klingelte.
Gaby stand auf, ging zur Tür und öffnete. »Ah, da bist du ja. Komm rein. Die werten Herrn Kollegen warten schon. Bis auf den Herrn Sauerlich, der interessiert sich vorzugsweise für den schokoladigen Teil dieser Angelegenheit.«
»Ich versteh schon. Tag, Jungs!«
Miriam Pauling betrat den Raum und ging zielstrebig zum extra für sie freigelassenen Platz. Gaby schloss die Tür und ging ebenfalls zurück ins Esszimmer.
»Ihr solltet euch erinnern«, meinte sie.
In der Tat. Der Fall, aus dem sie Miriam kannten, lag noch nicht allzu lange zurück. [Anm. des Autors: Fanfiction »Alarm auf dem Reiterhof!«] Sie genoss regelmäßige Aufenthalte auf dem ›Fasanenhof‹, einem großflächigen Reiterhof, der Ludger Schulze und seiner Tochter Kati gehörte. Beide kannten TKKG von deren früheren Ermittlungen. Bei ihrem letzten Fall dort hatte Miriam ihnen einen entscheidenden Hinweis geliefert.
Miriam war fünfzehn Jahre alt, hatte blonde Haare, ungefähr Gabys Größe und Figur und war allgemein für ihr lockeres Mundwerk bekannt, mit dem sie bereits im letzten Fall aufgetrumpft hatte und sich allgemein um Kopf und Kragen reden konnte, wenn ihr danach war.
»Gaby hat durchblicken lassen, du hast einen Fall für uns?« Tim nahm sich ein mittelgroßes Stück vom Schokokuchen.
»Richtig.« Miriam bediente sich ebenfalls. »Kati hatte mir ja schon vor dem letzten Fall von euch erzählt, und jetzt habe ich mir von ihr Gabys Adresse geben lassen. Ich hätte auch anrufen können, aber mein Handy ist kaputt und unser Telefon spinnt momentan. Außerdem wollte ich ohnehin in die Stadt, das trifft sich dann ganz praktisch.« Sie goss sich O-Saft ein und nahm sogleich einen Schluck.
»Dann schieß mal los«, forderte sie Karl auf. »Wo drückt der Schuh?«
»Ihr wisst ja, dass die Gegend um den ›Fasanenhof‹ zum größten Teil aus Wald und Wiesen besteht, so wie der ganze Landkreis überhaupt. Zu dem gehören ja auch die Orte Bad Finkenstein und Lergries, die einzigen größeren Ortschaften.«
Auch diese Orte waren TKKG aus Ermittlungen hinreichend bekannt.
»Dazwischen liegt nichts, aber auch wirklich nichts«, fuhr Miriam fort. »Ideale Reitwege. Es gibt zwei Landstraßen, der Rest sind Radwanderwege und bessere Trampelpfade. Gestern habe ich einen davon eingeschlagen. Ich kenne die Gegend. Ein Großbauer hat dort letztens erst eine ziemlich große Scheune bauen lassen. Nagelneu, mit allem, was dazugehört. Sie steht etwa einen halben Kilometer vom Bauernhof entfernt, zu dem sie gehört.«
Tim nickte. »Und weiter?«
»Wie gesagt, ich bin da gestern noch entlang geritten – und da ist auf einmal die Scheune explodiert.«
»Bitte was?« Gaby starrte Miriam mit weit aufgerissenen Kornblumenaugen an.
»Du hast schon richtig gehört. Mich hätte es fast aus dem Sattel gehauen. Gut, dass ich weit genug weg war.«
»Wie konnte das passieren?« fragte Klößchen.
»Keine Ahnung. Auch der Bauer und ein paar eine Leute waren in der Nähe. Sie haben Feuerwehr und Polizei verständigt. Aber die haben wohl nichts herausgefunden; jedenfalls stand das so heute morgen in der Zeitung.«
»Und wir sollen herausfinden, was dort vor sich gegangen ist?«
»So sieht's aus.« Miriam nippte an ihrem O-Saft. »Ich bin in unmittelbarer Nähe zufällig an einen alten Mann geraten, der sich dort herumgedrückt hat. Ich hab ihn gefragt, ob er was beobachtet hätte, aber er hat mich nur angepampt.«
»Wieso das?« fragte Karl.
»Ich weiß nicht. Er hat sich ganz komisch benommen. Er scheint aus der Gegend zu sein. Mir persönlich erscheint er verdächtig, aber das kann natürlich täuschen, und gute Indizien dafür gibt’s auch nicht.«
»Hm, ich denke, wir sollten uns der Sache annehmen«, fand Tim. »Wir haben schon öfter Fälle gelöst, bei denen die Polizei nicht weiterkam.«
»Versuchen können wir's jedenfalls«, meinte Klößchen. »Aber erst wird aufgegessen, ja?«
»Niemand spricht von heute«, sagte Tim. »Morgen nach der Schule fahren wir hin.«
»Am besten zur letzten S-Bahn-Haltestelle, da können wir uns treffen«, warf Miriam ein. »Weit ist es von dort nicht.«
»Alles klar. Und jetzt guten Hunger. Klößchen frisst uns sonst alles allein auf.«
Die S-Bahn-Linie endete in dem Dorf, an dessen Rand sich der ›Fasanenhof‹ befand. Die TKKG-Freunde stiegen aus und trafen umgehend auf Miriam, welche mit dem Fahrrad da war. TKKG hatten ebenfalls ihre Drahtesel mitnehmen können. Zu fünft fuhren sie aus dem Dorfe heraus und über einen Radweg zwischen Feldern und Wiesen her.
Zehn Minuten später bogen sie auf einen Feldweg ein. Rechts davon befand sich ein Waldstück, während links davon weiterhin Wiesen und Felder lagen, die nur durch ein paar mickrige Maschendrahtzäune vom Wege getrennt waren. Die Sonne hatte sich hinter Wolken versteckt, doch es war recht warm. Für T-Shirt und kurze Hosen reicht es jedoch noch nicht.
Noch einmal wenige Minuten brauchten sie, bis Miriam, welche den Trupp anführte, stehenblieb. Die Trümmerteile der explodierten Scheune waren deutlich zu sehen. Offensichtlich hatte hier niemand aufgeräumt. Stellenweise qualmte es noch.
»Der Großbauer heißt Rotveitl«, erklärte Miriam. »Der Hof erstreckt sich über mindestens einen Kilometer. Das nächstgelegene Dorf heißt Oberschrödersheim, es liegt gleich hinter dem Bauernhof.«
»Ist es eine größere Ansammlung?« wollte Karl wissen. »Ich kenne es nicht – muss ich zu meinem Leidwesen gestehen.«
»Noch lange nicht so groß wie Lergries, aber immerhin knapp fünfhundert Einwohner«, gab Miriam Auskunft.
»Also schon relativ groß für die Gegend.«
»Ja, und noch nicht einmal so abgelegen wie die Zwanzig-Seelen-Dörfer im restlichen Landkreis. Von Oberschrödersheim führt eine Landstraße zur nächsten Bundesstraße, welche Lergries mit der Autobahn verbindet.«
Karl nickte. »Das kenne ich wieder.«
»So, und das hier sind die Überreste der Scheune«, wechselte Tim das Thema.
»Das sind sie.« Miriam stieg vom Fahrrad ab. »Die Scheune war nicht mal klein, es erfordert eine gewisse Sprengkraft, um sie komplett zu zerstören.«
»Man sieht's.« Teile des Fundaments waren noch auszumachen. Anhand der Überreste schätzte Karl die Grundfläche auf etwa achthundert bis tausend Quadratmeter.
»Die Frage ist«, begann Gaby, »wer ist in der Lage eine solche Sprengkraft aufzuwenden? Womit hat er sie in die Luft gejagt und vor allem, warum?«
»Seht mal!« Miriam wies den Feldweg herunter, wo ein Mann mit Hut und in Jagduniform auf die fünf zukam. »Da ist der Alte von gestern.«
»Ach, das ist er?« vergewisserte sich Tim. »Ich bin höchst gespannt, was er uns mitzuteilen hat.« Er stieg ebenfalls ab. Karl, Klößchen und Gaby nun ebenfalls. »Heh, Meister!« rief Tim dem Alten zu, der sich langsam näherte.
»Was ist?« fragte dieser salopp und in reichlich unfreundlichem Tonfall.
»Wir hätten da mal 'ne Frage.«
Der etwa siebzigjährige Mann mit einem sehr spitzen Gesicht blieb vor ihnen stehen und musterte sie argwöhnisch. Da erkannte er Miriam wieder. »Aha, du bist doch die Göre, die mir gestern dumm kam. Und gleich mit Anhang. Ihr seid bestimmt keinen Deut besser!«
»Sehr richtig, Wertester. Es handelt sich in der Tat um das Mädchen von gestern. Ein Mädchen! Nur ein ungehobelter Klotz besäße die Frechheit sie eine ›Göre‹ zu nennen.«
»Du fängst dir gleich eine Ohrfeige.« Der Alte sprach mit einem ziemlich breiten Akzent der hiesigen Mundart.
»Werter Herr, Sie werden doch wohl nicht gleich handgreiflich werden. Ich möchte dies ebenfalls ungern tun. Wenn Sie sich jedoch unglücklich machen wollen, lässt sich das leider nicht vermeiden. Wir haben nur eine Frage.«
»Was wollt ihr?«
»Wie Ihnen bekannt ist, ist diese Scheune«, Tim deutete mit einer fahrigen Geste auf die Trümmern selbiger, »vorgestern Nachmittag in die Luft geflogen. Wir wüssten gerne, ob Sie irgendwelche Beobachtungen gemacht haben.«
»Nein, habe ich nicht. Ist das alles?«
»Mitnichten. Können Sie sich erklären, weshalb jemand das getan haben sollte?«
»Was weiß ich.«
»Natürlich nicht. Sie haben keine Ahnung, wie?«
»Was soll das heißen?! Willst du Lümmel etwa behaupten, ich wäre das gewesen?!«
»Davon ist keine Rede. Aber gut. Sind Sie es gewesen?«
»Nein! Keine Ahnung, wer das war! Irgendwelche Kriminellen wahrscheinlich. Ist mir auch egal. Könnten auch irgendwelche Kiddies gewesen sein. Die Göre da«, er zeigte auf Miriam, »hat sich hier herumgedrückt. Frag' die doch mal, Spargeltarzan!« Tim verkniff sich ein Grinsen angesichts des Ausdrucks, der seinen früheren Spitznamen enthielt. »Aber was sage ich! Ihr steckt bestimmt alle mit drin, jawohl!«
»Klar, deshalb erkundigen wir uns ja auch nach einem möglichen Täter. Weil wir das ja selbst waren.«
Karl fügte hinzu: »Und wir verfügen ja auch über die nötige Ausrüstung, um so was zu veranstalten. Das da war eine kontrollierte Sprengung. Ein wenig viel für einen Lausbubenstreich, meinen Sie nicht?«
»Sonst noch was?!«
»Können Sie sich vorstellen, dass es jemand auf den Eigentümer des Bauernhofs abgesehen haben könnte?« fragte jetzt Gaby.
»Ach, der Rotveitl. Dem geschieht das recht. Geldhai, depperter! Er ruiniert die Kleinbauern! Alles kauft er auf! Es wurde Zeit, dass dem einer das Handwerk legt. Dass ihm das Dorf noch nicht gehört, ist alles.«
»Ach so?«
»So, ich gehe jetzt weiter!« Er stiefelte an den Jugendlichen vorbei.
»Dürften wir noch Ihren Namen wissen?«
»Nichts da! Schert euch zum Teufel, Saubande!« Ohne ein weiteres Wort stapfte der alte Mann von dannen.
Die TKKG-Freunde und Miriam beschlossen die Gegend abzusuchen, die Möglichkeit erwägend, sie könnten einen brauchbaren Hinweis auf den Täter finden.
Sie teilten sich auf. Tim übernahm die Überreste der Scheune und die Gegend drumherum; Gaby und Miriam gingen den Feldweg entlang; Karl und Klößchen durchkämmten das Waldstück. In weiser Voraussicht hatte die TKKG-Bande ihre Walkie-Talkies mitgebracht.
Tim war der Erste, der fündig wurde. Im Gras, etwa zwanzig Meter vom Trümmerhaufen entfernt, lag ein verschmortes Stück Metall, an dem ein paar kleine Kabelreste hingen.
In diesem Moment piepste das Funkgerät.
Tim sandte ein Signal zurück, als Zeichen, dass er hörte.
»Kommt alle schnell her!« war Klößchens Stimme zu vernehmen. »Das glaubt ihr nie! Wir sind circa hundert Meter abseits vom Feldweg, auf so 'ner großen Wiese!«
»Hier gibt’s tausende von Wiesen«, gab Tim zurück. »Das Ganze nennt man Land.«
»Hier wachsen diese lila Teile … wie heißen sie noch, dieses Gewächs da …«
»Flieder?«
»Genau. Alles voll davon, könnt ihr nicht verfehlen. Beeilt euch!«
Tim legte einen Sprint ein. Auf halbem Wege traf er auf Gaby und Miriam, die sich ebenfalls ins Zeug legten.
Die Wiese glich mehr einem Feld. Schon aus der Ferne schimmerte es violett zwischen den Bäumen her. Alles war voller Flieder. In der Tat war das Feld so nicht zu verfehlen.
Die Mädchen waren bereits etwas aus der Puste. Tim hingegen war solche Kurzstreckenläufe als Sportler gewohnt und bemerkte fast nichts davon.
»Was ist los?« wollte er wissen. »Was habt ihr entdeckt?«
»Guckt euch das an!«
In einer der vielen Furchen, die sich über das ganze Feld zogen, lagen, mit etwas Erde überschüttet, aber noch erkennbar, ein paar seltsame Gegenstände. Sie waren offensichtlich aus Metall, hatten aber gewaltig Rost angesetzt. Sie waren lang und dick und spitzten sich nach vorne hin abgerundet zu.
Mörsergranaten.
»Da haben wir die Erklärung«, murmelte Klößchen.
»Die Mörsergranaten, wie wir sie entdeckt haben, stammen ganz eindeutig aus dem Zweiten Weltkrieg, das zeigt uns allein schon der Rost auf dem Metall«, dozierte Karl.
Die TKKG-Bande und Miriam hatten auf einer nahen Sitzecke Platz genommen. Hier standen zwei Bänke und ein Tisch, offensichtlich aus Baumstämmen hergestellt.
»Ja, aber wer lässt sie in einem Feld liegen?« meinte Miriam.
»Bereits nach dem Zweiten Weltkrieg begannen die Sucharbeiten nach sogenannten Blindgängern, also Munition, die verschossen wurde, aber nicht explodiert ist.« Karl putzte seine Nickelbrille. »Die sind allerdings bis heute nicht abgeschlossen. Immer wieder werden Kampfmittel gefunden, selbst an Stellen, an denen man sie nicht vermutet hätte. Teilweise sind sie in Wäldern heruntergekommen, wo in der Zwischenzeit Wohnsiedlungen oder Ackerbauflächen errichtet wurden. Dadurch kann es passieren, dass jemand plötzlich diese über siebzig Jahre alte Munition in seinem Garten findet. Diese Munition ist meistens noch scharf und kann bei der kleinsten Berührung explodieren.«
»Das wissen wir ja«, sagte Klößchen. »Wir hatten ja schon Fälle, die damit zu tun hatten. Aber wieso in so einem Feld?«
»Das sagte ich doch gerade.«
»Aber wie kann das sein, dass sie nie einer gefunden hat? Oder wurden die Granaten am Ende dort hingeschafft?«
»Das müssen wir herausfinden.«
»Also hat jemand die Granaten gefunden und möglicherweise damit die Scheune in die Luft gejagt«, schloss Miriam. »Entweder direkt dort, oder er hat sie dorthin geschafft.«
»Und wenn es ein Unfall war?« meinte Klößchen.
»Wie stellst du dir das vor?« entgegnete Miriam. »So weit rollen Granaten nicht.«
»Da steckt Absicht hinter«, stellte Tim fest. »Anders kann ich mir diese kleine Gerätschaft nicht erklären.« Er hielt sein Fundstück hoch und legte es dann vor sich auf den Tisch.
»Was soll das sein?«
»Ich gehe mit ziemlicher Sicherheit davon aus, dass es sich um einen Fernzünder handelt«, meinte Tim.
»Das ergibt Sinn«, fand Gaby. »Der oder die Täter haben einige Granaten benutzt, um die Scheune in die Luft zu sprengen. Nicht alle allerdings, denn dort liegen ja noch welche. Oder sie haben nicht alle gefunden. Auf jeden Fall stammen sie von unserem Fundort, das zeigen einige Einkerbungen in der Gegend, bei denen offensichtlich vorher was gelegen hat. Und mit dem Fernzünder haben sie einen Sprengsatz – nämlich dieses Ding hier – aktiviert, um die Explosion in Gang zu bringen.«
»Hört sich logisch an«, fand Karl. »Der Täter muss sich in einiger Entfernung befunden haben; er wollte ja nicht auffallen.«
»Tja, der Einzige, den ich gesehen habe«, sagte Miriam, »ist dieser alte Mann, der mir etwas suspekt vorkommt. Von den dort anwesenden Leuten vom Bauernhof wird das keiner gewesen sein.«
»Die Frage ist, wie die Granaten dort hinkamen«, meinte Klößchen. »Ob die wirklich siebzig Jahre lang dort herumgelegen haben?«
»Das glaube ich nicht«, sagte Gaby. »Ich könnte mir eher vorstellen, dass sie dort hingeschafft wurden. Dafür spricht, dass wir auf dem Feldweg Reifenspuren entdeckt haben, die von einem großen, schweren Fahrzeug stammen müssen. Sie führen bis kurz vor das Fliederfeld.«
»Wieso überhaupt Flieder?« wunderte sich Klößchen. »Was kann das überhaupt?«
»Dazu kann ich dir was sagen«, begann Karl erneut zu dozieren, »der Gemeine Flieder, lateinisch syringa vulgaris, gehört zur Familie der Ölbaumgewächse, lateinisch oleaceae. Es handelt sich um sommergrüne Sträucher oder Bäumchen, die in der Regel zwischen zwei und sechs Meter hoch wachsen. Blütezeit sind die Monate April und Mai. Sehr verbreitet ist der Gemeine Flieder in Vorderasien und auf dem Balkan, ging allerdings als invasive Art, macht sich also in Deutschland breit und verdrängt auf Dauer andere Arten. Die Pflanze bildet bräunliche Kapseln als Frucht, die im September …«
»Okay, wir haben es gerafft«, unterbrach ihn Tim. »Die Frage ist, was wir als nächstes machen.«
»Wir müssen die Polizei umgehend über den Granatenfund informieren«, befand Gaby. »Der Kampfmittelräumdienst muss die Munition entfernen, bevor eine weitere Katastrophe geschieht.«
»Ich bin dagegen«, wandte Tim ein. »Ohne sachdienliche Hinweise findet auch die Polizei nicht heraus, was hinter der ganzen Sache steckt. Da sind wir im Vorteil. Wir kriegen erheblich schneller Ergebnisse zusammen als die Polizei. Wenn es noch mehr scharfe Munition gibt, kann der Einsatz nur unterbunden werden, wenn geklärt, wer das zu verantworten hat.«
»Im Zweifelsfalle du, weil du die Polizei nicht informieren willst.«
»Pfote, ich bleibe dabei. Es ist sicherer, wenn wir dranbleiben. Und wenn wir schnell sind, ist der Fall gelöst, bevor noch irgendwas in die Luft geht.«
»Dein Wort in Gottes Gehörgang.«
»Wir müssen los«, sagte Klößchen. »Wir sollten ausnahmsweise pünktlich zur Arbeitsstunde aufkreuzen, sonst macht uns Assessor Langbein wieder die Hölle heiß.«
»Hast recht. Wir machen morgen weiter. Nach dem Mittagessen kommen wir wieder.«
Gaby war die Erste, die sich von den anderen absetzte, da sie den kürzesten Weg von der Bahnstation aus hatte. Normalerweise wäre sie von den Jungs nach Hause begleitet worden, doch ihnen fehlte die Zeit. Außerdem war es wirklich nicht weit, sodass auch aus Tims Sicht keine zwingende Notwendigkeit eines Konvois vorlag.
Gaby setzte sich auf ihr Rad und fuhr los. Auf halbem Wege fiel ihr ein, dass sie noch zum Tierarzt wollte, um sich zu erkundigen, wie es ihrem Hund Oskar soweit erging.
Sie drehte und bog in eine Seitenstraße ein, wo eigentlich nie viel los war, obwohl sie mitten in der Innenstadt lag.
An der Straße parkte ein schwarzer Lieferwagen ohne Aufschrift. Gaby beachtete ihn nicht weiter, sondern zog an ihm vorbei.
Da fuhr der Lieferwagen los.
Immer noch beachtete sie ihn nicht – bis der Motor aufheulte.
Er kam bedrohlich näher. Sie bemerkte noch, dass zwei Männer drin saßen. Das Kennzeichen konnte sie jedoch nicht lesen. Es war total verdreckt.
Er wurde immer schneller.
Will der mich übern Jordan schicken? – schoss es ihr durch den Kopf.
Jetzt war der Lieferwagen nur noch wenige Meter hinter ihr.
Gaby wollte nach rechts abbiegen, wo ein Fußgängerweg begann, der für Autos nicht zu passieren war.
Doch in ihrer Panik verfehlte sie die Einfahrt.
Sie fuhr mit dem Rad voll vor eine etwa anderthalb Meter hohe Mauer, die ein Grundstück von der Straße trennte.
Im hohem Bogen flog sie drüber hinweg.
Sie rechnete mit einem harten Aufprall – doch dazu kam es nicht.
Wie durch ein Wunder landete sie auf einem großen Trampolin. Sie wurde nach oben gefedert, machte ein paar Sprünge und landete schließlich ganz darauf.
Ein paar Kinder standen drumherum, welche Gaby erst verblüfft und dann verärgert ansahen.
»Ey, das ist unser Trampolin! Geh woanders spielen!«
Gaby vergewisserte sich kurz, dass das hier real war, dann stand sie auf. Sie blickte sich kurz um und sagte zu den Kurzen: »Merkt euch eins, Kinder – fahrt nie schneller als euer Schutzengel fliegen kann.«
Dann stieg sie wieder über die Mauer.
Nachdem Miriam die TKKG-Bande am Bahnhof abgesetzt hatte, begab sie sich heimwärts. Das Haus, in dem sie mit ihren Eltern lebte, lag etwas außerhalb des Dorfes. Es war ein eher kleiner Bauernhof, den es auch noch nicht besonders lange gab.
An der Ortsausfahrt wurde sie von einem Auto überholt, auf das sie nicht besonders achtete.
Nach wenigen hundert Metern erreichte sie ihr Elternhaus.
Sie bog in die Einfahrt ein und fuhr durch bis zu einem Holzschuppen, in dem sie immer ihr Fahrrad abstellte.
Der Schuppen machte nicht den Eindruck, als sei er frisch zusammengezimmert. Er sah eher etwas verranzt aus – so gar nicht passend zum ebenfalls neuen Hause.
Beide Bauten wurden von ein paar Kirschbäumen getrennt.
Miriam betrat den Holzschuppen und kettete ihr Rad an einer dafür vorgesehenen, in die Wand eingelassenen Metallstange an.
Da hörte sie ein Geräusch.
Sie blickte nach draußen, konnte jedoch nichts erblicken.
Innerlich zuckte sie die Achseln und verschloss den Schuppen.
Plötzlich wurde ihr der Mund zugehalten.
Sie gab ein paar erstickende Laute von sich, doch das half nichts.
»Nicht schreien!« sagte jemand.
Die Hand lockerte sich, ließ ihren Mund schließlich ganz los. Dann wurde sie an den Armen festgehalten und gegen die Wand des Schuppens gedrückt.
»Au! Wer sind Sie?«
»Pscht!« zischte die Stimme. Eine Männerstimme.
Dann sagte eine andere Stimme, ebenfalls männlich: »Du warst heute mit diesen Schnüffelkids auf dem Bauernhof bei Oberschrödersheim, wo die Scheune in die Luft gegangen ist.«
»U… und wenn?«
»Haltet euch aus unseren Angelegenheiten heraus«, befahl die Stimme. »Diese Sache ist zu groß für euch! Wenn ihr nicht spurt, werden wir Gewalt anwenden müssen! Das wird euch nicht gefallen! Lasst die Finger davon!«
»Hast du das kapiert?« fragte die andere Stimme.
Miriam sagte nichts.
Der Typ, der sie festhielt, ließ sie los. Sofort machten sich die beiden vom Acker.
Miriam sah gerade noch, wie sie zu dem Auto liefen, das sie im Ort überholt hatte. Doch es war zu weit weg, um etwas erkennen zu können. Das Kennzeichen hatte sie sich nicht gemerkt.
Am nächsten Nachmittag fuhren die TKKG-Freunde wieder raus aufs Land. Die Fahrradfahrt vom Bahnhof zum Fundort der Mörsergranaten nutzten sie zum gegenseitigen Austausch der gestrigen Erlebnisse.
Als sie am Fliederfeld ankamen, begaben sie sich umgehend zur exakten Fundstelle. Doch sie mussten eine schlimme Feststellung machen.
Die restlichen Granaten waren weg.
»Ist das zu fassen«, stieß Gaby aus.
»Hätten wir mal doch die Polizei verständigt«, meinte Karl.
»Wir wissen nicht, wann die Granaten weggekommen sind«, entgegnete Tim. »Es hätte ja sein können, wir hätten die Polizei geholt, und die Granaten wären schon weg gewesen. Das passt auch zum Anschlag auf Gaby und dem Überfall auf Miriam. Die müssen uns beobachtet haben. Wahrscheinlich haben sie die Granaten entfernt und uns anschließend verfolgt oder sich anderweitig kundig gemacht, wer wir sind und wo wir wohnen.«
»Und was tun wir jetzt?« wollte Karl wissen.
»Wir können nur abwarten und hoffen, dass nichts Schlimmes passiert«, meinte Klößchen.
»Was die Granaten angeht, ja«, stimmte Tim zu, »aber in der Sache Rotveitl können wir was unternehmen. Der komische Alte von gestern und vorgestern hat ja ziemlich über den gewettert. Vielleicht hat Rotveitl sogar was mit der Sache zu tun oder jemandem sehr übel mitgespielt. Das muss doch zu klären sein.«
»Stimmt, dazu kann ich sogar was beisteuern«, meldete sich Miriam zu Wort. »Ich habe ja gesagt, Oberschrödersheim ist ein kleines Nest, knapp fünfhundert Einwohner. Ich habe eine Freundin, die dort wohnt, Sarah Tendril. Sie weiß über ziemlich jeden Bescheid, wie das auf dem Dorf eben so ist. Wir könnten hinfahren und sie fragen. Es ist ja nicht weit.«
»Guter Plan«, fand Tim. »Und wenn dieser Alte aus dem Ort ist, was wir annehmen müssen, dann kann es ja sein, sie kennt ihn.«
»Dann auf ins Gefecht«, sagte Klößchen. »Und passt auf schwarze Lieferwagen auf.«
Sarah Tendril war vierzehn Jahre alt, hatte mittellange dunkle Haare, ebenso dunkle Augen und trug eine schwarze Brille. Im Gegensatz zu Miriam und Kati wohnte sie nicht außerhalb, sondern mitten im Dorf. Das offensichtlich in die Jahre gekommene Backsteinhaus stand unweit des Dorfplatzes von Oberschrödersheim.
Miriam wollte klingeln, doch das war nicht nötig, denn Sarah saß mit einem Buch auf der Terrasse. Die Sonne ließ sich wieder blicken, und jetzt war es deutlich wärmer als gestern.
Miriam erklärte Sarah kurz, wenn sie da im Schlepptau hatte, dann nahmen sie, so gut es ging, auf einer Bank Platz.
»Was jetzt unsere Frage wäre«, begann Tim, »wie gut ist die hiesige Bevölkerung auf Großbauer Rotveitl zu sprechen? Was hält man hier von dem?«
»Er ist zwar ziemlich reich im Vergleich zu den anderen«, antwortete Sarah, »doch ist er allgemein eigentlich recht beliebt. Klar, ein paar gibt’s immer, die an allem was auszusetzen haben, aber das ist normal. Oberschrödersheim hat ihm viel zu verdanken, von seinen Investitionen profitieren wir alle. Den Dorfbrunnen auf dem Platz zum Beispiel. Den hat er komplett finanziert und selbst bauen lassen. Er ist ein Zugezogener, allerdings lebt er hier schon seit zwanzig Jahren, außerdem ist er hier geboren. Er ist einer von uns.«
»Was ist mit denen, die an allem was auszusetzen haben?« fragte jetzt Karl genauer nach. »Zu welchen Maßnahmen gegen Rotveitl wären sie bereit?«
»Zu welchen Maßnahmen?« wiederholte Sarah. »Du meinst die Explosion in seiner Scheune. Das traue ich eigentlich niemandem hier zu. Selbst wenn jemand die Ausrüstung für so was haben sollte … also nein. Ein solches Zerstörungswerk. Das bringt keiner.«
»Aber es muss ja offensichtlich jemanden geben, der Rotveitl die Pest an den Hals wünscht«, meinte Miriam. »Dir fällt echt keiner ein?«
Sarah dachte kurz nach. »Nein. Niemand. Denkt ihr an jemanden Bestimmtes?«
»Und wie. Ich war zufällig dabei, als die Scheune explodierte.« Sarah machte kurz große Augen, da sie von Miriams Erlebnis nichts gewusst hatte. »Dabei habe ich einen angetroffen, den wir auch gestern an derselben Stelle gesehen haben.«
»Ein alter Mann, ungefähr siebzig Jahre alt«, übernahm Tim. »Ein ziemlich übellauniger Typ. Er läuft anscheinend vorzugsweise in Jagduniform herum, hat ungefähr meine Größe und ein spitzes Gesicht. Die Wangen sind ziemlich nach vorne gezogen, und seine Nase könnte er als Grillspieß verwenden. Fällt dir dazu jemand ein?«
»Ach ja, ich weiß wen ihr meint. Der alte Naumann. Immer schlechte Laune hat er, und an allem mäkelt er herum, nichts passt ihm in den Kram. Er ist wohl nie drüber weggekommen, dass das Dorf nicht mehr so aussieht wie vor vierzig Jahren. Als Kind hatte ich einen Heidenbammel vor dem. Und irgendwie hat sich das nie geändert.«
»Naumann also.«
»Reinhold Naumann heißt er. Wohnt auf seinem Bauernhof am südlichen Rande des Dorfes. Verschanzt sich da in seiner Festung. Wenn er mal rauskommt, staucht er jeden zusammen, der bei drei nicht aufm Baum ist. Aber im Grunde ist er friedlich. Zu deiner Frage – nein, ich glaube nicht, dass er eine Scheune in die Luft jagen würde. Sachbeschädigung, erst recht in dem Ausmaß, passt nicht zu ihm.«
»Eine Frage noch«, sagte Klößchen. »Wir gewinnen zunehmend den Eindruck, dass wir es mit einer richtigen Verbrecherbande zu tun haben. Die müssen sich ja auch irgendwie verbunkern. Gibt es irgendwo in der Nähe von Rotveitls Bauernhof einen Ort, an dem man etwas, jemanden oder sich selbst gut verstecken kann?«
Sarah überlegte kurz. »Hm, ja. Im Ennslinger Forst. Das ist nicht weit vom Hof Rotveitl. Dort gibt es Ecken, da kannst du dich für Jahre verstecken, es merkt keine Sau.«
»Okay, besten Dank. Wir müssen los«, sagte Tim.
»Ich meld' mich, wenn der Fall gelöst ist«, verkündete Miriam.
Der Plan lautete nun, die Gegend um den Fundort der Mörsergranaten, und vor allem den Ennslinger Forst, gründlich abzusuchen. Niemandem war klar, wonach genau gesucht wurde, doch man hoffte irgend etwas zu finden, was darauf hinwies, was sich jüngst in diesem Areal ereignete, und vor allem warum.
Der Ennslinger Forst war ein großes und dichtes Waldstück, das sich von Oberschrödersheim über mehrere Kilometer hinweg erstreckte. Tatsächlich wäre das Absuchen dieses Waldstücks eigentlich eine Arbeit für ausgebildete Suchtrupps gewesen. In Ermangelung der Walkie-Talkies, welche zu Hause vergessen worden waren, blieben die TKKG-Freunde und Miriam dieses Mal zusammen, um sich nicht zu verlieren. Handyempfang gab es vermutlich keinen.
Bereits nach einigen Minuten stellte sich ein Erfolg ein: In einem schluchtähnlichen Gebilde fand Klößchen einen rostigen Deckel aus Metall.
»Ob es hier weitergeht?« meinte er. »Zum Beispiel zu einem Bunker?«
»Glaube ich nicht«, meinte Miriam. »Ein Bunker aus Kriegszeiten in dieser Gegend wäre bekannt. Der einzige Bunker war damals in der Nähe vom ›Fasanenhof‹. Ansonsten gibt es hier nirgendwo einen, da bin ich mir sicher.«
»Aber was sollte hier sonst sein?« wandte Gaby ein.
»Ich mach mal auf«, beschloss Klößchen. Er hob den schweren Deckel an. Er fiel mit einem Poltern auf die andere Seite.
Ein steinerner Abstieg führte in den Untergrund – in einen kleinen Raum.
»Na bitte«, sagte Klößchen. »Wenn das kein Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg ist, dann weiß ich auch nicht.«
»Würde zu den Granaten passen«, meinte Tim. »Dabei war das hier doch kein typisches Abwurfgebiet.«
»Typische Abwurfgebiete gab es nicht«, wandte Karl ein. »Blindgänger haben sich überallhin verirrt, nicht nur in Gebiete mit strategischen Zielen wie die Brücke von Dormagen im Rheinland oder ähnliche Regionen. Das macht sie ja so gefährlich. Wenn man genau wüsste, wo Blindgänger herumliegen, müsste man sie nicht suchen, und erst recht nicht noch fast siebzig Jahre nach Kriegsende.«
Sie stiegen hinab.
»Taschenlampen wären hilfreich«, bemerkte Miriam.
»Woher hätten wir das denn wissen sollen«, meinte Gaby.
»Ich habe eine mit«, sagte Klößchen. Er zog etwas aus seiner Tasche. »In weiser Voraussicht immer dabei. Wie den Rucksack mit Proviant.« Prompt war der Raum erleuchtet.
Ein alter Bunker – nichts Ungewöhnliches. Falls er jemals wohnlich gewesen sein sollte, so war er es jetzt bestimmt nicht mehr. Hier lag nur etwas Schutt herum.
Ein Schriftzug war an der Wand zu erkennen: ›80 OSH I, 1941‹
OSH stand offensichtlich für Oberschrödersheim.
»Viel Licht hab ich nicht mehr«, sagte Klößchen. »Der Schein ist schon deutlich schwächer als sonst. Die Batterie ist bald alle.«
»Das macht nichts«, gab Tim zurück, »den Ausgang finden wir so.«
Plötzlich glänzte es auf.
»Was war das?« Klößchen leuchtete in die Richtung, aus der der Schein kam. In einer Ecke lag etwas, das offensichtlich stark reflektierte.
»Kneift mich mal«, entfuhr es Tim. »Ist das wahr jetzt?«
In der Ecke lag ein Goldbarren!
»Wo kommt der denn her?« wunderte sich Gaby. »Aus Kriegszeiten bestimmt nicht.«
Tim hob ihn auf. »Vom Gewicht her könnte es echt sein. Unwahrscheinlich, dass das nur Messing oder so was ist.«
Klößchen leuchtete den Barren direkt an, sodass Tim ihn sich genauer ansehen konnte. Der Barren trug eine Gravur: Die Buchstaben MNB und eine lange Nummer.
»Wichtiges Beweisstück«, sagte Tim. »Das Ding kommt mit. In deinen Rucksack damit, Willi.«
»Aber der ist doch so schwer?« wandte Klößchen ein.
»Du bist der Einzige hier, der einen Rucksack mit hat. Und offen herumtragen werden wir das Ding unter Garantie nicht. Wenn es das ist, um was es geht, ist es zu gefährlich. Und erklären können wir das notfalls auch keinem.«
»Wenn's denn sein muss.«
»Und jetzt raus hier. Wenn mein Verdacht zutrifft, sollten wir uns besser nicht allzu lange hier aufhalten.«
Sarah Tendril hatte ihr Buch fertiggelesen. Sie legte es zur Seite und schloss für einen kurzen Moment die Augen.
Als sie sie wieder öffnete, stand ein rotes Auto vor dem Grundstück. Zwei Männer stiegen aus.
Wollen die was von uns? – wunderte sich Sarah.
Die Männer, beides hochgewachsene Gestalten um die Dreißig, gingen geradewegs auf das Haus zu.
Also doch.
»Guten Tag«, sagte der eine.
»Guten Tag. Wollen Sie zu meinen Eltern?«
»Nein, zu dir. Du bist doch Sarah Tendril?«
»Ja, sicher …«
»Du kennst doch die eine da, wie hieß sie noch …«
»Miriam Pauling«, half ihm der andere auf die Sprünge.
»Äh, ja, klar. Was gibt’s denn?«
Sie musterte die Gestalten. Sie trugen beide Mäntel, offen. Sie sprachen mit einem merkwürdigen Akzent.
»War sie zufällig mit vier weiteren Jugendlichen hier? Drei Jungen und einem Mädchen?«
»Ich … ja. Aber …«
»Was wollten sie?« unterbrach der eine.
»Ach, nichts Besonderes.«
»Nicht? Sie wollten nicht zufällig wohin?«
»Nein, nicht dass ich wüsste …«
»Ah, weißt du nicht mehr.« Der eine schob wie beiläufig seinen Mantel ein Stück auf. Sarah erschrak. Zum Vorschein trat ein silberner Revolver, der in der Sonne glänzte.
»Es ist besser, wenn du dich erinnerst«, meinte der andere.
Die TKKG-Bande und Miriam sahen zu, dass sie das Weite suchten. Sie beschlossen zu Miriam nach Hause zu fahren, um alles in Ruhe besprechen zu können.
Ihre Eltern waren draußen auf dem Hof zugange.
Gerade als sie das Haus betraten, klingelte das Telefon. Miriam nahm den schnurlosen Apparat sofort ab. »Bei Pauling?«
»Miriam!« scholl es aufgeregt durch den Hörer, sodass selbst TKKG es aus etwas Entfernung hören konnten.
»Sarah! Was ist los?«
Sie hörte eine Zeitlang zu, dann sagte sie: »Beruhig dich. Alles gut, wir passen schon auf. Bis dann!«
Sie legte auf, wandte sich an TKKG und erzählte ihnen, was Sarah erlebt hatte.
»Ein starkes Stück«, meinte Tim. »Da tauchen diese Typen am hellichten Tage auf und schüchtern Sarah ein. Sie wissen also wirklich, wer wir sind und wo wir uns aufhalten könnten.«
Miriam schaute kurz aus dem Fenster, als befürchte sie, die Männer, die sie überfallen hatten, könnten wieder auftauchen.
»Ich ruf Papi an«, beschloss Gaby. »Es wird zuviel. Wir werden gejagt, und wir brauchen dringend Klarheit.«
»Gute Idee«, fand Miriam. »Sarah konnte sich das Kennzeichen von dem Wagen merken. Vielleicht bringt das ja was.«
»Okay. Habt ihr einen Lautsprecher am Telefon?«
»Ja, sicher.«
Gaby wählte die Nummer des Polizeireviers, bei dem Kommissar Glockner arbeitete.
»11. Polizeirevier, Ettel?«
»Guten Tag, ich bin's, Gaby Glockner. Ist mein Vater zufällig da?«
»Leider nein, er ist im Außendienst. Aber der Herr Oberinspektor Sadić ist zu sprechen. Soll ich durchstellen?«
»Ja, bitte.«
Es tutete erneut. Dann knackte es. »11. Polizeirevier, Sadić?«
»Guten Tag, Herr Oberinspektor. Gaby Glockner.«
»Ah, Gaby. Was gibt’s?«
»Polen offen, Holland in Not – das Übliche.«
Sadić lachte. »Dann muss ich mir ja keine Sorgen machen. Oder etwa doch?«
»Wir brauchen eine Auskunft, und zwar über den Halter eines Fahrzeugs.« Miriam hatte Gaby die Nummer bereits aufgeschrieben. »Eine Nummer aus der Stadt. Und dann: … BB 1080.«
»Einen Moment.« Man hörte, wie Sadić etwas in den Computer eingab. »Da haben wir's ja. Der Wagen hat seit seiner Erstzulassung 2006 ganze viermal den Besitzer gewechselt, und zwar haben zwei Personen ihn immer wieder getauscht.«
»Immer hin und her? Wer denn?«
»Das ist einmal der Herr Adrian Sellert. Geboren am 4. November 1978 in Wien. Gegen ihn liegt nichts vor, nicht mal eine Anzeige wegen Diebstahls von Schokoriegeln.«
»Schade«, murmelte Klößchen.
»Der andere ist ein Tibor Szalay, geboren am 17. März 1981 in Tatabánya, Ungarn. Ebenfalls keine Anzeige oder ähnliches vorliegend.«
»Aber welche Verbindung besteht da?«
»Das kann ich dir nicht sagen, Gaby. Aber interessant, wieviele Ungarn hier neuerdings herumgeistern.«
»Was? Wieso?«
»Hm, eigentlich darf ich es ja nicht sagen. Aber naja, ich denke, wir fassen die Typen bald sowieso. Im Jahre 2005 gab es in Budapest einen nahezu unbemerkten Diebstahl, bei dem sie Goldreserven der Nationalbank im Wert von etwa 200 Millionen ungarischen Forint abtransportiert haben, das sind heute etwa 750.000 Euro. Da man kein öffentliches Aufsehen wollte, hat man den Vorfall zwar gemeldet und sämtlichen Polizeibehörden Europas mitgeteilt, jedoch um strengste Geheimhaltung gebeten. Der Mann, den sie damals festgenommen haben, bekannte sich zu der Tat, machte aber keine weiteren Angaben. Die ungarischen Behörden haben immer vermutet, der Mann habe nichts mit alledem zu tun, er behauptete es aber steif und fest. Neun Jahre hat er gesessen. Nun ja, die sind jetzt vorbei. Und es wird vermutet, László Ferenc Nagyvár hält sich in Deutschland auf. Weder die Mittäter, noch das Gold wurden jemals gefunden.«
»Okay, sehr interessant. Sie haben uns sehr geholfen.«
»Wo seid ihr da reingeraten?«
»Erfahren Sie noch, keine Sorge. Bis dann!«
Gaby legte auf.
Sie blickte in die Runde. »Freunde, das ist der Hammer!«
Während Gaby und Miriam zu Gaby nach Hause und Tim und Klößchen ins Internat fuhren, beschloss Karl einige Recherchen anzustellen.
In der Universitätsbibliothek, die zur lokalen Hochschule gehörte, herrschte um diese Zeit wenig Betrieb, da Semesterferien waren. Dennoch hatte Karls Vater hier viel zu tun.
Zunächst nahm er sich einen Wälzer vor, in dem man über die Zufluchtsorte der Bevölkerung in und um die Millionenstadt während des Zweiten Weltkriegs aufgeklärt wurde.
Bereits auf der dritten Seite wurde Karl fündig.
›80 OSH I – Oberschrödersheim
Die Errichtung dieses Bunkers in einem Waldgebiet, das heute Ennslinger Forst heißt, erfolgte im Stillen. Am 4. Dezember 1941, drei Tage vor dem Angriff der Kaiserlichen Japanischen Marine auf Pearl Harbor, wurde dieser Bunker fertiggestellt. Obwohl die Zeichen für die deutschen Truppen zu der Zeit noch gut standen, war man in einigen Gegenden durchaus auf einen Gegenschlag der alliierten Truppen vorbereitet.
Bereits am 19. September 1942 erfolgte ein Luftangriff der Royal Air Force. Bis Kriegsende folgten weitere sechzehn Bombardements. Über Angriffe auf das Umland ist wenig bekannt, doch zahlreiche Funde sogenannter Blindgänger vom Kriegsende an bis in die heutige Zeit (Stand: 2014) zeugen von der Notwendigkeit der Bevölkerung außerhalb der Großstadt, sich vor Luftangriffen zu schützen.
Auch der heutige Ennslinger Forst war betroffen. Dennoch ist augenscheinlich während keines einzigen Angriffes jemals ein Bunker benutzt worden. Der Bau von 80 OSH I ist dokumentiert, allerdings nicht die exakte Lage. Sucharbeiten nach Kriegsende ergaben keinen Hinweis. Die Gemeinde Oberschrödersheim erklärte somit am 14. Februar 1957 den Bunker 80 OSH I als nicht existent. Noch heute ist der Bunker eine Art moderner Mythos.‹
Karl war erstaunt. Schon mal ein Rätsel, das sie gelöst hatten. Zwar durch puren Zufall, aber das spielte keine Rolle.
Als nächstes suchte Karl nach einem ziemlich neuen Grundbuch von Oberschrödersheim. Als er nicht fündig wurde, ging er an den PC und durchforstete das Internet.
Nach kurzer Zeit hatte er einige Suchergebnisse. Zahlreiche Felder und Wiesen waren unter dem Namen Rotveitl eingetragen, doch kein Waldstück. Bei der Suche nach »Ennslinger Forst« stieß er auf einen anderen Namen, der Übereinstimmungen mit Grundstücken aufwies, die Rotveitl erworben hatte, von Krainburg.
Was hatte das zu bedeuten?
Er schloss das Fenster, stand auf und wollte soeben die Bibliothek verlassen, als er den Stapel fremdsprachiger Zeitungen vor sich erblickte, den er letztens erst für seinen Vater am Hauptbahnhof abgeholt hatte.
Er sah sie sich kurz durch. Die zweite Ausgabe war deutschsprachig. Eine Gazette aus der Stadt, allerdings etwas älter; sie war Ende 2005 erschienen.
Die Überschrift auf der Titelseite lautete: Verkehrsunfall – ungarischer Lkw raste ungebremst in eine Leitplanke.
Darunter, als Unterschrift: Offensichtlich aufgebrochen – Ladung spurlos verschwunden – Fahrer Zoltán L. leichtverletzt, erinnert sich angeblich an nichts mehr.
Karl begann zu lesen.
Kaffee und Kuchen fielen dieses Mal flach, trotzdem gab es eine Lagebesprechung bei Gaby zu Hause, wo es ihnen trotzdem allem sicherer erschien. Miriams Eltern hatten sie mitgeteilt, Miriam würde bei Gaby übernachten, was geplant war.
Tim und Klößchen konnten aufgrund der Arbeitsstunde erst später dazustoßen. Doch hatten sie offenkundig nicht viel verpasst.
»Es ist nicht zu glauben«, sagte Karl. »Nach allem, was wir herausgefunden haben, kann es nur um die Beute aus dem Diebstahl gehen.«
»Und es ist sicher, dass es kein Zufall sein kann?« meinte Miriam.
»Absolut sicher. Die Gravur auf unserem Barren zeigt es eindeutig. Die Buchstaben MNB stehen für Magyar Nemzeti Bank – Ungarische Nationalbank. Dies ist zweifelsohne ein Barren aus den Goldreserven, die damals entwendet wurden.«
»Wie wir das auch immer schaffen«, meinte Klößchen, »in die spektakulärsten Fälle hineinzurutschen. Da freut man sich über einen einfachen Fall in der freien Natur – und landet durch puren Zufall mitten in einem der am längsten geheimgehaltenen, staatstragenden Fälle in der europäischen Kriminalgeschichte.«
»Noch ist die Sache ja nicht ausgestanden«, bemerkte Tim. »Die Typen wissen, dass wir wissen, was wir nicht wissen sollen. Da heißt es Obacht.«
»Wir müssen uns fragen, wie das zu dem Fall mit der Scheune passt«, gab Miriam zu bedenken. »Den dürfen wir nicht aus den Augen verlieren.«
»Ich schätze mal, das hängt mit dem Großbauern Rotveitl zusammen«, mutmaßte Gaby. »Vielleicht stand er ihnen mit seinen ausgedehnten Bauten einfach im Wege.«
»Das ist sehr wahrscheinlich«, stimmte Karl zu. »Ich habe in der Zeit eurer Abwesenheit mal im Grundbuchamt recherchiert. Da hat sich herausgestellt, dass Rotveitl sein Gelände bereits erweitert hat und zu erweitern plant. Die umliegenden Felder sind so gut wie sein.«
»Und der Ennslinger Forst?« fragte Klößchen.
»Der nicht, allerdings gehören weite Teile vermutlich sehr bald einem anderen, dem Adelsherrn Siegfried Graf von Krainburg.«
»Von Krainburg?« wiederholte Miriam. »Kenne ich. Seine Tochter Birgit von Krainburg ist ebenfalls regelmäßig auf dem ›Fasanenhof‹.«
»Stimmt.« Karl erinnerte sich, wie immer, an alles. »Als wir zuletzt da waren, hat Kati neben deinem Namen auch Birgit genannt. Als wir wissen wollten, wer dort regelmäßig reitet.«
»Ja – Birgit, Linda Morgenthau und ich. Und Kati selbst natürlich. Der Rest wechselt, wie's gerade passt, oder ist nicht regelmäßig dort.«
»Von Krainburg jedenfalls gehören ausgedehnte Waldgebiete in der Gegend – und so gut wie beschlossen ist sein Ankauf des Gebietes zwischen Oberschrödersheim und dem Naturschutzgebiet Finkenstein-Niederau.«
»Und genau dort liegt der Bunker, von dem keiner was weiß.«
»Richtig. Der wurde übrigens damals gebaut, aber nicht benutzt und geriet in Vergessenheit. Manche behaupten sogar, er hätte nie existiert.«
»Das erklärt alles.«
»Und noch was. Einige Ländereien haben einen doppelten Eintrag; sie sind sowohl auf von Krainburg als auch auf Rotveitl notiert. Sie haben also offenkundig gemeinsames Land.«
»Also arbeiten sie zusammen«, stellte Tim fest.
»Wir müssen was unternehmen«, sagte Gaby.
»Was willst du unternehmen?« fragte Karl.
»Ich spreche jetzt wirklich von Unternehmungen. So freizeitmäßig. Wie wär's damit. Morgen könnten wir ja mal den ›Fasanenhof‹ besuchen. Kati freut sich bestimmt. Und meinen Pferdeverstand kann ich so auch mal wieder auffrischen.«
»Gaby, was ist mit dir los? Wir werden von irgendwelchen Ungarn gejagt, und du denkst jetzt ans Reiten?«
Gaby nickte. »Genau das. Ich hab einen Plan …«
Am darauffolgenden Nachmittage trafen die TKKG-Freunde mit Verspätung ein. Miriam, Birgit, Linda und Kati waren bereits auf dem ›Fasanenhof‹, wo sie TKKG erwarteten. Gaby hatte sich mit Miriam entsprechend verabredet. Auch Sarah war anwesend, obwohl sie hier zurzeit ein eher selten gesehener Gast war. Sie hielten sich vor dem recht großen Pferdestall auf.
Alle fünf trugen die zum Reiten notwendige Montur. Der Stall wurde gesäubert, die Pferde versorgt und auch bewegt. Es war ein ganz normaler Tag.
»Schön, euch mal wiederzusehen!« wurden sie von Kati begrüßt. »Auch wenn das letzte Mal noch nicht so weit zurückliegt. Egal. Freuen kann man sich ja immer.«
»Grüß dich.«
»Die Stammrunde ist vollzählig«, stellte Gaby fest. »So, haben alle getan, was sie tun sollten?«
Miriam schlug die Hacken zusammen, salutierte und grinste. »Jawohl! Kati und ich sind übers ganze Gelände geritten. Habe ihr alles gezeigt. Das Schlachtfeld ist sondiert, die Mission kann beginnen.«
»Gut.« Auch Gaby musste grinsen. »Jungs?«
»Wir sind mit dem Fahrrad quer durch den ganzen Ort gefahren«, vermeldete Klößchen. »Eine Straße rauf, die nächste runter, wie angeordnet. Habe die komplette Ausrüstung dabei, inklusive aller Fundgegenstände.«
»Alles klar. Weitermachen.«
Sie betraten den Pferdestall, in dem noch einige andere Gäste, vorzugsweise Mädels, zugange waren.
Klößchen stellte seinen schweren Rucksack ab und nahm eine angebrochene Tafel Schokolade heraus, von der noch ein Stück verblieb.
Karl sagte: »Irgendwann bringt dich dein Hang zu übermäßigen Süßwarengenüssen nochmal ins Grab.«
»Unsinn. So schnell geht das auch nicht«, gab Klößchen zurück und schluckte den letzten Bissen herunter.
»Wenn du meinst. So trägt dich jedenfalls kein normales Pferd.«
»Den Verdacht hab' ich auch«, meldete sich Kati zu Wort. »Oder, Miriam? Was meinst du? Könnte Azuro ihn noch tragen?«
»Nicht, wenn er ein Rennen zu gewinnen gedenkt.« Miriam lachte.
In diesem Moment vernahmen sie deutlich, wie einige Männer zu beiden Eingängen des Stalls hineinkamen.
Kurze Zeit später sahen sie sie auch.
Sie wussten, wer sie waren. Zumindest einige der acht Gestalten erkannten sie wieder.
Ihre Jäger.
»Ah, hier sind sie also!« rief einer von ihnen. Er hatte einen hörbaren Akzent. »Die uns das Leben schwermachen!«
Sie hatten Pistolen.
»Tut, was wir euch sagen, sonst passiert was!« Der zweite Mann hatte ebenfalls einen Akzent, allerdings eher einen wienerischen. Das musste Adrian Sellert sein.
Ohne ein Kommando abzuwarten, hoben alle die Hände.
Einer der Ungarn lachte. »Aha, ihr kennt das also schon.«
Ein anderer erblickte Klößchens Rucksack. »Ist da der fehlende Goldbarren drin?«
»Ja, Sir«, sagte Klößchen.
»Mach mal Platz, Dicker! Du auch, Tendril!«
Sarah erschrak kurz, fing sich aber wieder und ging zur Seite. Der Typ kannte Sarah und sah jünger aus als die anderen neben ihm, einschließlich Sellert. Also war das vermutlich Tibor Szalay.
Klößchen sagte: »Den Edelquader können Sie haben, aber lassen Sie meine Schokolade.«
Szalay grinste. Er öffnete den Rucksack, nahm den Goldbarren raus und stellte den Rucksack neben Klößchen. »Damit du nicht hungern musst.«
»Leider haben wir ein Problem«, sagte jetzt Sellert. »Nämlich euch.« Er trat etwas näher an Birgit heran und sagte: »Leider erreichen wir deinen Daddy nicht. Also bist du halt dran. Aber ich bin sicher, er wird einlenken und mit dem Verkauf noch etwas warten. Zumindest, bis wir uns ein neues Versteck gesucht haben.«
»Nichts da!« rief auf einmal ein anderer dazwischen. »Szalay, Sellert, es ist aus! Wir schnappen uns den Zaster und verschwinden!«
»Wie wollt ihr das anstellen?« gab Szalay zurück. »Ihr steckt in derselben Scheiße wie wir.«
»Du meinst die Kurzen, Szalay? Euer Pech.«
»Genauso wie es dein Pech war, dass du neun Jahre umsonst gesessen hast.« Hier wurde Tim klar, dass das nur László Ferenc Nagyvár sein konnte.
»Okay, dann macht ihr euer Ding halt ohne Rückversicherung«, meinte Sellert.
»Niemals!« Nagyvár sprang vor, erwischte Miriam am Arm und zog sie zu sich. »Wenn ihr nicht wollt, dass eine Katastrophe passiert, folgt uns besser nicht!«
Einer von Nagyvárs Gefolgsleuten ergriff Kati.
»Ich begreife.« Gaby sah klar. »Zwei Banden.«
Nagyvár ignorierte den Zwischenruf. »Szalay, Sellert, macht Platz, sonst passiert was!« Er drückte Miriam den Revolver fester an die Schläfe.
» Horvát«, sagte jetzt Szalay. »Also doch.«
Vier Bewaffnete verließen den Stall.
»Hoffentlich bringen die uns Miriam und Kati heile wieder«, meinte Klößchen.
»Ruhe!« befahl Sellert. »Nichts wird passieren, solange niemand Dummheiten macht. Wir kriegen schon noch, was wir wollen. Bis dahin fügt ihr euch, verstanden?«
In diesem Moment war ein lautes Knallen zu hören, eine Explosion. Dann gleich die nächste hinterher.
Vor Schreck fuhr Sellert herum.
So nicht Szalay. Er packte Sarah und verschwand mit ihr durch den zweiten Ausgang.
Miriam und Kati hatten es geschafft sich loszueisen und legten sich auf den Boden. Von überall her kamen Polizisten. Sie machten Nagyvár und Konsorten dingfest.
Aus der Ferne erblicken sie Sadić mit einigen Kollegen. »Sellert! Geben Sie auf! Sie beide da auch! Waffen runter! Fegyverek a földre, gyerünk!«
Sellert und die zwei verbliebenen Ungarn schienen zu überlegen, ob sie es mit einer Geiselnahme versuchen sollten, überlegten es sich jedoch anders.
Endlich konnten TKKG und der Rest die Hände herunternehmen. Sie wurden langsam schwer.
»Szalay fehlt noch«, sagte Tim. »Er hat sich vom Acker gemacht.«
»Nein, ich bin da«, kam die Stimme vom zweiten Ausgang. Szalay hatte seine Waffe eingesteckt und Sarah losgelassen. »Ich wollte nur nicht unnötig beim Einsatz stören.« Szalay hatte einen Ausweis und eine Dienstmarke in der Hand. »Sie gestatten, Tibor Szalay. Ich bin vom ungarischen Geheimdienst.«
Am nächsten Tage saßen die TKKG-Bande und Miriam auf ihrer Sitzecke, wo sie die erste Lagebesprechung nach dem Fund der Granaten gefunden hatten. Sie sahen zu, wie sich der Suchtrupp in die Büsche und Bäume schlug.
Da stieß Tibor Szalay zu ihnen.
»Da seid ihr ja, Kinder.« Szalay lachte. »Oder darf man das nicht mehr sagen? Muss ich euch schon als Kollegen bezeichnen? Geht notfalls auch.« Er schien gern zu scherzen; mit seinem ungarischen Akzent klang es noch eine Spur lustiger.
»Wir haben uns fünfzehn Jahre lang dran gewöhnt«, meinte Klößchen. »Kollege werde ich ohnehin nicht. Ich muss noch Schokolade herstellen.«
Szalay nahm Platz. »Ich bin sehr gespannt, ob sie die Barren finden werden. Ich bin diesen Banden jetzt fast zehn Jahre auf der Spur. War nicht ganz einfach.«
»Sie haben sich also dort eingeschleust«, mutmaßte Karl.
Szalay nickte. »Ich wurde damals von der MNB beauftragt unauffällig die Sache aufzudecken und die Goldbarren zurückzubringen. Dass ich fast ein Drittel meiner Lebenszeit darauf verwenden würde, konnte ich nicht wissen. Sie suchten einen, und ich hab Ja gesagt.«
»Haben Sie Nagyvár damals dingfest gemacht?« wollte Tim wissen.
»Nein. Nagyvár hat sich freiwillig gestellt. Ich hatte gleich den Verdacht, dass er den wahren Täter hat decken wollen. Aber er ging in den Bau, wollte nichts aussagen. Die Polizei musste es dabei belassen. Was hätten sie tun sollen? Sie hätten ihn ja schlecht foltern können, das ist ja auch in Ungarn nicht erlaubt.«
»Die Polizei musste also aufgeben.«
»Ja, aber wir vom Geheimdienst NBSZ blieben dran, schließlich sahen wir eine Gefährdung der nationalen Sicherheit. Da kann ja jeder kommen und den Laden leerräumen. Wir verfolgten damals die Spur nach Deutschland, wo wir erfuhren, dass hier in der Nähe ein ungarischer Lkw verunglückt ist. Die Ladung fehlte. Da die ungarisch-österreichische Grenze noch nicht offen war, stellten wir fest, dass der Fahrer Zoltán Lengyel einige Stunden zuvor an der Autobahn Budapest-Gy?r-Wien die Grenze passiert hat. Auch das Kennzeichen passte. An Bord war auch ein gewisser András Horvát, der allerdings bereits in Österreich verschwand, wie uns die österreichische Polizei mitteilen konnte.«
»Aber der Lkw verunfallte«, stellte Gaby fest.
»Den Unfall hielten wir für inszeniert. Lengyel hat vermutlich mithilfe von Komplicen die Goldbarren unauffällig beiseite schaffen wollen. András Horvát verschwand in Österreich und tauchte unter. Er wurde nie aufgefunden und deshalb für tot erklärt. Ich ergriff die Gelegenheit an Horváts Stelle zu treten. Ich suchte Lengyel auf und erklärte ihm, ich wäre ein Vetter von Horvát und wüsste von allem. So erfuhr ich das Versteck der Goldbarren. Ich wollte es aber nicht preisgeben, da ich hoffe, wir könnten die ganze Bande hochnehmen. Jahrelang sind alle untergetaucht. Bis vor einem Monat. Da wurde László Ferenc Nagyvár aus dem Gefängnis entlassen. Er scharrte Gefolgsleute um sich, denen er weismachen konnte, sie könnten ans ganz große Geld kommen. Der Plan war, die Regierung Ungarns zu erpressen. Entweder, sie würde bezahlen, oder das Gold würde in den Orient verkauft und die Geschichte der Öffentlichkeit preisgegeben.«
»Hat sich da die Bande aufgespalten?« fragte Klößchen.
»Ja, genau zu dem Zeitpunkt. Lengyel hatte andere Pläne. Er wollte alles unter allen aufteilen und sich nach Südamerika absetzen. Nagyvár, der mit dem Raub nichts zu tun hatte, aber den Kopf hingehalten hat, wollte hingegen alles für sich. Und ausgerechnet, als sich dieser Konflikt zugespitzt hat, seid ihr aufgetaucht, habt euch hinter die Sache mit der Scheune geklemmt, die Lengyels Männer hochjagen mussten, um Rotveitl und von Krainburg vom Ankauf von Gebieten im Ennslinger Forst abzuhalten – und die Granaten gefunden. Ehe wir handeln konnten, haben Nagyvár und Konsorten das Gold weggeschafft. In der ganzen Eile haben sie einen Barren liegenlassen. Der, den ihr gefunden habt. Das bedeutete die eigentliche Katastrophe. Wir wussten, sie würden euch jagen, also haben wir das ebenfalls getan. Wir haben gehofft, wir kämen so an das Gold dran.«
»Da passte ja Gabys Plan«, sagte Miriam. »Möglichst auffällig herumlaufen. Bis allen klar war, dass wir uns auf dem ›Fasanenhof‹ aufhielten. Da kam die ganze Bande zusammen.«
»Der Plan war – im wahrsten Sinne des Wortes – Gold wert«, bemerkte Szalay. »Alle waren vollzählig. Und erst dort habe ich Horvát wiedergetroffen, den ich für tot hielt. Da wurde mir klar, dass er sich abgesetzt hatte, um hinterher Nagyvár zu helfen, an das Gold heranzukommen. Doch das half ja nicht.«
»Woher kamen jetzt eigentlich die Mörsergranaten?« fragte Tim.
»Wir haben sie in der Nähe in der Nähe des Verstecks gefunden«, antwortete Szalay. »Das traf sich gut, um die Scheune zu sprengen. Ausgeführt haben diesen Plan allerdings Nagyvár und vermutlich Horvát. Bis wir bemerkten, dass ihr die Granaten gefunden habt, wussten wir nichts davon. Nagyvár muss sie vergessen haben. Ein Riesenfehler. Aber gut für uns.«
»Wird die Geschichte jetzt eigentlich an die Öffentlichkeit kommen?« fragte Karl.
»Wir hoffen, nicht. Wenn ihr stillschweigen könnt, wäre das wunderbar. Mit eurem, ähm, Kollegen«, Szalay musste grinsen, »Oberinspektor Sadić habe ich bereits abgeklärt, dass er dafür sorgt, dass die Presse nichts erfährt. Wenn Fragen aufkommen bezüglich des Suchtrupps, wird einfach behauptet, man suche einen entlaufenen Knasti oder so was.«
»Ah, deshalb haben Sie sich mit Sadić unterhalten«, bemerkte Klößchen. »Das habe ich mitbekommen, aber natürlich nichts verstanden, schließlich scheitere ich in der Schule schon an Englisch. Wie kam das eigentlich, dass Sie mit Sadić Ungarisch gesprochen haben? Er ist doch aus Serbien? Und was er den Gangstern da zugerufen hat, war doch auch Ungarisch?«
»Ja, ich war selbst etwas verblüfft. Aber er kommt gebürtig aus der Vojvodina, einer weitgehend eigenständigen Region zwischen Belgrad und der ungarischen Grenze. Es ist die zweitgrößte ungarische Ansammlung außerhalb Ungarns nach Siebenbürgen, und Ungarisch ist dort neben Serbisch zweite Amtssprache. Daher kann Sadić ein wenig Ungarisch.«
»Ein wenig? Wie gut spricht er es denn?«
Szalay lachte. »Nun ja, er bemüht sich. Er spricht es für einen Serben recht gut, aber da ist noch gewaltig Luft nach oben. Er ist neidisch. Er würde gerne so gut Ungarisch sprechen wie ich Deutsch. Aber ich fürchte, sein Dienstplan wird das vereiteln.«
»Sehen Sie, wir kennen Sadić nicht erst seit gestern, aber das wussten wir gar nicht. Wenn das nächste Mal Ihre Landsleute die Gegend hier unsicher machen, gibt es keine Ausrede.«
»Und wieso sind die Polizisten nicht auch auf Sie gegangen?« fragte Gaby. »Dass Sie vom Geheimdienst sind, konnten sie ja nicht wissen.«
»Tja, Gaby, das ist ganz einfach.« Erneut lachte Szalay. »Was die Amerikaner können, kann ich schon lange. Ich habe mir erlaubt dein Handy anzuzapfen. Dadurch bekam ich mit, dass du, bevor ihr zum ›Fasanenhof‹ gefahren seid, Sadić verständigt hast. Ich habe das Gleiche getan und ausgemacht, dass ich mich im rechten Moment verstecken würde, damit die Aktion einfacher vonstatten geht. So konnte ich die Fluchtautos der restlichen Bande per Fernzünder und mit den restlichen Granaten in die Luft jagen, um deren Flucht zu verhindern. Sicherheitshalber habe ich Sarah Tendril mitgenommen, was aber nicht vonnöten war, da die Polizisten geblickt haben, dass sie die Richtigen erwischen. Immerhin konnte ich mich bei Sarah für meinen Auftritt auf ihrem Grundstück entschuldigen. Ich hätte es gern vermieden, aber es war nötig.«
In diesem Moment kam ein Polizeiauto heran. Sadić stieg aus.
»Ah, da seid ihr. Sie haben das Gold gefunden. In einem schwarzen Lieferwagen steht es, gleich auf einem Waldweg.«
Szalay sagte zu Sadić etwas auf Ungarisch. Sadić musste kurz nachdenken, dann antwortete er, wobei er ein wenig stotterte.
»Sag ich doch.« Szalay lachte. »Serben und Ungarisch …«
»Ja, genau. So, jetzt muss ich Herrn Glockner anrufen. Gaby, dein Vater wird außer sich sein, wenn er Wind davon bekommt, was ihr da wieder angestellt habt.«
»Er muss es ja nicht wissen«, erwiderte Gaby und grinste. »Schließlich ist die Sache streng geheim, oder wie habe ich das verstanden?«
– ENDE –
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