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Arcadia Bay

von Caligula
Kurzbeschreibung
GeschichteMystery, Freundschaft / P16 / Gen
Chloe Price Mark Jefferson Maxine "Max" Caulfield Nathan Prescott Rachel Amber
12.08.2017
18.12.2020
22
63.991
12
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03.05.2019 3.049
 
Kapitel 8 – Florida man strikes

„Nathan?“
Ihre Stimme drang gar nicht zu ihm durch, dafür steigerte sein Geschrei Max' Kopfschmerzen. Die Hände an die Schläfen gepresst, trat sie zögerlich auf den Mitschüler zu, ging neben ihm auf die Knie und löste die Hände schließlich von ihrem dröhnenden Schädel, um Nathan zu schütteln. „Nathan! Hey! Was ist denn los mit dir? Hast du Schmerzen?“
Er wurde ruhig, zumindest schrie er nicht mehr wie ein Wahnsinniger. Sein Atem ging schwer und seine Schultern hoben und senkten sich, während er den Kopf weiterhin unten hielt. Erst als sie ihn eindringlich betrachtete, realisierte Max, dass auch sie inzwischen vollkommen vom Regen, der noch stärker geworden war, durchnässt war. Als sie auch noch ein Grummeln aus dem mit beängstigend finsteren Wolken überzogenen Himmel vernahm, sah sie angespannt auf. Sie fürchtete, der Tornado könne viel zu früh über sie hereinbrechen. Als wären die Kopfschmerzen ein Zeichen gewesen. Doch es schien sich lediglich um ein kleines Unwetter zu handeln. Zumindest hoffte sie das anständig. Ihre Bedenken runterschluckend wandte sie sich wieder Nathan zu. „Hey, Nathan. Geht's wieder?“
Er ließ die zu Fäusten geballten Hände zu Boden sinken. „Was, du?“, schien er sich über ihr Erscheinen zu wundern und klang dabei schrecklich erschöpft.
„Was ist mit dir?“, wollte Max besorgt wissen. Ihre Hand ruhte noch immer auf seiner durchnässten Jacke.
Noch immer sah er nicht auf und schüttelte den Kopf. „Vergiss es.“
„Dein Ernst? Du sitzt hier wie ein Häufchen Elend im strömenden Regen auf dem Boden und schreist wie ein abgestochenes Schwein. Glaubst du wirklich, dass ich diesen Anblick so schnell vergesse?“
„Das ist dein Problem!“, fuhr er sie unwirsch an, befreite sich ruckartig von ihr und erhob sich schwankend.
„Hey, ich hab mir nur Sorgen gemacht“, gab Max patzig zurück. Nathan betrachtete sie geringschätzig. Es war schwer zu glauben, dass er ihr vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden gesagt hatte, dass er sie leiden konnte. In diesem Moment fühlte sie sich wieder wie der verhasste Nerd, der nicht cool genug für die reichen Vortex-Kids war. Unter anderen Umständen hätte sie das nicht berührt; unter den gegebenen Umständen jedoch wollte sie sich so nicht abspeisen lassen.
„Was willst du überhaupt hier? Solltest du nicht im Unterricht sitzen?“
„Und du nicht?“, schoss sie mit vor der Brust verschränkten Armen zurück. Jetzt wo die Gefahr und Panik, die sie kurzzeitig verspürt hatte, abgeklungen war, wurde sie sich des Regens und ihrer nassen Kleidung und Haare unangenehm bewusst und wünschte sich nichts sehnlicher als unter die Dusche zu springen, sich frische Sachen anzuziehen und sich aufzuwärmen.
„Mir gehört die Schule quasi, ich kann machen was ich will.“
Max verdrehte genervt die Augen. „Also gut“, sagte sie ruhig und Nathan schien bereits zu denken, sie würde aufgeben, denn er drehte ihr schon den Rücken zu und wollte ins Wohnheim verschwinden, als Max' Worte ihn zum Innehalten bewegten. „Ich verrate dir, was ich will. Ich wollte sichergehen, dass Kate Marsh nicht auf dem Dach des Wohnheims steht. Dass sie sich nicht in den Tod stürzt.“ Möglicherweise war die Strategie, die sie da einschlug, ziemlich gewagt, aber sie ging auf – sie hatte Nathans Aufmerksamkeit und sein Interesse. Und nach dem sie ihn in diesem Zustand vorgefunden hatte, hatte er nicht mal das Recht sie als verrückt abzustempeln.
Stirnrunzelnd drehte er sich langsam wieder zu ihr um. „Was sagst du da?“
„Vielleicht willst du mir mal erzählen, was du hier machst?“
„Wie kommst du darauf?“, ignorierte er ihre Aufforderung völlig. Er war angespannt und forschte regelrecht in ihrem Gesicht, ob sie die Wahrheit sagte oder sich etwas ausgedacht hatte. Doch weshalb? Hatte er plötzlich doch ein schlechtes Gewissen, weil er Kate erst abgefüllt und dann hatte mitnehmen wollen? „Wie kommst du darauf, sie könnte da oben sein?“, hakte er vollkommen verwirrt nach und warf noch einen kurzen, prüfenden Blick nach oben. Max hatte nicht vorgehabt, ihm die ganze Wahrheit zu erzählen. Selbst nach der Show, die er selbst gerade abgezogen hatte, würde er ihr wohl kaum abkaufen, dass sie Visionen hatte und durch die Zeit springen konnte. Und sie wollte ihn auch nicht einweihen, schließlich war er nur irgendein Mitschüler, dem sie darüber hinaus nicht gerade vertraute. Abrupt begann sie jedoch an dieser Einschätzung zu zweifeln, als er von sich aus genau ins Schwarze traf.
„Hast du es...gesehen?“
Nun war es an Max, geschockt die Augen zu weiten, ehe sie sich eines Besseren besinnen konnte. Sie schluckte unauffällig. „Wie meinst du das...? Gesehen?“
„Gesehen, wie...eine Vision“, suchte er verzweifelt und gestikulierend nach den richtigen Worten. Er wurde ungeduldig und Max befürchtete, wenn sie sich jetzt nicht langsam darauf einließ, würde er wieder dicht machen und das Gespräch endgültig beenden. Und sie hatte das Gefühl, dass er ihr einiges durchaus Interessantes zu erzählen hatte.
„Woher weißt du das?“, fragte sie vorsichtig. Er betrachtete sie eingehend und prüfend und wirkte immer noch durcheinander. Nervös fuhr er sich mit einer Hand durch die nassen, klebrigen Haare und wandte sich wieder ab. Energisch trat Max einen Schritt vor. „Nathan!“
„Nicht hier“, erwiderte er fahrig. „Ich hol dich nachher ab. Ich muss mich nur einen Moment ausruhen.“ Und mit diesen kryptischen Worten taumelte er ins Wohnheim, ohne sich noch einmal zu ihr umgedreht zu haben. Ohne eine Uhrzeit ausgemacht zu haben oder ihr gesagt zu haben, wo er mit ihr hinwollte, um über was genau zu reden? Visionen? Hatte er ebenfalls Visionen? Und wenn es so war, bedeutete das dann auch, dass er über übernatürliche Kräfte verfügte wie Max? Es war schon verrückt genug, dass sie Kräfte besaß und von Visionen geplagt wurde, aber noch jemand und das in ihrem direkten Umfeld? Wie war das alles bloß möglich?

Die Gedanken kreisten unaufhörlich in ihrem Kopf, während sie sich unter die heiße Dusche stellte und sich anschließend in ihrem Zimmer frische Sachen anzog. Das Wohnheim war herrlich friedlich während der Unterrichtszeit. Kurz hatte Max mit dem Gedanken gespielt noch rüber zu gehen und ihre Verspätung irgendwie zu erklären, doch war sie im Moment ja doch nicht in der Lage sich auf irgendetwas zu konzentrieren. Vielleicht gab das Ärger mit ihren Lehrern, aber darüber würde sie sich Gedanken machen, wenn sie den Freitag überlebt hatten.
Sie erschrak, als ein Klopfen an ihrer Zimmertür sie nach Stunden der Untätigkeit abrupt aus ihren Gedanken riss und eilig und ungeduldig sprang sie vom Bett, um Nathan zu öffnen – doch es war Kate, die vor ihr stand und sie mit besorgt schief gelegtem Kopf betrachtete. „Max, ist alles in Ordnung?“
„Oh, äh...“ Die Freundin hatte sie vollkommen überrumpelt, weshalb Max erst nach Worten ringen musste. Dabei hatte sie den ganzen Tag doch kaum an etwas anderes gedacht als an Kate. „Ich...ja, also...komm doch rein“, bot sie hastig an, als sie weitere Stimmen auf dem Flur hörte. Bereitwillig trat Kate ins Zimmer und folgte Max' Einladung sich aufs Bett zu setzen. Wie zuletzt ließ Max sich auf ihrem Stuhl sinken.
„Als du nicht zum Unterricht erschienen bist, habe ich mir Sorgen gemacht“, erklärte Kate behutsam, als schäme sie sich für ihre Aufdringlichkeit und Neugier.
„Ich hatte echt üble Kopfschmerzen“, improvisierte Max und musste dabei nicht einmal gänzlich lügen.
„Oh je, geht es dir denn wieder besser?“
„Ja, ja!“ Sie hob abwehrend die Hände. Und wieder war es keine vollkommene Lüge. Die Schmerzen waren wieder abgeklungen und nur noch ein dumpfes Pochen, das sich mit ein wenig Ablenkung schnell ignorieren ließ. „Es ist schon viel besser geworden. Tut mir leid, ich hätte dir Bescheid sagen sollen.“
„Dabei hast du mir doch noch geschrieben“, erinnerte sich Kate und Max biss sich auf die Lippen. Das hatte sie tatsächlich. „Aber Hauptsache es geht dir wieder besser.“ Ehrliche Erleichterung sprach aus Kates Zügen. Es war seltsam wie vertraut sie schon wieder miteinander umgingen, doch war Max einfach nur froh, dass sich ihre Beziehung so schnell normalisiert hatte. Zumal sie einen Freund gerade gut gebrauchen konnte.
„Du, Kate...“
„Was ist denn?“, wollte die Freundin lächelnd wissen.
„Ich treffe mich heute noch mit Nathan.“ Erwartungsvolle Stille legte sich über den Raum und Kate runzelte fragend die Stirn.
„Okay?“
„Ich wollte nur, dass du das weißt, weil...naja, ich hab dir doch gesagt, dass er gefährlich ist.“
Kates Miene wurde ernst. „Warum triffst du dich dann mit ihm? Alleine?“, hakte sie besorgt nach.
„Es geht um eine wirklich wichtige Sache“, wehrte Max zerknirscht ab. Wieder einmal musste sie komisch klingen, nur dass Kate sie wohl nicht mit Insiderwissen überraschen würde wie Nathan es zuvor getan hatte. Dafür vertraute sie ihr und stellte keine unnötigen Fragen. „Ich wollte einfach nur, dass jemand weiß, wo ich bin.“
„Und wo wird das sein?“
„Das weiß ich noch nicht“, gab Max zu.
Kate stieß ein hilfloses Seufzen aus. „Jetzt komme ich nicht umhin mir Sorgen zu machen...“
„Ich weiß und das tut mir leid“, entschuldigte sie sich mit einem schlechten Gewissen. „Ich denke nicht, dass ich wirklich irgendetwas zu befürchten habe.“
„Was ist das für eine Sache, die dich so beschäftigt?“ Sie ahnte, dass mehr hinter der Sache steckte. Ihre ganze Rettungsaktion und ihre darauffolgenden Gespräche hatten sie wachsam werden lassen und unwillkürlich fragte sich Max, ob sie vielleicht auch tiefer in diesem Mysterium drinsteckte als es den Anschein hatte. Aber sie schien völlig normal im Gegensatz zu Nathan.
Eben dieser meldete sich plötzlich über ihr Handy, was Max peinlich aufschrecken ließ. In einer simplen Nachricht bestellte er sie auf den Parkplatz. Es ging also los.
„Ich muss jetzt gehen“, sagte sie an Kate gewandt und zog sich eine schwarze Sweatjacke über. Wie sie erleichtert festgestellt hatte, fand sich doch das ein oder andere lässige Teil in ihrem Kleiderschrank, das sie guten Gewissens anziehen konnte. Sie schob ihr Handy in die Hosentasche und sah Kate entschuldigend an. „Danke für deinen Besuch, Kate, und dafür, dass du dir Sorgen gemacht hast.“
Offensichtlich nahm Kate ihr die schuldig gebliebene Antwort nicht übel, denn auch sie lächelte. „Dafür nicht. Dafür sind Freunde schließlich da.“

Gemeinsam verließen sie das Zimmer und eilig schlich sich Max aus dem Wohnheim, ehe sie noch von Victoria aufgehalten wurde, die möglicherweise noch eine Erklärung oder Entschuldigung für ihr Verhalten am Morgen einforderte. Noch immer regnete es, doch trommelten die Tropfen schon etwas sanfter auf die Erde nieder. Die Kapuze über den Kopf gezogen, die sie zusätzlich vor unerwünschten Gesprächen schützten, ging sie zügig zum Parkplatz, auf dem sie sich erst einmal orientierungslos umsah. Wahrscheinlich sollte sie seinen Wagen und sein Kennzeichen kennen, sodass Nathan sich keinerlei Mühe machte ihr irgendein Zeichen zu geben. Angestrengt sah sie in jeden Wagen rein, bis sie ihn in einem unspektakulären Pick-Up, ähnlich dem Chloes, entdeckte. Nicht gerade das Auto, nach dem sie Ausschau gehalten hätte. Sie kletterte auf den Beifahrersitz, ohne dass Nathan aufgesehen hätte und sie vermutete weiter, dass sie wohl nicht zum ersten Mal hier saß.
„Wolltest du mich nicht abholen?“, begrüßte sie ihn ein klein wenig pampig, nur um ihn zum Reden zu bringen. Sein düsterer Blick durch die Windschutzscheibe machte sie nervös. So sehr sie auch hören wollte, was er zu sagen hatte, so sehr fürchtete sie sich davor.
„Ich hab gesehen, wie Kate in dein Zimmer gegangen ist. Da wollte ich nicht stören.“
„Naja, das hast du dann ja irgendwie trotzdem.“
Genervt sah er zu ihr rüber und startete den Motor. „Ich wollte sie nicht sehen, okay? Bist du jetzt zufrieden?“
„Wieso sollte ich das hören wollen?“, murmelte sie kleinlaut, als er sie vom Parkplatz und auf die Straße ins Ungewisse lenkte.
„Du warst doch diejenige, die sie von der Party weggebracht hat. In Sicherheit“, fügte er noch spöttisch hinzu.
„Weil ich wusste, was passiert, wenn ich es nicht tue“, spielte sie kühl auf ihre Vision an. Nathan verstand augenblicklich und seine Miene wurde wieder ernst.
„Nicht hier, Max.“

Er zog es vor die restliche Fahrt über zu schweigen und da Max nicht wusste, worüber sie sonst mit ihm reden konnte, blieb ihr nichts anderes übrig als die Regentropfen zu beobachten, die gegen die Scheiben peitschten. Der Scheibenwischer war im Dauereinsatz und als es draußen auch noch dämmerte, verlor Max jedwede Orientierung. Sie wollte nicht fragen, zumal sie nicht glaubte eine vernünftige Antwort zu erhalten, aber ihr war unwohl zumute, als er Arcadia Bay verließ und auf die Schnellstraße fuhr. Da sie sich nicht unterhielten, empfand sie es nicht als zu unhöflich sich mit ihrem Handy zu beschäftigen, über das sie Kate darüber informierte, dass sie die Stadt verlassen und Richtung Portland fuhren. Zwar klang Kate besorgt, doch ließ sie sich relativ schnell auch wieder beruhigen, wohingegen Chloe vermutlich keine Ruhe mehr gegeben hätte. Zumal sie ja bereits schlechte Erfahrungen mit Nathan gemacht hatte. Doch Max versuchte sich davon nicht verunsichern zu lassen. Im Zweifelsfall konnte sie sich mit ihren Kräften behelfen.
Eine kleine Stadt nahe Portlands war Nathans Ziel, die sie nach knapp einer Stunde erreichten. Die Zeit hatte sich wie Kaugummi gezogen; Nathans nervös auf dem Lenkrad trommelnden Finger hatten sie fast wahnsinnig gemacht und die Sonne war inzwischen gänzlich untergegangen. Da sie jedoch ihr Handy behalten durfte und er sie in ein einfaches, klassisches Diner führte, wollte sie dem vermeintlichen Freund erst mal keine unlauteren Absichten unterstellen.
Sie ließen sich einander gegenüber an einem der vielen unbesetzten Tische nieder; es herrschte kein reger Betrieb, sodass sie außerdem zügig bedient wurden. Und wenngleich Nathan sie in die Nähe der Stadt gebracht hatte, fühlte sie sich an diesem Ort mehr am Ende der Welt als in dem beschaulichen Arcadia Bay. „Hat es einen bestimmten Grund, dass wir eine halbe Weltreise unternommen haben?“, fragte sie, während sie ihre Finger an dem Becher heißer Schokolade wärmte, die sie bestellt hatte.
„Ja“, kam es knapp zurück, ohne weitere Erklärungen. Nicht unbedingt vertrauenerweckend. „Also, ist es wahr? Hast du Visionen?“
„Und du?“, warf Max die Frage skeptisch zurück.
Ungeduldig lehnte Nathan sich vor. „Jetzt spiel keine Spielchen! Ist es so oder nicht?“
„Krieg dich ein...quid pro quo. Ich erzähle dir von meinem Scheiß, wenn du mir von deinem erzählst.“
Er gab stumm sein Einverständnis. „Du sagtest, du wusstest, was mit Kate passieren würde. Dass sie sich vom Dach stürzen würde. Hast du das gesehen?“, wollte er wachsam wissen.
„Ja.“ Es war nicht ganz die Wahrheit; es war keine Vision gewesen, sondern grausame Realität. Aber sie hatte noch nicht entschieden, ob sie Nathan überhaupt von ihren abgedrehten Fähigkeiten erzählen sollte, wenn er nicht etwas im Gegenzug dafür zu bieten hatte.
„Was noch?“
„Langsam, du bist dran. Was war heute Mittag mit dir los?“
Er zögerte, senkte den Blick und kratzte mit dem Daumennagel über die abgenutzte Tischplatte. „Seit ich klein bin, hab ich diese...nennen wir es mal Visionen. Hirngespinste, hat mein Vater es genannt. Ich habe aber nie so etwas Konkretes gesehen wie du. Ich kann mit den Bildern und dem andern nicht so viel anfangen. Nur eine Vision kann ich ganz deutlich zuordnen. Eine, die sich immer wiederholt.“ Er sprach weiter zur Tischplatte und wagte gar nicht mehr aufzusehen. Verübeln konnte sie es ihm nicht. Es klang wie das Gebrabbel eines Drogensüchtigen. Und zufällig wusste sie, dass Nathan den ein oder anderen Stoff konsumierte, also was waren seine Worte tatsächlich wert? „Den Sturm.“
Max' Herz setzte einen Schlag aus. Der Sturm. „Der Tornado...der die Stadt zerstört...?“
„Also, hast du ihn auch gesehen“, stellte Nathan furchtsam fest. „Genauso wie sie...“
„Sie?“
„Rachel.“
Eine Gänsehaut überzog Max' Arme. Mit jedem Wort wurde diese Sache zwischen ihnen realer. Und das machte ihr Angst. „Hat sie dir das erzählt?“
„Sie ist genauso wie wir“, gab er eine indirekte Antwort auf ihre Frage. „Sie hat diese Dinge gesehen...diese Dinge gespürt...“
Max schluckte. „Du merkst aber schon selbst, wie verrückt das klingt, oder...?“
Sie zuckte zusammen, als er die Fäuste auf den Tisch knallte. „Mein ganzes Leben wurde mir eingetrichtert, dass ich verrückt bin!“, spie er erregt und Max ließ peinlich berührt den Blick durchs Diner schweifen. Tatsächlich sah ein Mann ein paar Tische weiter skeptisch zu ihnen rüber.
„Okay, tut mir leid, so habe ich das nicht gemeint“, versuchte sie Nathan flüsternd und mit gehobenen Händen zu beschwichtigen.
„Aber vielleicht ist es gar nicht so“, brabbelte er weiter, als würde er ihr gar nicht mehr zuhören. „Rachel...du...ich bin nicht der Einzige, dem diese Drecksstadt zu schaffen macht.“
„Diese Drecksstadt?“, wiederholte Max verdutzt. „Meinst du damit...Arcadia Bay?“
„Was denn sonst? Du hast doch gesagt, du kommst von dort!“
„Ja, das stimmt schon...“ Aber das traf auch auf Chloe zu, die niemals von irgendwelchen skurrilen Visionen erzählt hatte. Ganz im Gegenteil hatte sie Max ihre abenteuerlichen Geschichten ja kaum glauben wollen. „Aber ich bezweifle, dass jede Person aus Arcadia...so ist“, druckste sie hilflos herum. „Dann hätte man doch längst etwas davon gehört.“
„Dann betrifft es eben nicht jeden“, wischte Nathan ihren Einwand entschlossen beiseite. „Aber uns drei. Vielleicht noch mehr.“
„Du schließt Rachel Amber so mit ein“, sagte Max vorsichtig. „Obwohl sie seit einem halben Jahr verschwunden ist, redest du von ihr, als wäre sie noch da...“ Sie musste noch da sein. Immerhin hatte Max sie gesehen; würde sie noch sehen. Vielleicht wusste Nathan über sie Bescheid, wenn sie doch den gleichen Knall hatten.
Sein Blick veränderte sich. Wurde merklich kühler. „Du willst es unbedingt hören, oder?“ Seine Tonlage verriet, dass er es nicht unbedingt erzählen wollte und Max befürchtete schon mit ihrer Beharrlichkeit das Gespräch zu einem abrupten Ende geführt zu haben, als Nathan sich unwirsch erhob. Sie wollte es ihm gleichtun, aus Angst er könne sie in dieser fremden Stadt zurücklassen, da schob er sich neben sie auf die Sitzbank, drängte sich regelrecht gegen sie, legte ihr einen Arm um die Schulter und hielt sie gefangen, indem er die andere Hand um sein Handgelenk schloss, das über ihre Schulter baumelte. Für Außenstehende mussten sie wie ein verliebtes Pärchen aussehen, doch Max fühlte sich schrecklich unwohl in dieser Position. Sie spürte seine Wange, die gegen ihren Kopf drückte und seinen Atem, der ihr Ohr streifte. Sie wollte sich aus seinem Griff befreien, spielte mit dem Gedanken nach Hilfe zu rufen, verharrte jedoch in ihren Bewegungen, als sie seine Worte vernahm.
„Rachel ist tot. Ich weiß das, weil...ich sie habe sterben sehen. Ich habe sie...“
Seine Stimme brach und er zitterte, die Knöchel seiner Hand stachen weiß unter der Hand hervor, als er ihr gestand, dass er Rachel Amber getötet hatte.
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