Arcadia Bay
von Caligula
Kurzbeschreibung
Max will nicht aufgeben, bis sie alles gerichtet hat. Aber ist eine solch perfekte Realität überhaupt möglich?
GeschichteMystery, Freundschaft / P16 / Gen
Chloe Price
Mark Jefferson
Maxine "Max" Caulfield
Nathan Prescott
Rachel Amber
12.08.2017
18.12.2020
22
63.991
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16.08.2017
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Kapitel 3 – Welcome to the Vortexclub
Die dröhnende Musik und das Flackern der bunten Lichter in dem kaum beleuchteten Raum ließen Max erschrocken zusammenfahren. Sie brauchte nicht lange, um zu realisieren, dass sie es tatsächlich geschafft hatte. Sie war auf der Vortexclub-Party und es konnte sich nur um die vom vierten Oktober handeln. Als sie an sich hinabsah, bemerkte sie, dass sie ein dunkles, knappes Kleid trug. Ihre nackten Knie waren ihr unangenehm; vor allem angesichts ihrer Gesellschaft, der sie sich im nächsten Moment bewusst wurde. Hayden saß auf einem Sofa ihr gegenüber, in einer wilden Knutscherei mit einem Mädchen vertieft, das Max nicht kannte. Auf dem Tisch zwischen ihnen standen allerhand Flaschen, Becher und eine einzelne Pille lag dort. Ein Becher war umgefallen und ausgelaufen. Es war kein schöner Anblick. Dann fiel ihr plötzlich wieder ein, dass sie den Urheber des Films hatte identifizieren wollen, doch er war schon wieder verschwunden.
„Der DJ ist echt der Hammer!“, lallte Taylor neben ihr in ihr Ohr. Ihr Atem stank nach Alkohol und Max wurde bewusst, dass sie selbst schon nicht mehr ganz nüchtern war. Zumindest war sie noch in einer besseren Verfassung als Taylor. Vorsichtig erhob sie sich, von Hayden und seiner Freundin unbemerkt. „Wohin?“, wollte Taylor wissen. Max nuschelte etwas von der Toilette und machte sich auf die Suche nach Kate.
In dem schlechten Licht war es schwer, überhaupt irgendjemanden zu erkennen, aber zum Glück hatte Max gewisse Anhaltspunkte. So konnte sie zum Beispiel mit Sicherheit sagen, dass Kate nicht allein war und die Aufmerksamkeit einiger neugieriger Schaulustiger auf sich zog. „Oh Gott, Kate...“, murmelte Max bedauernd. „Hoffentlich erspare ich dir einen Großteil der Schande...“ Ihre Selbstgespräche fielen unter den besoffenen Jugendlichen überhaupt nicht auf. Niemand scherte sich um sie.
Dann entdeckte sie die johlende Menschentraube vor einer weiteren Sitzecke. Ein breitschultriger Junge, den Max nur vom sehen kannte, hatte sich die kleine Kate auf den Schoß gesetzt und steckte ihr die Zunge in den Hals, während er sie grob befummelte. Kate erwiderte den Kuss mit einer geradezu verzweifelten Leidenschaft und störte sich nicht im Geringsten an den unruhigen Händen auf ihrem Körper. Es schien fast, als genieße sie es. Der Anblick trieb Max die Galle hoch. Ebenso wie die Leute, die das Geschehen belustigt beobachteten. In der Menge konnte sie auch endlich den Kameramann ausmachen. Es war Nathan.
Panisch überlegte Max, wie sie Kate aus ihrer Lage befreien konnte, als der Junge, mit dem sie knutschte, ihre Schenkel auseinander drückte und seine Hand unter ihren Rock gleiten ließ. Als Kate aufstöhnte, wurde es Max zu viel. Sie musste sofort eingreifen.
Ohne einen konkreten Plan schob sie sich an den Gaffern vorbei, trat an Kates Seite und zog sie von dem Jungen herunter, der zu perplex war, um sie festzuhalten. Kate musste sich an Max festhalten, um nicht zu stürzen und Max konnte ihr Gewicht deutlich spüren. Außerdem spürte sie eine Hand, die ihre Wange streichelte und im nächsten Moment drückte die Kleinere ihr die Lippen auf den Mund.
Die Zuschauer waren begeistert. „Heiße Lesben-Action!“, brüllte einer und Nathan hielt die Kamera drauf. Nur mit Mühe und Not konnte Max sich von der ungewöhnlich anhänglichen Kate befreien.
„Gehen wir, Kate“, sagte sie gegen den Lärm, auch wenn sie sicher war, dass Kate ihre Worte kaum verstand. Sie warf sich Kates Arm über die Schulter und bugsierte sie, die enttäuschten Rufe der anderen ignorierend, durch die als Partylocation missbrauchte Schwimmhalle, durch die Umkleide der Mädchen und schließlich nach draußen in die kühle Nachtluft.
Unsägliche Erleichterung machte sich in ihr breit, sobald sie die stickige Halle verlassen hatte. Kaum zu glauben, dass Max Caulfield sich vor wenigen Minuten noch auf dieser Party amüsiert hatte... „Gehen wir“, sagte sie und setzte ihren Weg über das Gelände zum Wohnheim fort.
„Max! Warte!“, wurde sie plötzlich von einer männlichen Stimme aufgehalten. Nathan. Unbeirrt setzte Max weiter einen Fuß vor den anderen. „Max! Was soll denn das? Was hast du vor?“, wollte Nathan wissen, der erschreckend nüchtern klang. Im Zweifelsfall würde sie keine Chance haben, ihn zu überwältigen.
„Ich bringe Kate auf ihr Zimmer“, beantwortete Max seine Frage schließlich kalt.
„Warum? Sie hatte viel Spaß auf der Party“, meinte Nathan grinsend. Inzwischen hatte er die beiden Mädchen eingeholt.
„Nein, die anderen hatten ihren Spaß. Kate weiß nicht, was sie tut. Dieser Spaß auf ihre Kosten geht eindeutig zu weit.“
„Was ist bloß los mit dir, seit wann bist du so eine Spaßbremse?“
„Das ist kein Spaß mehr!“, fuhr Max Nathan an. „Ist dir überhaupt bewusst, was du Kate mit dieser ganzen Geschichte antust? Nein, natürlich ist dir das nicht bewusst. Aber wenn sie sich erst mal vom Dach gestürzt hat, ist die Reue groß“, spie sie verächtlich und ging weiter.
„Du redest wirres Zeug; wegen so einer Lappalie bringt sich doch keiner um, auch nicht unsere Mutter Oberin“, wehrte Nathan unbeeindruckt ab und am liebsten hätte Max ihm eine verpasst.
„Du hast keine Ahnung, Nathan. Lass sie einfach in Ruhe.“
„Ich verstehe dich nicht, Max. Wer hätte gedacht, dass du so ein Langweiler bist.“ Sauer und enttäuscht drehte er sich um und war schon im Begriff, zurück zur Party zu gehen. Damit war Kate vor seinem Übergriff sicher, aber nicht vor der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, die das verdammte Video in ihr säen würden. Vorsichtig setzte sie Kate auf dem Rasen des Hofs ab und beschwor sie, sich nicht von der Stelle zu rühren und auf sie zu warten. Dann hastete sie Nathan hinterher.
„Nathan!“, hielt sie ihn auf und er drehte sich überrascht zu ihr um.
„Was willst du noch?“, fragte er genervt.
„Da ist noch eine Sache...“ Schneller als er reagieren konnte, riss sie ihm die Kamera aus den Händen und warf sie so weit sie konnte von sich. Wusste man nicht, wo sie war, würde man sie in der nächtlichen Dunkelheit nicht ausfindig machen. Im angetrunkenen Zustand erst recht nicht.
„Hast du sie noch alle?!“, brüllte Nathan sie an und hob schon den Arm, um zuzuschlagen. Doch Max war schneller. Sie spulte die Zeit wenige Sekunden zurück und konnte beobachten, wie Nathan trotzig zurück zur Party ging. Sie sammelte die Kamera auf, schnappte sich Kate und brachte sie endlich auf ihr Zimmer.
Irgendwann am Vormittag kam wieder Leben in Kate, als sie stöhnend aus ihrem Tiefschlaf erwachte. Max, die am Schreibtisch saß, drehte sich zu ihr um und sah, wie Kate, sich den sicherlich dröhnenden Schädel hielt, während die sich vorsichtig aufsetzte. „Wo... wo bin ich?“, fragte sie und sah sich in dem fremden Zimmer um, bis ihr Blick an Max haften blieb. Diese hatte sich erhoben und blieb vor der zurecht verwirrten Kate stehen.
„Hi, Kate“, begann sie mit einem sanften Lächeln. Noch immer konnte sie kaum glauben, dass sie das Unglück, all die Schmach von der lieben Kate hatte abwenden können. „Ich bin so froh, dich zu sehen.“
„Max? Was mache ich in deinem Zimmer?“
Langsam ließ Max sich neben ihr auf dem Bett nieder, darauf bedacht, etwas Abstand zwischen ihnen zu lassen. Immerhin waren sie in dieser Realität keine Freunde und sicherlich hatte sie sich Kate gegenüber nicht besonders nett verhalten. „Kannst du dich noch an den gestrigen Abend erinnern?“, wollte sie wissen.
„Gestern?“ Kate überlegte; versuchte den Abend zu rekonstruieren und sich zu erschließen, warum Max sie danach fragen sollte. „Ich bin zu der Vortexclub-Party gegangen“, begann sie mit nachdenklich zusammengekniffenen Augen. „Ich dachte, es wäre eine gute Gelegenheit, ein paar neue Bekanntschaften zu schließen. Ich bin nicht hingegangen, um... zu trinken“, stellte sie schnell klar. „Ich hab nur ein Glas Wein getrunken. Alle waren so nett zu mir...“ Sie stockte und betrachtete mit fragender Miene ihre Hände, die verkrampft auf ihren Oberschenkeln lagen. Dann blickte sie erschrocken zu Max auf. „Ich... ich kann mich nicht mehr erinnern... Ich kann mich an den Rest des Abends nicht mehr erinnern...“
„Es ist okay“, beruhigte Max sie und legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter. „Ich kann dir genau sagen, was passiert ist.“ Kate sah sie verstört und immer noch etwas orientierungslos an. „Nathan hat dir was in dein Getränk gemischt. Du warst... komplett hinüber. Du wusstest nicht mehr was du tust. Du hast die Kontrolle verloren.“
Fassungslos hob Kate eine Hand an den Mund. „Ist das wahr?“
„Ich schätze, ich habe dir keinen Grund gegeben, mir zu vertrauen...“, sagte Max zähneknirschend. „Aber glaub mir, Kate, ich bin auf deiner Seite. Ich will dir helfen. Deshalb habe ich dich gestern von der Party begleitet, ehe die Situation eskalieren konnte. Dir ist nichts passiert. Du warst die ganze Nacht in meinem Zimmer und hast geschlafen.“
„Max, ich... ich weiß gar nicht, was ich sagen soll...“
„Du brauchst nichts sagen. Halt dich einfach vom Vortexclub und im Speziellen von Nathan Prescott fern.“
„Warum sagst du so etwas?“, wollte Kate verwirrt wissen. „Du bist doch Teil des Vortexclubs und mit Nathan befreundet.“
Max stieß einen tiefen Seufzer aus. „Das ist eine lange Geschichte... Aber Nathan ist gefährlich.“
„Wie meinst du das?“
„Ich kann dir nicht mehr sagen. Du musst nur wissen, dass ich mich um dich sorge, Kate. Und immer ein wachsames Auge auf dich haben werde.“ Sie lächelte ihr zuversichtlichstes Lächeln und hoffte, dass Kate die Aufrichtigkeit ihrer Worte erkannte. Sie vermisste ihre wöchentlichen Treffen zum Tee und ihre Gespräche jetzt schon. Hoffentlich war auch in dieser Realität eine Freundschaft mit ihr möglich.
„Danke, Max“, sagte Kate nach einer Weile des Schweigens. „Ich verstehe nicht alles, was du sagst, aber du hast mir geholfen. Und dafür danke ich dir.“
„Du glaubst gar nicht, wie dankbar ich bin“, seufzte Max.
Kate räusperte sich. „Ich sollte gehen“, erklärte sie unsicher und erhob sich. An der Tür drehte sie sich noch einmal um. „Danke, Max.“ Mit einem schüchternen Lächeln verließ sie das Zimmer. Glücklich und erleichtert ließ Max sich auf den Rücken fallen. Sie hatte es geschafft. Kate war gerettet. Jetzt galt es endlich dem Geheimnis um Rachel Amber auf den Grund zu gehen.
Es war kein leichtes Unterfangen, ein Treffen mit Chloe zu arrangieren, denn die sah in Max wieder die verwöhnte kleine Bitch, zu der sie sich offensichtlich in den letzten Jahren entwickelt hatte. Aber nachdem sie es nunmehr zweimal geschafft hatte, Chloe von ihren Kräften zu überzeugen, war sie zuversichtlich, dass es ihr auch ein weiteres Mal gelingen würde. Sie bombardierte die Freundin mit Nachrichten, während sie sich in ihrem Zimmer einschloss und die Nachrichten von ihren sogenannten Freunden rigoros ignorierte. Sie war offensichtlich ziemlich gefragt in dieser Realität und gerade Nathan zeigte sich sehr hartnäckig und schließlich aggressiv. Es gefiel ihm absolut nicht, dass sie ihm die Tour vermasselt hatte. Hoffentlich würde er sich in Zukunft von Kate fernhalten. Es wurde Zeit, dass sie ihn endlich aufhielten.
Chloe reagierte nicht auf ihre Nachrichten und so beschloss Max am frühen Abend, sie direkt zu konfrontieren. Sie schulterte ihre Umhängetasche, die mit ihrer alten sowie Nathans Kamera und der Zeitung vom neunten Oktober ausgestattet war, und machte sich auf den Weg.
Der Hof des Schulgebäudes lag verlassen da und Max hastete eilig die Stufen zur Straße runter, um nicht noch von dem übereifrigen David Madsen erwischt zu werden, als sie stattdessen in Nathan und Mr Jefferson rein lief, die sich in dieser entlegenen Ecke zu streiten schienen. Sie verstummten abrupt, als sie Max erblickten.
„Hey, Max“, wandte sich Mr Jefferson an seine Schülerin. „Was machst du um diese Uhrzeit noch hier?“ Er klang nicht wütend, eher besorgt.
„Ich...“, stammelte Max überfordert. Ihr wollte keine gescheite Ausrede einfallen. „Ich wollte mir noch etwas die Beine vertreten“, log sie schließlich.
„Du solltest nicht alleine durch die Straßen laufen. Bedenke, dass ein Mädchen deines Alters vermisst wird und immer noch keiner sagen kann, was mit ihr passiert ist.“
Max horchte augenblicklich auf. Ein Mädchen wurde vermisst? Etwa Rachel Amber? Nein, das war unmöglich. Sie hatte mit Rachel gesprochen. Sie würde noch mit ihr sprechen, in wenigen Tagen.
Nathan beobachtete sie bloß stumm und es war unmöglich zu sagen, was in seinem Kopf vorging.
„Ich weiß“, sagte Max zögernd. „Ich passe auf mich auf, Mr Jefferson. Versprochen.“
Der Lehrer lächelte. „Ich wäre untröstlich, wenn einem meiner besten Schüler etwas zustoßen sollte.“
„Ich beeile mich, in Ordnung? Einen schönen Abend noch.“
Sie ließ die beiden Männer stehen und entfernte sich eiligen Schrittes, gleichzeitig darum bemüht, nicht zu gehetzt zu wirken. Ein Mädchen war verschwunden. Auch in dieser Realität. Aber es konnte sich dabei unmöglich um Rachel Amber handeln. Wer war stattdessen das Opfer? Jemand, den Max kannte? Dana? Juliet? Brooke? Jetzt, wo sie darüber nachdachte, hatte sie keinen von ihnen gesehen. Auch auf der Party waren sie ihr nicht aufgefallen. Ebenso wenig wie Rachel.
Hastig zog sie ihr Handy aus der Tasche und checkte das soziale Netzwerk. Wenn sie im Vortexclub war, war sie doch sicherlich mit Rachel befreundet. Tatsächlich fand sie sie in ihrer Freundesliste – doch ein Blick auf ihr Profil war ernüchternd. Wir vermissen dich, Rachel. Ich denke an dich. Komm zurück. Seit einem halben Jahr war sie inaktiv.
„Wie kann das sein? Ich habe sie gesehen“, flüsterte Max fassungslos. „Was geht hier bloß vor sich...?“
Ohne Ankündigung auf der Türschwelle der Prices aufzutauchen, schien Max die sicherste Methode, mit Chloe in Kontakt zu kommen. Zwar wusste sie, dass sie sich am Mittwochnachmittag auf dem Gelände der Blackwell aufhalten würde, aber sie wollte keinen Tag länger auf ihre Freundin warten. Sie war es leid, Chloe immer und immer wieder im Stich zu lassen.
Es war William, der ihr die Tür öffnete und ihn nach all der Zeit wiederzusehen, ließ Max' Herz einen Schlag aussetzen. Unwillkürlich sammelten sich Tränen in ihren Augen und sie musste sich zusammenreissen, nicht laut loszuschluchzen.
„Max Caulfield“, begann William mit einem Lächeln auf den Lippen. „Wir dachten schon, wir würden dich nie wieder sehen. Mensch, was bist du groß geworden.“ Bevor er weitersprechen konnte, hatte Max sich in seine Arme geworfen. Sie musste ihn fühlen, als bestünde die Gefahr, dass der Mann vor ihr nur Einbildung war. Aber er war real. Lachend tätschelte er ihren Rücken, ehe er sie wieder sanft von sich schob. „William, es tut so gut dich wiederzusehen“, brachte Max schließlich hervor und wischte sich die Tränen von den Wangen.
„Es ist auch schön dich wiederzusehen“, gab William zurück und strich ihr kurz über die Wangen. Dann ging er einen Schritt zurück ins Haus. „Komm, Chloe wird Augen machen.“
Sie folgte ihm die Treppe hinauf in den oberen Stock, wo Chloes Zimmer lag, aus dem laute Rockmusik dröhnte. Mit einem entschuldigenden Lächeln klopfte er an die Tür. „Chloe! Du hast Besuch!“
Augenblicklich wurde die Musik runter gedreht und Max kam nicht umhin sich vorzustellen, wie Chloe einfach keine Reaktion gezeigt hätte, wenn David an ihre Tür geklopft hätte. Es tat gut zu wissen, dass Chloe in diesem Universum nicht alles und jeden von sich stieß. Kurz darauf öffnete sich die Tür auch schon und wie William es vorausgesagt hatte, fielen Chloe vor Schock fast die Augen aus dem Kopf. Unsicher hielt sich Max den linken Unterarm und trat nervös von einem auf den anderen Fuß, während ihre beste Freundin sie prüfend musterte. Als sie dann noch die Arme vor der Brust verschränkte, wurde auch William klar, dass etwaigen freudigen Umarmungen ein ernstes Gespräch vorangehen würde.
Er räusperte sich. „Ich lasse euch dann mal allein. Sicher habt ihr euch viel zu erzählen...“ Mit einem wissenden Grinsen zog er sich rückwärts bis zur Treppe zurück und verschwand hinunter ins Erdgeschoss. Als Max sich wieder zu Chloe umdrehte, hatte die ihr schon den Rücken gekehrt und war ins Zimmer zurückgegangen.
„Ich hab dir nichts zu sagen“, gab sie patzig von sich. Seufzend folgte Max ihr und schloss die Tür hinter sich. „Ich wusste, dass du in der Stadt bist; machst jetzt Fotografie an der Blackwell. Ironie des Schicksals, was? Du wolltest unbedingt aus dem Kaff hier raus und dann ist es die Fotografie, die dich ausgerechnet hierher zurückbringt. Wie auch immer, ich habe nicht damit gerechnet, dass du hier aufkreuzen würdest. Den Mumm hätte ich dir nicht zugetraut.“ Erst jetzt drehte sie sich zu der Jüngeren um und betrachtete sie mit gerunzelter Stirn. „Nur zu, Max. Ich bin schon gespannt auf das was du zu sagen hast. Nachdem du mich fünf Jahre mit dem Arsch nicht mehr angesehen hast, ist dir auf einmal wieder an unserer Freundschaft gelegen? Warum? Hast du keine Freunde an deiner tollen Blackwell? Bist du allein? Ist nicht schön, hm? Glaub mir, ich weiß wovon ich rede.“
„Aber du bist nicht allein geblieben“, sagte Max ruhig. „Du hast Rachel gefunden.“
Chloe verharrte in ihren Bewegungen und betrachtete Max aus ungläubigen Augen, während sie sich zu fragen schien, woher Max von Rachel wusste. Letztendlich schien es für sie aber keine Rolle zu spielen. „Ich bin über dich hinweggekommen, ja. Ob du es glaubst oder nicht, durch dein Verschwinden ist nicht die Zeit stehen geblieben und die Welt nicht untergegangen.“
„Aber etwas ist mit der Zeit passiert“, erwiderte Max besorgt. Der Gedanke an all die Geschehnisse und ihre eigene Unwissenheit in Bezug darauf machte ihr regelrecht Angst. „Und die Welt droht unterzugehen.“
Chloe starrte sie an, als hätte Max nicht mehr alle Tassen im Schrank, dabei hatte sie noch nicht mal richtig losgelegt. „Was redest du für wirres Zeug? Bist du high?“
Entschieden schüttelte Max den Kopf und trat noch einen Schritt vor, jedoch darauf bedacht genug Abstand zwischen sich und der Freundin zu lassen. „Ich kam zurück nach Arcadia Bay um die Blackwell zu besuchen. Dann hatte ich eines Tages mitten im Unterricht eine Vision wie ein Tornado die ganze Stadt zerstört. Kurz darauf wurde ich Zeuge wie du auf der Mädchentoilette erschossen wurdest. Doch ich konnte es rückgängig machen. Plötzlich besaß ich diese Fähigkeit; die Fähigkeit, die Zeit zurückzudrehen. So verhinderte ich, dass du erschossen wirst. Ich wollte diese Fähigkeit einsetzen um noch jemandes Tod ungeschehen zu machen. Dafür musste ich fünf Jahre in die Vergangenheit reisen. Als ich wieder zu mir gekommen bin, war ich wieder in Blackwell. Die Person, die ich hatte retten wollen, lebte, aber dafür hatte sich eine Mitschülerin vom Dach der Schule gestürzt. Auch das wollte ich verhindern. Jetzt bin ich hier und alle leben.“ Sie ratterte die Geschichte ohne Punkt und Komma runter und ließ sich von Chloes skeptischer Miene nicht aus dem Konzept bringen. Natürlich konnte sie es nicht glauben; Max hätte diese Geschichte auch niemandem abgekauft. „Deine Frage ob ich high bin, ist berechtigt. Aber ich schwöre dir, Chloe, alles was ich sage, ist wahr. Es ist vollkommen verrückt, aber wahr.“
„Du behauptest du könntest die Zeit zurückdrehen.“
Max zog die Tageszeitung, die sie im Two Whales hatte mitgehen lassen, aus ihrer Umhängetasche und hielt sie Chloe hin. Zögerlich nahm sie die Zeitung entgegen und warf einen fragenden Blick darauf. Nach den schockierenden Schlagzeilen über all die seltsamen Phänomene, die sich in der Küstenstadt ereigneten, blieb ihr Blick am Datum der Ausgabe hängen. „Hast du die gemacht?“, wollte sie skeptisch wissen.
„Nein“, wehrte Max ab. „Das ist die Zeitung von nächster Woche. Ich war dort, Chloe. Aber als ich erfahren habe, dass Kate Marsh sich vom Schuldach gestürzt hat, bin ich zurückgereist. Gestern Nacht habe ich sie vor dem schlimmsten Fehler ihres Lebens bewahrt, damit das dort nicht Realität wird.“ Sie nickte zur Zeitung.
„Erwartest du, dass ich diesen Schwachsinn glaube?“
„Natürlich nicht, ich mach das nicht zum ersten Mal“, gab Max seufzend zurück.
Doch die Zeitung in Kombination mit einer Demonstration von Max' Kräften, konnten Chloe schließlich überzeugen. Wie immer. Das Prozedere wurde zu einer lästigen Routine und Max betete inständig, dass es diesmal endgültig war.
Fassungslos ließ Chloe sich aufs Bett plumpsen. „Nach fünf Jahren taucht meine beste Freundin wieder bei mir auf... um mir zu sagen, dass sie ein fucking Zeitreisender ist?!“
Die dröhnende Musik und das Flackern der bunten Lichter in dem kaum beleuchteten Raum ließen Max erschrocken zusammenfahren. Sie brauchte nicht lange, um zu realisieren, dass sie es tatsächlich geschafft hatte. Sie war auf der Vortexclub-Party und es konnte sich nur um die vom vierten Oktober handeln. Als sie an sich hinabsah, bemerkte sie, dass sie ein dunkles, knappes Kleid trug. Ihre nackten Knie waren ihr unangenehm; vor allem angesichts ihrer Gesellschaft, der sie sich im nächsten Moment bewusst wurde. Hayden saß auf einem Sofa ihr gegenüber, in einer wilden Knutscherei mit einem Mädchen vertieft, das Max nicht kannte. Auf dem Tisch zwischen ihnen standen allerhand Flaschen, Becher und eine einzelne Pille lag dort. Ein Becher war umgefallen und ausgelaufen. Es war kein schöner Anblick. Dann fiel ihr plötzlich wieder ein, dass sie den Urheber des Films hatte identifizieren wollen, doch er war schon wieder verschwunden.
„Der DJ ist echt der Hammer!“, lallte Taylor neben ihr in ihr Ohr. Ihr Atem stank nach Alkohol und Max wurde bewusst, dass sie selbst schon nicht mehr ganz nüchtern war. Zumindest war sie noch in einer besseren Verfassung als Taylor. Vorsichtig erhob sie sich, von Hayden und seiner Freundin unbemerkt. „Wohin?“, wollte Taylor wissen. Max nuschelte etwas von der Toilette und machte sich auf die Suche nach Kate.
In dem schlechten Licht war es schwer, überhaupt irgendjemanden zu erkennen, aber zum Glück hatte Max gewisse Anhaltspunkte. So konnte sie zum Beispiel mit Sicherheit sagen, dass Kate nicht allein war und die Aufmerksamkeit einiger neugieriger Schaulustiger auf sich zog. „Oh Gott, Kate...“, murmelte Max bedauernd. „Hoffentlich erspare ich dir einen Großteil der Schande...“ Ihre Selbstgespräche fielen unter den besoffenen Jugendlichen überhaupt nicht auf. Niemand scherte sich um sie.
Dann entdeckte sie die johlende Menschentraube vor einer weiteren Sitzecke. Ein breitschultriger Junge, den Max nur vom sehen kannte, hatte sich die kleine Kate auf den Schoß gesetzt und steckte ihr die Zunge in den Hals, während er sie grob befummelte. Kate erwiderte den Kuss mit einer geradezu verzweifelten Leidenschaft und störte sich nicht im Geringsten an den unruhigen Händen auf ihrem Körper. Es schien fast, als genieße sie es. Der Anblick trieb Max die Galle hoch. Ebenso wie die Leute, die das Geschehen belustigt beobachteten. In der Menge konnte sie auch endlich den Kameramann ausmachen. Es war Nathan.
Panisch überlegte Max, wie sie Kate aus ihrer Lage befreien konnte, als der Junge, mit dem sie knutschte, ihre Schenkel auseinander drückte und seine Hand unter ihren Rock gleiten ließ. Als Kate aufstöhnte, wurde es Max zu viel. Sie musste sofort eingreifen.
Ohne einen konkreten Plan schob sie sich an den Gaffern vorbei, trat an Kates Seite und zog sie von dem Jungen herunter, der zu perplex war, um sie festzuhalten. Kate musste sich an Max festhalten, um nicht zu stürzen und Max konnte ihr Gewicht deutlich spüren. Außerdem spürte sie eine Hand, die ihre Wange streichelte und im nächsten Moment drückte die Kleinere ihr die Lippen auf den Mund.
Die Zuschauer waren begeistert. „Heiße Lesben-Action!“, brüllte einer und Nathan hielt die Kamera drauf. Nur mit Mühe und Not konnte Max sich von der ungewöhnlich anhänglichen Kate befreien.
„Gehen wir, Kate“, sagte sie gegen den Lärm, auch wenn sie sicher war, dass Kate ihre Worte kaum verstand. Sie warf sich Kates Arm über die Schulter und bugsierte sie, die enttäuschten Rufe der anderen ignorierend, durch die als Partylocation missbrauchte Schwimmhalle, durch die Umkleide der Mädchen und schließlich nach draußen in die kühle Nachtluft.
Unsägliche Erleichterung machte sich in ihr breit, sobald sie die stickige Halle verlassen hatte. Kaum zu glauben, dass Max Caulfield sich vor wenigen Minuten noch auf dieser Party amüsiert hatte... „Gehen wir“, sagte sie und setzte ihren Weg über das Gelände zum Wohnheim fort.
„Max! Warte!“, wurde sie plötzlich von einer männlichen Stimme aufgehalten. Nathan. Unbeirrt setzte Max weiter einen Fuß vor den anderen. „Max! Was soll denn das? Was hast du vor?“, wollte Nathan wissen, der erschreckend nüchtern klang. Im Zweifelsfall würde sie keine Chance haben, ihn zu überwältigen.
„Ich bringe Kate auf ihr Zimmer“, beantwortete Max seine Frage schließlich kalt.
„Warum? Sie hatte viel Spaß auf der Party“, meinte Nathan grinsend. Inzwischen hatte er die beiden Mädchen eingeholt.
„Nein, die anderen hatten ihren Spaß. Kate weiß nicht, was sie tut. Dieser Spaß auf ihre Kosten geht eindeutig zu weit.“
„Was ist bloß los mit dir, seit wann bist du so eine Spaßbremse?“
„Das ist kein Spaß mehr!“, fuhr Max Nathan an. „Ist dir überhaupt bewusst, was du Kate mit dieser ganzen Geschichte antust? Nein, natürlich ist dir das nicht bewusst. Aber wenn sie sich erst mal vom Dach gestürzt hat, ist die Reue groß“, spie sie verächtlich und ging weiter.
„Du redest wirres Zeug; wegen so einer Lappalie bringt sich doch keiner um, auch nicht unsere Mutter Oberin“, wehrte Nathan unbeeindruckt ab und am liebsten hätte Max ihm eine verpasst.
„Du hast keine Ahnung, Nathan. Lass sie einfach in Ruhe.“
„Ich verstehe dich nicht, Max. Wer hätte gedacht, dass du so ein Langweiler bist.“ Sauer und enttäuscht drehte er sich um und war schon im Begriff, zurück zur Party zu gehen. Damit war Kate vor seinem Übergriff sicher, aber nicht vor der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, die das verdammte Video in ihr säen würden. Vorsichtig setzte sie Kate auf dem Rasen des Hofs ab und beschwor sie, sich nicht von der Stelle zu rühren und auf sie zu warten. Dann hastete sie Nathan hinterher.
„Nathan!“, hielt sie ihn auf und er drehte sich überrascht zu ihr um.
„Was willst du noch?“, fragte er genervt.
„Da ist noch eine Sache...“ Schneller als er reagieren konnte, riss sie ihm die Kamera aus den Händen und warf sie so weit sie konnte von sich. Wusste man nicht, wo sie war, würde man sie in der nächtlichen Dunkelheit nicht ausfindig machen. Im angetrunkenen Zustand erst recht nicht.
„Hast du sie noch alle?!“, brüllte Nathan sie an und hob schon den Arm, um zuzuschlagen. Doch Max war schneller. Sie spulte die Zeit wenige Sekunden zurück und konnte beobachten, wie Nathan trotzig zurück zur Party ging. Sie sammelte die Kamera auf, schnappte sich Kate und brachte sie endlich auf ihr Zimmer.
Irgendwann am Vormittag kam wieder Leben in Kate, als sie stöhnend aus ihrem Tiefschlaf erwachte. Max, die am Schreibtisch saß, drehte sich zu ihr um und sah, wie Kate, sich den sicherlich dröhnenden Schädel hielt, während die sich vorsichtig aufsetzte. „Wo... wo bin ich?“, fragte sie und sah sich in dem fremden Zimmer um, bis ihr Blick an Max haften blieb. Diese hatte sich erhoben und blieb vor der zurecht verwirrten Kate stehen.
„Hi, Kate“, begann sie mit einem sanften Lächeln. Noch immer konnte sie kaum glauben, dass sie das Unglück, all die Schmach von der lieben Kate hatte abwenden können. „Ich bin so froh, dich zu sehen.“
„Max? Was mache ich in deinem Zimmer?“
Langsam ließ Max sich neben ihr auf dem Bett nieder, darauf bedacht, etwas Abstand zwischen ihnen zu lassen. Immerhin waren sie in dieser Realität keine Freunde und sicherlich hatte sie sich Kate gegenüber nicht besonders nett verhalten. „Kannst du dich noch an den gestrigen Abend erinnern?“, wollte sie wissen.
„Gestern?“ Kate überlegte; versuchte den Abend zu rekonstruieren und sich zu erschließen, warum Max sie danach fragen sollte. „Ich bin zu der Vortexclub-Party gegangen“, begann sie mit nachdenklich zusammengekniffenen Augen. „Ich dachte, es wäre eine gute Gelegenheit, ein paar neue Bekanntschaften zu schließen. Ich bin nicht hingegangen, um... zu trinken“, stellte sie schnell klar. „Ich hab nur ein Glas Wein getrunken. Alle waren so nett zu mir...“ Sie stockte und betrachtete mit fragender Miene ihre Hände, die verkrampft auf ihren Oberschenkeln lagen. Dann blickte sie erschrocken zu Max auf. „Ich... ich kann mich nicht mehr erinnern... Ich kann mich an den Rest des Abends nicht mehr erinnern...“
„Es ist okay“, beruhigte Max sie und legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter. „Ich kann dir genau sagen, was passiert ist.“ Kate sah sie verstört und immer noch etwas orientierungslos an. „Nathan hat dir was in dein Getränk gemischt. Du warst... komplett hinüber. Du wusstest nicht mehr was du tust. Du hast die Kontrolle verloren.“
Fassungslos hob Kate eine Hand an den Mund. „Ist das wahr?“
„Ich schätze, ich habe dir keinen Grund gegeben, mir zu vertrauen...“, sagte Max zähneknirschend. „Aber glaub mir, Kate, ich bin auf deiner Seite. Ich will dir helfen. Deshalb habe ich dich gestern von der Party begleitet, ehe die Situation eskalieren konnte. Dir ist nichts passiert. Du warst die ganze Nacht in meinem Zimmer und hast geschlafen.“
„Max, ich... ich weiß gar nicht, was ich sagen soll...“
„Du brauchst nichts sagen. Halt dich einfach vom Vortexclub und im Speziellen von Nathan Prescott fern.“
„Warum sagst du so etwas?“, wollte Kate verwirrt wissen. „Du bist doch Teil des Vortexclubs und mit Nathan befreundet.“
Max stieß einen tiefen Seufzer aus. „Das ist eine lange Geschichte... Aber Nathan ist gefährlich.“
„Wie meinst du das?“
„Ich kann dir nicht mehr sagen. Du musst nur wissen, dass ich mich um dich sorge, Kate. Und immer ein wachsames Auge auf dich haben werde.“ Sie lächelte ihr zuversichtlichstes Lächeln und hoffte, dass Kate die Aufrichtigkeit ihrer Worte erkannte. Sie vermisste ihre wöchentlichen Treffen zum Tee und ihre Gespräche jetzt schon. Hoffentlich war auch in dieser Realität eine Freundschaft mit ihr möglich.
„Danke, Max“, sagte Kate nach einer Weile des Schweigens. „Ich verstehe nicht alles, was du sagst, aber du hast mir geholfen. Und dafür danke ich dir.“
„Du glaubst gar nicht, wie dankbar ich bin“, seufzte Max.
Kate räusperte sich. „Ich sollte gehen“, erklärte sie unsicher und erhob sich. An der Tür drehte sie sich noch einmal um. „Danke, Max.“ Mit einem schüchternen Lächeln verließ sie das Zimmer. Glücklich und erleichtert ließ Max sich auf den Rücken fallen. Sie hatte es geschafft. Kate war gerettet. Jetzt galt es endlich dem Geheimnis um Rachel Amber auf den Grund zu gehen.
Es war kein leichtes Unterfangen, ein Treffen mit Chloe zu arrangieren, denn die sah in Max wieder die verwöhnte kleine Bitch, zu der sie sich offensichtlich in den letzten Jahren entwickelt hatte. Aber nachdem sie es nunmehr zweimal geschafft hatte, Chloe von ihren Kräften zu überzeugen, war sie zuversichtlich, dass es ihr auch ein weiteres Mal gelingen würde. Sie bombardierte die Freundin mit Nachrichten, während sie sich in ihrem Zimmer einschloss und die Nachrichten von ihren sogenannten Freunden rigoros ignorierte. Sie war offensichtlich ziemlich gefragt in dieser Realität und gerade Nathan zeigte sich sehr hartnäckig und schließlich aggressiv. Es gefiel ihm absolut nicht, dass sie ihm die Tour vermasselt hatte. Hoffentlich würde er sich in Zukunft von Kate fernhalten. Es wurde Zeit, dass sie ihn endlich aufhielten.
Chloe reagierte nicht auf ihre Nachrichten und so beschloss Max am frühen Abend, sie direkt zu konfrontieren. Sie schulterte ihre Umhängetasche, die mit ihrer alten sowie Nathans Kamera und der Zeitung vom neunten Oktober ausgestattet war, und machte sich auf den Weg.
Der Hof des Schulgebäudes lag verlassen da und Max hastete eilig die Stufen zur Straße runter, um nicht noch von dem übereifrigen David Madsen erwischt zu werden, als sie stattdessen in Nathan und Mr Jefferson rein lief, die sich in dieser entlegenen Ecke zu streiten schienen. Sie verstummten abrupt, als sie Max erblickten.
„Hey, Max“, wandte sich Mr Jefferson an seine Schülerin. „Was machst du um diese Uhrzeit noch hier?“ Er klang nicht wütend, eher besorgt.
„Ich...“, stammelte Max überfordert. Ihr wollte keine gescheite Ausrede einfallen. „Ich wollte mir noch etwas die Beine vertreten“, log sie schließlich.
„Du solltest nicht alleine durch die Straßen laufen. Bedenke, dass ein Mädchen deines Alters vermisst wird und immer noch keiner sagen kann, was mit ihr passiert ist.“
Max horchte augenblicklich auf. Ein Mädchen wurde vermisst? Etwa Rachel Amber? Nein, das war unmöglich. Sie hatte mit Rachel gesprochen. Sie würde noch mit ihr sprechen, in wenigen Tagen.
Nathan beobachtete sie bloß stumm und es war unmöglich zu sagen, was in seinem Kopf vorging.
„Ich weiß“, sagte Max zögernd. „Ich passe auf mich auf, Mr Jefferson. Versprochen.“
Der Lehrer lächelte. „Ich wäre untröstlich, wenn einem meiner besten Schüler etwas zustoßen sollte.“
„Ich beeile mich, in Ordnung? Einen schönen Abend noch.“
Sie ließ die beiden Männer stehen und entfernte sich eiligen Schrittes, gleichzeitig darum bemüht, nicht zu gehetzt zu wirken. Ein Mädchen war verschwunden. Auch in dieser Realität. Aber es konnte sich dabei unmöglich um Rachel Amber handeln. Wer war stattdessen das Opfer? Jemand, den Max kannte? Dana? Juliet? Brooke? Jetzt, wo sie darüber nachdachte, hatte sie keinen von ihnen gesehen. Auch auf der Party waren sie ihr nicht aufgefallen. Ebenso wenig wie Rachel.
Hastig zog sie ihr Handy aus der Tasche und checkte das soziale Netzwerk. Wenn sie im Vortexclub war, war sie doch sicherlich mit Rachel befreundet. Tatsächlich fand sie sie in ihrer Freundesliste – doch ein Blick auf ihr Profil war ernüchternd. Wir vermissen dich, Rachel. Ich denke an dich. Komm zurück. Seit einem halben Jahr war sie inaktiv.
„Wie kann das sein? Ich habe sie gesehen“, flüsterte Max fassungslos. „Was geht hier bloß vor sich...?“
Ohne Ankündigung auf der Türschwelle der Prices aufzutauchen, schien Max die sicherste Methode, mit Chloe in Kontakt zu kommen. Zwar wusste sie, dass sie sich am Mittwochnachmittag auf dem Gelände der Blackwell aufhalten würde, aber sie wollte keinen Tag länger auf ihre Freundin warten. Sie war es leid, Chloe immer und immer wieder im Stich zu lassen.
Es war William, der ihr die Tür öffnete und ihn nach all der Zeit wiederzusehen, ließ Max' Herz einen Schlag aussetzen. Unwillkürlich sammelten sich Tränen in ihren Augen und sie musste sich zusammenreissen, nicht laut loszuschluchzen.
„Max Caulfield“, begann William mit einem Lächeln auf den Lippen. „Wir dachten schon, wir würden dich nie wieder sehen. Mensch, was bist du groß geworden.“ Bevor er weitersprechen konnte, hatte Max sich in seine Arme geworfen. Sie musste ihn fühlen, als bestünde die Gefahr, dass der Mann vor ihr nur Einbildung war. Aber er war real. Lachend tätschelte er ihren Rücken, ehe er sie wieder sanft von sich schob. „William, es tut so gut dich wiederzusehen“, brachte Max schließlich hervor und wischte sich die Tränen von den Wangen.
„Es ist auch schön dich wiederzusehen“, gab William zurück und strich ihr kurz über die Wangen. Dann ging er einen Schritt zurück ins Haus. „Komm, Chloe wird Augen machen.“
Sie folgte ihm die Treppe hinauf in den oberen Stock, wo Chloes Zimmer lag, aus dem laute Rockmusik dröhnte. Mit einem entschuldigenden Lächeln klopfte er an die Tür. „Chloe! Du hast Besuch!“
Augenblicklich wurde die Musik runter gedreht und Max kam nicht umhin sich vorzustellen, wie Chloe einfach keine Reaktion gezeigt hätte, wenn David an ihre Tür geklopft hätte. Es tat gut zu wissen, dass Chloe in diesem Universum nicht alles und jeden von sich stieß. Kurz darauf öffnete sich die Tür auch schon und wie William es vorausgesagt hatte, fielen Chloe vor Schock fast die Augen aus dem Kopf. Unsicher hielt sich Max den linken Unterarm und trat nervös von einem auf den anderen Fuß, während ihre beste Freundin sie prüfend musterte. Als sie dann noch die Arme vor der Brust verschränkte, wurde auch William klar, dass etwaigen freudigen Umarmungen ein ernstes Gespräch vorangehen würde.
Er räusperte sich. „Ich lasse euch dann mal allein. Sicher habt ihr euch viel zu erzählen...“ Mit einem wissenden Grinsen zog er sich rückwärts bis zur Treppe zurück und verschwand hinunter ins Erdgeschoss. Als Max sich wieder zu Chloe umdrehte, hatte die ihr schon den Rücken gekehrt und war ins Zimmer zurückgegangen.
„Ich hab dir nichts zu sagen“, gab sie patzig von sich. Seufzend folgte Max ihr und schloss die Tür hinter sich. „Ich wusste, dass du in der Stadt bist; machst jetzt Fotografie an der Blackwell. Ironie des Schicksals, was? Du wolltest unbedingt aus dem Kaff hier raus und dann ist es die Fotografie, die dich ausgerechnet hierher zurückbringt. Wie auch immer, ich habe nicht damit gerechnet, dass du hier aufkreuzen würdest. Den Mumm hätte ich dir nicht zugetraut.“ Erst jetzt drehte sie sich zu der Jüngeren um und betrachtete sie mit gerunzelter Stirn. „Nur zu, Max. Ich bin schon gespannt auf das was du zu sagen hast. Nachdem du mich fünf Jahre mit dem Arsch nicht mehr angesehen hast, ist dir auf einmal wieder an unserer Freundschaft gelegen? Warum? Hast du keine Freunde an deiner tollen Blackwell? Bist du allein? Ist nicht schön, hm? Glaub mir, ich weiß wovon ich rede.“
„Aber du bist nicht allein geblieben“, sagte Max ruhig. „Du hast Rachel gefunden.“
Chloe verharrte in ihren Bewegungen und betrachtete Max aus ungläubigen Augen, während sie sich zu fragen schien, woher Max von Rachel wusste. Letztendlich schien es für sie aber keine Rolle zu spielen. „Ich bin über dich hinweggekommen, ja. Ob du es glaubst oder nicht, durch dein Verschwinden ist nicht die Zeit stehen geblieben und die Welt nicht untergegangen.“
„Aber etwas ist mit der Zeit passiert“, erwiderte Max besorgt. Der Gedanke an all die Geschehnisse und ihre eigene Unwissenheit in Bezug darauf machte ihr regelrecht Angst. „Und die Welt droht unterzugehen.“
Chloe starrte sie an, als hätte Max nicht mehr alle Tassen im Schrank, dabei hatte sie noch nicht mal richtig losgelegt. „Was redest du für wirres Zeug? Bist du high?“
Entschieden schüttelte Max den Kopf und trat noch einen Schritt vor, jedoch darauf bedacht genug Abstand zwischen sich und der Freundin zu lassen. „Ich kam zurück nach Arcadia Bay um die Blackwell zu besuchen. Dann hatte ich eines Tages mitten im Unterricht eine Vision wie ein Tornado die ganze Stadt zerstört. Kurz darauf wurde ich Zeuge wie du auf der Mädchentoilette erschossen wurdest. Doch ich konnte es rückgängig machen. Plötzlich besaß ich diese Fähigkeit; die Fähigkeit, die Zeit zurückzudrehen. So verhinderte ich, dass du erschossen wirst. Ich wollte diese Fähigkeit einsetzen um noch jemandes Tod ungeschehen zu machen. Dafür musste ich fünf Jahre in die Vergangenheit reisen. Als ich wieder zu mir gekommen bin, war ich wieder in Blackwell. Die Person, die ich hatte retten wollen, lebte, aber dafür hatte sich eine Mitschülerin vom Dach der Schule gestürzt. Auch das wollte ich verhindern. Jetzt bin ich hier und alle leben.“ Sie ratterte die Geschichte ohne Punkt und Komma runter und ließ sich von Chloes skeptischer Miene nicht aus dem Konzept bringen. Natürlich konnte sie es nicht glauben; Max hätte diese Geschichte auch niemandem abgekauft. „Deine Frage ob ich high bin, ist berechtigt. Aber ich schwöre dir, Chloe, alles was ich sage, ist wahr. Es ist vollkommen verrückt, aber wahr.“
„Du behauptest du könntest die Zeit zurückdrehen.“
Max zog die Tageszeitung, die sie im Two Whales hatte mitgehen lassen, aus ihrer Umhängetasche und hielt sie Chloe hin. Zögerlich nahm sie die Zeitung entgegen und warf einen fragenden Blick darauf. Nach den schockierenden Schlagzeilen über all die seltsamen Phänomene, die sich in der Küstenstadt ereigneten, blieb ihr Blick am Datum der Ausgabe hängen. „Hast du die gemacht?“, wollte sie skeptisch wissen.
„Nein“, wehrte Max ab. „Das ist die Zeitung von nächster Woche. Ich war dort, Chloe. Aber als ich erfahren habe, dass Kate Marsh sich vom Schuldach gestürzt hat, bin ich zurückgereist. Gestern Nacht habe ich sie vor dem schlimmsten Fehler ihres Lebens bewahrt, damit das dort nicht Realität wird.“ Sie nickte zur Zeitung.
„Erwartest du, dass ich diesen Schwachsinn glaube?“
„Natürlich nicht, ich mach das nicht zum ersten Mal“, gab Max seufzend zurück.
Doch die Zeitung in Kombination mit einer Demonstration von Max' Kräften, konnten Chloe schließlich überzeugen. Wie immer. Das Prozedere wurde zu einer lästigen Routine und Max betete inständig, dass es diesmal endgültig war.
Fassungslos ließ Chloe sich aufs Bett plumpsen. „Nach fünf Jahren taucht meine beste Freundin wieder bei mir auf... um mir zu sagen, dass sie ein fucking Zeitreisender ist?!“