Arcadia Bay
von Caligula
Kurzbeschreibung
Max will nicht aufgeben, bis sie alles gerichtet hat. Aber ist eine solch perfekte Realität überhaupt möglich?
GeschichteMystery, Freundschaft / P16 / Gen
Chloe Price
Mark Jefferson
Maxine "Max" Caulfield
Nathan Prescott
Rachel Amber
12.08.2017
18.12.2020
22
63.991
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14.10.2020
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Kapitel 21 – Heimkehr
Ein leichter Wind brachte die Blätter in den vielen umliegenden Bäumen zum Rascheln und trug das Rauschen der Wellen bis zu ihnen hinauf. Nicht einmal die Andeutung eines verheerenden Sturms und doch fröstelte Max nicht bloß aufgrund der niedrigen Temperaturen. Dabei müsste man meinen, all das würde ihr nichts mehr ausmachen; dass ihr nichts mehr Angst einjagen könnte. Doch tatsächlich vermochte Rachel Amber es noch immer.
Chloe, an Max' Seite, und Erinnerungen an glückliche Kindheitstage, an denen sie gemeinsam den beschwerlichen Weg hinauf zum Leuchtturm genommen hatten, gaben Max die nötige Kraft, sich dieser übernatürlicher Macht noch einmal zu stellen. Noch ein letztes Mal. Es musste heute einfach ein Ende finden oder es würde niemals ein Ende finden.
Kurz hielt Max inne, als sie den Hügel erklommen hatten und tatsächlich eine Person neben dem aufragenden Turm ausmachen konnte. Sie stand dort an der Klippe, mit dem Rücken zu ihnen, den Blick aufs scheinbar endlose Meer gerichtet wie eine beliebige Spaziergängerin, doch ihre typische Kleidung und das im Mondlicht glänzende helle Haar ließen keinen Zweifel zu – sie war hier.
„Rachel ...“, flüsterte Chloe erstickt und um sie von vorschnellen Handlungen abzuhalten, griff Max nach ihrer Hand. Gemeinsam näherten sie sich dem mysteriösen Mädchen mit langsamen, vorsichtigen Schritten. Dieses drehte sich nicht zu ihnen um und doch war sich Max sicher, dass sie sich ihrer Anwesenheit längst gewahr war, weshalb sie in einigen Metern Abstand auch darauf wartete, dass Rachel den ersten Schritt machte.
„So friedlich“, durchbrach sie so unerwartet und so leise die Stille, dass Max kurz glaubte, sich ihre Stimme bloß eingebildet zu haben. Langsam drehte Rachel sich zu ihnen um. „So trügerisch friedlich ist diese Stadt.“ Ihre Augen fixierten Max, alleine Max, und ihr Blick war eiskalt. „Doch es gibt keinen Frieden. Dieser Ort wurde aus Blut erschaffen. Keine Seele wird hier je Frieden finden.“
„Was redest du denn da, Rachel?“, wollte Chloe ungeduldig wissen und Max konnte ihren Drang spüren alle Vorsicht fahren zu lassen und den Abstand zu Rachel zu überbrücken. Sie wusste nicht, ob tatsächlich eine unmittelbare Gefahr für sie bestand, war aber auch nicht gewillt es darauf ankommen zu lassen und hielt die Freundin weiter fest, um sicherzugehen. „Was ist bloß los mit dir?“
„Dieser verfluchte Ort.“ Rachels Stimme kippte; statt Zorn stand plötzlich pure Verzweiflung in ihrem Gesicht geschrieben und sie sah Max flehend an. „Bitte, Max, hilf mir.“
„Ich will dir helfen!“, erklärte Max hastig ihre Absichten. Wagemutig trat sie noch einen Schritt vor. „Sag uns nur wie, Rachel. Was können wir tun?“
„Ich will sie alle töten“, krächzte Rachel und Tränen rannen über ihre Wangen.
Ein plötzlicher Schmerz zog sich durch Max' Kopf und ließ sie gequält die Augen zukneifen. Bilder flammten vor ihrem geistigen Auge auf. Ein Mann, der sich von ihr abwandte; sie konnte nur noch seinen Rücken sehen und ihn nicht identifizieren. Hinter ihm glaubte sie roten Backstein zu erkennen.
„Max …?“, drang Chloes Stimme ängstlich zu ihr durch und der Druck ihrer verschränkten Finger verstärkte sich. „Max, was ist denn?“
Die Welt drehte sich um einige Grad und Mr Jefferson stand vor ihr.
Er betrachtete sie mit Abscheu in den Augen.
„Und jetzt? Du wurdest gesehen“, erklang Nathans Stimme, gedämpft wie durch Watte. Max konnte erkennen wie sich Jeffersons Brauen minimal hoben, jedoch kaum, was sich hinter ihm befand. Ihr Fokus lag auf dem Lehrer, während die Welt um ihn herum verwaschen war.
„Wer würde diesem Degenerierten schon glauben?“, schnarrte seine Stimme provokant. „Oder dein selbstzerstörerisches Verhalten anzweifeln?“
Er zog etwas aus seiner Tasche hervor und wankend bewegte sich Max von ihm weg, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Jefferson hatte sie schnell wieder eingeholt und griff mit einer Hand nach ihr. „Lauf doch weg!“, wollte sie Nathan zurufen, doch es war zu spät. Jeffersons weißes Hemd nahm ihr gesamtes Blickfeld ein und sie glaubte, sie müsse ihn spüren und riechen. Stattdessen spürte sie ein Brennen auf ihrer rechten Wange und als sie die Augen wieder öffnete, blickte sie in Chloes flehendes Gesicht.
„Max! Verdammt, was ist denn los mit dir? Bist du noch da?“
„Ich glaube, ich hatte gerade eine Vision ...“, nuschelte Max und rieb sich die schmerzende Wange. Noch immer stand sie mitten in der Nacht vorm Leuchtturm; noch immer standen sie Rachel Amber gegenüber. Diese Vision war anders gewesen als ihre bisherigen. Sie hatte ihr nicht die Zukunft gezeigt, sondern die Gegenwart.
„Ich hatte echt Schiss um dich“, motzte Chloe, ohne dass sie die ehrliche Besorgnis aus ihrer Stimme hätte verbannen können. „Du kannst mich hier doch nicht alleine lassen ...“
Es schien als hätte sie es aufgegeben, Rachel zu erreichen. Sie reagierte einfach nicht auf Chloe, als wäre diese unsichtbar. Noch immer starrte sie Max an. Dabei verband die beiden so viel weniger.
„Ich war doch nur ein ganz normales Mädchen“, fuhr Rachel fort und spiegelte in ihrer Verzweiflung genau das wieder – ein ganz normales Mädchen. „Ich habe nicht darum gebeten, von all diesen Menschen auf ein Podest gestellt zu werden. Nicht so. Ich hatte Träume. Ich habe geträumt wie jeder andere auch. Ich habe nichts getan, um sie an mich zu binden. Im Gegenteil.“ Traurig senkte sie den Blick. „Ich habe sie verletzt.“ Unwillkürlich schloss sich Max' Hand wieder um die ihrer Freundin, die zweifellos mit diesen Worten gemeint war. Chloe hielt den Blick auf Rachel gerichtet und ließ sich nichts anmerken. „Ich wollte einfach weg. Einfach verschwinden.“ Als sie wieder aufsah, flackerte Zorn in ihren Augen. „Sie ließen mich nicht gehen. Sie wollten alles, aber sie ließen mich nicht gehen. Sie nahmen sich, was sie wollten. Ich war zum Zusehen verdammt.“
Max konzentrierte sich angestrengt um ihren wirren Worten zu folgen. Sie konnte nur ahnen wovon genau das Mädchen sprach und worauf es sich bezog. Chloes verständnisloses 'Was?' ignorierte sie.
„Es war nicht seine Schuld, nichts davon“, redete Rachel unbeirrt weiter. „Ich weiß, dass er das alles nicht gewollt hat. Er konnte nichts dafür, dass ich ihn gehasst habe.“
„Von wem redet sie?“, wisperte Chloe, nachdem sie wohl aufgegeben hatte, von Rachel selbst Antworten zu erhalten.
„Der gestrandete Wal, der nur noch auf sein Ende warten kann. Das Reh, zum Zuschauen verdammt.“
Wenn Nathan der Wal war, war Max dann das Reh?
„Aber du hast nicht bloß zugesehen, Max. Du hast dich eingemischt!“
„Um meine Freundin zu retten!“, krächzte diese heiser. Warum sie plötzlich den Drang verspürte, das Wort zu ergreifen statt nur zu lauschen, wusste sie selbst nicht. Und ihre Beweggründe schienen Rachel auch nicht zu interessieren.
„Dieser Ort sollte verschwinden, für immer. Die Stadt muss zerstört werden!“
„Hör schon auf so einen Bullshit zu reden!“, brauste Chloe verzweifelt auf. Zum ersten Mal sah Rachel sie direkt an und Schmerz lag in ihrem Blick.
„Es tut mir so leid, Chloe. Ich wollte dir nicht wehtun ...“
„Rachel …?“
„Ich wollte niemandem wehtun! Ich wollte doch nur … leben ...“
Stille legte sich über die Klippe; eine nahezu gespenstische Stille, als nicht einmal das Rascheln der Blätter noch zu hören war. Die Ruhe vor dem Sturm? Eine Gänsehaut überzog Max' Arme und sie hielt Chloe, die schon drauf und dran war sich Rachel zu nähern, fest.
„Rachel … was können wir tun?“, wollte Max verzweifelt wissen. Es musste eine Lösung geben. Rachel bat sie um Hilfe und es kostete sie sichtlich Kraft. Es musste einfach eine Lösung geben.
Der Schmerz durchzuckte einmal mehr und ohne Vorwarnung ihren Kopf und ließ Max die Augen zusammenkneifen. Sie hielt sie geschlossen, um zu sehen was auch immer sie sehen sollte.
Sie erkannte nicht viel. Schwärze, Dunkelheit, bis sich etwas Helles herauskristallisierte. Hände. Blasse Hände, die im Dreck wühlten; Erde. Sie kniete am Fuße des Tobanga und beobachtete Nathans Hände, die in der Erde wühlten. Was tat er? Grub er das Denkmal aus? Aus welchem Grund? Er stockte, dann fuhr er fort. Träge zog er sich auf die Beine und legte die Hände an den Tobanga. Stützte sich darauf. Stemmte sein ganzes Gewicht dagegen und langsam kippte das Bild.
Unbewusst schlug Max die Augen wieder auf.
„Max?“ Diesmal hatte sich Chloe in Geduld geübt und bedachte sie bloß mit einem teils besorgten, teils erwartungsvollen Blick, statt zuzuschlagen. Doch Max' Blick glitt an Chloe vorbei und fixierte Rachel. Sie wusste was sie erwartete, noch bevor sie es sah – mit einem Lächeln, in dem unendliche Trauer und tiefe Dankbarkeit lag, drehte Rachel sich um und trat auf den Abgrund zu. Entsetzt riss Max den Mund auf, doch kein Ton verließ ihre Kehle. Es war Chloes markerschütternder Schrei, der die nächtliche Stille durchriss.
Der Wind wurde abrupt stärker und zerrte an den Mädchen; einzig und allein Rachel bewegte sich davon gänzlich unberührt. Vereinzelte Blätter sowie ihre eigenen Haare peitschten Max ins Gesicht, welches sie mit gehobenen Armen zu schützen versuchte. Heftig blinzelnd bemühte sie sich, Rachel nicht aus den Augen zu lassen. Sie rannte Chloe hinterher so schnell es ihr im Kampf gegen die tobende Natur möglich war. Chloes flehende Rufe klangen wie ein fernes Echo.
Ein grelles Licht blendete sie und zwang sie nicht bloß die Augen zuzukneifen, sondern auch in die Knie, als sie stolperte. Nur eine Sekunde später ließ ein Knall, als explodiere etwas unmittelbar an ihrem Ohr, ihr Herz einen Schlag aussetzen. Als sie furchtsam wieder aufsah, fehlte von Rachel jede Spur.
„Nein! Rachel, nein! Rachel!“ Chloe kam als Erste wieder auf die Beine, nur um an der Klippe erneut zusammenzusacken. „Nein ...“ Den Oberkörper gebeugt hämmerte sie mit den Fäusten auf den Boden und schrie ihre Verzweiflung hinaus.
Max brauchte einen Augenblick um zu realisieren, was geschehen war. Rachel war weg. Diesmal endgültig. Sie hatte einen Ausweg gefunden. Und mit ihr verzog sich auch der Sturm; klang so plötzlich wieder ab wie er aufgekommen war, bis nur noch eine sanfte Brise zurückblieb. Als wäre nichts gewesen. Erschöpfung machte sich in Max breit und sie wollte einfach sitzen bleiben und keinen Muskel mehr rühren, doch Chloes Schluchzen ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Mühselig raffte sie sich auf und schleppte sich zu ihrer Freundin. Chloes Körper bebte und zunächst bekam sie nicht einmal mit, dass Max bei ihr war, bis diese die Ältere mit sanfter Gewalt in ihre Arme zog.
„Es tut mir so leid, Chloe ...“, flüsterte sie gegen ihren Haarschopf.
„Nein … nein ...“, wimmerte Chloe verzweifelt. Und Max wusste nicht, was sie sagen konnte, um ihren Schmerz zu lindern. „Wir hatten sie … ich hatte sie wieder … Rachel … warum musste sie ...“
„Sie … war nicht mehr deine Rachel ...“ Unbeholfen versuchte Max Rachels Übernatürlichkeit in Worte zu fassen, wohl wissend, dass Chloe nichts davon würde hören wollen. Doch sie war zu aufgelöst, um sich auf einen Streit einzulassen und zu aufgelöst, um die Wahrheit in Max' Worten zu begreifen. Sie würde Zeit brauchen. Und die hatten sie nun.
„Warum muss ich sie wieder verlieren?! Warum muss ich alle verlieren?!“, schrie Chloe schrill und Max hielt sie nur umso fester. Es war ihre Schuld.
„Mich wirst du nie wieder verlieren“, versprach sie. „Ich bleibe für immer bei dir, Chloe.“
Es wurde still, nur das Rascheln der Blätter im Wind und das vereinzelte Knacksen eines Astes war zu hören. Max drängte Chloe nicht dazu zu reden, sondern wartete geduldig, bis sie sich wieder etwas beruhigt hatte. Ihr selbst kamen die Tränen bei dem Gedanken an all die Anstrengung der letzten Tage. Vor allem wenn sie daran dachte, wie sehr sie ihrer Freundin wehgetan hatte. Und das, wo sie sie doch nur hatte retten wollen. Niemals würde sie jemandem von all dem erzählen können; niemand würde ihr glauben. Niemand außer Chloe, die diesen Albtraum mit ihr zusammen durchgestanden hatte.
„Ist es … vorbei …?“ Chloes Stimme war nur ein müdes Krächzen. Max ließ sie los, als sie sich zurücklehnte und sich mit dem Handrücken noch einmal über das verweinte Gesicht wischte.
„Ja … ich denke schon.“
„Gab es denn keine andere Möglichkeit?“ Flehend sah Chloe Max zum ersten Mal seit einer halben Ewigkeit an. Sie hatte keine Ahnung wie viel Zeit inzwischen vergangen sein mochte. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren.
„Ich weiß es nicht“, antwortete sie wahrheitsgemäß.
„Wir müssen es probieren!“ Die Hoffnung darauf, Rachel doch noch irgendwie retten zu können, weckte Chloes Lebensgeister wieder. Max fehlte dieser Elan gänzlich, doch nachdem sie Chloe so viel genommen hatte, war sie ihr zumindest den Versuch schuldig, wenngleich sie sich vollkommen sicher war, dass nichts daraus resultieren würde. Und insgeheim war sie froh, dass nichts passierte, als sie ihre Hand ausstreckte und sich mit letzter Kraft darauf konzentrierte, nur ein paar Minuten zurückzuspringen. Sie war erleichtert, dass dieser Spuk vorbei war.
Chloe, die schon auf den Knien hockte, bereit aufzuspringen, verzog enttäuscht das Gesicht. „Du bist nur erschöpft ...“
Max schüttelte den Kopf. „Nein … sie sind weg.“
„Kannst du … kannst du das mit den Bildern noch?“
„Sie sind weg, Chloe“, wiederholte Max bedauernd, aber bestimmt. „Die Fähigkeiten sind weg.“ Schuldbewusst senkte sie den Blick, weil sie Chloes Enttäuschung nicht ertragen konnte. „Es tut mir leid.“
Max. Einfach nur Max. Ohne Superkräfte. Das war alles, was Chloe geblieben war. Ob sich dieser Deal gelohnt hatte?
Ausweichend fuhr Max mit den Fingern durch die weiche Erde, in der sie immer noch hockte. War das, was sich einst auf diesem Boden zugetragen hatte, wirklich für all die seltsamen Begebenheiten in der letzten Zeit verantwortlich gewesen? Sie wollte daran glauben, dass sie Rachels Seele gerettet hatten. Sie war gegangen in dem Moment, als der Tobanga in Max' Vision gefallen war … Eine plötzliche Erkenntnis beschlich Max, die sie zuerst nicht begreifen konnte. Nur langsam knüpfte ihr müder Geist eine Verbindung zwischen der erde, die durch ihre Finger rieselte, dem Tobanga, Nathan und schließlich Mr Jefferson.
Als sie sich langsam erhob, blickte Chloe hoffnungsvoll drein und folgte ihr, voller Tatendrang, sogleich auf die Füße.
„Es ist noch nicht vorbei.“
Ein leichter Wind brachte die Blätter in den vielen umliegenden Bäumen zum Rascheln und trug das Rauschen der Wellen bis zu ihnen hinauf. Nicht einmal die Andeutung eines verheerenden Sturms und doch fröstelte Max nicht bloß aufgrund der niedrigen Temperaturen. Dabei müsste man meinen, all das würde ihr nichts mehr ausmachen; dass ihr nichts mehr Angst einjagen könnte. Doch tatsächlich vermochte Rachel Amber es noch immer.
Chloe, an Max' Seite, und Erinnerungen an glückliche Kindheitstage, an denen sie gemeinsam den beschwerlichen Weg hinauf zum Leuchtturm genommen hatten, gaben Max die nötige Kraft, sich dieser übernatürlicher Macht noch einmal zu stellen. Noch ein letztes Mal. Es musste heute einfach ein Ende finden oder es würde niemals ein Ende finden.
Kurz hielt Max inne, als sie den Hügel erklommen hatten und tatsächlich eine Person neben dem aufragenden Turm ausmachen konnte. Sie stand dort an der Klippe, mit dem Rücken zu ihnen, den Blick aufs scheinbar endlose Meer gerichtet wie eine beliebige Spaziergängerin, doch ihre typische Kleidung und das im Mondlicht glänzende helle Haar ließen keinen Zweifel zu – sie war hier.
„Rachel ...“, flüsterte Chloe erstickt und um sie von vorschnellen Handlungen abzuhalten, griff Max nach ihrer Hand. Gemeinsam näherten sie sich dem mysteriösen Mädchen mit langsamen, vorsichtigen Schritten. Dieses drehte sich nicht zu ihnen um und doch war sich Max sicher, dass sie sich ihrer Anwesenheit längst gewahr war, weshalb sie in einigen Metern Abstand auch darauf wartete, dass Rachel den ersten Schritt machte.
„So friedlich“, durchbrach sie so unerwartet und so leise die Stille, dass Max kurz glaubte, sich ihre Stimme bloß eingebildet zu haben. Langsam drehte Rachel sich zu ihnen um. „So trügerisch friedlich ist diese Stadt.“ Ihre Augen fixierten Max, alleine Max, und ihr Blick war eiskalt. „Doch es gibt keinen Frieden. Dieser Ort wurde aus Blut erschaffen. Keine Seele wird hier je Frieden finden.“
„Was redest du denn da, Rachel?“, wollte Chloe ungeduldig wissen und Max konnte ihren Drang spüren alle Vorsicht fahren zu lassen und den Abstand zu Rachel zu überbrücken. Sie wusste nicht, ob tatsächlich eine unmittelbare Gefahr für sie bestand, war aber auch nicht gewillt es darauf ankommen zu lassen und hielt die Freundin weiter fest, um sicherzugehen. „Was ist bloß los mit dir?“
„Dieser verfluchte Ort.“ Rachels Stimme kippte; statt Zorn stand plötzlich pure Verzweiflung in ihrem Gesicht geschrieben und sie sah Max flehend an. „Bitte, Max, hilf mir.“
„Ich will dir helfen!“, erklärte Max hastig ihre Absichten. Wagemutig trat sie noch einen Schritt vor. „Sag uns nur wie, Rachel. Was können wir tun?“
„Ich will sie alle töten“, krächzte Rachel und Tränen rannen über ihre Wangen.
Ein plötzlicher Schmerz zog sich durch Max' Kopf und ließ sie gequält die Augen zukneifen. Bilder flammten vor ihrem geistigen Auge auf. Ein Mann, der sich von ihr abwandte; sie konnte nur noch seinen Rücken sehen und ihn nicht identifizieren. Hinter ihm glaubte sie roten Backstein zu erkennen.
„Max …?“, drang Chloes Stimme ängstlich zu ihr durch und der Druck ihrer verschränkten Finger verstärkte sich. „Max, was ist denn?“
Die Welt drehte sich um einige Grad und Mr Jefferson stand vor ihr.
Er betrachtete sie mit Abscheu in den Augen.
„Und jetzt? Du wurdest gesehen“, erklang Nathans Stimme, gedämpft wie durch Watte. Max konnte erkennen wie sich Jeffersons Brauen minimal hoben, jedoch kaum, was sich hinter ihm befand. Ihr Fokus lag auf dem Lehrer, während die Welt um ihn herum verwaschen war.
„Wer würde diesem Degenerierten schon glauben?“, schnarrte seine Stimme provokant. „Oder dein selbstzerstörerisches Verhalten anzweifeln?“
Er zog etwas aus seiner Tasche hervor und wankend bewegte sich Max von ihm weg, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Jefferson hatte sie schnell wieder eingeholt und griff mit einer Hand nach ihr. „Lauf doch weg!“, wollte sie Nathan zurufen, doch es war zu spät. Jeffersons weißes Hemd nahm ihr gesamtes Blickfeld ein und sie glaubte, sie müsse ihn spüren und riechen. Stattdessen spürte sie ein Brennen auf ihrer rechten Wange und als sie die Augen wieder öffnete, blickte sie in Chloes flehendes Gesicht.
„Max! Verdammt, was ist denn los mit dir? Bist du noch da?“
„Ich glaube, ich hatte gerade eine Vision ...“, nuschelte Max und rieb sich die schmerzende Wange. Noch immer stand sie mitten in der Nacht vorm Leuchtturm; noch immer standen sie Rachel Amber gegenüber. Diese Vision war anders gewesen als ihre bisherigen. Sie hatte ihr nicht die Zukunft gezeigt, sondern die Gegenwart.
„Ich hatte echt Schiss um dich“, motzte Chloe, ohne dass sie die ehrliche Besorgnis aus ihrer Stimme hätte verbannen können. „Du kannst mich hier doch nicht alleine lassen ...“
Es schien als hätte sie es aufgegeben, Rachel zu erreichen. Sie reagierte einfach nicht auf Chloe, als wäre diese unsichtbar. Noch immer starrte sie Max an. Dabei verband die beiden so viel weniger.
„Ich war doch nur ein ganz normales Mädchen“, fuhr Rachel fort und spiegelte in ihrer Verzweiflung genau das wieder – ein ganz normales Mädchen. „Ich habe nicht darum gebeten, von all diesen Menschen auf ein Podest gestellt zu werden. Nicht so. Ich hatte Träume. Ich habe geträumt wie jeder andere auch. Ich habe nichts getan, um sie an mich zu binden. Im Gegenteil.“ Traurig senkte sie den Blick. „Ich habe sie verletzt.“ Unwillkürlich schloss sich Max' Hand wieder um die ihrer Freundin, die zweifellos mit diesen Worten gemeint war. Chloe hielt den Blick auf Rachel gerichtet und ließ sich nichts anmerken. „Ich wollte einfach weg. Einfach verschwinden.“ Als sie wieder aufsah, flackerte Zorn in ihren Augen. „Sie ließen mich nicht gehen. Sie wollten alles, aber sie ließen mich nicht gehen. Sie nahmen sich, was sie wollten. Ich war zum Zusehen verdammt.“
Max konzentrierte sich angestrengt um ihren wirren Worten zu folgen. Sie konnte nur ahnen wovon genau das Mädchen sprach und worauf es sich bezog. Chloes verständnisloses 'Was?' ignorierte sie.
„Es war nicht seine Schuld, nichts davon“, redete Rachel unbeirrt weiter. „Ich weiß, dass er das alles nicht gewollt hat. Er konnte nichts dafür, dass ich ihn gehasst habe.“
„Von wem redet sie?“, wisperte Chloe, nachdem sie wohl aufgegeben hatte, von Rachel selbst Antworten zu erhalten.
„Der gestrandete Wal, der nur noch auf sein Ende warten kann. Das Reh, zum Zuschauen verdammt.“
Wenn Nathan der Wal war, war Max dann das Reh?
„Aber du hast nicht bloß zugesehen, Max. Du hast dich eingemischt!“
„Um meine Freundin zu retten!“, krächzte diese heiser. Warum sie plötzlich den Drang verspürte, das Wort zu ergreifen statt nur zu lauschen, wusste sie selbst nicht. Und ihre Beweggründe schienen Rachel auch nicht zu interessieren.
„Dieser Ort sollte verschwinden, für immer. Die Stadt muss zerstört werden!“
„Hör schon auf so einen Bullshit zu reden!“, brauste Chloe verzweifelt auf. Zum ersten Mal sah Rachel sie direkt an und Schmerz lag in ihrem Blick.
„Es tut mir so leid, Chloe. Ich wollte dir nicht wehtun ...“
„Rachel …?“
„Ich wollte niemandem wehtun! Ich wollte doch nur … leben ...“
Stille legte sich über die Klippe; eine nahezu gespenstische Stille, als nicht einmal das Rascheln der Blätter noch zu hören war. Die Ruhe vor dem Sturm? Eine Gänsehaut überzog Max' Arme und sie hielt Chloe, die schon drauf und dran war sich Rachel zu nähern, fest.
„Rachel … was können wir tun?“, wollte Max verzweifelt wissen. Es musste eine Lösung geben. Rachel bat sie um Hilfe und es kostete sie sichtlich Kraft. Es musste einfach eine Lösung geben.
Der Schmerz durchzuckte einmal mehr und ohne Vorwarnung ihren Kopf und ließ Max die Augen zusammenkneifen. Sie hielt sie geschlossen, um zu sehen was auch immer sie sehen sollte.
Sie erkannte nicht viel. Schwärze, Dunkelheit, bis sich etwas Helles herauskristallisierte. Hände. Blasse Hände, die im Dreck wühlten; Erde. Sie kniete am Fuße des Tobanga und beobachtete Nathans Hände, die in der Erde wühlten. Was tat er? Grub er das Denkmal aus? Aus welchem Grund? Er stockte, dann fuhr er fort. Träge zog er sich auf die Beine und legte die Hände an den Tobanga. Stützte sich darauf. Stemmte sein ganzes Gewicht dagegen und langsam kippte das Bild.
Unbewusst schlug Max die Augen wieder auf.
„Max?“ Diesmal hatte sich Chloe in Geduld geübt und bedachte sie bloß mit einem teils besorgten, teils erwartungsvollen Blick, statt zuzuschlagen. Doch Max' Blick glitt an Chloe vorbei und fixierte Rachel. Sie wusste was sie erwartete, noch bevor sie es sah – mit einem Lächeln, in dem unendliche Trauer und tiefe Dankbarkeit lag, drehte Rachel sich um und trat auf den Abgrund zu. Entsetzt riss Max den Mund auf, doch kein Ton verließ ihre Kehle. Es war Chloes markerschütternder Schrei, der die nächtliche Stille durchriss.
Der Wind wurde abrupt stärker und zerrte an den Mädchen; einzig und allein Rachel bewegte sich davon gänzlich unberührt. Vereinzelte Blätter sowie ihre eigenen Haare peitschten Max ins Gesicht, welches sie mit gehobenen Armen zu schützen versuchte. Heftig blinzelnd bemühte sie sich, Rachel nicht aus den Augen zu lassen. Sie rannte Chloe hinterher so schnell es ihr im Kampf gegen die tobende Natur möglich war. Chloes flehende Rufe klangen wie ein fernes Echo.
Ein grelles Licht blendete sie und zwang sie nicht bloß die Augen zuzukneifen, sondern auch in die Knie, als sie stolperte. Nur eine Sekunde später ließ ein Knall, als explodiere etwas unmittelbar an ihrem Ohr, ihr Herz einen Schlag aussetzen. Als sie furchtsam wieder aufsah, fehlte von Rachel jede Spur.
„Nein! Rachel, nein! Rachel!“ Chloe kam als Erste wieder auf die Beine, nur um an der Klippe erneut zusammenzusacken. „Nein ...“ Den Oberkörper gebeugt hämmerte sie mit den Fäusten auf den Boden und schrie ihre Verzweiflung hinaus.
Max brauchte einen Augenblick um zu realisieren, was geschehen war. Rachel war weg. Diesmal endgültig. Sie hatte einen Ausweg gefunden. Und mit ihr verzog sich auch der Sturm; klang so plötzlich wieder ab wie er aufgekommen war, bis nur noch eine sanfte Brise zurückblieb. Als wäre nichts gewesen. Erschöpfung machte sich in Max breit und sie wollte einfach sitzen bleiben und keinen Muskel mehr rühren, doch Chloes Schluchzen ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Mühselig raffte sie sich auf und schleppte sich zu ihrer Freundin. Chloes Körper bebte und zunächst bekam sie nicht einmal mit, dass Max bei ihr war, bis diese die Ältere mit sanfter Gewalt in ihre Arme zog.
„Es tut mir so leid, Chloe ...“, flüsterte sie gegen ihren Haarschopf.
„Nein … nein ...“, wimmerte Chloe verzweifelt. Und Max wusste nicht, was sie sagen konnte, um ihren Schmerz zu lindern. „Wir hatten sie … ich hatte sie wieder … Rachel … warum musste sie ...“
„Sie … war nicht mehr deine Rachel ...“ Unbeholfen versuchte Max Rachels Übernatürlichkeit in Worte zu fassen, wohl wissend, dass Chloe nichts davon würde hören wollen. Doch sie war zu aufgelöst, um sich auf einen Streit einzulassen und zu aufgelöst, um die Wahrheit in Max' Worten zu begreifen. Sie würde Zeit brauchen. Und die hatten sie nun.
„Warum muss ich sie wieder verlieren?! Warum muss ich alle verlieren?!“, schrie Chloe schrill und Max hielt sie nur umso fester. Es war ihre Schuld.
„Mich wirst du nie wieder verlieren“, versprach sie. „Ich bleibe für immer bei dir, Chloe.“
Es wurde still, nur das Rascheln der Blätter im Wind und das vereinzelte Knacksen eines Astes war zu hören. Max drängte Chloe nicht dazu zu reden, sondern wartete geduldig, bis sie sich wieder etwas beruhigt hatte. Ihr selbst kamen die Tränen bei dem Gedanken an all die Anstrengung der letzten Tage. Vor allem wenn sie daran dachte, wie sehr sie ihrer Freundin wehgetan hatte. Und das, wo sie sie doch nur hatte retten wollen. Niemals würde sie jemandem von all dem erzählen können; niemand würde ihr glauben. Niemand außer Chloe, die diesen Albtraum mit ihr zusammen durchgestanden hatte.
„Ist es … vorbei …?“ Chloes Stimme war nur ein müdes Krächzen. Max ließ sie los, als sie sich zurücklehnte und sich mit dem Handrücken noch einmal über das verweinte Gesicht wischte.
„Ja … ich denke schon.“
„Gab es denn keine andere Möglichkeit?“ Flehend sah Chloe Max zum ersten Mal seit einer halben Ewigkeit an. Sie hatte keine Ahnung wie viel Zeit inzwischen vergangen sein mochte. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren.
„Ich weiß es nicht“, antwortete sie wahrheitsgemäß.
„Wir müssen es probieren!“ Die Hoffnung darauf, Rachel doch noch irgendwie retten zu können, weckte Chloes Lebensgeister wieder. Max fehlte dieser Elan gänzlich, doch nachdem sie Chloe so viel genommen hatte, war sie ihr zumindest den Versuch schuldig, wenngleich sie sich vollkommen sicher war, dass nichts daraus resultieren würde. Und insgeheim war sie froh, dass nichts passierte, als sie ihre Hand ausstreckte und sich mit letzter Kraft darauf konzentrierte, nur ein paar Minuten zurückzuspringen. Sie war erleichtert, dass dieser Spuk vorbei war.
Chloe, die schon auf den Knien hockte, bereit aufzuspringen, verzog enttäuscht das Gesicht. „Du bist nur erschöpft ...“
Max schüttelte den Kopf. „Nein … sie sind weg.“
„Kannst du … kannst du das mit den Bildern noch?“
„Sie sind weg, Chloe“, wiederholte Max bedauernd, aber bestimmt. „Die Fähigkeiten sind weg.“ Schuldbewusst senkte sie den Blick, weil sie Chloes Enttäuschung nicht ertragen konnte. „Es tut mir leid.“
Max. Einfach nur Max. Ohne Superkräfte. Das war alles, was Chloe geblieben war. Ob sich dieser Deal gelohnt hatte?
Ausweichend fuhr Max mit den Fingern durch die weiche Erde, in der sie immer noch hockte. War das, was sich einst auf diesem Boden zugetragen hatte, wirklich für all die seltsamen Begebenheiten in der letzten Zeit verantwortlich gewesen? Sie wollte daran glauben, dass sie Rachels Seele gerettet hatten. Sie war gegangen in dem Moment, als der Tobanga in Max' Vision gefallen war … Eine plötzliche Erkenntnis beschlich Max, die sie zuerst nicht begreifen konnte. Nur langsam knüpfte ihr müder Geist eine Verbindung zwischen der erde, die durch ihre Finger rieselte, dem Tobanga, Nathan und schließlich Mr Jefferson.
Als sie sich langsam erhob, blickte Chloe hoffnungsvoll drein und folgte ihr, voller Tatendrang, sogleich auf die Füße.
„Es ist noch nicht vorbei.“