Arcadia Bay
von Caligula
Kurzbeschreibung
Max will nicht aufgeben, bis sie alles gerichtet hat. Aber ist eine solch perfekte Realität überhaupt möglich?
GeschichteMystery, Freundschaft / P16 / Gen
Chloe Price
Mark Jefferson
Maxine "Max" Caulfield
Nathan Prescott
Rachel Amber
12.08.2017
18.12.2020
22
63.991
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27.03.2020
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Kapitel 20 – Des Übels Wurzel
Chloe! Es war Chloe! Und Max fiel ein so schwerer Stein vom Herzen, dass sie glatt hätte weinen können. „Chloe ...“, war auch alles, was sie herausbrachte, wenngleich ihr ganz instinktiv schon eine Entschuldigung auf der Zunge lag. Mit einem Schlag war sie hellwach, setzte sich auf und schloss die zurückgekehrte Freundin stürmisch in die Arme, wie um sich zu vergewissern, dass sie nicht mehr träumte. Hoffentlich träumte sie nicht mehr. Dieser Traum war die reinste Tortur gewesen.
Chloe erwiderte die Umarmung und hielt sie einen Moment fest. Suchte vermutlich Trost. Und erst als sie sich nach einer gefühlten Ewigkeit wieder voneinander lösten, bemerkte Max, dass auch Nathan in ihrem Zimmer stand und sich ausweichend darin umsah.
„Was tut ihr hier?“, wunderte sich Max nun doch.
Chloe biss sich auf die Unterlippe und schien ihre nächsten Worte kaum aussprechen zu wollen. „Frag mich nicht wieso, aber irgendwie … wusste ich, dass du mich brauchst.“
„Was?“ Max blinzelte verdutzt und ihr Blick glitt zu Nathan rüber, der leicht überfordert die Achseln zuckte.
„Ja, so war es bei mir auch“, sagte er.
Sie hätte länger darüber gestaunt, wenn sie in den letzten Wochen nicht schon Verrückteres erlebt hätte. „Euer Gefühl hat euch nicht getäuscht ...“, murmelte sie und ihre Gedanken drifteten zurück zu ihrem Traum. Alptraum.
„Alles okay, Max?“, erkundigte Chloe sich stirnrunzelnd. „Sorry, wegen dem unsanften Wecken ...“
„Nein, ist schon in Ordnung“, wehrte Max ab. „Ich wollte mich nur ein wenig hinlegen, aber dann … Ich habe von Rachel geträumt.“
Während Chloe es sich auf Max' Bettkante bequem gemacht hatte, zog sich Nathan den Schreibtischstuhl heran und beide betrachteten Max mit äußerster Spannung. Den düsteren Blick auf ihre Beine gerichtet versuchte sie sich an jedes Detail ihres Traums zu erinnern und diesen wiederzugeben, während ihre Freunde nur stumm lauschten. Max stockte, als sie zum Schluss ihrer Berichterstattung kam. „Rachel, sie … plötzlich war sie ganz anders.“
„Wie anders?“, hakte Chloe ungeduldig nach.
„Sie war so … verzweifelt. Verängstigt. Sie sagte, sie hätte nur ein ganz normales Mädchen sein wollen. Doch sie wäre immer eine Gefangene geblieben.“ Ihre Worte hallten noch überdeutlich in Max' Ohren wider, weil sie so überhaupt nicht zu der Rachel passten, die sie in den letzten Wochen geplagt hatte. Die Rachel, die ihr völlig ungerührt erklärt hatte, dass alle sterben müssten. Und die Frage, die sich ganz unweigerlich stellte war, weshalb es plötzlich auch diese andere Rachel gab. Doch ich bin immer eine Gefangene geblieben. Es war einfach gewesen, Rachel als die Wurzel allen Übels zu sehen, doch selbst sie schien nicht mehr als eine Schachfigur in diesem verrückten Spiel zu sein. Und es schien als wäre auch sie nicht glücklich mit der Rolle, die sie zu tragen hatte. Bitte hilf mir. „Sie hat um Hilfe gebeten.“
„Gott, Rach ...“, flüsterte Chloe und es war schwer einzuschätzen, ob sie mit den Tränen kämpfte oder auf jemanden losgehen wollte. „Was ist bloß mit ihr passiert?“
„Wenn wir das nur wüssten“, seufzte Max.
„Naja, aber ...“ Als hätte sie neuen Mut gefasst, sah Chloe wieder auf. „... aber damit können wir doch arbeiten, oder? Rachel hat um Hilfe gebeten – wenn wir ihr helfen, verhindert sie den Sturm vielleicht!“ Aus ihrer Stimme klang die Hoffnung heraus, dass Rachel nicht nur den Sturm verhindern, sondern auch zu ihr zurückkehren würde. Und vielleicht war das sogar möglich. „Rachel ist auch nur ein Opfer in dieser ganzen Sache!“, legte sie noch überzeugt nach.
Max' Augen suchten Nathans Blick. Er hielt sich auffällig bedeckt und schien ganz in seine eigenen Gedanken vertieft zu sein. „Was meinst du?“, riss sie ihn aus diesen heraus.
„Ja.“ Und sobald ihm klar wurde, dass das keine adäquate Antwort auf ihre Frage war, fügte er hinzu: „Ich meine, Rachel ist nicht böse. Es ist diese verfluchte Stadt, die alle hier so kaputt macht. Hab ich von Anfang an gesagt.“
Max nickte gedankenverloren. Das hatte er und so bescheuert sich seine Worte damals in diesem Diner auch angehört haben mochten, war sie langsam davon überzeugt, dass er Recht hatte. Höhere Mächte waren hier am Werk. Mächtiger als ein dummes, naives Mädchen, das einfach nur seinen Traum verfolgte. „Wie lange war ich weg?“, wollte sie dann wissen und warf einen prüfenden Blick aus dem Fenster. Es war hell. Zu hell für einen verregneten Dienstagabend.
„Es ist gleich zehn“, meinte Chloe mit Blick auf ihr Handy. Es erstaunte Max, dass sie doch so lange geschlafen hatte.
Einmal mehr war der todbringende Tornado unheilvoll nähergerückt. Schluss mit der Untätigkeit; sie mussten handeln! „Wir müssen sie finden!“, erklärte sie eindringlich. Ihre Freunde blickten verdutzt drein. „Rachel. Wir müssen sie finden“, wurde Max deutlicher.
„Scherzkeks“, zischte Nathan missmutig. „Wie denn?“
„Jefferson ist unser einziger Anhaltspunkt. Er weiß, wo Rachel sich aufhält.“ Ihr mitleidiger Blick blieb an Nathan hängen. Es gefiel ihr nicht von ihm zu verlangen, sich der Nähe des gefährlichen Lehrers noch einmal auszusetzen, doch es war ihre beste Chance. „Du musst ihn noch einmal damit konfrontieren. Er hat gesagt, Rachel wäre ihm egal, aber er weiß sicher wo sie ist oder wie wir sie finden können.“
„Er wird mich umbringen“, prophezeite Nathan düster.
„Das werden wir nicht zulassen“, versicherte Max. Ob er ihr nun vertraute oder ob ihm sein Schicksal egal war, er nickte und machte sich ohne ein weiteres Wort auf den Weg, eine erdrückende Stille im Raum zurücklassend. Ein wenig mulmig war Max durchaus zumute.
„Keine Ahnung, ob ich mich je an den Typen gewöhnen werde“, versuchte Chloe die Stimmung mit einem lockeren Spruch wieder zu heben und zuckte hilflos mit den Achseln. „Aber es wäre vielleicht ganz nett, das herauszufinden. Vielleicht reagiere ich gerade auch einfach etwas empfindlich darauf, wenn Leute plötzlich aus meinem Leben verschwinden.“
Max schluckte. „Chloe, ich ...“
„Lass es, Max“, schnitt die Freundin ihr das Wort ab.
„Was?“
„Ich weiß, dass du dich entschuldigen willst“, erklärte Chloe ungewöhnlich ernst. Sie starrte finster und ausweichend auf ihre Beine, musste Max' penetranten Blick allerdings deutlich spüren. „Schätze, jede Realität setzt sich aus ihren ganz eigenen Bauteilen zusammen ...“
„Chloe … ich kann mir gar nicht vorstellen, wie du dich fühlen musst.“
Diese stieß ein humorloses Lachen aus. „Wenn ich das selbst wüsste! In einem Moment ist noch alles in Ordnung und dann ist plötzlich alles anders. Ganz ehrlich, als du gesagt hast, mein Dad wäre ...“ Ihre Stimme wurde mit jedem Wort brüchiger, doch sie riss sich zusammen und verdrückte keine einzige Träne. Energisch schüttelte sie den Kopf. „Ich hab dir nicht geglaubt. Es klang einfach absurd. Ich war so verzweifelt davon überzeugt, dass du dich irrst, dass alles in Ordnung ist, wenn ich nachhause komme. Und ernsthaft, ich glaube, so richtig hab ich das Ganze immer noch nicht realisiert ...“ Ihr gezwungenes Lächeln brach Max das Herz. „Ich wollte mich einfach nur noch verkriechen und warten, bis dieser Alptraum vorbei ist. Bis ich dieses dringende Gefühl hatte, bei dir sein zu müssen.“ Sie zog geräuschvoll die Nase hoch, doch noch immer weinte sie nicht. „Ich hab die Schnauze voll davon, Leute zu verlieren. Rachel, meinen gottverdammten Vater, dich … und die ganze verfluchte Stadt steht auf dem Spiel. Wir müssen das irgendwie in Ordnung bringen ...“ Endlich sah sie Max wieder an und in ihrem Blick lag eine Entschlossenheit, die Max Respekt abverlangte. Sie war so wahnsinnig stark und tapfer.
„Es tut mir so leid, Chloe ...“ Chloes Blick erinnerte sie daran, dass sie keine Entschuldigungen hören wollte, doch Max kam einfach nicht aus ihrer Haut raus. „Ich hätte dir das so gerne erspart ...“
„Ich weiß“, versicherte Chloe ihr mit einem tapferen Lächeln und griff wie zur Unterstreichung ihrer Worte nach ihrer Hand. „Bitte, Max. Lass uns die Welt retten und anschließend über all das Heulen, was schief gelaufen ist. Davon abgesehen haben wir doch noch so viel nachzuholen.“
Max nickte eifrig und schämte sich dafür, dass sie jetzt diejenige war, die mit den Tränen kämpfen musste. Sie wünschte, es gäbe eine Möglichkeit William zu retten, doch welches Opfer würden sie dafür bringen müssen?
Chloe zog sie in eine Umarmung. Chloe. Sie hatte doch bloß Chloe retten wollen. Das war die Hauptsache.
Nathan suchte Mark nach dem Unterricht auf, der wie gewohnt stattfand, ohne dass die Schüler etwas von der herannahenden Katastrophe ahnten. Statt den Lehrer in sein Zimmer zu bestellen, blieb Nathan mit ihm im Klassenzimmer zurück. Es hatte ein wenig Überredungskunst bedurft die beharrliche Victoria loszuwerden, die zum Einen wohl keine Gelegenheit ausließ, um sich an Mark ranzumachen und zum Anderen schrecklich neugierig war, was ihr Freund mit dem Lehrer zu besprechen haben könnte. Es war wohl nicht zuletzt Marks Autorität zu verdanken, dass Victoria schließlich eingeschnappt das Feld räumte. Mark sah ihr interessiert hinterher, bis sich die Tür hinter ihr schloss; Nathans Blick war auf Marks Raubtieraugen geheftet.
„Was ist los, Nathan?“, wollte er schließlich wissen. Er klang gelangweilt.
„Es … es geht um Rachel.“
Marks Miene blieb reglos, bis er ein genervtes Schnauben ausstieß. „Wieso denkst du über Rachel nach?“
Jetzt, wo er in seinem Fokus stand, wich Nathan seinem Blick furchtsam aus. „Rachel ist nicht tot.“
„Was redest du da?“ Wachsam sah Mark zur geschlossenen Tür, ehe er Nathan wieder mit zusammengekniffenen Augen fixierte. „Du weißt das besser als irgendwer sonst hier. Was ist los? Nimmst du deine Medikamente nicht?“ Seine Stimme war zu einem verschwörerischen Flüstern abgeklungen.
„Ich weiß es“, erklärte Nathan bestimmt. „Weil ich sie gesehen habe.“
Erschöpft massierte sich Mark die Nasenwurzel, die Augen wie im Schmerz geschlossen. „Nathan ...“
„Ich weiß, was ich gesehen habe!“
„Du kannst die Realität nicht von deinen Wahnvorstellungen unterscheiden, mein Junge. Weil du entweder auf Medikamenten oder auf Drogen bist; im schlimmsten Fall auf beidem“, erwiderte Mark kalt und vorwurfsvoll. „Vielleicht sollte ich deinem Vater eine Email schreiben.“
„Ich hab mir das nicht eingebildet; ich habe Rachel gesehen. Warum versteckst du sie von mir?“
„Herrgott, Nathan, hör dir nur mal zu ...“ Mark wandte sich von seinem Schützling ab und schritt zum Fenster, aus dem er wortlos starrte. Nathan verlagerte unruhig sein Gewicht von einem auf den anderen Fuß, während er sich mühsam in Geduld übte. Seine Finger trommelten nervös gegen seine Beine. Er hasste es, zu warten. Und noch mehr hasste er es, der Unberechenbarkeit dieses Mannes ausgeliefert zu sein. Ob er Nathan nun glaubte oder nicht – er hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass Mark sich in diesem Moment überlegte, wie er Nathan am geschicktesten loswurde. Für immer. Weil er seiner Meinung nach die unberechenbare Variable in ihrer kriminelle Gleichung war. „Rachel ist tot“, drang Marks Stimme schließlich leise, doch eindringlich, zu ihm durch. „Du glaubst zu wissen, was du gesehen hast? Ich habe den Dreck unter deinen Fingernägeln gesehen, als du deine Freundin unter der Erde verscharrt hast! Erinnerst du dich nicht? Oder willst du dich nicht erinnern?“ Er hatte sich wieder zu ihm umgedreht und trat nun auf Nathan zu. Dicht vor ihm blieb er stehen und legte ihm die Hände auf die Schultern. „Nathan, sieh mich an.“
Nathan gehorchte und fragte sich unwillkürlich, was er bloß viel zu lange in diesen Augen gesehen hatte. Wie verblendet er gewesen war zu glauben, dass Mark ihm den Vater ersetzen könnte. Er war ihm doch genauso gleichgültig wie seinem Vater.Er hatte ihn bloß benutzt und zugelassen, dass Nathan noch mehr leiden musste, indem er ihn zu diesen schrecklichen Taten verführt hatte. Im Nachhinein wünschte er sich, er wäre nicht so dämlich und gleichgültig gewesen, sich auf ihn einzulassen. Bei all der Scheiße, die er in seinem Leben schon zu verschulden hatte, empfand er aufrichtige Reue den Menschen gegenüber, die er mit sich in den Abgrund gerissen hatte. Kate. Rachel.
„Die Schuldgefühle nagen an dir“, fuhr Mark ruhig fort. „Das verstehe ich.“ Nathan bezweifelte stark, dass der Lehrer so etwas wie Schuldgefühle kannte. „Aber was geschehen ist, ist geschehen. Rachel ist tot.“ Kurz verstärkte er den druck auf Nathans Schultern. „Es war ein Unfall.“
„Warum lügst du mich an?“
„Niemand lügt dich an, Nathan!“ Mark wurde hörbar ungeduldig, woraufhin seine Stimme wieder an Härte gewann. „Du bist derjenige, der sich selbst etwas vorlügt, weil er mit der Wahrheit nicht umgehen kann.“
Vielleicht hatte er sogar Recht. Vielleicht hätte Nathan besser damit umgehen können, wenn Rachel einfach tot wäre. Er wusste es nicht. Rachel, Arcadia Bay … dieser verrückte Scheiß raubte ihm langsam den Verstand. Doch ein winziger Teil in ihm hoffte, dass es ihm irgendwas bringen würde, wenn er diese Sache in Ordnung brachte. Wenn Rachel ihren Frieden fand, bestand für ihn vielleicht auch diese Hoffnung.
„Ich dachte wirklich, du schaffst es, Nathan“, sagte Mark wieder ruhiger; beinahe fürsorglich. „Würde es dir helfen … Rachel zu sehen?“
Nathan konnte nicht verhindern, dass sich seine Stirn kurz in sichtbarer Verwirrung in Falten zog. Verunsichert zuckte er die Achseln. „Ja … ich will sie sehen“, antwortete er wahrheitsgemäß.
Mark atmete schwer ein und wieder aus als träfe er eine bedeutende Entscheidung, ehe er ergeben nickte. „Gut. Ich werde sie dir zeigen, wenn du das willst. Triff mich heute Abend auf dem Parkplatz. Dann gehen wir zu Rachel.“
Nathan nickte bloß, entzog sich sachte dem Griff seines Mentors und verließ ohne ein weiteres Wort das Klassenzimmer. Er wusste, Mark würde ihn wohl kaum wirklich zu Rachel führen. Aber vielleicht konnte er ihm ja doch noch irgendwie die Wahrheit entlocken, ehe er ihm den Gnadenschuss versetzte.
Einmal mehr ließ Nathan Victoria abblitzen, als diese ihn auf dem Schulgelände entdeckte und sich sofort an seine Fersen heftete, weil sie immer noch ihre Neugier befriedigen wollte. Da Nathan nicht gewillt war mit ihr zu reden, zickten sie sich kurz gegenseitig an und gingen dann wieder jeder seiner Wege. Zu gerne hätte er ihr die Wahrheit gesagt, doch je weniger sie wusste, desto besser. Es hatte schon an ein Wunder gegrenzt, dass sie sich dazu hatte überreden lassen, mit Kate zu sprechen; Nathan wollte ihre Geduld nicht überstrapazieren. Er dachte darüber nach, dass auch seine beste Freundin auf Marks Abschussliste stand. Er hatte ihren Namen auf einem leeren Aktenordner gelesen, war anschließend aber zu high oder zu beschäftigt mit Unwichtigem gewesen um zu realisieren, was das bedeutete. Wenn Max sich ihm nicht offenbart hätte, hätte er es wohl einfach geschehen lassen. Ohne Max hätte er nicht die nötige Kraft, gegen diesen übernatürlichen Spuk zu kämpfen. Sie war so anders als alle Mädchen, die er kannte. Noch nie in seinem Leben hatte er sich einem Menschen so verbunden gefühlt. Hätte er sie doch bloß früher getroffen.
Erst zwanzig Minuten nachdem Mark ihm geschrieben hatte, er solle sich auf dem Parkplatz einfinden, raffte er sich aus seiner Lethargie, in der er den ganzen Tag irgendwie rumgebracht hatte, auf und kam der Aufforderung nach. Er trug seine Waffe im Hosenbund, noch unentschlossen, ob er sie benutzen wollte oder nicht und eine Kippe zur Beruhigung im Mundwinkel. Sobald er Nathan erspähte stieg Mark aus seinem Wagen aus und Nathan verharrte angespannt auf der Stelle. Seine Finger zuckten nervös und plötzlich war da doch der Drang, als Erster die Waffe zu ziehen.
„Komm mit.“
Dass ausgerechnet der pedantische Mark Jefferson nicht mit einem einzigen Wort Anstoß an Nathans Verspätung nahm, obwohl er es hasste zu warten und nicht mit dem nötigen Respekt behandelt zu werden, unterstrich noch auf unheimliche Art die Endgültigkeit dieses Treffens. Es war ihr letztes. Was sie hatten, würde heute Nacht enden – so oder so.
Stumm folgte Nathan Mark und stellte genervt fest, dass dieser ihn zurück zum Wohnheim führte. Er wollte sich über den unnötigen Umweg beschweren, doch er brachte keinen Ton raus. Er würde sich früh genug wieder mit Mark auseinandersetzen müssen und etwas in ihm fürchtete sich davor. Er fürchtete sich. Wer würde dem großkotzigen Prescott das schon glauben? Vielleicht nur ein einziger Mensch auf der ganzen Welt.
Sie blieben vor dem Tobanga stehen und starrten auf dieses verfluchte Ding, als wäre es selbsterklärend. Nathan hatte seit jeher einen tief sitzenden Hass auf das Denkmal empfunden, ohne sich diese Abscheu selbst erklären zu können. Wenn er wirklich ein Nachfahre der Menschen war, die die einheimischen Menschen beraubt, geschändet und abgeschlachtet hatten, lag darin vielleicht die Begründung für seine Gefühle. Er riss den Blick von dem Denkmal los und sah sich um; kurz verweilten seine Augen auf dem Wohnheim, in dem nur noch hinter vereinzelten, zugezogenen Jalousien Licht zu erkennen war.
„Hier?“, fragte er ungläubig und einmal war es Mark, der seinen Gedankengängen offenbar nicht folgen konnte und verwirrt die Stirn runzelte.
„Kannst du sie denn nicht sehen?“, erwiderte er mit leisem Spott in der Stimme.
Nathan schnaubte. „Willst du mich verarschen?“ Reflexartig streifte sein Blick noch einmal den Tobanga, aber natürlich konnte er Rachel dahinter nicht sehen. Und er wusste, dass Mark sie hier genauso wenig sah. „Warum hast du mich ausgerechnet hierher gebracht?“
Gleichgültig zuckte Mark die Achseln. „Es erschien mir nachvollziehbar. Du hast in deinem Wahn schon einmal versucht, dieses Ding auszugraben. Ich dachte mir, wenn du Rachel sehen würdest, dann hier.“
„Aber so öffentlich?“, merkte Nathan abschätzig an, darum bemüht sich seine Todesangst nicht anmerken zu lassen.
„Es passt zu dir, findest du nicht?“
„Keine Angst vor Zuschauern?“
„Nein. Was willst du tun? Um Hilfe rufen? Du kannst aus dieser Nummer nicht als Gewinner rausgehen, aber das weißt du, oder?“
Nathan schluckte. Wenn er schrie, würde Mark es vermutlich schnell zu Ende bringen oder es so drehen, dass er in der Klapse endete. Wenn er schoss, würde er in den Knast wandern. Und er hatte Recht; Nathan war sich seiner beschissenen Ausgangssituation nur allzu bewusst. Alle schlechten und falschen Entscheidungen, die er sein ganzes Leben lang getroffen hatte, rächten sich jetzt. Er erhielt die berühmte Quittung. „Also muss ich jetzt verschwinden, weil ich Rachel gesehen habe? Obwohl wir beide wissen, dass es keine Spinnerei von mir ist? Warum?“ Er kämpfte nicht wirklich um sein Leben; viel eher versuchte er zu verstehen.
Mit der Zunge schnalzend schüttelte Mark den Kopf. „Genau wie unsere süße Rachel … ist dir nur ein einziges Mal in den Sinn gekommen, dass du dieses Mädchen wie alle anderen einfach zu wichtig nimmst? Es geht nicht um Rachel.“
„Du bist derjenige, der nicht begreift, dass es um sie geht!“, zischte Nathan gereizt. „Wieso ist sie nicht tot? Wieso hast du mich denken lassen, sie sei tot? Und wo ist sie jetzt?“
„Fragen über Fragen, deren Antworten du nicht mehr brauchst, Nathan.“ Er drehte sich zu ihm um und augenblicklich huschte Nathans Blick runter auf seine Hände, die Mark in den Hosentaschen versteckt hielt. „Und ich habe auch keine Antworten für dich. Alles, was ich dir sagen kann, ist … dass ich dich nicht mehr ertrage.“
Er wappnete sich; das Herz schlug ihm bis zum Hals und der Schweiß brach ihm aus. Das war es gewesen – sein Todesurteil. Er hatte nichts erreicht und würde auch nichts mehr erreichen. Mark würde ihm keine Auskunft über Rachel erteilen. Er hatte versagt. Wozu sollte er überhaupt noch Widerstand leisten?
Vor Schreck machte Max' Herz einen Satz als plötzlich ihr Handy vibrierte. Ein bisschen hatte sie sich vor dem Moment gefürchtet. Nach einem ganzen unbeschwerten Tag an Chloes Seite, an dem sie miteinander geschwatzt hatten wie die Freundinnen, die sie sein sollten; einem Tag, der sich so unglaublich normal angefühlt hatte, wollte Max am liebsten das Chaos um sie herum einfach vergessen. Es war so verführerisch, einfach loszulassen. Doch dann sah sie sich in Chloes Zimmer um – das Zimmer, das genauso aussah wie es eben aussah, weil Chloe ihren Vater verloren hatte, Rachel verloren hatte, Max verloren hatte – und sie wusste, sie konnte und durfte die Augen nicht verschließen.
Sie spürte wie Chloe sich neben ihr bewegte und die Matratze so leicht zum Wackeln brachte. Sie hatten so lange schweigend dagelegen, dass Max geglaubt hatte, Chloe sei eingeschlafen. „Nathan?“, riet die Ältere und ihre Stimme verriet dieselbe Trägheit, die auch Max befallen hatte.
Diese gab ein unbestimmtes Geräusch von sich und hob das Handy vor ihr Gesicht, um die Nachricht zu lesen. Wie geahnt war sie von Nathan, der recht kurz angebunden war. „Der Leuchtturm ...“, flüsterte Max begreifend. Natürlich. Sie hatte Rachel doch bereits genau dort getroffen. Dort, wo alles irgendwie angefangen hatte. Am Leuchtturm und mit Chloe.
„Der Leuchtturm?“, wiederholte Chloe fragend und folgte Max auf die Beine. „Jetzt?“
Und obwohl Nathan nichts von einer bestimmten Zeit gesagt hatte, wusste Max, dass jetzt der richtige Zeitpunkt war.
Chloe! Es war Chloe! Und Max fiel ein so schwerer Stein vom Herzen, dass sie glatt hätte weinen können. „Chloe ...“, war auch alles, was sie herausbrachte, wenngleich ihr ganz instinktiv schon eine Entschuldigung auf der Zunge lag. Mit einem Schlag war sie hellwach, setzte sich auf und schloss die zurückgekehrte Freundin stürmisch in die Arme, wie um sich zu vergewissern, dass sie nicht mehr träumte. Hoffentlich träumte sie nicht mehr. Dieser Traum war die reinste Tortur gewesen.
Chloe erwiderte die Umarmung und hielt sie einen Moment fest. Suchte vermutlich Trost. Und erst als sie sich nach einer gefühlten Ewigkeit wieder voneinander lösten, bemerkte Max, dass auch Nathan in ihrem Zimmer stand und sich ausweichend darin umsah.
„Was tut ihr hier?“, wunderte sich Max nun doch.
Chloe biss sich auf die Unterlippe und schien ihre nächsten Worte kaum aussprechen zu wollen. „Frag mich nicht wieso, aber irgendwie … wusste ich, dass du mich brauchst.“
„Was?“ Max blinzelte verdutzt und ihr Blick glitt zu Nathan rüber, der leicht überfordert die Achseln zuckte.
„Ja, so war es bei mir auch“, sagte er.
Sie hätte länger darüber gestaunt, wenn sie in den letzten Wochen nicht schon Verrückteres erlebt hätte. „Euer Gefühl hat euch nicht getäuscht ...“, murmelte sie und ihre Gedanken drifteten zurück zu ihrem Traum. Alptraum.
„Alles okay, Max?“, erkundigte Chloe sich stirnrunzelnd. „Sorry, wegen dem unsanften Wecken ...“
„Nein, ist schon in Ordnung“, wehrte Max ab. „Ich wollte mich nur ein wenig hinlegen, aber dann … Ich habe von Rachel geträumt.“
Während Chloe es sich auf Max' Bettkante bequem gemacht hatte, zog sich Nathan den Schreibtischstuhl heran und beide betrachteten Max mit äußerster Spannung. Den düsteren Blick auf ihre Beine gerichtet versuchte sie sich an jedes Detail ihres Traums zu erinnern und diesen wiederzugeben, während ihre Freunde nur stumm lauschten. Max stockte, als sie zum Schluss ihrer Berichterstattung kam. „Rachel, sie … plötzlich war sie ganz anders.“
„Wie anders?“, hakte Chloe ungeduldig nach.
„Sie war so … verzweifelt. Verängstigt. Sie sagte, sie hätte nur ein ganz normales Mädchen sein wollen. Doch sie wäre immer eine Gefangene geblieben.“ Ihre Worte hallten noch überdeutlich in Max' Ohren wider, weil sie so überhaupt nicht zu der Rachel passten, die sie in den letzten Wochen geplagt hatte. Die Rachel, die ihr völlig ungerührt erklärt hatte, dass alle sterben müssten. Und die Frage, die sich ganz unweigerlich stellte war, weshalb es plötzlich auch diese andere Rachel gab. Doch ich bin immer eine Gefangene geblieben. Es war einfach gewesen, Rachel als die Wurzel allen Übels zu sehen, doch selbst sie schien nicht mehr als eine Schachfigur in diesem verrückten Spiel zu sein. Und es schien als wäre auch sie nicht glücklich mit der Rolle, die sie zu tragen hatte. Bitte hilf mir. „Sie hat um Hilfe gebeten.“
„Gott, Rach ...“, flüsterte Chloe und es war schwer einzuschätzen, ob sie mit den Tränen kämpfte oder auf jemanden losgehen wollte. „Was ist bloß mit ihr passiert?“
„Wenn wir das nur wüssten“, seufzte Max.
„Naja, aber ...“ Als hätte sie neuen Mut gefasst, sah Chloe wieder auf. „... aber damit können wir doch arbeiten, oder? Rachel hat um Hilfe gebeten – wenn wir ihr helfen, verhindert sie den Sturm vielleicht!“ Aus ihrer Stimme klang die Hoffnung heraus, dass Rachel nicht nur den Sturm verhindern, sondern auch zu ihr zurückkehren würde. Und vielleicht war das sogar möglich. „Rachel ist auch nur ein Opfer in dieser ganzen Sache!“, legte sie noch überzeugt nach.
Max' Augen suchten Nathans Blick. Er hielt sich auffällig bedeckt und schien ganz in seine eigenen Gedanken vertieft zu sein. „Was meinst du?“, riss sie ihn aus diesen heraus.
„Ja.“ Und sobald ihm klar wurde, dass das keine adäquate Antwort auf ihre Frage war, fügte er hinzu: „Ich meine, Rachel ist nicht böse. Es ist diese verfluchte Stadt, die alle hier so kaputt macht. Hab ich von Anfang an gesagt.“
Max nickte gedankenverloren. Das hatte er und so bescheuert sich seine Worte damals in diesem Diner auch angehört haben mochten, war sie langsam davon überzeugt, dass er Recht hatte. Höhere Mächte waren hier am Werk. Mächtiger als ein dummes, naives Mädchen, das einfach nur seinen Traum verfolgte. „Wie lange war ich weg?“, wollte sie dann wissen und warf einen prüfenden Blick aus dem Fenster. Es war hell. Zu hell für einen verregneten Dienstagabend.
„Es ist gleich zehn“, meinte Chloe mit Blick auf ihr Handy. Es erstaunte Max, dass sie doch so lange geschlafen hatte.
Einmal mehr war der todbringende Tornado unheilvoll nähergerückt. Schluss mit der Untätigkeit; sie mussten handeln! „Wir müssen sie finden!“, erklärte sie eindringlich. Ihre Freunde blickten verdutzt drein. „Rachel. Wir müssen sie finden“, wurde Max deutlicher.
„Scherzkeks“, zischte Nathan missmutig. „Wie denn?“
„Jefferson ist unser einziger Anhaltspunkt. Er weiß, wo Rachel sich aufhält.“ Ihr mitleidiger Blick blieb an Nathan hängen. Es gefiel ihr nicht von ihm zu verlangen, sich der Nähe des gefährlichen Lehrers noch einmal auszusetzen, doch es war ihre beste Chance. „Du musst ihn noch einmal damit konfrontieren. Er hat gesagt, Rachel wäre ihm egal, aber er weiß sicher wo sie ist oder wie wir sie finden können.“
„Er wird mich umbringen“, prophezeite Nathan düster.
„Das werden wir nicht zulassen“, versicherte Max. Ob er ihr nun vertraute oder ob ihm sein Schicksal egal war, er nickte und machte sich ohne ein weiteres Wort auf den Weg, eine erdrückende Stille im Raum zurücklassend. Ein wenig mulmig war Max durchaus zumute.
„Keine Ahnung, ob ich mich je an den Typen gewöhnen werde“, versuchte Chloe die Stimmung mit einem lockeren Spruch wieder zu heben und zuckte hilflos mit den Achseln. „Aber es wäre vielleicht ganz nett, das herauszufinden. Vielleicht reagiere ich gerade auch einfach etwas empfindlich darauf, wenn Leute plötzlich aus meinem Leben verschwinden.“
Max schluckte. „Chloe, ich ...“
„Lass es, Max“, schnitt die Freundin ihr das Wort ab.
„Was?“
„Ich weiß, dass du dich entschuldigen willst“, erklärte Chloe ungewöhnlich ernst. Sie starrte finster und ausweichend auf ihre Beine, musste Max' penetranten Blick allerdings deutlich spüren. „Schätze, jede Realität setzt sich aus ihren ganz eigenen Bauteilen zusammen ...“
„Chloe … ich kann mir gar nicht vorstellen, wie du dich fühlen musst.“
Diese stieß ein humorloses Lachen aus. „Wenn ich das selbst wüsste! In einem Moment ist noch alles in Ordnung und dann ist plötzlich alles anders. Ganz ehrlich, als du gesagt hast, mein Dad wäre ...“ Ihre Stimme wurde mit jedem Wort brüchiger, doch sie riss sich zusammen und verdrückte keine einzige Träne. Energisch schüttelte sie den Kopf. „Ich hab dir nicht geglaubt. Es klang einfach absurd. Ich war so verzweifelt davon überzeugt, dass du dich irrst, dass alles in Ordnung ist, wenn ich nachhause komme. Und ernsthaft, ich glaube, so richtig hab ich das Ganze immer noch nicht realisiert ...“ Ihr gezwungenes Lächeln brach Max das Herz. „Ich wollte mich einfach nur noch verkriechen und warten, bis dieser Alptraum vorbei ist. Bis ich dieses dringende Gefühl hatte, bei dir sein zu müssen.“ Sie zog geräuschvoll die Nase hoch, doch noch immer weinte sie nicht. „Ich hab die Schnauze voll davon, Leute zu verlieren. Rachel, meinen gottverdammten Vater, dich … und die ganze verfluchte Stadt steht auf dem Spiel. Wir müssen das irgendwie in Ordnung bringen ...“ Endlich sah sie Max wieder an und in ihrem Blick lag eine Entschlossenheit, die Max Respekt abverlangte. Sie war so wahnsinnig stark und tapfer.
„Es tut mir so leid, Chloe ...“ Chloes Blick erinnerte sie daran, dass sie keine Entschuldigungen hören wollte, doch Max kam einfach nicht aus ihrer Haut raus. „Ich hätte dir das so gerne erspart ...“
„Ich weiß“, versicherte Chloe ihr mit einem tapferen Lächeln und griff wie zur Unterstreichung ihrer Worte nach ihrer Hand. „Bitte, Max. Lass uns die Welt retten und anschließend über all das Heulen, was schief gelaufen ist. Davon abgesehen haben wir doch noch so viel nachzuholen.“
Max nickte eifrig und schämte sich dafür, dass sie jetzt diejenige war, die mit den Tränen kämpfen musste. Sie wünschte, es gäbe eine Möglichkeit William zu retten, doch welches Opfer würden sie dafür bringen müssen?
Chloe zog sie in eine Umarmung. Chloe. Sie hatte doch bloß Chloe retten wollen. Das war die Hauptsache.
Nathan suchte Mark nach dem Unterricht auf, der wie gewohnt stattfand, ohne dass die Schüler etwas von der herannahenden Katastrophe ahnten. Statt den Lehrer in sein Zimmer zu bestellen, blieb Nathan mit ihm im Klassenzimmer zurück. Es hatte ein wenig Überredungskunst bedurft die beharrliche Victoria loszuwerden, die zum Einen wohl keine Gelegenheit ausließ, um sich an Mark ranzumachen und zum Anderen schrecklich neugierig war, was ihr Freund mit dem Lehrer zu besprechen haben könnte. Es war wohl nicht zuletzt Marks Autorität zu verdanken, dass Victoria schließlich eingeschnappt das Feld räumte. Mark sah ihr interessiert hinterher, bis sich die Tür hinter ihr schloss; Nathans Blick war auf Marks Raubtieraugen geheftet.
„Was ist los, Nathan?“, wollte er schließlich wissen. Er klang gelangweilt.
„Es … es geht um Rachel.“
Marks Miene blieb reglos, bis er ein genervtes Schnauben ausstieß. „Wieso denkst du über Rachel nach?“
Jetzt, wo er in seinem Fokus stand, wich Nathan seinem Blick furchtsam aus. „Rachel ist nicht tot.“
„Was redest du da?“ Wachsam sah Mark zur geschlossenen Tür, ehe er Nathan wieder mit zusammengekniffenen Augen fixierte. „Du weißt das besser als irgendwer sonst hier. Was ist los? Nimmst du deine Medikamente nicht?“ Seine Stimme war zu einem verschwörerischen Flüstern abgeklungen.
„Ich weiß es“, erklärte Nathan bestimmt. „Weil ich sie gesehen habe.“
Erschöpft massierte sich Mark die Nasenwurzel, die Augen wie im Schmerz geschlossen. „Nathan ...“
„Ich weiß, was ich gesehen habe!“
„Du kannst die Realität nicht von deinen Wahnvorstellungen unterscheiden, mein Junge. Weil du entweder auf Medikamenten oder auf Drogen bist; im schlimmsten Fall auf beidem“, erwiderte Mark kalt und vorwurfsvoll. „Vielleicht sollte ich deinem Vater eine Email schreiben.“
„Ich hab mir das nicht eingebildet; ich habe Rachel gesehen. Warum versteckst du sie von mir?“
„Herrgott, Nathan, hör dir nur mal zu ...“ Mark wandte sich von seinem Schützling ab und schritt zum Fenster, aus dem er wortlos starrte. Nathan verlagerte unruhig sein Gewicht von einem auf den anderen Fuß, während er sich mühsam in Geduld übte. Seine Finger trommelten nervös gegen seine Beine. Er hasste es, zu warten. Und noch mehr hasste er es, der Unberechenbarkeit dieses Mannes ausgeliefert zu sein. Ob er Nathan nun glaubte oder nicht – er hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass Mark sich in diesem Moment überlegte, wie er Nathan am geschicktesten loswurde. Für immer. Weil er seiner Meinung nach die unberechenbare Variable in ihrer kriminelle Gleichung war. „Rachel ist tot“, drang Marks Stimme schließlich leise, doch eindringlich, zu ihm durch. „Du glaubst zu wissen, was du gesehen hast? Ich habe den Dreck unter deinen Fingernägeln gesehen, als du deine Freundin unter der Erde verscharrt hast! Erinnerst du dich nicht? Oder willst du dich nicht erinnern?“ Er hatte sich wieder zu ihm umgedreht und trat nun auf Nathan zu. Dicht vor ihm blieb er stehen und legte ihm die Hände auf die Schultern. „Nathan, sieh mich an.“
Nathan gehorchte und fragte sich unwillkürlich, was er bloß viel zu lange in diesen Augen gesehen hatte. Wie verblendet er gewesen war zu glauben, dass Mark ihm den Vater ersetzen könnte. Er war ihm doch genauso gleichgültig wie seinem Vater.Er hatte ihn bloß benutzt und zugelassen, dass Nathan noch mehr leiden musste, indem er ihn zu diesen schrecklichen Taten verführt hatte. Im Nachhinein wünschte er sich, er wäre nicht so dämlich und gleichgültig gewesen, sich auf ihn einzulassen. Bei all der Scheiße, die er in seinem Leben schon zu verschulden hatte, empfand er aufrichtige Reue den Menschen gegenüber, die er mit sich in den Abgrund gerissen hatte. Kate. Rachel.
„Die Schuldgefühle nagen an dir“, fuhr Mark ruhig fort. „Das verstehe ich.“ Nathan bezweifelte stark, dass der Lehrer so etwas wie Schuldgefühle kannte. „Aber was geschehen ist, ist geschehen. Rachel ist tot.“ Kurz verstärkte er den druck auf Nathans Schultern. „Es war ein Unfall.“
„Warum lügst du mich an?“
„Niemand lügt dich an, Nathan!“ Mark wurde hörbar ungeduldig, woraufhin seine Stimme wieder an Härte gewann. „Du bist derjenige, der sich selbst etwas vorlügt, weil er mit der Wahrheit nicht umgehen kann.“
Vielleicht hatte er sogar Recht. Vielleicht hätte Nathan besser damit umgehen können, wenn Rachel einfach tot wäre. Er wusste es nicht. Rachel, Arcadia Bay … dieser verrückte Scheiß raubte ihm langsam den Verstand. Doch ein winziger Teil in ihm hoffte, dass es ihm irgendwas bringen würde, wenn er diese Sache in Ordnung brachte. Wenn Rachel ihren Frieden fand, bestand für ihn vielleicht auch diese Hoffnung.
„Ich dachte wirklich, du schaffst es, Nathan“, sagte Mark wieder ruhiger; beinahe fürsorglich. „Würde es dir helfen … Rachel zu sehen?“
Nathan konnte nicht verhindern, dass sich seine Stirn kurz in sichtbarer Verwirrung in Falten zog. Verunsichert zuckte er die Achseln. „Ja … ich will sie sehen“, antwortete er wahrheitsgemäß.
Mark atmete schwer ein und wieder aus als träfe er eine bedeutende Entscheidung, ehe er ergeben nickte. „Gut. Ich werde sie dir zeigen, wenn du das willst. Triff mich heute Abend auf dem Parkplatz. Dann gehen wir zu Rachel.“
Nathan nickte bloß, entzog sich sachte dem Griff seines Mentors und verließ ohne ein weiteres Wort das Klassenzimmer. Er wusste, Mark würde ihn wohl kaum wirklich zu Rachel führen. Aber vielleicht konnte er ihm ja doch noch irgendwie die Wahrheit entlocken, ehe er ihm den Gnadenschuss versetzte.
Einmal mehr ließ Nathan Victoria abblitzen, als diese ihn auf dem Schulgelände entdeckte und sich sofort an seine Fersen heftete, weil sie immer noch ihre Neugier befriedigen wollte. Da Nathan nicht gewillt war mit ihr zu reden, zickten sie sich kurz gegenseitig an und gingen dann wieder jeder seiner Wege. Zu gerne hätte er ihr die Wahrheit gesagt, doch je weniger sie wusste, desto besser. Es hatte schon an ein Wunder gegrenzt, dass sie sich dazu hatte überreden lassen, mit Kate zu sprechen; Nathan wollte ihre Geduld nicht überstrapazieren. Er dachte darüber nach, dass auch seine beste Freundin auf Marks Abschussliste stand. Er hatte ihren Namen auf einem leeren Aktenordner gelesen, war anschließend aber zu high oder zu beschäftigt mit Unwichtigem gewesen um zu realisieren, was das bedeutete. Wenn Max sich ihm nicht offenbart hätte, hätte er es wohl einfach geschehen lassen. Ohne Max hätte er nicht die nötige Kraft, gegen diesen übernatürlichen Spuk zu kämpfen. Sie war so anders als alle Mädchen, die er kannte. Noch nie in seinem Leben hatte er sich einem Menschen so verbunden gefühlt. Hätte er sie doch bloß früher getroffen.
Erst zwanzig Minuten nachdem Mark ihm geschrieben hatte, er solle sich auf dem Parkplatz einfinden, raffte er sich aus seiner Lethargie, in der er den ganzen Tag irgendwie rumgebracht hatte, auf und kam der Aufforderung nach. Er trug seine Waffe im Hosenbund, noch unentschlossen, ob er sie benutzen wollte oder nicht und eine Kippe zur Beruhigung im Mundwinkel. Sobald er Nathan erspähte stieg Mark aus seinem Wagen aus und Nathan verharrte angespannt auf der Stelle. Seine Finger zuckten nervös und plötzlich war da doch der Drang, als Erster die Waffe zu ziehen.
„Komm mit.“
Dass ausgerechnet der pedantische Mark Jefferson nicht mit einem einzigen Wort Anstoß an Nathans Verspätung nahm, obwohl er es hasste zu warten und nicht mit dem nötigen Respekt behandelt zu werden, unterstrich noch auf unheimliche Art die Endgültigkeit dieses Treffens. Es war ihr letztes. Was sie hatten, würde heute Nacht enden – so oder so.
Stumm folgte Nathan Mark und stellte genervt fest, dass dieser ihn zurück zum Wohnheim führte. Er wollte sich über den unnötigen Umweg beschweren, doch er brachte keinen Ton raus. Er würde sich früh genug wieder mit Mark auseinandersetzen müssen und etwas in ihm fürchtete sich davor. Er fürchtete sich. Wer würde dem großkotzigen Prescott das schon glauben? Vielleicht nur ein einziger Mensch auf der ganzen Welt.
Sie blieben vor dem Tobanga stehen und starrten auf dieses verfluchte Ding, als wäre es selbsterklärend. Nathan hatte seit jeher einen tief sitzenden Hass auf das Denkmal empfunden, ohne sich diese Abscheu selbst erklären zu können. Wenn er wirklich ein Nachfahre der Menschen war, die die einheimischen Menschen beraubt, geschändet und abgeschlachtet hatten, lag darin vielleicht die Begründung für seine Gefühle. Er riss den Blick von dem Denkmal los und sah sich um; kurz verweilten seine Augen auf dem Wohnheim, in dem nur noch hinter vereinzelten, zugezogenen Jalousien Licht zu erkennen war.
„Hier?“, fragte er ungläubig und einmal war es Mark, der seinen Gedankengängen offenbar nicht folgen konnte und verwirrt die Stirn runzelte.
„Kannst du sie denn nicht sehen?“, erwiderte er mit leisem Spott in der Stimme.
Nathan schnaubte. „Willst du mich verarschen?“ Reflexartig streifte sein Blick noch einmal den Tobanga, aber natürlich konnte er Rachel dahinter nicht sehen. Und er wusste, dass Mark sie hier genauso wenig sah. „Warum hast du mich ausgerechnet hierher gebracht?“
Gleichgültig zuckte Mark die Achseln. „Es erschien mir nachvollziehbar. Du hast in deinem Wahn schon einmal versucht, dieses Ding auszugraben. Ich dachte mir, wenn du Rachel sehen würdest, dann hier.“
„Aber so öffentlich?“, merkte Nathan abschätzig an, darum bemüht sich seine Todesangst nicht anmerken zu lassen.
„Es passt zu dir, findest du nicht?“
„Keine Angst vor Zuschauern?“
„Nein. Was willst du tun? Um Hilfe rufen? Du kannst aus dieser Nummer nicht als Gewinner rausgehen, aber das weißt du, oder?“
Nathan schluckte. Wenn er schrie, würde Mark es vermutlich schnell zu Ende bringen oder es so drehen, dass er in der Klapse endete. Wenn er schoss, würde er in den Knast wandern. Und er hatte Recht; Nathan war sich seiner beschissenen Ausgangssituation nur allzu bewusst. Alle schlechten und falschen Entscheidungen, die er sein ganzes Leben lang getroffen hatte, rächten sich jetzt. Er erhielt die berühmte Quittung. „Also muss ich jetzt verschwinden, weil ich Rachel gesehen habe? Obwohl wir beide wissen, dass es keine Spinnerei von mir ist? Warum?“ Er kämpfte nicht wirklich um sein Leben; viel eher versuchte er zu verstehen.
Mit der Zunge schnalzend schüttelte Mark den Kopf. „Genau wie unsere süße Rachel … ist dir nur ein einziges Mal in den Sinn gekommen, dass du dieses Mädchen wie alle anderen einfach zu wichtig nimmst? Es geht nicht um Rachel.“
„Du bist derjenige, der nicht begreift, dass es um sie geht!“, zischte Nathan gereizt. „Wieso ist sie nicht tot? Wieso hast du mich denken lassen, sie sei tot? Und wo ist sie jetzt?“
„Fragen über Fragen, deren Antworten du nicht mehr brauchst, Nathan.“ Er drehte sich zu ihm um und augenblicklich huschte Nathans Blick runter auf seine Hände, die Mark in den Hosentaschen versteckt hielt. „Und ich habe auch keine Antworten für dich. Alles, was ich dir sagen kann, ist … dass ich dich nicht mehr ertrage.“
Er wappnete sich; das Herz schlug ihm bis zum Hals und der Schweiß brach ihm aus. Das war es gewesen – sein Todesurteil. Er hatte nichts erreicht und würde auch nichts mehr erreichen. Mark würde ihm keine Auskunft über Rachel erteilen. Er hatte versagt. Wozu sollte er überhaupt noch Widerstand leisten?
Vor Schreck machte Max' Herz einen Satz als plötzlich ihr Handy vibrierte. Ein bisschen hatte sie sich vor dem Moment gefürchtet. Nach einem ganzen unbeschwerten Tag an Chloes Seite, an dem sie miteinander geschwatzt hatten wie die Freundinnen, die sie sein sollten; einem Tag, der sich so unglaublich normal angefühlt hatte, wollte Max am liebsten das Chaos um sie herum einfach vergessen. Es war so verführerisch, einfach loszulassen. Doch dann sah sie sich in Chloes Zimmer um – das Zimmer, das genauso aussah wie es eben aussah, weil Chloe ihren Vater verloren hatte, Rachel verloren hatte, Max verloren hatte – und sie wusste, sie konnte und durfte die Augen nicht verschließen.
Sie spürte wie Chloe sich neben ihr bewegte und die Matratze so leicht zum Wackeln brachte. Sie hatten so lange schweigend dagelegen, dass Max geglaubt hatte, Chloe sei eingeschlafen. „Nathan?“, riet die Ältere und ihre Stimme verriet dieselbe Trägheit, die auch Max befallen hatte.
Diese gab ein unbestimmtes Geräusch von sich und hob das Handy vor ihr Gesicht, um die Nachricht zu lesen. Wie geahnt war sie von Nathan, der recht kurz angebunden war. „Der Leuchtturm ...“, flüsterte Max begreifend. Natürlich. Sie hatte Rachel doch bereits genau dort getroffen. Dort, wo alles irgendwie angefangen hatte. Am Leuchtturm und mit Chloe.
„Der Leuchtturm?“, wiederholte Chloe fragend und folgte Max auf die Beine. „Jetzt?“
Und obwohl Nathan nichts von einer bestimmten Zeit gesagt hatte, wusste Max, dass jetzt der richtige Zeitpunkt war.