Arcadia Bay
von Caligula
Kurzbeschreibung
Max will nicht aufgeben, bis sie alles gerichtet hat. Aber ist eine solch perfekte Realität überhaupt möglich?
GeschichteMystery, Freundschaft / P16 / Gen
Chloe Price
Mark Jefferson
Maxine "Max" Caulfield
Nathan Prescott
Rachel Amber
12.08.2017
18.12.2020
22
63.991
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22.09.2019
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Kapitel 14 – Das Ende der Welt
Noch nie hatte Max sich so deplatziert gefühlt - und sie hatte sich auf lauten, Alkohol geschwängerten Partys schon immer deplatziert gefühlt. Die Schüler der Blackwell Academy feierten ausgelassen das Ende der Welt, das ihnen näher war als ihnen tatsächlich lieb sein konnte. Es juckte Max in den Fingern zu handeln, statt einem aufdringlichen Logan oder der ewig eifersüchtigen Courtney aus dem Weg zu gehen, doch ihr waren die Hände gebunden. Sie musste auf Mr Jeffersons Auftritt warten.
Als es endlich soweit war - Mr Jefferson ließ sich nicht zu viel Zeit, wahrscheinlich um nicht über irgendwelchen Alkohol zu stolpern, der ihn als Lehrer zum Eingreifen gezwungen hätte - packte Victoria sie fest am Arm und schleifte sie zur Bühne, auf der der Lehrer Aufstellung bezogen hatte und wohnte der Siegerehrung zwischen ihr und Taylor eingequetscht bei. Einen Moment genoss der Lehrer seinen dramatischen Auftritt sowie den tosenden Beifall und lächelte Max verschwörerisch zu. Dann begann er seine Ansprache. Geradezu feierlich ließ er sich über diesen entscheidenden Schritt in ihrem Leben als Künstler aus, ihre Werke der Öffentlichkeit zu präsentieren und versäumte auch nicht sie daran zu erinnern, dass ihre Schule einen gewissen Ruf genoss. Und charmant, wie man ihn kannte, ernannte er sie grinsend alle zu Alltagshelden. Dann kam endlich der entscheidende Moment, als er den Umschlag mit dem Namen des Gewinners entgegennahm. „Und der Gewinner des Everyday Heroes Wettbewerbs ist...“ Sein Blick glitt durch die gespannte Menge und blieb schließlich an Max hängen. Victoria schien etwas zu schielen, denn sie drückte Max' Arm so fest, dass klar war, dass sie sich selbst angesprochen fühlte. „...Max Caulfield.“ Abrupt fiel Victorias Hand von ihr ab und sie rückte etwas von der vermeintlichen Freundin ab, um sie mit einem irritierten und fassungslosen Blick zu strafen. Max bekam nicht einmal die Gelegenheit sich zu rechtfertigen oder zu entschuldigen, denn schon wurde sie von unbekannten Händen auf die Bühne geschubst. Obwohl sie die Strategie hätte erwarten können, hatte sie sich keine Worte zurecht gelegt. Nicht dass sie je ein großer Redner gewesen wäre. Mit hochrotem, gesenktem Kopf murmelte sie bloß ein Dankeschön ins Mikro und floh eilig wieder aus dem Scheinwerferlicht. Sie befürchtete schon, Victoria würde sich gleich wie eine wild gewordene Furie auf sie stürzen, doch solch öffentliche Szenen waren allem Anschein nach nicht ihr Ding oder aber sie brütete still und heimlich an irgendeiner Rache, weil Mr Jefferson Max dicht auf den Fersen war.
„Das Foto bräuchte ich dann aber zurück“, hielt er sie schmunzelnd auf. Und so unangenehm es Max war, dass er so rasch in die Offensive ging, war sie doch vor allem erleichtert, dass die Sache schnell ins Rollen kam.
„Oh...ja. Also, ich hab es jetzt nicht...“
„Überhaupt kein Problem, Max“, wehrte er gutmütig ab. „Bring es mir morgen zurück, das reicht.“ Er glaubte also, dass Max morgen noch in der Lage sein würde, ihm irgendetwas hinterher zu tragen? Oder spielte es keine Rolle, weil ihr Wettbewerbsgewinn mit ihr sterben würde? Ihr schüchternes Lächeln verriet ihre Gedanken nicht.
„In Ordnung.“
Er betrachtete sie einen Moment nachdenklich. „Ist alles okay, Max?“
„Was?“
„Du wirkst irgendwie...verändert. Und warst in den letzten Tagen öfters unpässlich. Das ist aufgefallen.“
Ertappt senkte sie den Blick und zuckte hilflos die Achseln. „Ich weiß nicht...ich schätze, diese Sache mit Rachel setzt mir zu.“
Es verschaffte Max eine gewisse Genugtuung, wie Jeffersons Blick wachsam durch den Raum glitt. Die Musik hatte längst wieder eingesetzt, dutzende Stimmen sirrten in der stickigen Luft und es erforderte zu viel Konzentration jemanden zu verstehen, als dass sie befürchten müssten, jemand würde ihrer Konversation lauschen.
„Direkt. Das ist schon eher unsere gute alte Max.“ Bis jetzt hatte sie kein klares Bild von dieser guten, alten Max, die die Blackwellschüler in dieser Zeitlinie kennengelernt hatten, aber ihre grobe Vorstellung war eher negativ behaftet. Ihr fiel auf, dass Warren sich von ihr fernhielt. Hoffentlich war sie nicht zu schrecklich gewesen. Sie vermisste ihn irgendwie; nachdem sie ihr Verhältnis zu Kate gekittet hatte, umso mehr. „Na schön. Treffen wir uns in fünf Minuten auf dem Parkplatz“, entschied Jefferson und verschwand mit einem letzten wachsamen Blick durch die Runde in der Menge.
Max ließ ihm den Vorsprung, auf den er wohl aufgrund der Diskretion bestand und schaute sich abwartend um. Der Zufall wollte es, dass sie tatsächlich Warren entdeckte, der auf Stella einredete, die mit großzügigen Schlucken ihren Plastikbecher leerte. Zachary flirtete mit Juliet und Dana stand gelangweilt daneben. Max wog sich gerade in Sicherheit, als ihr Victorias Stimme viel zu dicht an ihrem Ohr fast einen Herzinfarkt bescherte.
„Herzlichen Glückwunsch, Maxine“, ätzte sie so giftig sie nur konnte und trat mit vor der Brust verschränkten Armen vor sie. „Oh, du willst nicht Maxine genannt werden? Weißt du, was ich wollte? Diesen verdammten Wettbewerb gewinnen. Sieht so aus, als bekämen wir nicht immer, was wir wollen.“
„Victoria, es tut mir leid, okay?“ Max konnte nicht gänzlich den Trotz aus ihrer Stimme verbannen. „Ich habe den Gewinner nicht ausgewählt.“
„Aber unglücklich drüber bist du auch nicht, oder?“
Hilflos hob sie die Hände. „Was erwartest du jetzt von mir?“
„Dass du zurücktrittst“, kam es ziemlich prompt zurück. Und es war vielleicht der Weg des geringsten Widerstands.
„Okay.“
Victoria betrachtete sie prüfend mit skeptisch gehobener Braue. „Einfach so?“
„Mir bedeutet das nicht halb so viel wie dir.“
Noch einen Moment war sie Victorias gründlicher Musterung ausgesetzt, dann löste sich plötzlich die Spannung in ihrem Körper. „Tut mir leid.“ Max musste eine Entschuldigung von Victoria Chase erst verdauen, die ihr überraschenderweise gar nicht mal so schlecht zu Gesicht stand. „Ich kann eine furchtbare Bitch sein. Manchmal bin ich vielleicht etwas zu ehrgeizig.“
Max zeigte sich versöhnlich. „Naja, diesen Biss braucht man in der Branche vermutlich. Und ich meine es ernst, mir ist der Wettbewerb nicht wichtig. Ich werde gleich mit Mr Jefferson reden.“
„Das ist...wow.“ Ihr fehlten die Worte, doch konnte sie sich nicht überwinden, Max' großzügiges und selbstloses Angebot auszuschlagen. „Das würdest du echt tun? Ich weiß, dass das viel verlangt ist...“ Doch aufhalten tat sie sie immer noch nicht.
„Es macht mir wirklich nichts aus. Davon abgesehen...ist Mr Jefferson einfach nicht mein Typ“, erklärte sie achselzuckend und ihr Grinsen übertrug sich auf Victoria, die ihr freundschaftlich gegen den Arm boxte.
„Ich schwöre, Max, dafür werde ich alles in meiner Macht stehende tun, um Zachary für dich aus Juliets Klauen zu befreien!“
Max lachte hilflos. „Äh...danke.“
„Du bist doch noch interessiert, oder?“
„Ja klar, was denkst du denn? Doch wohl nicht ernsthaft, dass ich was von Nathan will...“, leierte sie gelangweilt.
Victoria winkte ab. „Tut mir leid, das war eine Schnapsidee. Hab mich wohl von Courtney hinreissen lassen. Wo steckt der Kerl eigentlich?“ Mit skeptisch zusammengekniffenen Augen sah sie sich um, auch wenn das flackernde Licht die Suche nach einer bestimmten Person ziemlich unmöglich machte.
„Ganz ehrlich, Vic? Das kann dir Courtney garantiert eher beantworten als ich.“
„Wahrscheinlich.“
„Gibst du mir dann einen Moment? Ich will Jefferson noch erwischen.“
„Du musst das nicht heute tun, Max...“
„Keine Widerrede!“, erklärte Max inbrünstig und legte Victoria die Hände auf die Schultern. „Ich bin gleich wieder da!“
„Du bist die Beste!“ Victoria zog sie in eine Umarmung und ließ sie tatsächlich von dannen ziehen. Mit geducktem Kopf schob sie sich durch die feiernde Menge, in der stillen Hoffnung von niemandem mehr aufgehalten zu werden. Sobald sie das Gebäude verließ, zückte sie ihr Handy. Eine neue Nachricht von Chloe, während sie genießerisch die kühle Nachtluft einatmete. Chloe und Nathan waren in Jeffersons Versteck und warteten. Max teilte ihnen mit, dass sie auf dem Weg waren und ließ das Handy gerade wieder in der Hosentasche verschwinden, als sie auf den Parkplatz bog. Mr Jefferson saß bereits bei laufendem Motor im Wagen und Max stieg nach kurzem Zögern dazu. Trotz ihrer Kräfte, trotz ihrer Freunde, trotz allem hatte sie ein mehr als mulmiges Gefühl auf so engem Raum mit einem Psychopathen zu sitzen, dem man seinen Wahnsinn auf den ersten Blick nicht einmal ansah. Waren das nicht die krankesten Köpfe?
„Schön, dass du es noch einrichten konntest“, begrüßte er sie etwas schnippisch.
„Ich wurde aufgehalten“, rechtfertigte sie sich. Daraufhin sagte er nichts mehr und Max' Unbehagen wuchs. „Wollten Sie nicht...?“, begann sie zögerlich; versuchte nicht zu forsch zu klingen, um keinen Verdacht zu erregen.
Langsam drehte er sich zu ihr um und sah ihr mit nicht zu deutender Miene in die Augen. Neugierig versuchte Max seinem Blick standzuhalten, wobei sie merkte, dass sie auffällig oft blinzelte. Mr Jeffersons Mund verzog sich zu einem breiten Lächeln, er ließ von ihr ab und fuhr den Wagen an.
Sie scheiterte daran, ihn zu durchschauen. Innerlich wappnete sie sich vor einem Angriff. Dass er ihr plötzlich ein mit Chloroform getränktes Tuch vors Gesicht pressen und aus ihrer freiwilligen Verabredung eine Entführung machen würde. Doch er behielt beide Hände am Lenkrad und konzentrierte sich ganz auf die leere Straße. Es machte sie zunehmend nervös, dass er kein Wort sagte und die Frage, worauf er wartete, brannte ihr fast schmerzlich unter den Nägeln.
Sie waren nicht lange unterwegs, als er auch schon wieder parkte. Die Stadt hatten sie hinter sich gelassen und auf den ersten Blick schien es in der Dunkelheit um sie herum nichts als hohe Bäume, unberührte Natur, zu geben. Doch als Max aus dem Wagen stieg, der schützend zwischen ihr und Jefferson stand, erkannte sie ein einzelnes, schlichtes Gebäude. Eine alte Scheune. Skeptisch sah Max zwischen dem Gebäude und Jefferson hin und her. „Wo sind wir hier?“, wollte sie wissen.
„Genau da, wo wir sein sollten“, erwiderte er geheimnisvoll und trat auf das Tor zu, für dessen Vorhängeschloss er offenbar den Schlüssel hatte. Sie schätzte, der Ort war abgelegen genug, um ungestört seiner perversen Kunst zu frönen. Sie fröstelte im aufkommenden Wind und warf noch einen besorgten Blick gen Himmel. „Kommst du?“ Mr Jefferson wartete auf sie, ein beinahe unschuldiges Lächeln auf den Lippen, als hielte er ihr die Tür zur Zeitgeist Galerie auf und nicht als lotse er sie in ihr sicheres Verderben. Etwas widerwillig gehorchte sie, weil sie keine Wahl hatte. Sie fühlte sich wie das blauäugige Teenagermädchen in einem Horrorfilm, das für seine blinde Dummheit vom Zuschauer angeschrien wird und musste sich immer wieder ermahnen, dass es Jefferson war, der in eine Falle lief, nicht sie. Um zu sehen wo sie hintrat, schaltete sie die Taschenlampe an ihrem Handy an, das er ihr immerhin noch nicht abgenommen hatte, warum auch immer. In sicherem Abstand folgte sie ihm zu einer Falltür, die in den Boden eingelassen war. Das Stroh, das überall in der Scheune herumlag, war zur Seite gefegt worden und gab den Blick darauf frei. Das Schloss geöffnet. Jefferson öffnete die Luke und entblößte eine Treppe, die unter die Erde führte und Max wurde noch etwas mulmiger zumute. „Hab keine Angst“, sprach Mr Jefferson heuchlerisch sanft auf sie ein. „Nirgendwo könntest du heute Nacht sicherer sein als hier.“
Wachsam sah sie auf. Hatte er gerade den alles vernichtenden Sturm angedeutet? Oder hielt er sie wirklich für so dumm und naiv? All ihren Mut zusammennehmend folgte sie ihm in die Tiefe. Es fühlte sich wirklich wie ein schräger Film oder ein verdammtes Videospiel an, aber nicht real, als er mittels eines Codes, den er in ein elektronisches Schloss eingab, eine schwere Stahltür öffnete und Max in einen wahrhaftigen Bunker führte. In schlichten Metallregalen lagerten lang haltbare Lebensmittel, die tatsächlich so aussahen, als lägen sie schon einige Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte, hier unten.
„Nathan?“, rief Mr Jefferson, als er die Tür hinter ihnen schloss. Er trat an Max vorbei in einen angrenzenden Raum, sie folgte ihm und sie fanden Nathan vor. Er saß auf einem Sofa, mitten im hellen, modern eingerichteten Raum. Hinter dem Sofa stand ein Schreibtisch, der mit einem Computer ausgestattet war; vor dem Sofa war ein richtiges Fotostudio eingerichtet. Weiße Leinwände, Scheinwerfer...hier verübten Jefferson und Nathan ihre Verbrechen.
Nathan nickte Max kaum merklich zu, ehe er sich stirnrunzelnd an den Lehrer wandte. „Was macht sie hier?“, wollte er scheinbar verständnislos wissen.
„Warum so überrascht? Gefällt sie dir etwa nicht?“
Unschlüssig stand Max zwischen den beiden und fragte sich, wo genau Chloe steckte. Für den Bruchteil einer Sekunde war sie versucht, Nathan Verrat zu unterstellen. Doch er schien auf ihrer Seite zu stehen. „Ich dachte, wir wollten reden“, beharrte er.
„Über Rachel, aber ja“, bestätigte Mr Jefferson nickend. „Das habe ich euch beiden versprochen.“ Er trat am Sofa vorbei und zog sich einen Stuhl heran, den er auf der anderen Seite des flachen Couchtisches abstellte, um sich zu setzen. Auffordernd nickte er Max zu, die etwas unschlüssig neben Nathan auf dem Sofa Platz nahm. Und sie konnte sich wirklich nicht erklären, warum sie hier war; was genau er bezweckte.
Mr Jefferson betrachtete die beiden Jugendlichen nachdenklich, als warte er darauf, dass sie den Anfang machten. Doch dann sprach er süffisant: „Max Caulfield...wo kommt dieses plötzliche Interesse an Rachel Amber her?“
Darauf hatte Max keine Antwort parat. „Ich...habe sie gesehen...obwohl sie seit Monaten vermisst wird.“
Jeffersons Miene verdunkelte sich. „Ja, Rachel Amber ist nicht tot“, gestand er schließlich unmissverständlich. „Ihr wollt wissen, was Rachel Amber ist? Rachel Amber ist eine verzogene, gelangweilte Göre, die des Kleinstadtlebens überdrüssig war. Die Träumen hinterherjagt, die zu groß für sie sind. Die bereitwillig die Beine spreizt, um sich eine Rettung durch einen Märchenprinzen zu erkaufen. Das ist Rachel Amber.“ Die Kaltherzigkeit, mit der er über seinen ehemaligen Schützling sprach, schockierte Max. Sie hatte gedacht, die beiden hätten eine Affäre gehabt. Doch sie waren nicht auf Augenhöhe. „Ich habe Rachel alles gegeben, was sie wollte. Ich habe sie aus dieser Stadt, die ihr die Luft zum Atmen genommen hat, geschafft.“
„Du hast mich denken lassen, sie wäre tot“, knurrte Nathan wütend.
„Du hast sie beinahe umgebracht, Nathan“, erwiderte Jefferson kühl. „Und so war es einfacher, sie verschwinden zu lassen. Denn alle Ermittlungen hätten im Zweifelsfall zu dir geführt.“ Nathan schluckte. Ein amüsiertes Lächeln schlich sich auf Jeffersons Gesicht. „Hast du deiner kleinen Freundin auch davon erzählt, Nathan? Dass du Mädchen wie sie abschleppst und unter Drogen setzt?“
„Ich?!“, rief Nathan empört.
„Er hat mir davon erzählt“, mischte Max sich ruhig ein. „Davon, was Sie mit den betäubten Mädchen machen!“
„Ich?“, wiederholte er Nathans Ausruf, klang dabei jedoch amüsiert.
„Spar dir das, ich hab Max alles erzählt! Und sie glaubt mir!“
„Wer soll dir das glauben, Nathan?“ Sie taxierten einander und Nathans angespannter Kiefer, seine verkrampften Hände, sowie sein wippendes Bein verrieten seine Nervosität, während Jefferson die Ruhe selbst blieb.
„Mistkerl“, presste Nathan hervor.
Jefferson schmunzelte. „Versteh mich nicht falsch, Nathan. Ich hatte es gar nicht so eilig, unsere kleine...Zusammenarbeit zu beenden.“ Max runzelte verwirrt die Stirn, da sie nicht ganz mitkam. „Ich bin noch nicht fertig. Aber ich fürchte, du bist es, Nathan.“ Angesprochener schluckte. Es war eine eindeutige Drohung. So wie Max befürchtet hatte. Nicht nur sie stand auf Jeffersons Abschussliste.
„Was haben Sie vor?“, fragte Max vorsichtig.
„Du hast nichts zu befürchten, Max“, sagte er ruhig.
Und dann zog er eine Pistole unter seinem Jackett hervor.
Und plötzlich fühlte Max sich wesentlich unsicherer. Sie konnte die Zeit zurückdrehen. Aber nicht, wenn unter irgendwelchen Umständen sie von einer Kugel getroffen wurde, wenn die Situation außer Kontrolle geriet. Verdammte Schusswaffen! „Bitte, Mr Jefferson...“, flehte sie zaghaft. „Sie müssen das nicht tun...“
„Ich habe nicht vor Gebrauch von diesem Schießeisen zu machen“, erklärte er lapidar, richtete den Lauf jedoch trotzdem auf Nathan, der kreidebleich war. „Aber du, Nathan, wirst heute sterben. An einer Überdosis, hier in deinem kleinen Versteck. Für niemanden wird das überraschend kommen. Und da das Grundstück deiner Familie gehört, wird man dich sicherlich finden, sobald...sich die Lage wieder etwas beruhigt hat.“
„Welche Lage?“, hakte Max nach.
Jeffersons Augen hafteten an Nathan. „Der Sturm.“
Verdutzt blinzelte Max zu Nathan rüber. Er hatte behauptet, Jefferson wüsste nichts davon.
„Woher weißt du davon?“, machte auch Nathan einen überrumpelten Eindruck.
„Von Rachel.“ Rachel. Immer wieder Rachel. „Tja, und von...dir. Ich weiß nicht, was in euren Köpfen verkehrt läuft. Aber ich glaube nicht an Zufall. Rachel ist zurückgekommen, um mich anzuflehen, die Stadt mit ihr zu verlassen, als hinge ihr Leben davon ab. Du fantasierst ständig von Stürmen, Tod und Verderben. Und dann diese Party.“
„Wenn du es glaubst, warum bist du dann noch hier? Und nicht bei Rachel?“, spie Nathan verächtlich.
Jefferson deutete um sie herum. „Weil dieser Schutzraum eingerichtet wurde, um einem atomaren Angriff standzuhalten. Was auch immer über diese Stadt hereinbricht, kann uns hier drin nicht schaden. Und Rachel...ist mir egal.“
„Sie ist Ihnen egal...?“, wiederholte Max fassungslos.
„Ich denke, ich habe deutlich gemacht, was ich von ihr halte“, meinte Jefferson achselzuckend. So schrecklich gleichgültig. „Ich verrate euch jetzt, wie es weitergeht. Du , Nathan, machst ein letztes Nickerchen. Und du, Max, darfst deinem Freund beim Sterben zusehen. Und morgen...ist dieser ganze Spuk vorbei.“
„Wieso...?“, wollte Max fassungslos wissen. „Warum muss es so kommen? Was passiert mit mir?“ Dass sie nach seinem Plan nicht das Zeitliche segnen sollte, konnte sie nicht beruhigen, ganz im Gegenteil. Was hatte er mit ihr vor?
„Begreifst du es denn immer noch nicht, Max?“ Sein Lächeln wurde sanft, fast liebevoll, und Max wurde schlecht. „Du bist die neue Rachel.“
„Was?“
Amüsiert schüttelte er den Kopf. „Sonst bist du so clever. Aber das willst du nicht gemerkt haben?“
Natürlich hatte sie nicht bemerkt, dass er irgendein Interesse an ihr gehegt hatte, schließlich hatte sie einen Großteil ihrer gemeinsamen Zeit nicht mitbekommen. Hatte sie deswegen den Wettbewerb gewonnen? Die neue Rachel. Was bedeutete das für sie? Dass er sie nicht für seine Kunst missbrauchen, sondern mit ihr zusammen sein wollte? Sie konnte sich kaum vorstellen, dass er so banale Interessen verfolgte. Lächelnd erhob er sich und sowohl sie als auch Nathan spannten sich an. Der Lauf der Waffe blieb unablässig auf Nathans Gesicht gerichtet und drückte sich schließlich in seine Wange, als Jefferson ihnen so nahe gekommen war, dass er Max' Kinn in seine Hand nehmen konnte. Reflexartig wollte sie sich ihm entziehen, doch er hielt sie in einem unnachgiebigen, schmerzhaften Griff und nicht zuletzt um Nathans Willen gab sie ihren Widerstand auf. „Vom ersten Moment an...wusste ich, dass du es bist“, hauchte Jefferson, während er ihr tief in die Augen sah. Trotzig hielt sie seinem Blick stand. Seine Miene wurde finster. „Genauso wie ich vom ersten Moment an wusste, dass du ein Auge auf sie geworfen hast“, wandte er sich mit bedrohlichem Unterton an Nathan, der angesichts der Waffe in seinem Gesicht schwer atmete. „Aber diesmal nicht, Nathan. Du hast schon genug angerichtet.“
„Bitte nicht!“, flehte Max. „Ich tue, was Sie wollen, wenn Sie ihm bloß nichts tun.“
„Oh Max, ich fürchte, du bist nicht in der Lage, Bedingungen zu stellen.“
Und dann endlich machte er einen Fehler.
Er trat wenige Schritte zurück, ohne sie aus den Augen zu lassen oder die Waffe runter zu nehmen und befahl ihnen, ihre Taschen zu leeren, vermutlich um ihre Handys zu konfiszieren. Sie gehorchten und Max legte ihr Wettbewerbsfoto auf dem Tisch neben den Handys ab. Jefferson schmunzelte, als er es erkannte, ließ es jedoch liegen, um stattdessen die Handys in seinen eigenen Taschen zu verstauen. Dann nickte er Nathan auffordernd zu.
„Es wird Zeit, Nathan.“
„Ja, Nathan“, sagte Max und erntete von beiden einen perplexen Blick. „Wo ist Chloe?“
„Wie bitte?“ Wachsam runzelte Jefferson die Stirn.
„Die Waffe runter, Mistkerl!“
Aus dem Horrorfilm war ein Actionfilm geworden, als Chloe, ebenfalls mit gezückter Waffe, wie ein Held aus dem angrenzenden Raum trat, in dem sie sich gründlich versteckt haben musste. Wie kaum anders zu erwarten kam Jefferson ihrer Aufforderung nicht nach, doch sie hatten ihn aus dem Konzept gebracht.
„Wer ist das?!“, fauchte er Nathan an.
„Ich sagte, nimm die scheiß Waffe runter!“, wiederholte Chloe laut.
„Du nimmst die Waffe runter oder ich schieße deinem Freund hier ein Loch in den Kopf“, zeigte er sich unbeeindruckt, doch Max erkannte eine gewisse Anspannung in seiner Stimme, die vorher nicht da gewesen war. Er war im Begriff die Kontrolle zu verlieren.
Sein Blick war starr auf Chloe gerichtet, von der er die einzige Gefahr erwartete. So entging ihm Nathans Bewegung, der eine Hand hinter den Rücken schob. Und ehe Max gänzlich hingesehen hatte, ertönte ein ohrenbetäubender Knall unmittelbar neben ihr. Die Augen zusammen gekniffen hob sie instinktiv die Hände an den Kopf und spürte ihr Herz viel zu schnell schlagen vor Schreck. Doch sie war sich sicher, dass es Jefferson war, der stöhnte und fluchte.
„Du hältst dich für so clever, aber das hast du nicht kommen sehen!“, spie Nathan hasserfüllt. Er hatte sich erhoben und hielt ebenfalls eine Pistole, aus der die Kugel stammte, die sich offenbar in Jeffersons Bein gebohrt hatte. Fast hatte Max vergessen, dass er eine besaß. Der vermeintliche Lehrer war fluchend eingeknickt und presste eine Hand auf die blutende Wunde; in seinen Augen funkelte blanker Zorn.
„Chloe!“, rief Max und streckte ihr die Hand entgegen, während sie mit der anderen hektisch nach Nathans griff. Erst verstand sie nicht und war schon gewillt ihr die Pistole in die Hand zu drücken, aber als sie sah, dass Max auch Nathan an der Hand hielt, ergriff sie sie und augenblicklich konzentrierte sich Max mit aller Kraft auf das Foto, das ganz unbedarft auf dem Tisch lag. Kniff die Augen zusammen, bis alles um sie herum verschwamm. Drückte die Hände ihrer Freunde so fest sie konnte.
Gedämpft drang noch ein Schuss an ihre Ohren.
Und dann wurde alles schwarz.
Noch nie hatte Max sich so deplatziert gefühlt - und sie hatte sich auf lauten, Alkohol geschwängerten Partys schon immer deplatziert gefühlt. Die Schüler der Blackwell Academy feierten ausgelassen das Ende der Welt, das ihnen näher war als ihnen tatsächlich lieb sein konnte. Es juckte Max in den Fingern zu handeln, statt einem aufdringlichen Logan oder der ewig eifersüchtigen Courtney aus dem Weg zu gehen, doch ihr waren die Hände gebunden. Sie musste auf Mr Jeffersons Auftritt warten.
Als es endlich soweit war - Mr Jefferson ließ sich nicht zu viel Zeit, wahrscheinlich um nicht über irgendwelchen Alkohol zu stolpern, der ihn als Lehrer zum Eingreifen gezwungen hätte - packte Victoria sie fest am Arm und schleifte sie zur Bühne, auf der der Lehrer Aufstellung bezogen hatte und wohnte der Siegerehrung zwischen ihr und Taylor eingequetscht bei. Einen Moment genoss der Lehrer seinen dramatischen Auftritt sowie den tosenden Beifall und lächelte Max verschwörerisch zu. Dann begann er seine Ansprache. Geradezu feierlich ließ er sich über diesen entscheidenden Schritt in ihrem Leben als Künstler aus, ihre Werke der Öffentlichkeit zu präsentieren und versäumte auch nicht sie daran zu erinnern, dass ihre Schule einen gewissen Ruf genoss. Und charmant, wie man ihn kannte, ernannte er sie grinsend alle zu Alltagshelden. Dann kam endlich der entscheidende Moment, als er den Umschlag mit dem Namen des Gewinners entgegennahm. „Und der Gewinner des Everyday Heroes Wettbewerbs ist...“ Sein Blick glitt durch die gespannte Menge und blieb schließlich an Max hängen. Victoria schien etwas zu schielen, denn sie drückte Max' Arm so fest, dass klar war, dass sie sich selbst angesprochen fühlte. „...Max Caulfield.“ Abrupt fiel Victorias Hand von ihr ab und sie rückte etwas von der vermeintlichen Freundin ab, um sie mit einem irritierten und fassungslosen Blick zu strafen. Max bekam nicht einmal die Gelegenheit sich zu rechtfertigen oder zu entschuldigen, denn schon wurde sie von unbekannten Händen auf die Bühne geschubst. Obwohl sie die Strategie hätte erwarten können, hatte sie sich keine Worte zurecht gelegt. Nicht dass sie je ein großer Redner gewesen wäre. Mit hochrotem, gesenktem Kopf murmelte sie bloß ein Dankeschön ins Mikro und floh eilig wieder aus dem Scheinwerferlicht. Sie befürchtete schon, Victoria würde sich gleich wie eine wild gewordene Furie auf sie stürzen, doch solch öffentliche Szenen waren allem Anschein nach nicht ihr Ding oder aber sie brütete still und heimlich an irgendeiner Rache, weil Mr Jefferson Max dicht auf den Fersen war.
„Das Foto bräuchte ich dann aber zurück“, hielt er sie schmunzelnd auf. Und so unangenehm es Max war, dass er so rasch in die Offensive ging, war sie doch vor allem erleichtert, dass die Sache schnell ins Rollen kam.
„Oh...ja. Also, ich hab es jetzt nicht...“
„Überhaupt kein Problem, Max“, wehrte er gutmütig ab. „Bring es mir morgen zurück, das reicht.“ Er glaubte also, dass Max morgen noch in der Lage sein würde, ihm irgendetwas hinterher zu tragen? Oder spielte es keine Rolle, weil ihr Wettbewerbsgewinn mit ihr sterben würde? Ihr schüchternes Lächeln verriet ihre Gedanken nicht.
„In Ordnung.“
Er betrachtete sie einen Moment nachdenklich. „Ist alles okay, Max?“
„Was?“
„Du wirkst irgendwie...verändert. Und warst in den letzten Tagen öfters unpässlich. Das ist aufgefallen.“
Ertappt senkte sie den Blick und zuckte hilflos die Achseln. „Ich weiß nicht...ich schätze, diese Sache mit Rachel setzt mir zu.“
Es verschaffte Max eine gewisse Genugtuung, wie Jeffersons Blick wachsam durch den Raum glitt. Die Musik hatte längst wieder eingesetzt, dutzende Stimmen sirrten in der stickigen Luft und es erforderte zu viel Konzentration jemanden zu verstehen, als dass sie befürchten müssten, jemand würde ihrer Konversation lauschen.
„Direkt. Das ist schon eher unsere gute alte Max.“ Bis jetzt hatte sie kein klares Bild von dieser guten, alten Max, die die Blackwellschüler in dieser Zeitlinie kennengelernt hatten, aber ihre grobe Vorstellung war eher negativ behaftet. Ihr fiel auf, dass Warren sich von ihr fernhielt. Hoffentlich war sie nicht zu schrecklich gewesen. Sie vermisste ihn irgendwie; nachdem sie ihr Verhältnis zu Kate gekittet hatte, umso mehr. „Na schön. Treffen wir uns in fünf Minuten auf dem Parkplatz“, entschied Jefferson und verschwand mit einem letzten wachsamen Blick durch die Runde in der Menge.
Max ließ ihm den Vorsprung, auf den er wohl aufgrund der Diskretion bestand und schaute sich abwartend um. Der Zufall wollte es, dass sie tatsächlich Warren entdeckte, der auf Stella einredete, die mit großzügigen Schlucken ihren Plastikbecher leerte. Zachary flirtete mit Juliet und Dana stand gelangweilt daneben. Max wog sich gerade in Sicherheit, als ihr Victorias Stimme viel zu dicht an ihrem Ohr fast einen Herzinfarkt bescherte.
„Herzlichen Glückwunsch, Maxine“, ätzte sie so giftig sie nur konnte und trat mit vor der Brust verschränkten Armen vor sie. „Oh, du willst nicht Maxine genannt werden? Weißt du, was ich wollte? Diesen verdammten Wettbewerb gewinnen. Sieht so aus, als bekämen wir nicht immer, was wir wollen.“
„Victoria, es tut mir leid, okay?“ Max konnte nicht gänzlich den Trotz aus ihrer Stimme verbannen. „Ich habe den Gewinner nicht ausgewählt.“
„Aber unglücklich drüber bist du auch nicht, oder?“
Hilflos hob sie die Hände. „Was erwartest du jetzt von mir?“
„Dass du zurücktrittst“, kam es ziemlich prompt zurück. Und es war vielleicht der Weg des geringsten Widerstands.
„Okay.“
Victoria betrachtete sie prüfend mit skeptisch gehobener Braue. „Einfach so?“
„Mir bedeutet das nicht halb so viel wie dir.“
Noch einen Moment war sie Victorias gründlicher Musterung ausgesetzt, dann löste sich plötzlich die Spannung in ihrem Körper. „Tut mir leid.“ Max musste eine Entschuldigung von Victoria Chase erst verdauen, die ihr überraschenderweise gar nicht mal so schlecht zu Gesicht stand. „Ich kann eine furchtbare Bitch sein. Manchmal bin ich vielleicht etwas zu ehrgeizig.“
Max zeigte sich versöhnlich. „Naja, diesen Biss braucht man in der Branche vermutlich. Und ich meine es ernst, mir ist der Wettbewerb nicht wichtig. Ich werde gleich mit Mr Jefferson reden.“
„Das ist...wow.“ Ihr fehlten die Worte, doch konnte sie sich nicht überwinden, Max' großzügiges und selbstloses Angebot auszuschlagen. „Das würdest du echt tun? Ich weiß, dass das viel verlangt ist...“ Doch aufhalten tat sie sie immer noch nicht.
„Es macht mir wirklich nichts aus. Davon abgesehen...ist Mr Jefferson einfach nicht mein Typ“, erklärte sie achselzuckend und ihr Grinsen übertrug sich auf Victoria, die ihr freundschaftlich gegen den Arm boxte.
„Ich schwöre, Max, dafür werde ich alles in meiner Macht stehende tun, um Zachary für dich aus Juliets Klauen zu befreien!“
Max lachte hilflos. „Äh...danke.“
„Du bist doch noch interessiert, oder?“
„Ja klar, was denkst du denn? Doch wohl nicht ernsthaft, dass ich was von Nathan will...“, leierte sie gelangweilt.
Victoria winkte ab. „Tut mir leid, das war eine Schnapsidee. Hab mich wohl von Courtney hinreissen lassen. Wo steckt der Kerl eigentlich?“ Mit skeptisch zusammengekniffenen Augen sah sie sich um, auch wenn das flackernde Licht die Suche nach einer bestimmten Person ziemlich unmöglich machte.
„Ganz ehrlich, Vic? Das kann dir Courtney garantiert eher beantworten als ich.“
„Wahrscheinlich.“
„Gibst du mir dann einen Moment? Ich will Jefferson noch erwischen.“
„Du musst das nicht heute tun, Max...“
„Keine Widerrede!“, erklärte Max inbrünstig und legte Victoria die Hände auf die Schultern. „Ich bin gleich wieder da!“
„Du bist die Beste!“ Victoria zog sie in eine Umarmung und ließ sie tatsächlich von dannen ziehen. Mit geducktem Kopf schob sie sich durch die feiernde Menge, in der stillen Hoffnung von niemandem mehr aufgehalten zu werden. Sobald sie das Gebäude verließ, zückte sie ihr Handy. Eine neue Nachricht von Chloe, während sie genießerisch die kühle Nachtluft einatmete. Chloe und Nathan waren in Jeffersons Versteck und warteten. Max teilte ihnen mit, dass sie auf dem Weg waren und ließ das Handy gerade wieder in der Hosentasche verschwinden, als sie auf den Parkplatz bog. Mr Jefferson saß bereits bei laufendem Motor im Wagen und Max stieg nach kurzem Zögern dazu. Trotz ihrer Kräfte, trotz ihrer Freunde, trotz allem hatte sie ein mehr als mulmiges Gefühl auf so engem Raum mit einem Psychopathen zu sitzen, dem man seinen Wahnsinn auf den ersten Blick nicht einmal ansah. Waren das nicht die krankesten Köpfe?
„Schön, dass du es noch einrichten konntest“, begrüßte er sie etwas schnippisch.
„Ich wurde aufgehalten“, rechtfertigte sie sich. Daraufhin sagte er nichts mehr und Max' Unbehagen wuchs. „Wollten Sie nicht...?“, begann sie zögerlich; versuchte nicht zu forsch zu klingen, um keinen Verdacht zu erregen.
Langsam drehte er sich zu ihr um und sah ihr mit nicht zu deutender Miene in die Augen. Neugierig versuchte Max seinem Blick standzuhalten, wobei sie merkte, dass sie auffällig oft blinzelte. Mr Jeffersons Mund verzog sich zu einem breiten Lächeln, er ließ von ihr ab und fuhr den Wagen an.
Sie scheiterte daran, ihn zu durchschauen. Innerlich wappnete sie sich vor einem Angriff. Dass er ihr plötzlich ein mit Chloroform getränktes Tuch vors Gesicht pressen und aus ihrer freiwilligen Verabredung eine Entführung machen würde. Doch er behielt beide Hände am Lenkrad und konzentrierte sich ganz auf die leere Straße. Es machte sie zunehmend nervös, dass er kein Wort sagte und die Frage, worauf er wartete, brannte ihr fast schmerzlich unter den Nägeln.
Sie waren nicht lange unterwegs, als er auch schon wieder parkte. Die Stadt hatten sie hinter sich gelassen und auf den ersten Blick schien es in der Dunkelheit um sie herum nichts als hohe Bäume, unberührte Natur, zu geben. Doch als Max aus dem Wagen stieg, der schützend zwischen ihr und Jefferson stand, erkannte sie ein einzelnes, schlichtes Gebäude. Eine alte Scheune. Skeptisch sah Max zwischen dem Gebäude und Jefferson hin und her. „Wo sind wir hier?“, wollte sie wissen.
„Genau da, wo wir sein sollten“, erwiderte er geheimnisvoll und trat auf das Tor zu, für dessen Vorhängeschloss er offenbar den Schlüssel hatte. Sie schätzte, der Ort war abgelegen genug, um ungestört seiner perversen Kunst zu frönen. Sie fröstelte im aufkommenden Wind und warf noch einen besorgten Blick gen Himmel. „Kommst du?“ Mr Jefferson wartete auf sie, ein beinahe unschuldiges Lächeln auf den Lippen, als hielte er ihr die Tür zur Zeitgeist Galerie auf und nicht als lotse er sie in ihr sicheres Verderben. Etwas widerwillig gehorchte sie, weil sie keine Wahl hatte. Sie fühlte sich wie das blauäugige Teenagermädchen in einem Horrorfilm, das für seine blinde Dummheit vom Zuschauer angeschrien wird und musste sich immer wieder ermahnen, dass es Jefferson war, der in eine Falle lief, nicht sie. Um zu sehen wo sie hintrat, schaltete sie die Taschenlampe an ihrem Handy an, das er ihr immerhin noch nicht abgenommen hatte, warum auch immer. In sicherem Abstand folgte sie ihm zu einer Falltür, die in den Boden eingelassen war. Das Stroh, das überall in der Scheune herumlag, war zur Seite gefegt worden und gab den Blick darauf frei. Das Schloss geöffnet. Jefferson öffnete die Luke und entblößte eine Treppe, die unter die Erde führte und Max wurde noch etwas mulmiger zumute. „Hab keine Angst“, sprach Mr Jefferson heuchlerisch sanft auf sie ein. „Nirgendwo könntest du heute Nacht sicherer sein als hier.“
Wachsam sah sie auf. Hatte er gerade den alles vernichtenden Sturm angedeutet? Oder hielt er sie wirklich für so dumm und naiv? All ihren Mut zusammennehmend folgte sie ihm in die Tiefe. Es fühlte sich wirklich wie ein schräger Film oder ein verdammtes Videospiel an, aber nicht real, als er mittels eines Codes, den er in ein elektronisches Schloss eingab, eine schwere Stahltür öffnete und Max in einen wahrhaftigen Bunker führte. In schlichten Metallregalen lagerten lang haltbare Lebensmittel, die tatsächlich so aussahen, als lägen sie schon einige Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte, hier unten.
„Nathan?“, rief Mr Jefferson, als er die Tür hinter ihnen schloss. Er trat an Max vorbei in einen angrenzenden Raum, sie folgte ihm und sie fanden Nathan vor. Er saß auf einem Sofa, mitten im hellen, modern eingerichteten Raum. Hinter dem Sofa stand ein Schreibtisch, der mit einem Computer ausgestattet war; vor dem Sofa war ein richtiges Fotostudio eingerichtet. Weiße Leinwände, Scheinwerfer...hier verübten Jefferson und Nathan ihre Verbrechen.
Nathan nickte Max kaum merklich zu, ehe er sich stirnrunzelnd an den Lehrer wandte. „Was macht sie hier?“, wollte er scheinbar verständnislos wissen.
„Warum so überrascht? Gefällt sie dir etwa nicht?“
Unschlüssig stand Max zwischen den beiden und fragte sich, wo genau Chloe steckte. Für den Bruchteil einer Sekunde war sie versucht, Nathan Verrat zu unterstellen. Doch er schien auf ihrer Seite zu stehen. „Ich dachte, wir wollten reden“, beharrte er.
„Über Rachel, aber ja“, bestätigte Mr Jefferson nickend. „Das habe ich euch beiden versprochen.“ Er trat am Sofa vorbei und zog sich einen Stuhl heran, den er auf der anderen Seite des flachen Couchtisches abstellte, um sich zu setzen. Auffordernd nickte er Max zu, die etwas unschlüssig neben Nathan auf dem Sofa Platz nahm. Und sie konnte sich wirklich nicht erklären, warum sie hier war; was genau er bezweckte.
Mr Jefferson betrachtete die beiden Jugendlichen nachdenklich, als warte er darauf, dass sie den Anfang machten. Doch dann sprach er süffisant: „Max Caulfield...wo kommt dieses plötzliche Interesse an Rachel Amber her?“
Darauf hatte Max keine Antwort parat. „Ich...habe sie gesehen...obwohl sie seit Monaten vermisst wird.“
Jeffersons Miene verdunkelte sich. „Ja, Rachel Amber ist nicht tot“, gestand er schließlich unmissverständlich. „Ihr wollt wissen, was Rachel Amber ist? Rachel Amber ist eine verzogene, gelangweilte Göre, die des Kleinstadtlebens überdrüssig war. Die Träumen hinterherjagt, die zu groß für sie sind. Die bereitwillig die Beine spreizt, um sich eine Rettung durch einen Märchenprinzen zu erkaufen. Das ist Rachel Amber.“ Die Kaltherzigkeit, mit der er über seinen ehemaligen Schützling sprach, schockierte Max. Sie hatte gedacht, die beiden hätten eine Affäre gehabt. Doch sie waren nicht auf Augenhöhe. „Ich habe Rachel alles gegeben, was sie wollte. Ich habe sie aus dieser Stadt, die ihr die Luft zum Atmen genommen hat, geschafft.“
„Du hast mich denken lassen, sie wäre tot“, knurrte Nathan wütend.
„Du hast sie beinahe umgebracht, Nathan“, erwiderte Jefferson kühl. „Und so war es einfacher, sie verschwinden zu lassen. Denn alle Ermittlungen hätten im Zweifelsfall zu dir geführt.“ Nathan schluckte. Ein amüsiertes Lächeln schlich sich auf Jeffersons Gesicht. „Hast du deiner kleinen Freundin auch davon erzählt, Nathan? Dass du Mädchen wie sie abschleppst und unter Drogen setzt?“
„Ich?!“, rief Nathan empört.
„Er hat mir davon erzählt“, mischte Max sich ruhig ein. „Davon, was Sie mit den betäubten Mädchen machen!“
„Ich?“, wiederholte er Nathans Ausruf, klang dabei jedoch amüsiert.
„Spar dir das, ich hab Max alles erzählt! Und sie glaubt mir!“
„Wer soll dir das glauben, Nathan?“ Sie taxierten einander und Nathans angespannter Kiefer, seine verkrampften Hände, sowie sein wippendes Bein verrieten seine Nervosität, während Jefferson die Ruhe selbst blieb.
„Mistkerl“, presste Nathan hervor.
Jefferson schmunzelte. „Versteh mich nicht falsch, Nathan. Ich hatte es gar nicht so eilig, unsere kleine...Zusammenarbeit zu beenden.“ Max runzelte verwirrt die Stirn, da sie nicht ganz mitkam. „Ich bin noch nicht fertig. Aber ich fürchte, du bist es, Nathan.“ Angesprochener schluckte. Es war eine eindeutige Drohung. So wie Max befürchtet hatte. Nicht nur sie stand auf Jeffersons Abschussliste.
„Was haben Sie vor?“, fragte Max vorsichtig.
„Du hast nichts zu befürchten, Max“, sagte er ruhig.
Und dann zog er eine Pistole unter seinem Jackett hervor.
Und plötzlich fühlte Max sich wesentlich unsicherer. Sie konnte die Zeit zurückdrehen. Aber nicht, wenn unter irgendwelchen Umständen sie von einer Kugel getroffen wurde, wenn die Situation außer Kontrolle geriet. Verdammte Schusswaffen! „Bitte, Mr Jefferson...“, flehte sie zaghaft. „Sie müssen das nicht tun...“
„Ich habe nicht vor Gebrauch von diesem Schießeisen zu machen“, erklärte er lapidar, richtete den Lauf jedoch trotzdem auf Nathan, der kreidebleich war. „Aber du, Nathan, wirst heute sterben. An einer Überdosis, hier in deinem kleinen Versteck. Für niemanden wird das überraschend kommen. Und da das Grundstück deiner Familie gehört, wird man dich sicherlich finden, sobald...sich die Lage wieder etwas beruhigt hat.“
„Welche Lage?“, hakte Max nach.
Jeffersons Augen hafteten an Nathan. „Der Sturm.“
Verdutzt blinzelte Max zu Nathan rüber. Er hatte behauptet, Jefferson wüsste nichts davon.
„Woher weißt du davon?“, machte auch Nathan einen überrumpelten Eindruck.
„Von Rachel.“ Rachel. Immer wieder Rachel. „Tja, und von...dir. Ich weiß nicht, was in euren Köpfen verkehrt läuft. Aber ich glaube nicht an Zufall. Rachel ist zurückgekommen, um mich anzuflehen, die Stadt mit ihr zu verlassen, als hinge ihr Leben davon ab. Du fantasierst ständig von Stürmen, Tod und Verderben. Und dann diese Party.“
„Wenn du es glaubst, warum bist du dann noch hier? Und nicht bei Rachel?“, spie Nathan verächtlich.
Jefferson deutete um sie herum. „Weil dieser Schutzraum eingerichtet wurde, um einem atomaren Angriff standzuhalten. Was auch immer über diese Stadt hereinbricht, kann uns hier drin nicht schaden. Und Rachel...ist mir egal.“
„Sie ist Ihnen egal...?“, wiederholte Max fassungslos.
„Ich denke, ich habe deutlich gemacht, was ich von ihr halte“, meinte Jefferson achselzuckend. So schrecklich gleichgültig. „Ich verrate euch jetzt, wie es weitergeht. Du , Nathan, machst ein letztes Nickerchen. Und du, Max, darfst deinem Freund beim Sterben zusehen. Und morgen...ist dieser ganze Spuk vorbei.“
„Wieso...?“, wollte Max fassungslos wissen. „Warum muss es so kommen? Was passiert mit mir?“ Dass sie nach seinem Plan nicht das Zeitliche segnen sollte, konnte sie nicht beruhigen, ganz im Gegenteil. Was hatte er mit ihr vor?
„Begreifst du es denn immer noch nicht, Max?“ Sein Lächeln wurde sanft, fast liebevoll, und Max wurde schlecht. „Du bist die neue Rachel.“
„Was?“
Amüsiert schüttelte er den Kopf. „Sonst bist du so clever. Aber das willst du nicht gemerkt haben?“
Natürlich hatte sie nicht bemerkt, dass er irgendein Interesse an ihr gehegt hatte, schließlich hatte sie einen Großteil ihrer gemeinsamen Zeit nicht mitbekommen. Hatte sie deswegen den Wettbewerb gewonnen? Die neue Rachel. Was bedeutete das für sie? Dass er sie nicht für seine Kunst missbrauchen, sondern mit ihr zusammen sein wollte? Sie konnte sich kaum vorstellen, dass er so banale Interessen verfolgte. Lächelnd erhob er sich und sowohl sie als auch Nathan spannten sich an. Der Lauf der Waffe blieb unablässig auf Nathans Gesicht gerichtet und drückte sich schließlich in seine Wange, als Jefferson ihnen so nahe gekommen war, dass er Max' Kinn in seine Hand nehmen konnte. Reflexartig wollte sie sich ihm entziehen, doch er hielt sie in einem unnachgiebigen, schmerzhaften Griff und nicht zuletzt um Nathans Willen gab sie ihren Widerstand auf. „Vom ersten Moment an...wusste ich, dass du es bist“, hauchte Jefferson, während er ihr tief in die Augen sah. Trotzig hielt sie seinem Blick stand. Seine Miene wurde finster. „Genauso wie ich vom ersten Moment an wusste, dass du ein Auge auf sie geworfen hast“, wandte er sich mit bedrohlichem Unterton an Nathan, der angesichts der Waffe in seinem Gesicht schwer atmete. „Aber diesmal nicht, Nathan. Du hast schon genug angerichtet.“
„Bitte nicht!“, flehte Max. „Ich tue, was Sie wollen, wenn Sie ihm bloß nichts tun.“
„Oh Max, ich fürchte, du bist nicht in der Lage, Bedingungen zu stellen.“
Und dann endlich machte er einen Fehler.
Er trat wenige Schritte zurück, ohne sie aus den Augen zu lassen oder die Waffe runter zu nehmen und befahl ihnen, ihre Taschen zu leeren, vermutlich um ihre Handys zu konfiszieren. Sie gehorchten und Max legte ihr Wettbewerbsfoto auf dem Tisch neben den Handys ab. Jefferson schmunzelte, als er es erkannte, ließ es jedoch liegen, um stattdessen die Handys in seinen eigenen Taschen zu verstauen. Dann nickte er Nathan auffordernd zu.
„Es wird Zeit, Nathan.“
„Ja, Nathan“, sagte Max und erntete von beiden einen perplexen Blick. „Wo ist Chloe?“
„Wie bitte?“ Wachsam runzelte Jefferson die Stirn.
„Die Waffe runter, Mistkerl!“
Aus dem Horrorfilm war ein Actionfilm geworden, als Chloe, ebenfalls mit gezückter Waffe, wie ein Held aus dem angrenzenden Raum trat, in dem sie sich gründlich versteckt haben musste. Wie kaum anders zu erwarten kam Jefferson ihrer Aufforderung nicht nach, doch sie hatten ihn aus dem Konzept gebracht.
„Wer ist das?!“, fauchte er Nathan an.
„Ich sagte, nimm die scheiß Waffe runter!“, wiederholte Chloe laut.
„Du nimmst die Waffe runter oder ich schieße deinem Freund hier ein Loch in den Kopf“, zeigte er sich unbeeindruckt, doch Max erkannte eine gewisse Anspannung in seiner Stimme, die vorher nicht da gewesen war. Er war im Begriff die Kontrolle zu verlieren.
Sein Blick war starr auf Chloe gerichtet, von der er die einzige Gefahr erwartete. So entging ihm Nathans Bewegung, der eine Hand hinter den Rücken schob. Und ehe Max gänzlich hingesehen hatte, ertönte ein ohrenbetäubender Knall unmittelbar neben ihr. Die Augen zusammen gekniffen hob sie instinktiv die Hände an den Kopf und spürte ihr Herz viel zu schnell schlagen vor Schreck. Doch sie war sich sicher, dass es Jefferson war, der stöhnte und fluchte.
„Du hältst dich für so clever, aber das hast du nicht kommen sehen!“, spie Nathan hasserfüllt. Er hatte sich erhoben und hielt ebenfalls eine Pistole, aus der die Kugel stammte, die sich offenbar in Jeffersons Bein gebohrt hatte. Fast hatte Max vergessen, dass er eine besaß. Der vermeintliche Lehrer war fluchend eingeknickt und presste eine Hand auf die blutende Wunde; in seinen Augen funkelte blanker Zorn.
„Chloe!“, rief Max und streckte ihr die Hand entgegen, während sie mit der anderen hektisch nach Nathans griff. Erst verstand sie nicht und war schon gewillt ihr die Pistole in die Hand zu drücken, aber als sie sah, dass Max auch Nathan an der Hand hielt, ergriff sie sie und augenblicklich konzentrierte sich Max mit aller Kraft auf das Foto, das ganz unbedarft auf dem Tisch lag. Kniff die Augen zusammen, bis alles um sie herum verschwamm. Drückte die Hände ihrer Freunde so fest sie konnte.
Gedämpft drang noch ein Schuss an ihre Ohren.
Und dann wurde alles schwarz.