Schriftgröße  Schriftart  Ausrichtung  Zeilenabstand  Zeilenbreite  Kontrast 

Arcadia Bay

von Caligula
Kurzbeschreibung
GeschichteMystery, Freundschaft / P16 / Gen
Chloe Price Mark Jefferson Maxine "Max" Caulfield Nathan Prescott Rachel Amber
12.08.2017
18.12.2020
22
63.991
12
Alle Kapitel
14 Reviews
Dieses Kapitel
1 Review
 
10.08.2019 3.234
 
Kapitel 11 – Von gefallenen Engeln

„Rachel?“
In Max' Stimme schwang weitaus mehr Unsicherheit mit als sie beabsichtigt hatte, was sie durch eine gerade Körperhaltung sowie einem festen Stand auszugleichen versuchte, während Rachels unnachgiebiger und bohrender Blick ihre Unsicherheit weiter nährte.
„Max“, erwiderte das totgeglaubte Mädchen schließlich vollkommen ruhig.
„Woher kennst du mich?“
„Wir sind uns ähnlich.“
Obwohl sie leibhaftig vor ihr stand, hatte Max das Gänsehaut verursachende Gefühl mit einem Geist zu sprechen. Obwohl es kaum mehr als eine Ahnung war, war sie sich sicher, dass Rachel nicht hier sein sollte. So oder so. „Wieso bist du hier? Wo bist du all die Monate gewesen?“
Rachel verzog die Lippen zu einem Lächeln, das sie kaum weniger bedrohlich wirken ließ. „Ist das nicht offensichtlich?“ Sie klang amüsiert und gab Max einen Moment für eine Antwort, den sie ungenutzt und voller Neugier verstreichen ließ. „Sieh dich doch um, Max. Was hält eine Achtzehnjährige denn an einem Ort wie Arcadia Bay?“ In einer all umfassenden Geste deutete sie um sie herum. „Ich war der Idylle und Enge hier überdrüssig. Und bin in die große Stadt gegangen.“
Ungläubig schüttelte Max den Kopf. „Das kann unmöglich alles sein. Warum hast du niemandem etwas gesagt? Warum hast du Chloe zurückgelassen? Die Leute hier sind immer noch krank vor Sorge um dich!“
„Ich musste hier raus, ich wäre sonst durchgedreht“, erwiderte Rachel mit rücksichtsloser Kälte, die Max in ihrer Entscheidung, die von allen so geliebte Rachel Amber nicht zu mögen, bestärkte. Dass sich ihre Eltern oder Chloe sorgten, schien ihr vollkommen egal zu sein. War das wirklich dasselbe Mädchen, das alle in seinen Bann hatte ziehen können?
„Du hast sie einfach verlassen.“
„Ich musste ihr das Herz brechen“, tat Rachel schulterzuckend ab.
„Und warum bist du zurückgekommen?“ Sie ließ sich ihren Zorn über Rachels Worte und deren Gleichgültigkeit Chloe gegenüber nicht anmerken, auch wenn sie in diesem Moment mehr noch als die Stadt die Ehre ihrer besten Freundin retten wollte.
„Deinetwegen.“
„Meinetwegen?“, wiederholte sie überrumpelt.
„Ich weiß, wer du bist, Max.“
„Ist das so?“ Das ergab keinen Sinn. Woher? Und wieso sollte sie sich für sie interessieren?
„Du bist der Störfaktor.“
Einen kurzen Augenblick verschlug es Max glatt die Sprache. „Entschuldigung?“
„Du weißt es. Du weißt, was dieser Stadt widerfahren wird.“
„Der Tornado“, antwortete sie selbstsicher, um der Herablassung, mit der Rachel sprach, etwas eindrucksvoller entgegenzutreten.
Rachel nickte. „Es muss geschehen.“
„Nein“, widersprach sie etwas perplex über die Bestimmtheit, mit der Rachel alle Einwohner Arcadia Bays bereitwillig opfern wollte. Wieso war sie so kalt? Und was versprach sie sich von der Zerstörung der Stadt? „Also hast du den Tornado auch gesehen? Du hast auch diese Visionen? Was genau weißt du darüber? Warum willst du, dass der Tornado deine Heimat und alle seine Bewohner tötet? Sogar Chloe...“ Sie wurde ungeduldig. Mit jedem Wort aus ihrem Mund schien Rachel nur noch mehr Fragen aufzuwerfen, während Max gleichzeitig Angst hatte, dass sie jeden Moment wieder verschwinden könnte und mit ihr all die Antworten, nach denen sie so verzweifelt suchten.
„Hör auf mit der Zeit zu spielen“, entgegnete Rachel im Befehlston. Es klang wie eine Drohung.
„Woher weißt du davon?“, wollte Max wissen.
„Du schadest dir nur selbst. Und kannst es ja doch nicht verhindern.“
„Woher weißt du von diesen Kräften? Wer oder was bist du?“
Wieder lächelte sie auf gespenstische Weise. „Ich bin Rachel Amber. Nicht mehr und nicht weniger.“
„Rachel?!“
Nathan trat an Max' Seite, den Blick starr auf die totgeglaubte Freundin gerichtet. Er schien seinen Augen kaum trauen zu können; er blinzelte heftig. Ein winziges Stückchen vor Max blieb er stehen; traute sich nicht näher heran. „Rachel...du bist...ich dachte wirklich du wärst tot...ich...es tut mir so leid...“
Rachel betrachtete ihn mit derselben Gleichgültigkeit, mit der sie zuvor über Chloe gesprochen hatte. Dann sah sie geringschätzig zwischen ihm und Max hin und her. „Ich verstehe.“
„Was? Was verstehst du?“, fuhr Max sie aufgebracht an. „Hör auf in Rätseln zu sprechen und red endlich Klartext!“
„Diese Stadt muss zerstört werden. Wie deutlich brauchst du es noch?“ Und um die Endgültigkeit ihrer Worte zu unterstreichen drehte sie sich schwungvoll um.
„Nein!“, rief Max panisch aus und streckte die Hand aus. Sie hatte keine Chance Rachel zu erreichen, doch sie hatte die Zeit im festen Griff. Alles um sie herum kam zum Stillstand. Nathan, der gerade einen Schritt nach vorne hatte machen wollen, fror ebenso ein, wie die Vögel am Himmel. Es war nicht mehr als eine verzweifelte Hoffnung gewesen, doch nachdem sie Kate auf diese Weise einmal vor ihrem tödlichen Sprung auf dem Schuldach erreicht hatte, hatte sie all ihre Hoffnung in diesen Versuch gesetzt. Und ihre Kräfte ließen sie nicht im Stich. Auch Rachel verharrte an Ort und Stelle; ihr rechter Turnschuh schwebte wenige Zentimeter über dem Boden.
Es kostete Max Mühe sich durch die angehaltene Zeit zu bewegen, sie spürte, wie diese Kräfte an ihr zehrten. Aber sie musste Rachel erreichen.
Ein gellender Schrei ertönte und Max' Herz setzte vor Schreck einen Schlag aus. Es war Rachel. Rachel, die schrie. Und noch ehe Max sich darüber wundern konnte, wie das möglich war, schossen von oben dutzende schwarze Schatten auf sie herab. Krähen. Nun war es an Max zu schreien, als sie sich mit über den Kopf gehobenen Armen vor den Schnäbeln und Klauen der angreifenden Vögel zu schützen versuchte. Aus zusammengekniffenen Augen erkannte sie, dass Rachel sich wieder bewegen konnte. Sie warf ihr noch einen amüsierten Blick über die Schulter zu und setzte dann ungeschoren ihren Weg fort, als abrupt der Druck, verursacht durch die Benutzung ihrer Kraft, von Max abfiel und Nathan neben ihr stolperte.
„Was zum Teufel?!“, rief er hysterisch aus, hatte den größten Angriff aber wohl verpasst, denn schon ließen die Krähen wieder von ihnen ab und flogen in alle Richtungen davon, bis sie spurlos verschwunden waren als hätten sie nie existiert. So wie Rachel.
„Was ist passiert? Wo ist Rachel?!“, prasselten seine Fragen auf die kaum weniger verwirrte und ebenso hilflose Max ein. Und weil sie ohnehin keine zufriedenstellende Antwort parat hatte, lief sie einfach los, in die Richtung, in die Rachel abgehauen war.
Sie fand keine Spur mehr von dem Mädchen, befürchtete schon, sie habe sich in Luft aufgelöst, doch ein unbestimmtes Gefühl führte sie bis zum Parkplatz, wo sie Rachel zwar auch nicht fanden, dafür eine völlig aufgelöste Chloe. Sie stand mitten auf dem Platz und starrte die Straße hinauf.
„Max...“, flüsterte sie geradezu als hätte sie das Sprechen verlernt und konnte nur mit Mühe und Not den Blick von der Straße abwenden. „Max, ich hab Rachel gesehen!“
„Sie war hier?!“
„Sie kam...einfach her. Ich bin zu ihr, aber sie hat mich gar nicht wahrgenommen. Ist einfach vorbei gegangen, als wäre ich gar nicht da.“ Also war Rachel entweder tatsächlich ein überirdisches Wesen oder wirklich ein abgebrühtes Arschloch.
„Wo ist sie hin?“, wollte Max drängend wissen.
„Sie ist in ein Auto gestiegen. Und weggefahren.“
„In ein Auto?!“ Dann schien sie doch bloß ein Arschloch zu sein.
„Du hattest recht - wir hatten recht! Rachel lebt! Irgendwo in Kalifornien!“, schien Chloe aus dem Kennzeichen zu schließen.
„Los Angeles“, schloss Nathan. Ihr großer Traum. Es klang zu simpel, zu banal. Wer oder was war Rachel Amber?

Eine andere Frage war, wie Rachel Amber die unbemerkte Flucht aus Arcadia Bay gelingen und ein neues Leben in Los Angeles hatte beginnen können.
Ungeduldig sah Max von Chloe zu Nathan und wieder zurück. Die drei hatten sich in Max' Zimmer im Wohnheim zurückgezogen und während Max bereits fieberhaft überlegte, wie es nun weitergehen sollte, schien bei den anderen beiden der Schock darüber, die geliebte und totgeglaubte Rachel zu sehen, noch tief zu sitzen. Chloe paffte zur Beruhigung am offenen Fenster; Nathan saß auf dem Bett und spielte nervös mit den Händen.
„Nathan“, brach sie das unbehagliche Schweigen schließlich.
Er sah nicht auf. „Was?“
„Ich weiß, das wird dir nicht gefallen, aber...“ Sie zögerte, unsicher wie sie ihre Idee formulieren sollte.
„Aber was?“
„Als Rachel vor einem halben Jahr verschwunden ist, war sie vollgepumpt mit Drogen. Während dir eingeredet wurde, dass du ihren Körper vergräbst, muss dein Freund ihren Weggang aus der Stadt organisiert haben.“
„Also, wer ist der Typ?“, mischte Chloe sich forsch ein.
Nathans Blick lag ausschließlich auf Max als würde er ihr schlechte Neuigkeiten überbringen. Und dann stellte er ihre Welt tatsächlich noch mehr auf den Kopf, als sie nach all den Visionen und Zeitsprüngen schon war.
„Jefferson. Es ist Jefferson.“

Max war selbst erstaunt, dass sie, nach allem was sie in Arcadia Bay schon erlebt hatte, immer noch etwas schocken konnte, aber dass ausgerechnet ihr Lieblingslehrer Mark Jefferson in die ganze Sache verwickelt sein sollte, wollte sie bis zuletzt nicht glauben. Bis sie mit wild klopfendem Herzen versteckt unter Nathans Bett lag und Mr Jefferson tatsächlich sein Zimmer betrat. Als wäre alles nicht schon verrückt genug. Ein nicht enden wollender Alptraum.
Mit angehaltenem Atem beobachtete sie furchtsam das Paar Herrenschuhe, das einen ruhigen und festen Stand fand, während Nathan vor Nervosität kaum still stehen konnte.
„Was ist es, das du so dringend hier mit mir besprechen musst?“ Es war eindeutig Mr Jeffersons Stimme, ungeduldiger und forscher als sie sie kannte. Vor allem aber ungewöhnlich vertraut.
„Ich hab Rachel gesehen“, hielt Nathan gar nicht erst mit seinem Anliegen hinterm Berg.
Jefferson atmete geräuschvoll aus. „Okay...setz dich.“ Max rechnete es Nathan hoch an, dass er sich nur auf der äußersten Kante des Betts niederließ. Jefferson trat auf ihn zu und seufzte schwer. „Nimmst du deine Medikamente?“
„So ist das nicht!“, wehrte Nathan energisch ab. „Ich hab sie wirklich gesehen.“
„Du weißt aber, dass das nicht möglich ist, ja?“ Jeffersons sanfte Stimme bescherte Max eine Gänsehaut. „Rachel ist tot.“
Eine Weile blieb es totenstill im Zimmer. „Nein, ist sie nicht.“
„Nathan...“
„Sie ist nicht dort, wo ich sie vergraben hab.“
Wieder setzte unheilvolle Stille ein.
„Was sagst du da?“
„Ich habe nachgesehen.“
„Du hast was? Hast du jetzt vollkommen den Verstand verloren?! Du hast sie ausgegraben?!“
„Ich hab sie gesehen und wollte wissen, ob das echt ist oder nur eine blöde Wahnvorstellung!“, rechtfertigte Nathan sich aufgebracht. „Rachel ist nicht tot.“
„Und wo willst du sie gesehen haben?“, wurde Jefferson wieder ruhiger.
„Hier in Blackwell.“
„Es gibt dutzende Mädchen, die aussehen wie Rachel.“
„Nein, gibt es nicht“, widersprach Nathan bestimmt. „Wenn Rachel so beliebig wäre, wäre sie auch nichts Besonderes für dich. Also, warum hast du mich angelogen?“
„Weil Rachel für dich tot sein sollte. Für dich wie für jeden anderen Trottel in dieser Stadt. Das war ihr Wunsch. Davon wusstest du doch, oder?“ Der Stille nach zu urteilen, antwortete Nathan mit einer Kopfbewegung. „Hör zu, schlaf drüber und morgen können wir weiter reden, okay? Ich muss jetzt los.“ Damit bewegten sich Mr Jeffersons Schuhe zur Zimmertür, vor der sie noch einmal stehen blieben. „Und eines noch, Nathan. Das muss unbedingt unter uns bleiben, hörst du? Versprich mir, dass du den Mund hältst. Ich sehe dich morgen.“
Max wusste nicht, wie lange sie wie gelähmt einfach dalag und diesen Schock zu verarbeiten versuchte. Es kam ihr vor wie eine halbe Ewigkeit. Zeit schien kurzzeitig jedwede Bedeutung verloren zu haben. Sie wollte einen Tag zurückspringen und diesen unangenehmen Verrat einfach ungeschehen machen. Natürlich war die Idee bescheuert; nichts konnte ihn ungeschehen machen. Mr Jefferson steckte viel zu tief in dieser Scheiße. Besser sie kannte sein wahres Gesicht. Da es bei genauerer Überlegung allerdings demütigend und würdelos war unter einem fremden Bett zu liegen und sich zu verstecken wie ein kleines Kind und sie sich diese Blöße wenn schon nicht ausgerechnet vor Nathan geben wollte, kroch sie schließlich wieder ins Freie. Erschöpft und erschlagen ließ sie sich im Halbdunkel neben Nathan aufs Bett plumpsen und starrte wie er wortlos ins Leere. Er schien sie völlig vergessen zu haben; zeigte keine Regung, dass er sie überhaupt wahrnahm. Erst als er nach einer gefühlten Ewigkeit das Wort ergriff, schienen sie sich wieder in derselben Welt zu bewegen.
„Das ist doch alles absolut krank.“ Die Arme auf die Oberschenkel gestützt, fuhr er sich mit beiden Händen durch die Haare.
„Verrückt“, konnte Max mit zuckenden Schultern bloß zustimmen. Beinahe wäre ihr der klischeehafteste Spruch aller Zeiten rausgerutscht, doch sie konnte sich gerade noch besinnen, dass sie und Nathan bereits gewissermaßen in der gleichen Welt lebten. Noch so etwas, was sie vor wenigen Wochen nicht geglaubt hätte. Wie sehr sie sich diese unschuldigen Zeiten zurückwünschte. „Mr Jefferson, also“, sprach sie die unangenehme Wahrheit aus, wie um sich selbst endgültig zu überzeugen und es unumstößlich zu ihrer Realität zu machen. „Mr Jefferson und du, ihr...arbeitet zusammen?“ Das war nicht die Frage, die sie hatte stellen wollen, aber alles was ihr über die Lippen kommen wollte.
Nathan schnaubte. „Enttäuscht? Ich weiß, dass ihr Mädels alle auf Jefferson steht.“
„Nein, so ist das nicht“, widersprach Max hastig und schämte sich zutiefst, weil er nicht ganz unrecht hatte. „Es ist nur...ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Mr Jefferson hätte ich so etwas niemals zugetraut...“
Nathan schenkte ihr einen mitleidigen Blick. „Es sind immer die, denen man es am wenigsten zutraut. Und die einem am nächsten stehen.“
„Und wie passt du da rein?“
Nachdenklich zupfte Nathan an seiner Hose herum und ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Max wartete geduldig. Sie war viel zu ausgelaugt, um ihn zu hetzen und hatte gleichzeitig ein wenig Angst vor allem, was sie möglicherweise noch aufdecken könnte. „Weißt du, ich wollte ursprünglich gar nicht an die Blackwell Academy oder überhaupt nach Arcadia Bay.“
„Warte, du kommst gar nicht von hier?“
Er schüttelte den Kopf. „Aber meinem Vater war das ungeheuer wichtig. Weil er hier sein kleines Imperium aufbauen will und mich da irgendwie reinzuzwängen offenbar die einzige Möglichkeit ist, mich als Mitglied der Familie zu integrieren. Und dann hat er mich mit dem großen Starfotograf Mark Jefferson schließlich doch noch gelockt. Nur deswegen habe ich diese Drecksstadt wieder betreten.“ Verbitterung lag in seiner Stimme und er hatte die Hände zu wütenden Fäusten geballt. „Jefferson war von Anfang an mehr als nur ein Lehrer für mich. Ich weiß, dass er ein wachsames Auge auf mich haben sollte, aber trotzdem...ich konnte ihn ziemlich schnell ganz gut leiden.“ Das überraschte Max nicht. Es gab niemanden, der Mr Jefferson nicht leiden konnte. Der Mann war pures Charisma auf zwei Beinen. Aber war das nicht genau das, was man so vielen bösen Menschen nachsagte? „Er war ein Freund und irgendwie...ein Vaterersatz. Naja, weil ich mit meinem echten Dad nicht kann...ist auch egal. Jedenfalls hab ich auch außerhalb des Unterrichts viel Zeit mit ihm verbracht. Ich meine, es war keine komplette Farce. Wir stehen beide auf Fotografie. Ich bin sein Schüler und er mein Lehrer. Da war es irgendwie abzusehen, dass es auf zusätzlichen Privatunterricht hinauslaufen würde.“ Er machte eine kurze Pause, denn nun folgte der wirklich unangenehme Teil. Auch Max wappnete sich. „Dann zeigte er mir seine wahre Kunst.“
„Ist das der Part, in dem die Mädchen eine Rolle spielen?“, wagte sie zaghaft nachzuhaken.
Nathan nickte. „Der Vortex-Club, regelmäßige Partys...es passte alles. Ich hab sie zu ihm gebracht, er hat sie mit Betäubungsmitteln vollgepumpt, bis sie kaum noch die Augen offen halten konnten und sie dann zu seinen Kunstwerken gemacht“, wiederholte er das grausige Prozedere, das er ihr schon einmal offenbart hatte. Und auch wenn Max mit dem neu gewonnenen Wissen eher daran glauben konnte, dass diese widerlichen Bilder tatsächlich alles waren, was von den Opfern genommen wurde, hätte ihr Ekel nicht größer sein können. Das war pervers. Wie konnten solch abartige Gedanken in so einem hübschen, gesund wirkenden Kopf leben? Wie konnte man sich so sehr in einem Menschen täuschen?
Erschöpft stützte Nathan das Gesicht in die Hände. „Ich wusste ja, dass das falsch ist. Aber dann dachte ich, dass sie es ja nicht mitbekommen und das niemand zu Schaden kommt...ich hab diesen beschissenen Sturm verdient.“
„Hey.“ Wie von selbst landete ihre Hand auf seinem Knie und ihre Stimme klang unangemessen sanft. Er hatte überhaupt keinen Trost und erst recht kein Mitleid verdient. Er hatte selbst zugegeben, dass er sich seiner Taten bewusst gewesen war. Und selbst von diesen abgesehen war er ein furchtbarer Mensch, ein Tyrann und ein Arschloch. Und trotzdem verspürte sie einen Hauch Mitleid und spendete ihm Trost. Er war noch ein halbes Kind, genau wie sie. Sie waren beide überfordert mit dem, was hier mit ihnen passierte.
„Ist doch alles scheiße“, brachte Nathan schließlich hervor. Sein Gesicht blieb noch immer von seinen Händen und Armen verborgen. „Seit ich dich zum ersten Mal auf dem Schulgelände gesehen hab, hab ich ein Auge auf dich geworfen.“
Dieses unerwartete Geständnis verschlug Max glatt die Sprache und vorsichtig zog sie ihre Hand wieder zurück. Sie vergaß schnell, dass sie und Nathan in dieser Realität befreundet waren. Und dass er sie in dieser Realität als Mädchen wahrnahm. Selbst wenn sie sich all das ins Gedächtnis rief, erschien ihr die Vorstellung vollkommen surreal. Sie war männliches Interesse einfach nicht gewohnt und es schien besonders absurd, wenn sie an ihr ursprüngliches Leben an der Blackwell Academy zurückdachte. Noch absurder, wenn sie daran dachte, dass Interessenbekundungen ihre geringste Sorge waren, weil sie alle dem baldigen Untergang geweiht waren.
„Ich wollte echt nicht, dass du all diese Sachen über mich weißt. Aber ich schätze, jetzt spielt es auch keine Rolle mehr“, meinte Nathan schließlich schulterzuckend.
Max sah sich genötigt irgendwie klarzustellen, dass sie immer noch auf der selben Seite standen. „Ich schmeiße dich nicht mit Mr Jefferson in einen Topf.“
Zum ersten Mal seit langem sah er wieder auf und ihr in die Augen. „Tust du nicht?“
Sie schüttelte bestätigend den Kopf. „Ich würde nicht gerade behaupten, dass du ein guter Mensch bist, aber ich denke, man muss das etwas differenzierter betrachten. Wichtiger als das, was gewesen ist, ist das, was als nächstes kommt. Und dass du jetzt das Richtige tust.“
„Und was ist das Richtige?“
„Arcadia Bay und seine Einwohner vor dem Tornado zu retten.“
Er schnaubte. „Und wie sollen wir das anstellen?“
„Das überlegen wir uns noch.“ Sie wünschte, sie hätte eine Antwort auf seine Frage, doch sie hatte nicht mehr als die Gewissheit, dass es irgendwie möglich sein musste. Ihre Visionen, ihre Kräfte...es musste einen Grund für all das geben. Und nicht zuletzt war da noch Rachel Amber, die aus irgendetwas die Gewissheit bezog, dass die Stadt untergehen musste.
„Ich bin dabei“, riss Nathan sie resigniert wieder aus ihren Gedanken.
„Dann sehen wir uns morgen.“ Max erhob sich schwerfällig und wurde sich ihrer müden Knochen bewusst. Leichte Kopfschmerzen bahnten sich an. Es war zu viel für einen Tag gewesen. Als sie sich an der Tür noch einmal umdrehte, saß Nathan immer noch in unveränderter Position da und starrte ins Leere. Und sie dachte an ihr dunkles, leeres Zimmer, das sie erwartete und in dem sie diese Nacht vermutlich keine Ruhe mehr finden würde. So wie Nathan. Also kehrte sie um und setzte sich wieder auf sein Bett. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass er neugierig aufsah, doch er sagte nichts.

Sie hätte nicht sagen können, wie lange sie so bescheuert und teilnahmslos herumsaßen, bis sie endlich die ersehnte Müdigkeit übermannte. Zuerst ließ Max sich einfach nur rücklings hinabsinken, sodass sie zwar auf dem Rücken lag, ihre Beine jedoch noch über die Bettkante hingen. Irgendwann rutschte sie höher und rollte sich zur Seite. Irgendwann wurde sie wach und bemerkte, dass Nathan neben ihr lag und schlief. Irgendwann herrschte nur noch erholsame Leere in ihrem Kopf.
Review schreiben
 Schriftgröße  Schriftart  Ausrichtung  Zeilenabstand  Zeilenbreite  Kontrast