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[TKKG] Flug AE 239 – verschollen

von Gonda
Kurzbeschreibung
OneshotKrimi / P12 / Gen
27.07.2017
27.07.2017
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Soeben schmiss Klößchen einen ganzen Stapel Unterwäsche auf den Boden.
Tim, der eigentlich gerade versuchte seine Hausaufgaben zu erledigen, sah ihm dabei zu und schüttelte missbilligend den Kopf.
»Sag mal, Willi«, begann er, während er nebenbei die nächste Seite seines Mathematikbuches aufschlug, »was genau wird das?«
»Koffer packen«, entgegnete der Angesprochene lapidar, während er einige T-Shirts aus dem Schrank holte.
»Koffer packen – wofür?« wollte Tim wissen.
»Na, für den Urlaub.«
»Für welchen Urlaub? Ich denke, deine Eltern sind allein losgeflogen.«
Klößchens Eltern verbrachten seit Menschengedenken nahezu jeden Urlaub in Marbella, an der Costa del Sol in Spanien. Vor langer Zeit waren TKKG mitgeflogen und hatten dort, wie es sich gehörte, prompt einen Fall erfolgreich gelöst.
»Sie haben heute angerufen.« Willi zog seinen geräumigen Koffer unter dem Bett hervor und öffnete ihn.
»Sag mal, kannst du eigentlich auch Sätze von dir geben, die mehr als nur vier Wörter haben?«
»Aber natürlich kann ich das. So, das waren fünf.« Er grinste, doch der TKKG-Häuptling verzog keine Miene. Als er das bemerkt hatte, fuhr Klößchen fort: »Meine Eltern haben mir mitgeteilt, dass sie meinen, nach unseren letzten Fällen hätten wir uns endlich einmal richtigen Urlaub verdient – ohne irgendwelche Detektivarbeit. Sie lassen uns Flugtickets zukommen. Ja, ich weiß, der letzte Fall in Marbella und so … aber dieses Mal wird es anders. Meinen sie.«
»Das heißt, wir sind wieder einmal eingeladen?«
»So ist es.«
»Wann soll es losgehen?«
»In drei Tagen.«
In zwei Tagen würden die Sommerferien beginnen. Bislang hatte von keiner Seite der TKKG-Freunde ein Plan existiert, ob und wohin es in den Urlaub gehen sollte.
»Eines steht dem aber im Wege«, meinte Tim.
»Was denn?«
»Das Projekt.«
Tim und Karl hatten an einem Schulprojekt zu arbeiten, für den Biologieunterricht. Das würde sich auf keinen Fall verschieben lassen, da nur zu dieser Zeit die idealen äußeren Bedingungen vorhanden waren. In einer Woche sollten sie es abgeben. Zu diesem Zwecke blieb Tim in der Millionenstadt, obwohl er eigentlich mehrere hundert Kilometer entfernt bei seiner Mutter lebte.
»Ah, richtig. Nun, wir werden für vier Wochen bleiben. Dann könnt ihr das fertigmachen und abgeben. Ihr kommt einfach nach, dann habt ihr immer noch drei Wochen zum Ausspannen.«
Tim gefiel der Plan. »Wir müssen aber noch den anderen Bescheid sagen«, meinte er. »Gaby kann ja mit dir in drei Tagen losfliegen. Sie sollte sich mal erholen.«
»Ja, ich rufe sie später an. Erst mal muss ich den Reiseproviant in den Koffer bekommen. Von den Klamotten nicht zu reden. Meinst du, drei Tafeln Schokolade sind genug für den Flug?«
»Mehr als genug«, erwiderte der Häuptling. »Ihr fliegt ja nicht nach Australien oder so.«
»Das würde auch noch fehlen. Immerhin ist Australien voller giftiger Tiere. Das giftigste Tier bei uns ist die Waldameise. Außerdem haben die da unten auch noch andere Tiere, die versuchen einen umzubringen, Wildhunde und so.«
»So schlimm ist es auch nicht.«
»Aber annähernd.«
»Gut, dass du nicht beim Projekt für Bio mitmachst.« Tim musste lachen.
»Würde glatt in einer Katastrophe enden, wo ich doch noch knapp mit einer Vier davongekommen bin.«
»Sag mal, bekommst du das da noch hin mit deinem Koffer?«
Mittlerweile sah Klößchens Teil der Bude ADLERNEST aus, als wäre eine Räuberbande hindurchgezogen und hätte im Vorbeigehen noch ein paar Mörsergranaten verloren.
»Ich arbeite dran«, gab Klößchen zurück und stopfte, bemüht, seine Schokolade nicht zu zerbrechen, alles in den soliden schwarzen Metallkoffer.
Tim zog die Augenbrauen hoch, senkte sie jedoch sofort wieder und widmete sich wieder seinen Mathematikaufgaben.



Drei Tage später verabschiedeten Tim und Karl Gaby und Klößchen am Flughafen der Millionenstadt. Da Gabys und Klößchens Eltern auf der Arbeit waren, hatte sich der mit der TKKG-Bande seit längerem befreundete und kooperierende Polizeibeamte Oberinspektor Sadić die Zeit genommen sie zu begleiten und Karl und Tim zu fahren.
»Dann seht mal zu, dass euch der Pilot heile nach Marbella bringt«, meinte Tim.
»Das sagt gerade ihr«, entgegnete Klößchen, dem sein Hawaiihemd erstaunlicherweise immer noch nicht zu klein war. »Statistisch gesehen bauen spanische Piloten weniger Unfälle als … naja, zum Beispiel serbische Autofahrer.«
Sadić lachte. »Seit ich vor sechzehn Jahren in meiner Ausbildung in Belgrad einen Dienstwagen vor einen Brückenpfeiler gesetzt habe, fahre ich gänzlich unfallfrei.«
»Immerhin. Setzen Sie mal ein Flugzeug vor einen Brückenpfeiler.«
»Wenn der Pilot das schafft, ist er auf eine gewisse Art und Weise verdammt gut.«
»Hört auf!« warf Gaby ein. »Ich hoffe sehr, dass das gutgeht.«
»Schon Angst? Keine Sorge, Gaby. Du fliegst ja nicht zum ersten Mal. Und von den zehntausend Metern unter dir sind nur die letzten zwei wirklich gefährlich.«
»Wo er recht hat …« Klößchen grinste, was sein Mondgesicht gut zum Ausdruck brachte.
In diesem Moment ertönte eine Stimme. »Die Fluggäste des Fluges AE 239 nach Marbella werden gebeten sich zum Check-in bei Terminal C zu begeben. The passengers of AE two-three-nine to Marbella are asked to proceed to the check-in at Terminal C.«
»Das sind wir«, sagte Klößchen. »Wir müssen los.«
»Guten Flug«, wünschte Tim. »In einer Woche kommen wir dann nach.«
»Und dieses Mal habt ihr wenigstens kein Stiefelweib Prachold dabei«, grinste Karl.
»Die fehlt uns auch gerade noch«, gab Klößchen zurück. »Bis in einer Woche.«



Zwei Stunden später saßen Klößchen und Gaby im Flugzeug. Klößchen konnte von seinem Fensterplatz aus die Landschaft erblicken; an diesem Tag schien auch auf der Erde die Sonne.
Während er sich das ansah, dachte er an das Palasthotel in Marbella, welches er nun zum vierten Male in seinem Leben erblicken würde. Und an den riesengroßen Schokobecher, den er sich als allererstes bestellen würde. Dann würde er sich vier Wochen lang faul in die Sonne legen.
»Hoffentlich kommt die Stewardess bald vorbei«, meinte er dann zu Gaby, nachdem er festgestellt hatte, dass der Gedanke an den Schokobecher offensichtlich auch in seinen Magen vorgedrungen war. »Meine Schokolade ist im Koffer, da komme ich jetzt ja nicht dran.«
»Aber nicht, dass du bei der Landung nachher die hier brauchst.« Gaby tippte auf die braunen Papiertüten, in denen schon so manches Frühstück gelandet war.
»Keine Sorge. Mein Magen ist bedürftig, aber robust.«
»Entschuldigt«, wurden sie plötzlich von hinten angesprochen.
Sie drehten sich um. Ein dunkelblondes Mädchen in ihrem Alter hatte hinter ihnen gesessen und sich nun erhoben. Sie hatte ein schwarzes Kabel in der Hand.
»Ja, bitte?«
»Hat einer von euch zufällig ein Ladekabel für ein Samsung Galaxy S5? Ich hab meins zu Hause liegenlassen. Und die Steckdose hier ist auch kaputt.«
»Klar, hab genau das gleiche.« Klößchen ging an seine Stofftasche, die er als Handgepäck mitführte. »War ja klar. Keine Schokolade drin, aber ein Ladekabel, obwohl mein Handy voll ist und der Akku bis heute Abend halten sollte. Super Planung.«
Das Mädchen musste lachen. Dann gab sie Klößchen ihr Handy. Er schloss es an die Steckdose vor sich an. Kurz blickte er drauf. »Es lädt«, bemerkte er.
»Danke. Ihr wollt auch nach Marbella? Palasthotel hab ich da gehört?«
»Jawohl, wir sind da jetzt zum zweiten Mal.«
»Und dafür habt ihr Geld?«
»Sicher, mein Vater ist Schokoladenfabrikant. Er stiftet uns einen wohlverdienten Urlaub. Ich bin Willi Sauerlich, das hier ist Gaby Glockner.«
»Sauerlich?« Sie überlegte kurz und griff in ihre Handtasche. Dann musste sie lachen. »War ja klar. Kein Ladekabel drin, obwohl mein Handy leer ist und der Akku vielleicht noch zehn Minuten gehalten hätte, aber Sauerlich's Beste. Super Planung.«
»Hättest du vielleicht ein kleines … also ganz klein …«
»Willi!« ermahnte ihn Gaby.
Das Mädchen lachte. »Ach was, wenn er Hunger hat.«
»Den hat er zwölf Stunden am Tag. Den Rest schläft er«, sagte Gaby. »Aber was soll's. Wie heißt du eigentlich?«
»Lena. Lena Horak. Ich bin fünfzehn Jahre alt.«
»Angenehm. Wir auch.«
Die drei unterhielten sich einige Zeit. Lena erzählte, dass sie ihren Eltern hinterherflog, welche sich bereits in Marbella aufhielten. Zwischenzeitlich kam tatsächlich die Stewardess vorbei. Fast alle Passagiere bedienten sich, was bei diesen Temperaturen nicht wunderlich war. Diejenigen, die nichts nahmen, hielt Klößchen für wahnsinnig. Sie schienen einiges an Hitze abzukönnen.
Mittlerweile gab es ein paar Turbulenzen, die allerdings niemanden störten. Ein gewisses Maß war normal.
»Au weia«, sagte Gaby plötzlich. »Ich hab meine Kulturtasche zu Hause vergessen. Das Wichtigste hab ich mit, aber das wird nicht reichen.«
»Sag doch Tim Bescheid«, meinte Klößchen. »Er kann dir das ja nächste Woche hinterher bringen. Am besten ist, du verständigst ihn bald. Sonst vergisst du das ja doch wieder.«
»Gute Idee. Ich ruf gleich mal an. Ich muss eh kurz auf die Toilette.«
Kurze Zeit später kam sie wieder. »Er ist nicht drangegangen, da hab ich ihm halt auf die Mailbox gequatscht. Nur komisch, dass das Gespräch unterbrochen wurde.«
»Mach dir nichts draus«, erwiderte Klößchen. »Tims Handy spinnt ja gerne mal.«
»Das kenne ich«, meinte Lena. »Meins ruft gerne mal irgendwelche Nummern an, gibt auf der anderen Seite der Leitung merkwürdige Geräusche von sich und legt wieder auf. Ich muss das Ding mal zur Reparatur bringen.«
»Die Technik.« Klößchen lachte. »Irgendwann fliegen wir mit Lichtgeschwindigkeit, kriegen aber kein Ei in der Pfanne gebrutzelt.«
»Karl könnte uns jetzt erklären, wie lange das noch dauert«, witzelte Gaby.
»Ich weiß nur, dass es ordentliche Turbulenzen geben wird. Ich hab das Gefühl, die hier werden immer stärker.«




Da Karl und Tim noch Zeit hatten, waren sie mit Sadić in die Stadt gefahren, um ein Eis zu essen. Danach fuhren sie in Richtung des Internates, wo die beiden Jungs an ihrem Schulprojekt weiterarbeiten wollten. Inzwischen war es fast fünf Uhr.
In diesem Moment klingelte Sadićs Handy. Er hielt am Straßenrand an, stellte den Motor ab und nahm ab.
»Ja, bitte? – Ah, Herr Kommissar. – Was? Doch wohl nicht … ernsthaft? Verdammt. Das ist …« Er fluchte kurz leise auf Serbisch. »Das gibt’s nicht. Wo denn? Was war denn zuletzt, weiß man … was? Nein? Auch keine Ortung? Na geil. Okay, danke, Herr Kommissar.«
Er legte auf.
»Was ist los?« wollte Tim wissen.
»Das war Herr Glockner. Es gibt ein verdammt großes Problem.«
»Was ist denn passiert?« fragte jetzt auch Karl.
»Gaby und Klößchen sind ja mit dem Flug AE 239 Richtung Marbella geflogen.«
»Ja. Und?«
»Es wurde gerade gemeldet, das Flugzeug sei spurlos verschwunden. Kein Kontakt mehr, weder zum Flugzeug, noch sonst irgendwas. Auch Handyortung ist nicht mehr möglich.«
Karl und Tim trauten ihren Ohren nicht.
»Weiß man denn, wo das Flugzeug zuletzt geortet wurde?« fragte Karl.
»Der Kontakt verliert sich irgendwo über den Ammergauer Alpen in Österreich, also gar nicht so weit von hier. Das kann nicht lange nach dem Start gewesen sein.«
»Ich hoffe, da ist nichts passiert«, meinte Tim.
»Wir fahren hin«, sagte Sadić entschlossen. »Bis die Suchtrupps anrücken, kann das 'ne Weile dauern.«
»Aber die werden doch trotzdem schneller sein als wir«, wandte Karl ein.
»Nicht, wenn ich fahre.«
»Lassen wir das Schulprojekt halt sausen«, beschloss Tim. »Gaby und Willi sind jetzt wichtiger.«
Sadić legte den ersten Gang ein, betätigte den Knopf zum Einschalten des Blaulichts und fuhr mit quietschenden Reifen los.



Für die malerische Alpenlandschaft hatten Tim, Karl und Sadić keine Augen. Der 37jährige Oberinspektor vom Balkan heizte wie besessen. Dass er in Österreich nicht als Polizist und sein deutsches Auto nicht als Polizeidienstwagen zählte, war ihm egal. Tim hatte während der Fahrt Kommissar Glockner informiert, der alles in die Wege leiten würde.
Nach nur einer Stunde und zehn Minuten erreichten sie die Stadt Reutte, in deren Nähe das letzte Signal gesichtet worden war. Sie fuhren die Landstraße zurück und hielten am Straßenrand, wo sie Blick auf einen See hatten. Sadić stellte den Motor ab.
»Das hier ist der Heiterwanger See«, sagte er. »An dem sind wir ja gerade schon vorbeigekommen. Ich hoffe doch nicht, die sind da rein. Er wäre groß genug, sodass du dort ein Flugzeug versenken könntest.«
»Durchaus«, bestätigte Karl. »Er hat eine Maximaltiefe von sechzig Metern, allerdings sehr hohe Sichttiefen von fünfzehn Metern und weniger. Und so groß ist er auch nicht, gerade mal etwas über einen Quadratkilometer. Mit hoher Wahrscheinlichkeit würde man das überleben, wenn das Flugzeug unbeschädigt ist – mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit aber würde man es bemerken, wäre da jemand mit einer großen Passagiermaschine da hineingesaust. Selbst wenn der Schaden noch so groß wäre. Außerdem ist gleich nebenan die Kohlbergspitze – sie hat über 2000 Meter Höhe. Eher wäre das Flugzeug gegen diesen Brocken geklatscht, als dass sie im See gelandet wäre. Nur ein riesiger Zufall oder ein Pilot von der Luftwaffe könnte ein Flugzeug mit mehr als 600 Kilometern pro Stunde pfeilgerade in diesem See versenken.«
»Und wenn es eine Notlandung war?« meinte Tim. »Dann wäre zumindest die Hoffnung da, dass der Vogel nichts abgekriegt hat, von den Passagieren gar nicht zu reden.«
»Ja, okay, aber in einem See?«
»Na gut. Was ist mit dem Signal? Ist es möglich, dass es verlorengeht, wenn der Sender an Wasser gerät?«
»Ich bin kein Experte, aber die Teile sollten wasserdicht sein.«
»Mein Onkel war bei der jugoslawischen Luftwaffe«, warf Sadić ein. »Er war Kampfflieger und hatte natürlich eine Pilotenausbildung mit allem, was dazugehört. Sein Flugzeug, mit dem er 1993 im Jugoslawienkrieg nach Bosnien unterwegs war, hatte schon vor der Grenze Treibstoffmangel. Da musste irgendwer gepfuscht haben. Jedenfalls war er mit fast 1000 Stundenkilometern im Sturzflug – und schaffte es, den Flieger punktgenau bei Višegrad in der Drina zu versenken, die an der Stelle vielleicht etwas über hundert Meter breit ist.«
»Und hat man ihn gefunden?« fragte Tim.
»Ja, obwohl die Absturzstelle recht weit außerhalb lag. Er hatte es geschafft sich aus dem Wasser zu retten. Der Flieger hatte Totalschaden, aber mein Onkel kam mit dem Schrecken davon.«
»Wie kam er dann dort weg?« wollte Karl wissen.
»Nun ja, Handys gab es ja nicht großartig, und die nächste Stadt war weit entfernt. Einfach durch die Ortung des Signals hat man den Flieger gefunden und somit auch Onkel Darko.«
»Also war das Signal intakt«, schloss Tim.
»Das Funkgerät war natürlich hinüber, aber das Signal war immer noch empfangbar.«
»Und das wäre auch der Fall, wäre unser Flieger in diesem See gelandet?«
»Was die Jugos damals mit ihren Maschinen hinbekommen haben, schaffen die großen europäischen Airlines heute schon lange. So was ist längst Standard.«
In diesem Moment zog Tim sein Handy hervor. »Oha, mich hat jemand angerufen«, bemerkte er. »Schon vor anderthalb Stunden. Ich hatte mein Handy auf lautlos, deshalb hab ich das nicht gemerkt.«
»Wer denn?« fragte Karl.
»Es war … trip und trollo, das war Gaby! Sie hat angerufen, kurz bevor das Signal verlorenging! Sie hat was auf die Mailbox gesprochen.«
»Spiel mal ab«, meinte Sadić. »Vielleicht kriegen wir so einen Hinweis.«
Tim stellte den Lautsprecher auf volle Leistung und spielte die Nachricht ab.
»Hey, Tim!« ertönte es aus den Lautsprechern. »Ich bin's, Gaby. Hör mal, bevor ich's vergesse, könntest du, wenn ihr losfliegt, meine Kulturtasche mitbringen? Sie liegt noch zu Hause. Ich hab genug Zeugs für 'ne Woche, aber länger reicht's nicht. Ja? Danke schön. Es wird übrigens richtig heiß hier. Wenigstens haben die was zu trinken hier. Wir haben auch schon 'ne nette Reisebekanntschaft geschlossen, sie heißt Lena Horak und ist so alt wie wir. Ich glaub', Klößchen findet sie auch ganz nett … du weißt schon. Naja, wir haben schönes Wetter und nen guten Ausblick auf die Landschaft. Müsste schon Österreich sein. Aber es wird ganz schön turbulent hier. Und irgendwie glaub' ich, wir werden immer langsamer, ich weiß auch nicht, was da los –«
An der Stelle brach die Nachricht ab. Ein merkwürdiges Rauschen war noch im Hintergrund zu hören gewesen, allerdings nur sehr kurz.
»Ende«, sagte Tim.
»Komische Sache das«, kommentierte Sadić.
»Was machen wir jetzt?« wollte Karl wissen.
»Die nächste große Polizeidienststelle ist in Innsbruck. Uns bleibt nichts anderes übrig als dort mal vorbeizufahren.« Sadić ließ den Motor wieder an und fuhr los.



Mit einem ähnlichen Affentempo wie auf der Hinfahrt steuerte Sadić den Dienstwagen mit Blaulicht über die Bergstraße, um in Telfs auf die Autobahn zu fahren.
Als Sadić die Autobahn bei Innsbruck verließ, piepte sein Handy.
»Ah, das wird Gabys Vater sein«, sagte er. »Eine SMS. Tim, lies sie mal, das muss die Liste der Passagiere sein, beziehungsweise der vertretenen Nationalitäten. Könnte wichtig werden.«
Tim besah sich die Liste. Gleich darauf erreichten sie das Polizeipräsidium von Innsbruck. Dort trug Sadić sein Anliegen in knappen Worten vor. Daraufhin geleitete man sie zu einem Büro. Sie betraten es. Es war sehr abgedunkelt.
Ein dunkelhaariger Mann Mitte vierzig mit Dreitagebart saß an mehreren Computern zugleich. Er bat Sadić, Karl und Tim Platz zu nehmen.
»Guten Tag«, sagte er in relativ akzentfreiem Hochdeutsch. »Mein Name ist Holger Neustifter, ich bin Spezialist für Terrorabwehr.«
»Angenehm. Ich bin Oberinspektor Miroslav Sadić, das hier sind Peter Carsten, Tim genannt, und Karl Vierstein.«
»Ja, die Herrschaften aus Deutschland. Sie wurden mir angekündigt.«
»Ja. Es geht um das Flugzeug AE 239, das vor ein paar Stunden spurlos verschwunden ist.«
»Das ist mir klar. Deshalb wurde ich mit der Sache beauftragt.«
»Sie sind für Terrorabwehr zuständig. Sie glauben also ganz sicher an einen Akt von Terroristen?«
»Was heißt, ich glaube. Alles spricht dafür. Ein Unfall ist so gut wie komplett ausgeschlossen. Und ein Suizidversuch des Piloten scheidet für mich ebenfalls aus. Der wäre in dieser Gegend nicht möglich, ohne eine Spur zu hinterlassen. Das Signal ging in der Gegend zwischen dem Heiterwanger See und der deutschen Grenze verloren. Dieses Gebiet haben wir hinreichend durchkämmen lassen.«
»Und was ist mit den anderen Gebieten?«
»Die reguläre Flugroute verläuft über die Allgäuer Alpen hinweg zwischen Oberstdorf und Sankt Anton. Die Kollegen sind dran, viel Hoffnung besteht aber nicht. Das Gebiet ist relativ dicht besiedelt, da wäre ein Flugzeugabsturz definitiv aufgefallen.«
»Aber was ist, wenn das Flugzeug eine andere Route eingeschlagen hat?« wandte Tim ein. »Also vom Kurs abgewichen ist?«
»Dann finden wir es erst, wenn die Kollegen eine Spur haben«, meinte Neustifter. »Ich weiß aber, worauf du anspielst. Äh, ich darf du sagen, ja?«
»Sicher, ich bin noch jünger als ich aussehe.«
»Gut. Also, du meinst eindeutig den weltbekannten Fall aus diesem Jahr, als ein Flugzeug der Malaysia Airlines nach Peking fliegen sollte und nie dort ankam. Am 8. März war das. Es war deutlich von seinem Kurs abgekommen. Alle Signale gingen verloren. Das Verbleiben des Flugzeugs ist bis heute genauso unbekannt wie die Ursache für das Verschwinden.«
»Ungefähr so«, sagte Tim. »Nur dass das Flugzeug dieses Mal nicht unbemerkt eine solche Distanz zurücklegen könnte.«
»Sag das nicht«, widersprach Neustifter. »Alles ist möglich.«
»Tim hat recht«, warf Karl ein. »Wir sind hier in Europa, nicht am Indischen Ozean. Wir haben unzählige Flughäfen, und jede Menge Auffangstationen für die permanenten Signale, die von Flugzeugen ausgehen. Außerdem sind wir hier nicht gerade dünn besiedelt.«
»Guter Einwand«, gab Neustifter klein bei.
»Wieso schließen Sie eigentlich einen Unfall aus?« wollte Sadić wissen. »Es könnte doch ein technischer Defekt vorliegen?«
»Der müsste dann schon kurz nach dem Start aufgetreten sein«, gab Neustifter zurück. »Und der Pilot musste eben ausweichen und notlanden. Wo, wissen wir ja auch nicht. Aber wahrscheinlich ist das schiefgelaufen.«
»Herr Neustifter, ich bitte Sie. Mein Onkel war Kampfflieger und hat vor über zwanzig Jahren einen Flugzeugabsturz souverän gemeistert. Wenn alles versagt, überlegt ein Pilot nicht, was er zu tun hat. Er weiß es bereits. Er hat immer auf dem Schirm, wo der nächste Flughafen ist, an dem er notlanden kann. Er hätte in Zürich landen können, dann wäre er nach rechts abgedriftet. Das ist aber ja offensichtlich nicht der Fall. Genauso wenig wie hier in Innsbruck. Und er hätte auf Mailand zufliegen können.«
»Und vermutlich hatte er das vor, doch etwas ist schiefgelaufen, und er hat einen Unfall gebaut«, folgerte Neustifter.
»Wäre das der Fall gewesen, hätte die Black Box Signale abgegeben. Spätestens. Doch es kam ja nichts. Das Flugzeug kann nicht geortet werden, und erreicht auch nicht. Außerdem fällt ein Flugzeug ja nicht wie ein Stein vom Himmel, sondern ist noch eine ganze Weile in Bewegung.«
Neustifter schien einzusehen, dass er in diesem Punkt nicht gegen seinen Besuch anstinken konnte, und wandte sich dem Bildschirm zu, der eine Karte von dem Gebiet zeigte.
»Also sind Sie meiner Meinung, dass ein Unfall nicht möglich ist. Nun, nehmen wir an, der Pilot hätte vorgehabt, außerplanmäßig in Mailand zu landen. Dann passt es, dass er am Heiterwanger See vom Kurs abgekommen ist. Dann ist er in Richtung Süden geflogen. Wenn Suizidversuch und Unfall ausgeschlossen sind, bleibt nur die Möglichkeit, die mir schon länger vorschwebt. Und dazu passt auch das Gebiet, in dem es verlorenging.«
»Was ist mit dem Gebiet?« wollte Karl wissen.
»Ein paar Kilometer südlich der Stelle, an dem man zuletzt ein Signal des Flugzeugs auffangen konnte, ist das Gebiet, mit dem ich mich schon länger befasse. Kaum bekannt, zumindest der Öffentlichkeit nicht. Aber mir schon. Es handelt sich um – das Tal des Grauens!«



Klößchen wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte. Als er aufwachte, blickte er sich um.
Er wusste wieder, wo er war. Im Flugzeug Richtung Marbella. Doch es flog nicht.
Er warf einen Blick aus dem Bullauge, doch er sah nur Gestrüpp.
Verschwommen sah er seine Umgebung und stellte fest, dass die anderen Passagiere ebenfalls schliefen, einschließlich Gaby, die an ihren Vordersitz gelehnt war.
Er blickte auf den Sitz hinter ihm. Lena hatte beide Sitze in Beschlag genommen, die Füße hochgenommen und schlummerte ebenfalls vor sich hin.
Ein weiterer Blick ins Innere des Flugzeugs zeigte ihm, dass hier alles noch schlief – und dass einige Passagiere fehlten.
Zwei Männer hatten kleine Wunden am Kopf.
Er bekam Hunger. Doch das war ja nichts Neues.
Langsam begann er sich zu fragen, wo sie überhaupt waren. Er griff nach seinem Handy, um nachzusehen, wie spät es überhaupt war. Doch es war verschwunden.
Ein Blick auf die Steckdose vor sich verriet ihm, dass auch Lenas Handy weg war.
Er versuchte Gaby zu wecken, doch sie reagierte nicht.
Er wollte sich erheben, doch er fühlte sich zu schwach dafür.
Er lehnte sich zurück. Und schlief gleich darauf wieder ein …



»Tal des Grauens?« wiederholte Tim. »Was soll das sein?«
»Das Tal des Grauens«, begann Neustifter, »ist eine dicht bewachsenes und schwer zugängliches Talsenke zwischen Weißenbach am Lech und Landeck. Es ist sozusagen das Bermudadreieck Westösterreichs. Wann immer in Tirol und Vorarlberg Menschen spurlos verschwinden – wenn sie irgendwo landen, dann dort.«
»Davon habe ich noch nie gehört«, meinte Karl. »So eine Art grüne Hölle?«
»Richtig, so kann man es nennen. Der Öffentlichkeit ist darüber so ziemlich nichts bekannt. Ich aber habe mich damit auseinandergesetzt und verschiedenste Fälle aus den verschiedensten Zeiten abgeglichen. Die Lechtaler Alpen haben einen guten Ruf und gut zugängliche Gebiete, in denen auch Tourismus vertreten ist. Auch einige Skigebiete gibt es. Doch ein paar Gegenden gibt es, die schwer zu betreten sind.«
»Und was hat es mit diesem Tal des Grauens auf sich?« fragte nun Sadić.
»Ich habe sechsundzwanzig Fälle untersucht, in denen Menschen aus dieser Gegend spurlos verschwanden, beginnend mit dem Jahr 1942. Die Spur endete jedes Mal in besagtem Tal. Zum Beispiel verschwand im Herbst 1975 ein 29jähriger Autofahrer in der Nähe von Elbigenalp. Ein Jäger entdeckte im Tal des Grauens das Autowrack. Das Tal wurde von den Gendarmerie auf den Kopf gestellt, doch der Autofahrer wurde bis heute nicht gefunden.«
»Vielleicht Zufall? Immerhin ist es doch dicht bewachsen«, meinte Karl. »Wenn es einen Leichnam gab, war er vielleicht irgendwo im Gestrüpp verschwunden.«
»Aber nicht bei so vielen Fällen. Auch das Wrack eines Schulbusses, der 1998 aus nicht erklärten Gründen bei Karrösten von der Autobahn abfuhr, wurde dort gefunden. Auch in dem Falle ist bis heute keine der vermissten Personen je wieder gesehen worden.«
»Und wie lange liegt der letzte Fall zurück?« fragte Tim.
»Im Januar 2012 verschwand dort ein Skiurlauber. Die Skier wurden wiedergefunden, an einem Hang, den er hinuntergefallen sein muss. Leiche? Fehlanzeige.«
»Aber die Öffentlichkeit oder sonst irgendjemand hat nie einen Zusammenhang hergestellt?« Sadić traute seinen Ohren nicht.
»Woher denn. Einige Fälle wurden gar nicht erst veröffentlicht.«
»Und wo sehen Sie persönlich mögliche Ursachen für das Verschwinden dieser vielen Personen?« erkundigte sich Tim.
»Ich kann es natürlich nicht erklären, aber Mutmaßungen anstellen«, sagte Neustifter. »Ich bin mehrmals in diesem Tal gewesen; besondere Todesfallen scheint es dort nicht zu geben. Also ist die Ursache in jedem Falle menschlich. Ich habe auch einige Gegenstände gefunden, die ich nicht zuordnen kann. Aber wer dahintersteckt … nun ja. Es gibt eine ganze Reihe von möglichen Ursachen. So ein entlegenes Tal eignet sich prima für kriminelle Aktivitäten, und auch sonstige Vorgänge, von denen nicht unbedingt jeder was mitkriegen muss. Mir ist beispielsweise aufgefallen, dass die Zahl der Fälle, in denen Menschen dort verschwanden, seit Ende des Kalten Krieges stark abgenommen hat. Bis auf vier Fälle ereigneten sich alle im Zeitraum zwischen 1960 und 1990, also weniger als der Hälfte des untersuchten Zeitraumes.«
»Was schließen Sie daraus?« fragte Sadić.
»Ich stelle mir vor, dass viele Nachrichtendienste für die Abwicklung ihrer Angelegenheiten gerne die Tatsache ausnutzten, dass Österreich und die Schweiz neutral waren, also weder zur NATO noch zum Warschauer Pakt gehörten, was im Falle beider Staaten heute noch der Fall ist. Ein ähnlicher Vorgang könnte sich heute abgespielt haben. Für irgend etwas musste man diese vielen Menschen verschwinden lassen, was ja dem österreichischen Staate bereits seit über sechzig Jahren untersagt ist, genauso wie allen europäischen Staaten. Inwieweit die Praxis noch existiert, kann nur vermutet werden. Aber ganz aus der Welt ist sie offensichtlich noch nicht. Man müsste wissen, was für Menschen an Bord waren.«
»Die Liste der vertretenen Nationalitäten haben wir«, sagte Sadić. Er zog sein Handy hervor. »Sie noch nicht? Die kamen eben, als wir ankamen.«
Sadić öffnete die Liste und zeigte sie Neustifter. Der besah sie sich genauer. »Sehr interessant«, murmelte er. Es betraf in der Tat einige Staaten. 341 Mann, davon 112 Deutsche, 78 Österreicher, 35 Schweizer, 19 Araber, 16 Spanier, 14 Chinesen, elf Russen, acht Tschechen, acht Ukrainer, sieben Franzosen, sechs Amerikaner, sechs Südkoreaner, fünf Serben, drei Kroaten, drei Slowenen, drei Briten, zwei Japaner, zwei Polen, zwei Libanesen, ein Vietnamese. »Damit kann man arbeiten«, meinte Neustifter. »Das sind genug Länder, in denen es Affären und Intrigen gibt. Leider auch wieder zuviele, um genaue Rückschlüsse zu ziehen.«
Er gab Sadić sein Handy zurück. Der steckte es ein.
»Wir sind morgen wieder da«, meinte Sadić. »Es wird spät, und wir müssen nach Hause.«
»Übernachten Sie nicht in Innsbruck?«
»Ich fürchte, nein. Das hier war eine spontane Aktion. Das Budget reicht nicht aus. Aber wir kommen natürlich wieder.«


Klößchen wachte erneut auf.
Wieder sah er sich um. Er stellte fest, dass sich nichts verändert hatte, außer dass es draußen mittlerweile dunkler war als zuvor. Es dämmerte bereits. Oder die Sonne war einfach schon tief hinter den Bergen verschwunden.
Soeben wachte auch Gaby auf.
»Wo … wo sind wir?« wollte sie wissen. »Schon in Marbella?«
Klößchen schilderte ihr kurz die Sachlage. Gaby wurde langsam wach.
»Wir sollten Hilfe holen«, meinte sie.
»Dazu müssten wir wissen, wo wir sind. Mann, Gaby, das hier ist 'ne astreine Flugzeugentführung! Wir sollten zusehen, dass wir wegkommen!«
In diesem Moment wurde auch Lena wach. »Sind wir schon da?« wollte sie wissen.
»Komm mit«, sagte Gaby. »Wir haben keine Zeit dafür. Wir erklären dir das unterwegs.«
Schwerfällig erhob sich Lena.
»Wir nehmen unsere Sachen mit«, beschloss Klößchen. »Hoffentlich kommen wir hier überhaupt raus.«
In aller Eile verstauten die drei ihr Handgepäck, dann begaben sie sich zum Ausgang der Maschine.
Gaby probierte die Tür zu öffnen. Es gelang.
Nur einen Spalt machten sie diese auf, sodass sie hinausgehen konnten. Wenn die Entführer tatsächlich noch in der Gegend waren, musste man sie ja nicht unnötig darauf aufmerksam machen, dass da welche zu türmen versuchten.
Sie sahen sich um. Tatsächlich dämmerte es offensichtlich schon.
Das Flugzeug war, wie es den Anschein hatte, irgendwo in einem Tal heruntergekommen, dessen Grund fast nur aus Dickicht bestand. Rundherum nur Grün, welches an den Rändern der umliegenden, das Tal umschließenden Berge endete, die locker über 2000 Meter Höhe über dem Meeresspiegel maßen.
Das Flugzeug selbst war mühselig mit Ästen abgedeckt worden. Offensichtlich hatte man so verhindern wollen, dass man es aus einem Hubschrauber heraus erkennen konnte.
»Bloß weg hier.« Klößchen schlug die Richtung eines dicht aussehenden Waldes ein.
Die Mädchen folgten ihm. Nur mühsam war es möglich sich zwischen den Büschen her durchzuschlagen. Doch selbst hier kam man irgendwie vorwärts.
»Sollten wir nicht mal auf einen der Berge da, um zu sehen, ob es hier irgendwo eine Ortschaft oder so gibt?« meinte Lena.
»Keine Chance«, wandte Gaby ein. »Wer ein Flugzeug mit über 300 Passagieren entführt, achtet darauf, es nicht gerade im Stadtpark abzustellen.«
»Dann brauchen wir was, wo wir sicher unterkommen können«, gab Lena zurück. »Ich nehme stark an, den Flieger können wir knicken.«
»Hundert Punkte.«
Sie kamen dem Waldrande merklich näher. Es waren vielleicht noch gute zweihundert Meter bis dorthin.
In diesem Moment hörten sie ein Motorengeräusch. Sie erkannten sofort, dass es sich um einen Hubschrauber handeln musste.
»Nicht bemerkbar machen!« zischte Gaby. »In die Büsche!«
Sie duckten sich. Der Hubschrauber flog seinen Kurs weiter.
»Und wenn das jetzt Leute waren, die uns retten wollen?« meinte Klößchen.
»Bist du verrückt? Im Leben nicht!«
Der Hubschrauber zog von dannen. Dann war Stille.
»Wir müssen uns vor allem in Acht nehmen«, sagte Gaby schließlich. »Wer weiß, was die noch für uns –«
Jetzt knallte es laut.
Dann nochmal.
Das waren Schüsse.
Wie auf Kommando sprangen Klößchen, Gaby und Lena auf und rannten auf den Waldrand zu. Alles egal, Hauptsache, weg hier.
Weitere Schüsse waren zu hören. Sie hallten von den Bergen wider.
Dann wurde es still.
Den dreien war das egal. Sie rannten noch tiefer in den Wald hinein.



Tim, Karl und Sadić waren nun wieder auf der Bundesstraße, welche heimwärts führte.
»Das ist ja ganz klasse gelaufen«, meinte Sadić. »Wir haben nichts in der Hand, keinen Hinweis auf den Verbleib von Klößchen, Gaby und 339 weiteren Passagieren plus Besatzung. Die Suchtrupps fischen im Trüben, und den Einsatz leitet ein völlig abgedrehter Verschwörungstheoretiker, der von Flugzeugbautechnik keine Ahnung hat. Echt der Hammer.«
»Dafür haben wir ein Tal des Grauens«, sagte Karl. »Und der werte Herr Kollege vergisst völlig uns mitzuteilen, wo das eigentlich sein soll.«
»Nichtsdestoweniger müssen wir und wohl oder übel an Neustifter halten«, gab Sadić zurück. »Nur er kann uns einen Hinweis geben. Er muss nur halt mal aus'm Quark kommen, der werte Herr Kollege.«
»Genau, und uns nicht die ganze Zeit mit seinem Agentenkram behelligen. Als wenn wir hier bei James Bond wären.«
»Selbst ich weiß damit nicht viel anzufangen. Du weißt ja, ich hatte selbst schon reichlich Konfrontation mit der Welt der Spione und Agenten. Und ich komme zudem aus einem Land, in dem man seinen Kindern zum Einschlafen nicht Märchen erzählt, sondern Geschichten aus der Welt der Verschwörungen. Wer gerade wen beschattet und was für Dokumente er ihm abjagen will und so weiter. Dabei kommen immer spannende Sachen herum. Die helfen uns nur nicht, wenn wir Klößchen und Gaby finden wollen.«
»Tim, du sagst ja gar nichts«, bemerkte Karl.
»Ich überlege«, sagte der TKKG-Häuptling. »Irgend etwas an der ganzen Sache stinkt gewaltig zum Himmel. Ich komme nur nicht darauf, was es ist.«
»Wenn du mich fragst, Tim, kann ich aktuell auf nichts verweisen, was auch nur eine Spur von Duft enthielte. Die komplette Sachlage ist jetzt nichts, woran man gerne schnüffelt.«
»Das meine ich nicht. Das Ganze hat eine Ungereimtheit. Aber es will mir nicht einfallen.«
»Schlaf eine Nacht drüber«, empfahl ihm Karl. »Morgen ist dein Kopf wieder klar und frisch.«
»Und dein Computerhirn hoffentlich auch«, gab Tim zurück. »Das werden wir brauchen.«



Klößchen, Gaby und Lena liefen geradewegs, so gut es ging, durch den dichten Wald, bis sie nicht mehr konnten und sich halbwegs sicher fühlten.
Sie blieben stehen.
»Was nun?« wollte Lena wissen. »Irgendwo müssen wir ja unterkommen. Wer weiß, wie weit die nächste Ortschaft entfernt ist. Vielleicht zwanzig Kilometer oder noch mehr. Das schaffen wir beim besten Willen nicht.«
»Naja, geschlafen haben wir ja genug«, meinte Klößchen. »Aber stimmt schon, wir können nicht die ganze Nacht nur herumrennen. Vor allem, weil es noch weiter bergauf geht. Vielleicht finden wir ja ein Lebkuchenhaus und eine Hexe, die so gnädig ist uns aufzunehmen.«
»Das letzte Mal, als das vorkam, endete das weniger feierlich«, spann Gaby den Witz trocken weiter.
»Wo du gerade Lebkuchen erwähnst. Woher bekommen wir eigentlich Verpflegung?«
»Stimmt. Mein Magen knurrt.«
»Zwei Tafeln Schokolade hab ich noch«, sagte Lena. »Die sollten als notdürftige Verpflegung für heute Nacht reichen.«
»Das denkst du«, erwiderte Gaby. »Bei Willi halten die eine halbe Stunde.«
Lena wühlte weiter in ihrer Handtasche herum. »Ein paar Karamellbonbons hab ich auch noch. Aber da hört's auf. Vielleicht können wir ja einen von diesen Gestalten da fragen, ob er uns seinen Schießprügel mal leiht, dann können wir uns irgendwo ein Reh jagen.«
»Genau, und das braten wir dann unter der Düse des Flugzeugs.«
»Auf jeden Fall brauchen wir einen Unterschlupf«, warf Klößchen ein. »Vor allem einen sicheren, der nicht belagert ist von irgendwelchen Terroristen. Wir könnten ja auf Bäume klettern und uns an den Stamm anlehnen. Aber mein Gewicht hält kein Ast aus.«
Sie gingen ein Stück weiter, den langgezogenen Berg hinauf. Inzwischen dämmerte es zusehends; nicht mehr lange, und es würde komplett dunkel sein.
»Hat eigentlich wer 'ne Taschenlampe mit?« wollte Lena wissen.
»Ich hab eine«, sagte Klößchen. »Für den Notfall.«
»Für Notfälle wie diese?«
»Naja, eigentlich geht’s mehr darum, falls ich im Palasthotel mal nachts raus muss und den Lichtschalter nicht finde. Ich hab keine Lust vor 'ne Tür zu rennen und Leute aufzuwecken oder bei ihren Flitterwochen zu stören.«
»Sehr rücksichtsvoll«, befand Gaby.
Sie fanden einen Hochsitz, der recht stabil aussah. Hier war anscheinend niemand.
»Wie wär's damit?« meinte Klößchen.
»Könnte eng werden da oben drin«, fand Gaby.
»Zur Not quetschen wir uns halt etwas zusammen. Auf jeden Fall besser als nichts.«
»Da könnte er recht haben«, kommentierte Lena.
»Also gut. Da sollte es sicher sein.«
»Wird ein schöner Platz«, meinte Klößchen, »da können wir uns, wenn wir nicht schlafen können, Geschichten erzählen. Beispielsweise aus unseren Fällen. Darüber ließe sich ein ganzes Buch schreiben. Oder auch über hundert.«



Am nächsten Tage versuchten Tim und Karl doch noch irgendwas für ihr Schulprojekt zustande zu bekommen. Doch das wollte nicht recht gelingen. Jeder musste nur an Klößchen und Gaby denken und sich unweigerlich unangenehme Fragen stellen. Wie es ihnen ging, wo sie waren, ob sie überhaupt noch lebten, und wenn ja, ob man sie je wiedersehen würde.
Sadić hatte bis sechzehn Uhr im Innendienst zu tun. Danach kam er jedoch sofort zur jetzt wie ausgestorben erscheinenden Internatsschule, um Tim und Karl abzuholen.
Sadić schlug heute einen gemächlicheren Ton an. Tim wirkte etwas hibbelig. Vielleicht lag das aber auch daran, dass er in seinen Überlegungen nicht weiterkam.
Dennoch erreichten sie relativ zügig das Polizeipräsidium in Innsbruck. Dort angekommen, fragten sie gleich den nächsten Beamten nach Neustifter.
»Herr Neustifter ist nicht da«, sagte dieser.
»Gibt es eine Vertretung?« erkundigte sich Sadić.
»Nein, die Stelle ist heute unbesetzt. Ich beantworte jedoch gern Ihre Fragen, wenn es mir möglich ist. Ich bin Polizeiobermeister Melchior Drechsler.«
»Das trifft sich gut. Als erstes: Weshalb ist eine so wichtige Stelle ausgerechnet heute unbesetzt? Ist nicht mehr mit Erfolg zu rechnen?«
»Es hat sich keiner eingestellt. Aber das muss nichts heißen. Neustifter ist heute im Außendienst tätig.«
»Ach so? Wo denn?«
»Ich weiß nicht genau. Ich meine, er wäre heute nach Wien gefahren. Ich bin ja keine offizielle Vertretung, mir wird darüber nichts gesagt.«
»Gibt es denn wirklich keine?«
»Nein, aber ich übernehme das gern. Wissen Sie, er ist überstürzt aufgebrochen. Hat nur eine Nachricht hinterlassen, er habe staatstragende Dinge zu regeln.«
»Mehr nicht? Es wäre wirklich wichtig.«
»Herr Polizeiobermeister«, schaltete sich Karl ein, »wie gut kennen Sie die Theorien und sonstige Teile der Arbeit des Herrn Neustifter?«
Drechsler überlegte. »Nicht so gut. Ich weiß, dass er sich viel ausdenkt. Aber ausgeschlossen ist nun nichts mehr. Spätestens mit den Spionageaffären allein dieses Jahr in Deutschland und Polen sollte das klar sein.«
»Kennen Sie die Gegend, die er als Tal des Grauens bezeichnet?« wollte Tim nun wissen.
»Nicht genau. Ich bin hier nur Mädchen für alles. Ich habe mit dem Herrn Neustifter nicht viel zu tun.«
»Aber ungefähr?«
»Irgendwo zwischen Stanzach und Nassereith soll das liegen.« Er stutzte kurz. »Aber genau weiß ich's nicht.«
Sadić nickte. »Die Gegend kennen wir. Dort sind wir entlanggefahren, als wir von Reutte nach Innsbruck gedüst sind.«
»Aber weiter kann ich Ihnen nicht helfen, Herr … Gradić.«
»Sadić.«
»Entschuldigung. Diese Ost-Namen klingen für mich alle gleich.«
»Keine Ursache. Weshalb können Sie uns nicht weiterhelfen?«
»Wie gesagt, ich habe von diesen ganzen Sachen keine Ahnung. Ich bin froh, dass ich weiß, wie man Falschparker aufschreibt. Und jetzt muss ich weiterarbeiten. Es gibt noch mehr zu tun als Terroristen zu jagen.«
»Na dann. Wir gehen dann. Vielen Dank.«
»Nichts zu danken.«



Klößchen, Lena und Gaby hatten sich die halbe Nacht über Geschichten erzählt und sich danach ausgiebig ausgeschlafen.
Den Mittag hatten sie mit der Suche nach einem Ausweg und Nahrung verbracht. Tatsächlich hatten sie einige Pilze und Waldbeeren entdeckt, zudem einen Bach mit klarem Wasser. Da sie ihren Hochsitz für sicher befanden, hatten sie den zum neuen Hauptquartier erklärt, zumal er unter Bäumen versteckt lag, sodass man ihn aus der Luft nicht sehen konnte.
Nach einer Mahlzeit begannen sie in aller Ruhe zu beratschlagen und sich über ihre Situation klar zu werden.
»Übereinstimmend ist bei uns allen«, begann Klößchen, als halte er eine Volksrede, »dass wir uns als allerletztes nur noch daran erinnern, wie Gaby von der Bordtoilette wiederkam und uns mitteilte, dass sie auf einmal kein Netz mehr hatte.«
»Richtig«, bestätigte Gaby. »Wir haben uns wieder hingesetzt und wurden auf einmal alle ziemlich müde. Auf der Stelle sind wir eingeschlafen. Offensichtlich auch die anderen Passagiere.«
»Aber wie kann das sein?« fragte Lena. »Haben die irgendein Gas eingespritzt?«
»Unwahrscheinlich«, meinte Gaby. »Dann wäre auch die Besatzung eingeschlafen. Und damit wäre diese Punktlandung nicht möglich gewesen.«
»Aber wie dann?«
»Die Stewardess!« fiel es Klößchen ein. »Die war doch kurz zuvor durch den Flieger marschiert und hat Getränke verteilt. Vielleicht war in denen irgendein Mittel drin, das uns außer Gefecht gesetzt hat.«
»Das ergibt Sinn«, befand Lena. »Aber nicht alle hatten was genommen.«
»Als ich aufgewacht bin, hab ich doch festgestellt, dass einige der Passagiere nicht mehr anwesend waren. Wenn die was mit der Entführung zu tun hatten, haben sie vielleicht mit Absicht verzichtet – weil sie wussten, dass ebendieses Mittel in den Getränken war.«
»Natürlich! Deshalb hatten auch ein paar eine Wunde am Kopf«, erinnerte sich Gaby. »Man hat diejenigen, die nicht zur Bande gehörten, aber sich kein Getränk genommen haben, kurzerhand niedergeschlagen und ihnen das Mittel vielleicht anders eingeflößt.«
»Und während wir außer Gefecht waren, haben sie uns in Ruhe die Handys abgenommen«, warf Lena ein. »Fragt sich nur, weshalb. Wir hatten ein paar Minuten, bevor wir eingeschlafen waren, keinen Empfang mehr. Wahrscheinlich haben die den mit einem Störsender blockiert.«
»Naja, vielleicht hält der nicht ewig«, meinte Gaby. »Oder sie wollten auf Nummer sicher gehen.«
»Und sie haben alle Sender abgestellt, die Verbindung zum Tower aufnehmen konnten, sodass sie unsere Spur verloren haben.«
»Jetzt haben wir über die Ursache für unsere Lage soweit Klarheit«, sagte Klößchen. »Die Frage, die jetzt noch offen ist, lautet – wer veranstaltet den ganzen Zirkus und weshalb?«
»Das werden wir wohl nicht klären können.«
»Ob das irgendwelche Terroristen waren?« Lena schüttelte den Kopf. »Die haben doch nicht mehr alle Latten am Zaun. Einfach den Vogel runtersausen lassen. Wie haben die diese Landung überhaupt hinbekommen? Das Tal ist nahezu unzugänglich. Nur ein Pilot mit militärischer Ausbildung wäre dazu in der Lage.«
»Den werden sie wohl dabeihaben«, meinte Gaby. »Entweder der Pilot selbst war zufällig mal Kampfflieger oder so was, oder die Typen selber hatten einen dabei.«
»Aber was wollen die? Lösegeld? Ich würde mich ja ganz gut eignen … mein Vater ist immerhin Millionär.«
»Tja, meiner ist Kommissar bei der Kripo. Da ließe sich was rausholen. Zumindest könnte man so den Staat erpressen.«
»Ach, deiner ist Polizist?« Lena lachte kurz auf. »So ein Zufall. War meiner auch mal, allerdings bei den etwas ranghöheren Einheiten. Er war bei Europol, bis er in Frühpension ging. Aber gute Kontakte hat er bis heute noch.«
»Zufälle sind doch was Tolles«, meinte Klößchen. »Aber das alles werden die Typen gar nicht wissen. Die haben einfach irgendein Flugzeug entführt. Was auch immer sie vorhaben. Genug Passagiere gibt es ja noch. Mit denen kann man jede Erpressung anleiern.«
»Jetzt, wo wir ausreichend gegessen haben –« fing Gaby an.
»Naja …« unterbrach Klößchen.
»Was auch immer. Mir kommt jedenfalls der Detektivsinn zurück. Wir müssen wissen, was da vor sich geht. Wenn es dunkel wird, schleichen wir uns zum Flugzeug zurück. Das geht hier in den Bergen ja recht schnell. Wir müssen beobachten. Vielleicht kriegen wir was raus.«



»Der hatte es ja plötzlich ganz schön eilig uns loszuwerden«, bemerkte Karl im Hinausgehen. Tim, Sadić und er gingen auf den Dienstwagen zu und setzten sich hinein.
»Freundlich geht anders«, meinte Sadić. »Der hat uns ja richtiggehend vor die Tür gesetzt.«
»Ich finde es nach wie vor unfassbar«, sagte Tim, »dass es keine Vertretung für Neustifter gibt. Und erst recht keine, die Ahnung hat.«
»So was schlecht Organisiertes sieht man echt nicht alle Tage«, stimmte ihm Sadić zu. »Selbst in Serbien hätten wir für solche Fälle einen Stellvertreter parat gehabt. Und wenn's nur die Putzfrau von nebenan war. Die hatten alle mehr Ahnung, als man vermutet hätte. Und erst recht mehr als der Heini da.«
Sadić warf den Motor an und fuhr los. Wieder einmal ohne Blaulicht; er schien heute wahrhaftig nicht besonders in Eile zu sein.
Kurze Zeit später setzte er sich auf die Autobahn. Eine knappe halbe Stunde ging es durch die Ötztaler Alpen, die bekanntlich Namenspatron eines ortsansässigen Steinzeitmenschen mit um Jahrtausende verspätetem Weltruhm waren. Dieser wiederum war Vorbild für einen bekannten Musiker gewesen. Nach Sadićs Meinung nicht nur hinsichtlich des Namens.
Wieder einige Zeit später landeten sie schließlich in der kleinen Ortschaft namens Stanzach.
Hier hielt Sadić an.
»Ich möchte gern mal wissen, wie gut die Ortskenntnisse der Einheimischen hier sind«, meinte er und stellte den Motor ab. »Einfach mal nachfragen.«
Sie stiegen aus.
Da erblickten sie auch schon einen älteren Herren mit Hut, der auf einer Bank saß und offenbar die Aussicht genoss oder so etwas. Jedenfalls starrte er unentwegt in die Ferne.
Als er Sadić, Tim und Karl erblickte, schien er sofort zu begreifen, dass sie etwas wollten.
»Grüß Gott«, sagte Sadić. »Entschuldigen Sie, wir hätten da 'ne Frage.«
»Ja, bitte?«
»Wir suchen eine Gegend, die als Tal des Grauens bezeichnet wird. Können Sie uns da vielleicht weiterhelfen?«
Die Augen des Mannes verengten sich. »Tal des Grauens sagen Sie? Da würde ich nicht hingehen. Das trägt seinen Namen völlig zu recht.«
»Glauben wir gerne. Wir möchten trotzdem gern wissen, wo das ist.«
»Wie gesagt. Sie gehen da besser nicht hin. Der Ort ist nicht geheuer. Niemand hier geht dorthin. Das ist gefährlich. Sie werden nicht mehr zurückkommen.«
»Das würden wir gerne selbst überprüfen.«
»Nichts zu machen.« Energisch schüttelte der Mann den Kopf. »Der Ort ist verflucht. Ich möchte nicht wissen, wieviele Tote es dort schon gibt. Wenn Sie es wagen dort hinzugehen, auf jeden Fall drei mehr.«
»Aber …«
»Nichts aber. Tun Sie sich selbst einen Gefallen. Und jetzt entschuldigen Sie mich.« Er stand auf und ging um die nächste Ecke.
Sadić, Tim und Karl sahen sich an. »Na wunderbar«, bemerkte der TKKG-Häuptling. »Gleich die Schauergeschichten.«
»Es scheint sich doch zu bestätigen, was wir von Neustifter erfahren haben«, meinte Karl. »Auch wenn keine rationale Grundlage dafür existiert.«
»Na gut. Wir fahren auf die andere Seite«, beschloss Sadić. »Nach Nassereith. Mal sehen, ob man dort das Gleiche sagt. Aber merkwürdiger Typ. Und ich weiß nicht wieso, aber ich werde das Gefühl nicht los, ich hab' den schon mal gesehen …«
Sie stiegen wieder ein. Sadić fuhr langsam an, wollte nachsehen, ob der Mann noch da war. Doch man sah ihn nicht mehr.



»Es ist ja schon ganz schön dunkel«, bemerkte Tim eine halbe Stunde später, als sie den Heiterwanger See längst hinter sich hatten und auf Nassereith zufuhren. »Ich wusste gar nicht, dass die Sonne hier schon so früh untergeht.«
»Die Berge stehen halt im Wege«, meinte Sadić. »In Innsbruck kann es ja länger hell bleiben, aber hier ist es sommers wie winters spätestens um neun Uhr dunkel.«
»Ist jedenfalls ideal, um Terror zu schieben«, sagte Karl.
»Ist wohl wahr.«
Nassereith wurde bereits in fünf Kilometern angekündigt. Sadić fuhr etwas schneller.
»Ich hab's!« rief Tim plötzlich aus.
Sadić verriss das Lenkrad ein kleines Stück, fing sich aber sofort wieder. »Was hast du, Tim, dass du uns fast in den Graben beförderst?« wollte er wissen.
»Ich weiß jetzt, was da nicht stimmt.«
»Mit Neustifter, oder was?« fragte Karl.
»Genau. Ich meine, komisch genug ist es ja, dass er Hals über Kopf abdüst, ohne einen Stellvertreter einzusetzen. Und dass er weder uns noch seinen Kollegen den Ort, der Tal des Grauens genannt wird, genau angibt. Aber da ist noch was. Erstens hat er die Bordbesatzung mit keiner Silbe erwähnt. Nicht nachgefragt, ob unter denen vielleicht jemand sein könnte, der mit den Terroristen was zu tun hat. Nur die Nationalitäten der Passagiere wollte er wissen.«
»Sicher. Und zweitens?«
»Zweitens hat er alle Möglichkeiten erwogen, was den Verbleib des Flugzeugs anbelangt – nur nicht die, dass der Flieger komplett zerstört sein könnte.«
»Dieses Szenario haben wir allerdings auch nicht bedacht«, meinte Karl.
»Wir nicht. Aber das ist ja nun nicht unsere Aufgabe. Sondern die eines Spezialisten wie Neustifter. Er hätte auch bedenken müssen, dass der Flieger noch in der Luft explodiert ist und nichts mehr davon übrig sein könnte. Sachen dieser Art. Aber er schien ganz selbstverständlich davon auszugehen, dass alle Passagiere noch am Leben sind.«
»Naja, eine Explosion dieser Größe wäre aufgefallen«, entgegnete Sadić.
»Ja, aber das hätte er erwähnen müssen.«
»Richtig. Und noch was«, begann Karl. »Heute hat uns ja der Kollege Drechsler ziemlich schnell abgewimmelt. Und ist euch nicht aufgefallen, wie er gestutzt hat, nachdem er uns die Orte Stanzach und Nassereith angegeben hat? Und dann ganz hastig gemeint hat, er wüsste es aber nicht genauer. Als wenn er plötzlich gemerkt hätte, er hätte uns zuviel verraten. Als wenn er sich da verplappert hätte.«
»Und Neustifter ist ja offensichtlich echt in aller Eile aufgebrochen«, fügte Tim hinzu. »Angeblich nach Wien.«
»Sehr suspekt«, stimmt Sadić zu. »Die Sache stinkt aber mal zehn Meilen gegen den Wind. Bei Windstille zwanzig.«
Sie erblickten das Ortsschild von Nassereith.
Plötzlich ging Sadić in die Eisen.
Tim und Karl verjagten sich.
»Was ist los?« wollte Karl wissen.
»Jetzt will ich's wissen. Ich muss Glockner verständigen.«



Obwohl die Sonne noch längst nicht untergegangen war, war es schon recht dunkel. Dunkel genug, sodass Klößchen, Gaby und Lena beschlossen sich auf den Weg zu machen.
Immer auf der Hut, schlugen sie sich durchs Dickicht, wie sie es am Vortage bereits auf ihrer Flucht getan hatten.
Nach einiger Zeit war das Flugzeug in Sichtweite. Noch immer war es abgedeckt.
Sie blieben stehen und duckten sich.
»So«, sagte Klößchen. »Wer geht jetzt hin und sieht nach, ob da noch wer drin ist?«
»Wir gehen alle hin«, beschloss Gaby blitzschnell. »Wenn sie einen von uns erwischen, erwischen sie uns eh alle.«
Langsam und immer noch in geduckter Haltung schlichen sie sich an die Maschine heran.
Zu hören war nichts.
Dafür war zu sehen, dass die Tür sperrangelweit offenstand.
Klößchen war der Erste, der sich näher heran wagte.
Er lugte um die Ecke, ins Innere der Maschine.
Sie war komplett leer.
»Hab ich mir doch gedacht«, meinte er.
»Aber wo sind die alle hin?« warf Gaby die nächste Frage in den Raum.
In diesem Moment hörten sie ein Knattern. Das Geräusch kam ihnen höchst bekannt vor.
Es war ein Hubschrauber. Vermutlich derselbe, der gestern Abend die Gegend abgesucht hatte. Und das wahrscheinlich nach ihnen.
Schnell verzogen sie sich ins Flugzeug.
»Hoffentlich sehen sie hier nicht nach«, meinte Gaby.
»Glaube ich nicht«, gab Lena zurück. »Die werden uns überall vermuten, aber im Leben nicht an dem Ort, von dem wir getürmt sind.«
Tatsächlich flog der Helikopter weiter.
Glück gehabt.
Sie steckte die Karte ein.
Sie wagten sich wieder aus der Maschine heraus.
»Seht mal!« Klößchen wies auf eine lange Schneise von zertrampeltem Dickicht, die an der Schnauze des Fliegers vorbei in die Botanik führte. »Als wäre hier kürzlich erst eine größere Gruppe durchmarschiert, was meint ihr?«
»Wir folgen der Spur«, beschloss Gaby. »Jetzt erst recht.«



Sadić legte auf. »Ich hab's gewusst«, sagte er nur und steckte das Handy ein. Dann startete er den Motor und fuhr weiter, rechts ab, auf einen Feldweg, an dessen Ende er einen möglichen Zugang zum Tal des Grauens vermutete.
»Was meinen Sie?« wollte Tim wissen.
»Glockner hat alles bestätigt. Ich wusste, dass ich den alten Mann in Stanzach kannte. Wegen des Hutes hab ich's nicht sofort geblickt. Und weil er durch den Bart älter aussieht.«
»Wer war das denn?«
»Ich hatte vor längerer Zeit in Glockners Büro ein Fahndungsplakat gesehen, dass genau diesen Mann zeigte. Es handelte sich um Manfred Murnau. Ein international gesuchter Juwelendieb, der sich ein großes Netzwerk aufgebaut hat. Er beschränkt sich längst nicht mehr nur auf den Raub von Edelklunkern, sondern ließ von seinen Mitstreitern auch öfter schon Menschen entführen, um Staaten zur Herausgabe von Lösegeld oder auch wertvollen Gegenständen zu bewegen, vor allem denen, die von der Polizei sichergestellt und noch nicht an die rechtmäßigen Eigentümer zurückgegeben wurden. Er ist schon lange im Geschäft. Eigentlich dachte ich, er wäre abgetaucht. Immerhin war das Plakat schon alt. Aber anscheinend ist er wieder da. Und wenn ich die Zusammenhänge richtig deute, wollte er mit dieser Aktion seinen großen Coup landen.«
»Also kein Terrorist?« vergewisserte sich Karl.
»Nein, aber anscheinend kann er schlimmer sein als jeder Terrorist, den wir bis jetzt hatten«, gab Sadić zurück. »Er hat einen Komplicen namens Paul Michalke, von dem zur Zeit nur bekannt ist, dass er beim Militär gewesen ist, sogar zuletzt mit hohem Dienstgrad – bis er vor ein paar Jahren von einem Tag auf den anderen seinen Dienst quittierte. Dann tauchte er als Mitstreiter von Manfred Murnau wieder auf. Außerdem ist er IT-Profi.«
Mittlerweile hatten sie ein Waldstück erreicht.
»Also sind sie alle hieran beteiligt«, schloss Tim. »Einsame Spitze. Dass die Gangster, mit denen wir zu tun bekommen, auch immer gleich auf groß gehen müssen.«
»Einige Leute sitzen im Knast«, sagte Sadić noch. »Aber die meisten von denen haben wir offenbar noch nicht gekriegt.«
»Dann wäre ja jetzt die Gelegenheit. Wenn Murnau und Michalke wirklich dran beteiligt sind.«
»Der Zufall wäre zu groß, als dass nicht.«
»Halten Sie mal bitte an«, sagte Karl plötzlich.
Sadić tat, wie geheißen.
Karl stieg aus und ging zu einem Baum, an deren Stamm etwas lag. Er hob es auf und kam gleich zurück.
»Ein Papier«, sagte er. »Es muss vom Wind hierhergeweht sein. Ratet mal, was es ist.«
»Sag an«, forderte ihn Tim auf.
»Schokoladenpapier.«
»Doch nicht etwa …«
»Doch. Sauerlich. Sie müssen hier irgendwo in der Nähe sein.«



Es war schon fast dunkel.
Gaby, Klößchen und Lena verfolgten die Spur weiter. Es ging einen Berg hinauf, doch nicht allzu weit. Noch lange vor der Spitze machte sie einen Knick nach rechts, dann ging es auch schon wieder bergab.
Auch das nur ein kurzes Stück. Dann erblickten die drei ein großes Gebäude, das den Eindruck machte, eine Flugzeughalle darzustellen, was eigentlich sinnlos war, aber irgendwie auch ganz gut passte. Die Spur führte genau dorthin.
»Ich geh' jede Wette ein, die sind da drin«, sagte Gaby.
Vorsichtig schlichen sie sich heran. Das Tor war einen Spalt weit geöffnet.
Klößchen lugte kurz hinein.
Tatsächlich saßen einige der Passagiere des Fluges AE 239, vielleicht knapp hundert von ihnen, im Raum auf dem Boden, an die Wand gelehnt.
Zwei Männer, ein älterer und ein jüngerer, saßen auf Stühlen in der Nähe des Tores. Sie hatten Maschinenpistolen und sahen nervös aus.
»Wo sind die anderen?« fragte einer der Passagiere, ein Chinese oder Japaner. »Was haben Sie mit ihnen gemacht?«
»Haben wir woandershin gebracht«, sagte der ältere der beiden Bewaffneten.
»Kann ich mein Handy wiederhaben?« wollte ein etwa 16jähriges Mädchen wissen.
»Nein!« gab der Jüngere schroff zurück.
»Aber wenn Sie uns schon festhalten, will ich wenigstens Musik hören. Und hier hab ich doch eh keinen Empfang.«
Der Jüngere drohte mit der MP. »Noch ein Wort, und ich zeig dir, was du hier empfängst.«
In diesem Moment öffnete sich eine Seitentür, und eine junge Frau betrat den Raum. Klößchen erkannte sie sofort wieder. Es war die Stewardess.
»Was gibt’s, Marie?« wollte der Ältere wissen.
»Wollte nur sagen, die anderen Passagiere sind sicher untergebracht, im Hauptquartier. Die büxen nicht aus.«
»Wir können sie unbewacht lassen?«
»Können wir.«
»Und unsere Leute?«
»Überwachen die Gegend.«
»Okay. Bleib gleich hier. Du musst ja noch telefonieren.«



Klößchen, Gaby und Lena stahlen sich leise davon.
Jetzt, da es einen Weg hier weg gab, beschlossen sie diesen einzuschlagen.
Der Feldweg zog sich am Bergrücken entlang in den nächsten Wald hinein. Je weiter sie sich von der Hütte entfernten, desto schneller liefen sie, in der Hoffnung, von den anderen Gangstern nicht entdeckt zu werden. Wieder nutzten sie den Vorteil der Dunkelheit.
Fast hatten sie den Waldrand erreicht.
Da kam ein Auto heran. Sie wollten schon wie die Frontsoldaten in die Büsche – da erkannten Gaby und Klößchen den Wagen.
Und sie wurden auch erkannt.
Das Auto stoppte. Drei Gestalten stiegen aus.
»Gaby! Klößchen! Da seid ihr ja!« rief Tim.
»Tim! Karl! Ach, und Sadić auch dabei! Das ist ja mal 'ne nette Überraschung.«
Plötzlich hörten sie Schritte hinter sich. Zwei Männer standen hinter ihnen. Es mussten die aus der Halle sein. Jedenfalls hatten sie Maschinenpistolen.
Aus der Dunkelheit tauchten weitere auf.
»Das finden wir auch«, sagte einer.
»Los! Alle in die Halle!« befahl ein anderer. »Und Pfoten hoch!«
Die sechs gehorchten sofort. Es ging den Weg wieder hoch.
Das Tor öffnete sich. Einige andere Bewaffnete, bestimmt zwanzig Mann, bewachten nun die anderen Passagiere. Auch Marie, die Stewardess, hatte ein Schießeisen zur Hand. Das freundliche Lächeln war völlig aus ihrem Gesicht verschwunden. Klößchen, Gaby und Lena erkannten unter ihnen auch Mitgereiste wieder, die erwartungsgemäß doch zur Bande gehörten.
»Noch so 'ne bunte Truppe«, sagte einer der Männer.
»Wir disponieren um«, beschloss ein anderer. »Alle aufstehen!«
Sadić nutzte die Gelegenheit des Gewusels, um sich umzudrehen. »Sieh an«, sagte er. »Hatte ich recht. Murnau und Michalke, richtig?«
»Völlig«, sagte der Ältere, Murnau. »Schlaumeier, richtig?«
»Fast. Sadić, Oberinspektor.«
»Ein Bulle auch noch. Das wird ja immer besser hier.« Michalke seufzte. »Dass man vor euch auch keine Ruhe hat. Na, wenigstens gibt das ein anständiges Lösegeld.  Und Zugang zu den Daten, die wir haben wollen.«
»Macht doch. Die Europol freut sich. Die suchen euch ja schon länger.«
»Jetzt alle raus hier!« bellte Murnau. »Wir verduften! Und wehe, uns lässt keiner! Denn werden wir ungemütlich!«
Die Gruppe um Murnau und Michalke trieb die Entführten aus der Halle heraus ins Freie.
Als alle draußen waren, schloss sich das große Tor der Halle.
In diesem Moment gingen um sie herum Lichter an. Es wurde taghell.
»Polizei!« brüllte jemand durchs Megaphon.
Sofort brach Chaos aus. Einige Entführte warfen sich auf den Boden. Doch die Entführer selbst waren nicht schnell genug.
Sofort war die Gruppe gestellt. Einige wehrten sich, doch wurden schnell mit Gegenwehr gestraft.
»Wo kommen die denn jetzt her?« wunderte sich Klößchen.
»Tja, die Jungs hier muss Gabys Vater wohl verständigt haben«, meinte Sadić. »Immer zur rechten Zeit am rechten Ort.«
Auf einmal preschten zwei große Bullis aus einem Gebüsch hervor. Sie hielten an. Die Türen waren offen. Einige Männer saßen drin.
Murnau und Michalke mussten sich schnell in Sicherheit gebracht haben, von den österreichischen Polizisten unbemerkt. Sie hatten anscheinend einen Notfallplan.
Murnau sprang sofort in einen der Bullis. Dieser schloss die Tür und raste davon.
Michalke rannte zu dem anderen. Doch nicht allein.
Er hatte Lena.



Sadić hatte den österreichischen Polizisten ziemlich schnell erklärt, wer er und die TKKG-Freunde waren.
Kurzerhand hatten sich alle in den Dienstwagen gesetzt. Mit Blaulicht raste Sadić den beiden Bullis hinterher, den Feldweg entlang.
»Na super. Ausgerechnet eure neue Bekanntschaft da«, sagte Karl. »Dabei stand sie mitten zwischen uns.«
»Das wird es sein«, erwiderte Gaby mit Grabesstimme. »Das passt alles zusammen. Sie haben es auf sie abgesehen, von Anfang an. Die Flugzeugentführung war eine Sache. Aber sie wollten auf jeden Fall Lena haben.«
»Wie kommst du darauf?«
»Wie du schon sagst, sie stand zwischen uns allen. Bestimmt dreißig bis vierzig Passagiere waren den Bullis deutlich näher, aber sie haben Lena, die kaum weiter weg hätte stehen können. Sie hat uns auf unserer Flucht erzählt, ihr Vater hat früher bei Europol gearbeitet und hat bis heute noch gute Kontakte zu seinen alten Kollegen. Vielleicht war er ja hinter denen her, und die haben es spitzgekriegt. Deshalb auch irgendwelche Daten, die sie haben wollen.«
»Das finden wir später heraus«, meinte Sadić. Inzwischen hatte er die Landstraße erreicht, schnitt die Kurve und gab Vollgas. »Lena Horak war das, ja? Der Teil deiner Nachricht kam bei Tim ja noch an. Ich mach mich kundig, wenn das hier gelaufen ist. Hätten wir doch das Einsatzkommando Kobra verständigt. Dann hätten wir den Scheiß hier nicht. Die Dorfsheriffs hier arbeiten echt schlampig.«
»Da vorne sind sie«, sagte Klößchen. »Glaub ich. Einer davon.«
»Das ist der mit Murnau. Aber wo ist der mit Michalke und Lena? Ich hoffe doch nicht, die haben sich an der Einmündung getrennt. Sonst können wir noch lange nach denen suchen.«
Sadić gab noch mehr Gas, was auf dieser kurvigen Strecke allerdings nicht leicht war.
»Meine Güte, Bergstraßen. Deshalb mag ich Autobahnen lieber. Sie sind gerade und schön breit.«
»Der Kerl hat aber auch 'n Pfund drauf«, bemerkte Karl. »Hält sich wohl auch für den nächsten Vettel.«
»Solange er nicht seine Geschwindigkeit erreicht, kann er sich von mir aus auch für 'nen Kampfflieger halten.«
Die Straße hatte jetzt eine ziemliche Steigung, was Sadić ausnutzte, um mit dem leichten Pkw den schweren Bulli einzuholen.
»Gleich hab' ich ihn.« Sadić hatte das Gefühl, er hole das Letzte aus seinem Dienstwagen raus.
»Und dann?« fragte Tim.
»Das siehst du dann schon. Nicht zu Hause nachmachen.«
Die Straße verlief wieder halbwegs gerade. Sadić mogelte sich rechts an den Bulli heran, bis die Schnauze auf gleicher Höhe mit dem Heck war. Dann riss er das Lenkrad abrupt nach links. Der Bulli rutschte zur Seite weg und landete im Graben, wo er einen Leitpfosten mitnahm und gegen den nächsten Baum prallte.
»Halb so schlimm, das übersteht der.«
Doch auch Sadić kam ins Schleudern. Der Wagen schwankte gefährlich hin und her, doch als er die richtige Position hatte, gab Sadić kräftig Gas. Der Wagen fing sich wieder.
»Die Kollegen sind hinter uns«, bemerkte er. »Die können die Typen gleich abholen. Vielleicht sind sie nicht alle so schlau. Aber was man nicht im Kopf hat, muss man unter der Motorhaube haben, wie ich immer sage. So, jetzt kümmern wir uns um Michalke und Lena.«
Sadić raste weiter. Bald darauf vermochte er das Heck des anderen Bullis zu erkennen.
Sie hatten Lermoos und Bichlbach längst passiert und fuhren nun auf Reutte zu. Das Hinweisschild zur deutschen Grenze, wo die österreichischen Beamten nichts hätten ausrichten können, mussten sie bei der Geschwindigkeit übersehen haben.
»Gut, dass nichts los ist heute«, bemerkte Klößchen. »Sonst hätte es einige Unfälle gegeben.«
»Den Dienstwagen kann ich eh zur Reparatur bringen«, meinte Sadić. »Der hat auch was abgekriegt.«
»Immerhin können Sie jetzt nicht mehr behaupten, seit Ihrem Unfall vor sechzehn Jahren in Belgrad keinen mehr gehabt zu haben.« Karl grinste.
»Dein Computerhirn merkt sich aber auch alles.« Sadić seufzte. »Ich bereue es schon fast behauptet zu haben, wir bräuchten es dringend.«
Der Bulli verschwand erneut.
»Verdammt, was hat der vor?« Tim, der vorne saß, blickte angestrengt in die Dunkelheit. »Ich hoffe doch, er nimmt Lena nicht sonstwohin mit.«
Doch dazu kam es nicht. Hinter einer Kurve stand der Bulli am Straßenrand.
Sadić ging in die Eisen.
Sofort stiegen alle fünf aus und liefen auf das Fahrzeug zu.
Lena stand alleine neben dem offenen Bulli. »Sie sind ausgestiegen, haben mich weggestoßen und sind weggelaufen«, teilte sie ihnen mit. »Da runter, zum See.«
Sadić und die TKKG-Bande starrten runter zum Heiterwanger See.
Mit einem Male sahen sie den Hubschrauber, der Klößchen, Gaby und Lena gut bekannt war, emporsteigen. Er drehte eine halbe Runde und flog davon.
»Der kommt nicht weit«, meinte Sadić.



Die Passagiere waren befreit, und die Fluggesellschaft beschaffte ihnen bereits am nächsten Tage unentgeltlich einen neuen Flug nach Marbella.
Eine Woche später, als Tim und Karl eingetroffen waren, saßen die TKKG-Bande und Lena auf ihren Handtüchern am hoteleigenen Strand an Spaniens Sonnenküste. Die Sonne wurde genossen, die letzten Fragen geklärt.
»Es ist so«, begann Lena, »mein Vater, Bohumil Horák, gebürtiger Tscheche, kam nach der Wende als einer der ranghöchsten Polizeibeamten Prags zu Europol und damit auch nach Deutschland. Lange Zeit jagte er Manfred Murnau und seine Gefolgsleute. Natürlich bekam er auch mit, dass Murnaus Bande immer größer und seine Ziele immer weitläufiger wurden. Es genügte nicht mehr, nach einem Juwelendieb zu suchen. Er musste nach einem internationalen Syndikat suchen, das praktisch vor nichts Halt machte.«
Karl nickte. »Soweit klar.«
»Er machte einigen von ihnen einen Strich durch die Rechnung, doch an Murnau und Michalke selbst kam er nie heran. Vor zwei Jahren ging er in Frühpension, ließ sich jedoch von seinen Kollegen immer auf dem neuesten Stand halten. Inoffiziell war er sozusagen noch dabei. Das wussten Murnau und Michalke auch, aber sie hatten immer anderes zu tun als den Beamten hinterherzulaufen, die sie verfolgten. Lange hatte niemand mehr was von ihnen gehört. Jetzt sind sie aber ja wieder aufgetaucht.«
»Erstmals als Hijacker«, sagte Klößchen.
»Alles war von langer Hand geplant. Wenn sie von allen unter den Passagieren vertretenen Staaten abkassieren konnten, würden sie ordentlich Geld machen und sich absetzen können. Und dabei kam dann die Flugzeugentführung ins Spiel.«
»Und zufällig haben sie mitbekommen, dass du an Bord warst?« fragte Tim.
»Nein, im Gegenteil. Sie wollten zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Es ist so. Mein Vater hat in den letzten Jahren öfter angedeutet, er fühle sich manchmal unsicher. Das hörte auch mit seiner Frühpensionierung nicht auf. Zur Sicherheit gab er seiner Familie, mich eingeschlossen, öfter Zugangsdaten zu Informationen, die seine Kollegen bereitstellten. Verschlüsselt mit einem eigenen System, das kein Außenstehender durchschaut. Für den Fall, dass mal was passiert und er niemanden informieren kann, sollten wir der Sache selber auf die Spur kommen können.«
»Und wie sind Murnau und Michalke dahintergekommen?« wollte Gaby wissen.
»Das war tatsächlich ein dämlicher Zufall. Gaby, Willi, ich hatte euch ja auf dem Flug erzählt, mein Handy spinnt öfter und ruft wahllos irgendwelche Nummern an. Dann rauscht es kurz und es legt wieder auf, sozusagen. Einen dieser Geisteranrufe muss Michalke abgepasst haben, er ist ja IT-Profi. Er zog seine Schlüsse und blieb dran. Er konnte mein Handy anzapfen und jederzeit orten. So bekam er mit, dass ich mit dem Flug AE 239 nach Marbella fliegen würde. Sie müssen sich überlegt haben, sie organisieren ein gekonntes Hijacking und kommen durch mich an die Informationen, die sie brauchen, um ihre Jäger aufzuspüren und alles über sie zu erfahren. Und nebenbei kassieren sie auch noch 'ne Stange Geld. Die punktgenaue Landung im Tal war möglich, weil der Pilot, ein Spanier, früher bei der Luftwaffe gewesen ist. Der ist Profi.«
»Wahnsinn!« Klößchen staunte nicht schlecht.
Lena wandte sich an Gaby. »Hat euer Sadić eigentlich was gesagt, was rausgekommen ist bei der Suche nach Michalke?«
»Michalke ist und bleibt verschwunden«,Sadic sagte Gaby.
»Okay, dann geb ich das an meinen Vater weiter, der kann seine Ex-Kollegen informieren.«
»Unser Verdacht hat sich übrigens bestätigt«, teilte Karl mit. »Der Spezialist für Terrorabwehr in Innsbruck, Holger Neustifter, gehört mit zur Bande. Der andere da, dieser Drechsler, ebenfalls. Sie sind als Spitzel in den österreichischen Polizeiapparat eingeschleust worden. Das Geld, das man ihnen zahlen sollte, hat sie überzeugt. Sie konnten die Ereignisse so von den Kollegen und der Öffentlichkeit fernhalten.«
»Neustifter sollte uns ablenken, indem er uns seine wilden Verschwörungstheorien auftischt«, ergänzte Tim, »und Drechsler sollte uns abwimmeln, damit Neustifter in Ruhe die Biege machen konnte.«
»Was ist jetzt eigentlich mit dem Tal des Grauens?« fragte Klößchen. »Stimmen die ganzen Geschichten?«
»Das kann ich beantworten«, schaltete sich Karl ein. »Ich habe etwas recherchiert. Die Fälle, die Neustifter uns beschrieben hat, haben tatsächlich stattgefunden. Allerdings hat er uns die Wahrheiten verschwiegen. Der Autofahrer und der Skifahrer wurden beide entdeckt, und der Schulbus, der wegen des Wetters einen Umweg fahren musste, ist zwar verunfallt, aber niemand kam zu Schaden. Die Insassen kamen davon und sind auf eigene Faust nach Hause gereist, was so lange gedauert hat, dass die Polizei schon eingeschaltet war. Den Namen haben sich die Gangster übrigens ausgedacht; es gibt dort kein Gebiet, das so heißt oder von Ortsansässigen so betitelt wird.«
»Also auch nichts dran.«
»Richtig. Außerdem war die Unfallquote in dem Gebiet auch nicht signifikant höher als in anderen Teilen Tirols. Wo viele potentielle Unfallorte sind, passieren eben auch viele Unfälle.«
»Gut, dass alles glattgelaufen ist«, meinte Gaby. »Das hätte auch anders ausgehen können. Und die Gegend ist nun mal abgelegen, und solche Gangster gefährlich. Ohne Tim, Karl und Sadić hätte man uns vielleicht nie gefunden.«
»Es lebe der Detektivsinn.« Tim lachte.
»Mit euch erlebt man ja anscheinend öfter spannende Episoden«, meinte Lena.
»Unsere Fälle sind halt manchmal spektakulär«, sagte Karl.
»Ich weiß. Gaby und Willi hatten zwischendurch viel Zeit mir davon zu berichten. Tja. Wir sind ja alle aus derselben Stadt. Vielleicht sieht man sich ja irgendwann nochmal?«



– ENDE –
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