Salvation
von DerWeGaZ
Kurzbeschreibung
Prag im Jahre 2030: Drei Jahre nach dem Zwischenfall sind die Anspannungen zwischen den augmentierten und den normalen Bürgern schärfer als jemals zuvor. Gewalt und Mord sind längst keine Seltenheit mehr. Inmitten dieses Chaos steht Riley Frost, ein augmentierter Profiler der Task Force 29, dessen Augmentierungen in der Lage sind, ihn Mordfälle rekonstruieren zu lassen, um sie so aufzuklären. Sein nächster Fall deutet auf einen Nachahmungstäter des längst verstorbenen "Harvesters" hin, der Augmentierten ihre Implantate als "Erlösung" entfernt. Doch der Fall nimmt rapide andere Züge an, als eine Liste mit Zielen des Harvesters auftaucht, an dessen Ende Frost selbst steht...
GeschichteDrama, Thriller / P16 / Gen
17.04.2017
01.11.2018
5
35.459
1
Alle Kapitel
noch keine Reviews
noch keine Reviews
Dieses Kapitel
noch keine Reviews
noch keine Reviews
20.05.2017
6.218
Ich betrachtete mich noch ein letztes Mal im Spiegel. Die Krawatte saß immer noch nicht perfekt, aber so sehr ich es auch versuchte, ich konnte sie nicht richten, sodass sie zum makellosen Design meiner restlichen Kleidung passte. Schließlich gab ich es auf und widmete mich meiner Frisur. Sie war, ähnlich wie meine Krawatte, immer noch nicht perfekt. Und bevor es an der Zeit war zu gehen, musste ich das ändern. Ich drehte mich um und ging durch mein Apartment rüber zu meinem Badezimmer, wobei ich mein Wohnzimmer durchqueren musste. Der Fernseher lief noch und zeigte die Nachrichten. Präsentiert durch Eliza Cassan, die Nachrichtensprecherin unseres Landes. Ihre Beliebtheit machte sogar dem Präsidenten Konkurrenz. Aber bestimmt war das nur eine weitere Übertreibung seitens der Medien. Das Feuer in meinem Kamin knisterte und spendete Wärme, die sich im gesamten Zimmer verteilte. Und die riesigen Panoramafenster zeigten die Skyline unserer Stadt.
Als ich an einer Kommode vorbeiging, fiel mein Blick auf meinen Mitarbeiterausweis. Das Logo von Sarif Industries befand sich direkt über meinem Passbild. Es war wirklich nicht leicht gewesen einen Job dort zu bekommen, aber meine Ausbildung hatte sich gelohnt. Und schließlich hatte mich Sarif höchst persönlich mit offenen Armen in seiner Firma aufgenommen. Seitdem arbeitete ich dort im Sicherheitsbereich und gelegentlich im IT Sektor der Firma. Meine Arbeit konzentriert sich aber nicht auf wesentliche Merkmale der Sicherheit. Dafür hat Sarif einen anderen Mitarbeiter. Adam Jensen, ein EX-SWAT Mitglied und nun Sicherheitschef bei Sarif Industries. Im Vergleich zu ihm erledige ich lediglich kleine Aufgaben, die aber laut ihm eine große Bedeutung für seine Arbeit haben. Manchmal halte ich das lediglich für Gerede, aber er ist immer der festen Überzeugung, dass ich doch etwas bewirke. Etwas tue, was ihm hilft.
Ich ließ von meinem Ausweis ab und betrat nun mein Badezimmer. Als ich meine Haare im Spiegel sah, seufzte ich erschöpft auf. Ich griff nach dem Wachs und begann es vorsichtig in meinen Händen zu verreiben, bevor ich es in meine Haare schmierte und mir so eine Frisur formte. Meinen Bart hatte ich erst heute abrasiert und es fühlte sich gut an wieder essen zu können, ohne sich die Reste aus dem Bart waschen zu müssen, wenn man fertig gegessen hatte. Als meine Frisur fertig war, betrachtete ich mich erneut im Spiegel und versuchte die Krawatte endlich zu richten. Immer noch erfolglos.
Die Klingel meiner Wohnungstür machte mich aufmerksam und ich ging rüber zur Tür. Sie war wie immer etwas zu früh da. Aber ich sollte mich wohl daran gewöhnen, wenn ich vorhatte noch länger Zeit mit ihr zu verbringen. Ihre Augen strahlten, als ich die Tür öffnete und sie hineinbat. Sie trug ein weinrotes Oberteil und einen dazu passenden schwarzen Rock, der in Kombination mit den schwarzen und langen Strümpfen ihre Schönheit und ihren Geschmack für Kleidung nochmal betonte. Dagegen wirkte meine schwarze Anzughose mit dem weißen Hemd und der goldenen Krawatte so, als würde ich zu einer Sitzung alter Leute gehen, die vorhatten ihr Lebensende bei einer Partie Bingo zu verbringen.
„Hast dich mal wieder für etwas Klassisches entschieden, was?“, fragte sie mich und spielte dabei an ihren braunen Haaren, während sie mich verlegen anlächelte. Ihre braunen Augen betrachteten meine Kleidung ganz sorgsam. So, als wolle sie sich jedes einzelne Detail ganz genau einprägen.
„Ich habe genau dasselbe an wie letztes Mal, als wir ausgegangen sind. Solltest du mittlerweile nicht schon wissen, wie jeder einzelne Knopf aussieht?“, fragte ich scherzend und drehte mich um, um mein Sakko vom Sofa zu holen. Ich spürte ihren Blick auf mir, als ich meine Hand nach dem maßgeschneiderten, schwarzen Stoff ausstreckte.
„Das hat doch wohl eher etwas damit zu tun, wie gerne ich dich ansehe, findest du nicht?“, fragte sie mich und ich spürte die Wärme in ihrer Stimme. Als ich meinen Sakko anhatte, betrachtete ich unsere Stadt noch einmal durch mein Fenster hindurch, bis ich mich auf mein eigenes Spiegelbild konzentrierte und dadurch erkannte, wie sie auf mich zu schlich, um mich zu umarmen.
„Du kriegst es wohl immer noch nicht hin die Krawatte richtig anzuziehen, oder?“, fragte sie mich und ich konnte mir das Grinsen nicht verkneifen. Wie sie alles wusste, bevor ich es ihr sagen konnte. Aber sie hatte ja Recht damit. Vielleicht war ich nicht für die Klassik gemacht. Zwar stand sie mir, aber ich war nicht in der Lage sie richtig zu tragen. Oder vielleicht wollte ich auch einen neuen Trend setzen. Wer weiß?
„Lass mich dir helfen“; bat sie mir an und ich drehte mich zu ihr um, damit sie mal wieder meine Krawatte binden konnte. Bisher hatte sie das bei jedem unserer Treffen getan. Und ich fühlte mich auch gar nicht schlecht deswegen. Obwohl ich es hätte tun müssen. Aber sie schien es auch gar nicht zu stören, weswegen ich sie jedes Mal machen ließ.
„Und? Wohin entführst du mich heute?“, fragte sie mich und zog die Krawatte sanft zu, was bedeutete, dass sie es erneut geschafft hatte. Ich lächelte und nahm ihre Hand, um sie zu meiner Wohnungstür zu führen.
„Tja, weißt du…es gibt da so ein Restaurant, das ich schon lange im Visier habe. Und ich dachte mir, dass wir uns das vielleicht mal ansehen sollte. Da soll es wirklich gute Pommes geben“, sagte ich und hielt ihr die Tür offen, damit sie hindurch gegen konnte.
„Wir haben uns also so schick angezogen, um Pommes essen zu gehen?“, fragte sie mich und lachte, als wir die Treppen nach unten gingen. Ich schüttelte den Kopf, was sie allerdings nicht sah, da sie vor mir lief, und antwortete: „Nein, natürlich nicht. Aber ich denke, dass es dir dort sehr gut gefallen wird.“
„Du willst mich doch nur wieder einmal hinhalten, bis wir da sind. Aber dieses Mal habe ich vorgesorgt. Ich habe jedes einzelne Restaurant in der Stadt rausgesucht. Und wenn wir in ein teures gehen, dann sind es genau sieben Stück“, sagte sie. Ich bewunderte sie für die Mühe, die sie sich machte. Musste allerdings trotzdem grinsen.
„Dieses Restaurant kennst du sicherlich noch nicht“, gab ich zurück und hielt ihr in der Eingangshalle ebenfalls die Tür auf. Eine ältere Dame nickte mir zu und ich lächelte. Diese Zustimmung ließ mich eben doch grinsen.
„Ach, gehen wir also wirklich zu einer Pommes Bude, um etwas zu essen?“, fragte sie mich und lachte, als sie die Beifahrertür meines Autos öffnete. Ich nahm dem Parkservice die Schlüssel ab und gab ihm ein paar Credits für seine Dienste, worüber er sich dankbar freute. Ich setzte mich hinters Steuer, ließ den Motor an und legte den Gang ein.
„Vertrau mir einfach. Okay?“, fragte ich sie und wartete auf ihr Okay, bevor ich losfuhr und mich zu dem Restaurant begab.
Als ich den Motor abstellte und die Scheinwerfer erloschen, steig ich aus dem Auto aus und half ihr dabei auszusteigen. Sie wunderte sich über unseren momentanen Aufenthaltsort und ich konnte es ihr nicht verübeln. Schließlich befanden wir uns auf einem kleinen Wald weg. Dieser würde uns zu dem Restaurant führen, aber sie war vollkommen verwirrt. Erklären wollte ich es ihr aber noch nicht.
„Riley, du hast dich sicherlich verfahren, oder?“, fragte sie mich und ich schüttelte den Kopf, während ich sie an ihrer Hand auf dem Weg durch den Wald führte.
„Nein, habe ich nicht. Das Restaurant liegt nur etwas außerhalb der Stadt“, sagte ich und lächelte, was sie aber nicht sehen konnte. Der Wald um uns herum verringerte sich immer mehr und letztendlich standen wir auf einer Klippe, die einen Ausblick auf die Stadt zeigte, welche in der Nacht leuchtete und einen wundervollen Hintergrund für das Restaurant darstellte. Das Restaurant war ein gedeckter Tisch und zwei Stühle, die auf dieser Klippe standen. Sie ging voran, als sie erblickte, wohin ich sie geführt hatte. Ihr Rock wehte leicht im Wind dieser warmen Sommernacht und am liebsten hätte ich diesen Moment mit einer Kamera eingefangen. Es sah alles so malerisch aus. Als würde jedes einzelne, kleine Detail stimmen.
„Ich habe dir gesagt, dass du dieses Restaurant noch nicht kennst. Ich habe es erst heute eröffnet“, sagte ich. Ihre Freude drängte die Verwirrtheit in den Hintergrund und lächelte, als sie zu mir rüber kam, zu mir hoch sah und mir in die Arme fiel.
„Wieso gibst du dir so viel Mühe für jemanden wie mich?“, fragte sie mich und vergrub ihr Gesicht in meinem Hemd. Ich sah rüber zu der Skyline. Sie machte diesen Ort hier noch so viel schöner, als er ohnehin schon war. Ich war früher immer mit meinem Vater hierhergekommen, um mir die Stadt anzusehen. Damals konnte ich mit ihm sehen, wie sie wuchs und wuchs. Die Bauphasen wurden irgendwann beendet, aber es fühlte sich für mich so an, als hätte ich einem Kind beim Aufwachsen zugesehen. Und als ich dann alleine hier stand, weil ich zu einem Mann geworden war, teilte ich mit dieser Stadt eine Sache. Wir beide waren nun ausgewachsen. Und wir beide haben miterlebt, wie der andere gewachsen war. Aus diesem Grund habe ich mir diesen Ort für diese Nacht ausgesucht. Weil ich mit ihm eine Geschichte teilte. Und diese Geschichte war mein Leben. Und an diesem Ort hier, wo das Restaurant stand, wo ich mit meinem Vater jeden Abend gesessen hatte…
„Weil ich denke, dass meine Verlobte das verdient.“
…an diesem Ort, würde sie ein Teil meines Lebens werden.
Ich spürte, wie sie ihre Augen ungläubig aufriss und ich ihr die Sprache verschlagen hatte. Während sie versuchte ihre Gedanken zu ordnen, ließ ich sie los und kniete vor ihr nieder, wobei ich etwas aus meiner Sakkotasche zog. Als ich das kleine, mit weichem Stoff bekleidete, Kästchen öffnete, offenbarte es einen kleinen Ring, der im Licht der Stadt glitzerte. Sie presste sich ihre Hände vors Gesicht und nickte ganz energisch, was mich dazu brachte zu lächeln und sie erneut in die Arme zu nehmen. Ich hatte es geschafft. Sie war nun meine Verlobte!
Ich füllte zwei Gläser mit Rotwein und trat vor sie, wobei ich ihr eines der beiden Gläser reichte. Sie spielte immer noch mit ihren Haaren. An der Hand, mit der sie das tat, befand sich nun mein Ring. Ich atmete tief durch und blickte ihr tief in die Augen.
„Auf uns“, sagte ich und hob mein Glas ein wenig in die Höhe.
„Auf uns“, antwortete sie und unsere Gläser klirrten, als wir anstießen.
Doch das Klirren hörte sich ganz anders an. Es klang nicht so wie ein Anstoß, sondern eher so wie ein zerspringendes Glas. Mein Blick war schon seit Stunden auf die Stelle an der Wand fixiert, an die das Glas geflogen war, als sie es mir aus der Hand geschlagen hatte. Die Scherben hatte ich nicht weggeräumt, sondern dem Alkohol dabei zugesehen, wie er an meiner Wand hinunter geflossen war. Das Sonnenlicht fiel durch die halb geschlossenen Jalousien in meine kleine Wohnung hinein und tauchte sie in eine goldene Farbe. Ich saß zurückgelehnt in meinem Sessel und hatte mich seit gestern Nacht nicht mehr bewegt. Doch ich wusste, dass ich bereits spät dran war und zwang mich deshalb dazu aufzustehen und zu meinem Badezimmer zu gehen.
Im Badezimmer lag meine Wäsche auf dem Boden und der Wasserhahn tropfte. Ich stützte mich mit meinen Armen am Waschbecken ab, als ich in den Spiegel sah und mich selbst betrachtete. Meine Haare waren im Vergleich zu jener Nacht länger geworden und ich machte mir auch nicht mehr die Mühe sie zu richten oder eine Frisur zu machen. Stattdessen lagen sie einfach, wie sie wollten und ließen mich nicht mehr so wirken, als wäre ich der Typ, der sich Anzüge anziehen würde. Mein Bart war auch länger geworden, denn auch den hatte ich mir lange nicht rasiert. Doch was im Vergleich zu damals deutlich anders war, war die Tatsache, dass ich noch nicht einmal mehr in meine eigenen Augen sah. Diese Augen gehörten Sarif Industries. Ebenso wie meine Arme und die Hirnimplantate. Ich sah mich im Spiegel und wollte den Mann sehen, der damals Probleme mit seiner Krawatte hatte, als er sich fertig machte, um mit seiner Freundin auszugehen. Doch dieser Mann stand nun nicht mehr vor mir. Stattdessen sah ich jemanden, der noch nicht einmal mehr in der Lage war Menschen ins Gesicht zu sehen, obwohl er damals gar nicht genug von den Augen seiner Freundin haben konnte. Der sich keine Mühe mehr machte ihr hinterher zu laufen, obwohl er ihr damals durch die gesamte Stadt nachgelaufen wäre. Jemand, der lieber dem Whiskey an seiner Wand dabei zusah, wie er langsam hinablief, als sich mit seiner Freundin wieder zu vertragen. Ich kannte diesen Mann vor mir nicht mehr. Denn ich war das sicherlich nicht mehr. Das war nicht Riley Frost.
Ein Anruf riss mich aus meinen Gedanken und ich sagte der KI, dass sie auf Lautsprecher stellen sollte. Es war Miller, der mich sagte, dass ich bereits spät dran war. Ich sagte ihm, dass ich mich sofort auf den Weg machen würde. Das kurze Gespräch endete und ich zog mir meine Jacke über. Bevor ich ging, warf ich noch einen Blick auf das zerbrochene Glas am Boden. Damals hätte ich nicht gedacht, dass es so enden würde. Dass alles, was von ihr übrig bleiben würde, ein zerbrochenes Glas sein würde. Ich senkte meinen Blick und verschwand durch die Wohnungstür. Hinaus in die Stadt.
Als ich die Treppen meines Wohnblockes hinablief, erinnerte ich mich daran zurück, wie sie vor mir lief und versuchte zu erraten, wohin ich sie dieses Mal ausführen würde. Sie hatte das wirklich jedes einzelne Mal getan, an dem ich sie ausgeführt hatte. Immer wieder versuchte sie herauszufinden, wie ich das Date geplant hatte. Schon immer hatte sie das Verlangen entweder meine Pläne offenzulegen oder ein Teil davon zu werden. Doch ich ließ sie immer daran Teil haben. Nur war ein Teil des Plans der, dass sie nichts davon wissen sollte. So konnte ich sie jedes einzelne Mal überraschen. Und ich glaube, dass sie es mir niemals vorgeworfen hat nicht eingeweiht zu sein. Im Gegenteil, das Rätseln machte ihr Spaß. Für sie wurde ich dadurch noch geheimnisvoller und das schien sie neugierig zu machen.
Ihr Lächeln brannte sich in mein Gedächtnis ein, als ich ihr den Ring hinhielt und sie kaum glauben konnte, dass das wirklich passierte. Seitdem war das die mit Abstand schönste Erinnerung an sie, die ich noch hatte. Denn nur wenige Tage später ereignete sich der Angriff auf Sarif Industries. Und wie er ausging war jedem bekannt. Sie ist trotzdem bei mir geblieben. Und ich habe gespürt, wie sie meine Hand jeden Tag lang gehalten hat. Wie sie wollte, dass ich zu ihr zurückkomme. Letztendlich kam ich auch zurück, aber nicht als der Mann, der vor dem Angriff seiner Verlobten einen Antrag gemacht hatte. Ich kam zurück als augmentierter und psychisch veränderter Mann, der Menschen nicht mehr ins Gesicht sehen konnte. Ich wich ihr nur noch aus, wollte lieber bei der Arbeit sein, anstatt zu Hause bei ihr Zeit zu verbringen und mich auf die Hochzeit vorzubereiten. Aber tief in mir verspürte ich immer wieder das Verlangen, aus diesem Kreislauf auszubrechen und wieder zu ihr zurück zu finden. Es war fast so, als befände ich mich in einem dunklen Raum, ohne die Möglichkeit den Ausgang zu finden. Und jedes Mal, wenn ein kleines Licht aufleuchtete, verschwand es direkt wieder, weil ich nicht darauf zuging und so den Ausgang fand. Ich habe mich im Prinzip selbst daran gehindert zu ihr zurückzufinden, indem ich nicht die Initiative ergriffen habe und nur darauf gewartet habe, dass sich alles zum Guten wendet. Doch es wendete sich nie zum Guten. Der Hochzeitsantrag wurde von ihr aufgehoben und sie meinte, dass sie ein paar Wochen eine Auszeit bräuchte. Ich hätte sie in dieser Zeit anrufen sollen, hätte ihr sagen sollen, dass es mir leidtat. Doch stattdessen stürzte ich mich von einem Fall direkt in den nächsten und dachte nicht eine Sekunde an sie, obwohl das Verlangen zum Hörer zu greifen unermesslich hoch war. Doch trotzdem versuchte ich es auch da nicht, die Situation wieder grade zu biegen und ignorierte die Hilferufe in mir. Als sie mich dann irgendwann anrief, spürte ich, wie sie sich die Tränen zurückhalten musste, als sie mir sagte, dass sie mich nicht mehr lieben würde. Dass ich meine ganze Magie verloren hätte, die sie umgeben hatte, als sie bei mir war. Wie ich immer versucht habe, sie bei meinen Plänen dabei zu haben, ohne sie direkt zu involvieren. Denn ihr war aufgefallen, dass sie nun nicht einmal mehr ein Teil meiner Pläne war. Ich hätte genau in diesem Moment etwas sagen sollen. Hätte ihr gestehen sollen, dass ich nicht wusste, was passierte, aber dass ich es wieder in den Griff kriegen würde. Stattdessen legte ich mit einem simplen „okay“ auf und hörte seitdem nie wieder etwas von ihr. Ich verfluchte mich immer wieder für diesen Anruf. Weil ich nichts getan habe, obwohl die Situation dafür die beste gewesen wäre. An diesem Tag habe ich sie wohl endgültig verloren. Das gestern war kein Versuch von ihr mich wieder zurück zu bekommen .Mit mir hatte sie schon längst wieder abgeschlossen. Und ich akzeptierte das, obwohl ich es nicht wollte. Ich wollte nicht, dass sie ging. Dass sie mich verließ. Aber ich musste auch einsehen, dass ich so viele Chancen gehabt habe, um das alles wieder grade zu biegen. Und jede einzelne davon habe ich vergeigt. Ich war schuld daran, dass sie mich verlassen hatte. Trotzdem wollte ich sie zurück haben. Doch mein Körper tat etwas vollkommen anderes. Und bei jeder Gelegenheit hatte ich Sarif verflucht, dass er mich gerettet hatte. Hätte er mich doch lieber sterben lassen. Denn so wie ich jetzt drauf war, war ich noch nicht einmal mehr am Leben. Sie hätte um mich getrauert, keine Frage. Aber sie hätte mich wenigstens gut in Erinnerung behalten. Sie hätte die guten Erinnerungen nicht gegen diese schlechten von mir eingetauscht. Und ich hätte in Frieden ruhen können, während sie glücklich geworden wäre. Doch jetzt? Mit meinem Weiterleben hatte ich ihr Leben nur noch verschlimmert. Und das mag vielleicht hart klingen. Dass ich mir im Nachhinein meinen Tod wünsche. Aber ich hatte an jenem Abend alles erreicht, was ich erreichen wollte. Einen guten Job, die Liebe meines Lebens an meiner Seite, eine tolle Überraschung, die mir gelungen war. Sie war ein Teil meines Plans gewesen. Und am Ende…wusste sie das auch.
Praha Dovoz. Der wohl unauffälligste Laden in ganz Prag. Jeder geht jeden Tag mindestens zehn Mal an diesem Laden vorbei und merkt sich dessen Namen trotzdem nicht. Zwar hatte eine Untergrund-Nachrichtenschriftstellerei von ihrer Existenz erfahren, aber Jensen hatte sich zuverlässig darum gekümmert. Die saßen, so viel ich wusste, jetzt sowieso in Paris und veröffentlichten dort ihre Nachrichten. Ich atmete tief durch und betrat das Geschäft. Die Rezeptionistin nickte mir nur zu und ich ging in den Lagerraum des Geschäfts. Dort angekommen schloss ich die Tür hinter mir, um keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Das Gemälde vor mir schob ich ein wenig nach oben und enthüllte so einen Kartenleser. Ich kramte nach meiner ID-Card und legte sie auf die Scanoberfläche. Sofort begann der Boden sich nach unten zu bewegen. Es war immer wieder ein seltsames Gefühl, wenn der Boden anfing sich zu bewegen. Die Laserscans verifizierten mich und die Aufzugtüren zur TF29 Zentrale öffneten sich. Wie immer war eine ganze Menge los. Ein Mitarbeiter lief gerade vor meiner Nase an mir vorbei, als ich die Aufzugtüren hinter mir ließ und diese sich wieder schlossen.
„Frost, sie sind also doch noch gekommen“, hörte ich eine Stimme hinter mir und wusste schon genau, um wen es sich handelte, bevor ich mich zu ihr umdrehte. Tatsächlich war ich überrascht sie hier stehen zu sehen, wo sie doch im Außendienst tätig sein sollte. Viele Fragen drängten sich in meinen Kopf, aber keine von ihnen wollte ich ihr stellen. Ich hatte die Befürchtung, dass ich mich dann zu tief in ein Gespräch verwickeln würde.
„Ja, ich war heute Morgen nur etwas abgelenkt und habe die Zeit aus den Augen gelassen. Und was ist mit ihnen? Geht ihr Einsatz erst noch los oder wieso warten sie hier vor dem Schießstand?“, fragte ich höflich. Ich sah auch ihr nicht in die Augen, denn Augenkontakt würde bedeuten, dass ich Interesse an einem Gespräch hätte. Aber das hatte ich nicht. Ich wollte lediglich zu Miller und fragen, ob die Polizei gestern Nacht noch irgendetwas gefunden hatte, was auf den Harvester hindeuten könnte.
„Die lassen mich erneut nicht in den Außendienst. Ich glaube, dass es jetzt an der vermehrten feindlichen Einstellung gegenüber den Augmentierten liegt. Die behandeln uns da draußen, als wären wir vogelfrei. Ist das zu glauben?“, fragte sie mich entsetzt und verschränkte die Arme vor ihrer Brust. Ich zuckte nur mit den Schultern und drehte meinen Kopf in Richtung Millers Büro.
„Angesichts der Umstände ist es wohl doch besser für ihre Gesundheit, wenn sie hier bleiben und Waffen putzen. Ohne sie damit beleidigen zu wollen Aria. Aber die Welt da draußen geht immer mehr zugrunde und ich denke nicht, dass sie dabei sein sollten, wenn die Menschen schlussendlich auf die Augmentierten losgehen. Es ist schon schlimm genug wenn andere darunter leiden müssen, was passiert ist. Machen sie es für sich nicht noch schlimmer, als es ohnehin schon ist“, sagte ich und seufzte.
„Sie reden so, als wäre ihnen das Leben der anderen egal, solange ihr eigenes dabei nicht in Gefahr kommt. Das hört sich sehr nach Egoismus an Riley. Ich bin hierhergekommen, um die Menschen zu schützen. Wenn es sein muss auch voreinander. Und das werde ich auch tun. Auch wenn ich dabei mein Leben lassen muss. Dafür wurde ich schließlich ausgebildet“, entgegnete sie mir und ich hörte den Vorwurf ganz deutlich heraus.
„Und das unterscheidet uns. Wir sind eben nicht beide ausgebildet. Sie sind Agentin, ich bin ehemaliger Büromitarbeiter. Wir teilen nicht dieselbe Vergangenheit, welche unseren Weg hierher gepflastert hat. Aber wenn es ihnen so viel bedeutet, dann sollten sie nicht aufgeben Aria. Semper Fi.“
Sie seufzte tief durch, bevor sie mir antwortete: „Semper Fi.“
Ich nickte nur leicht und ging dann die Treppen hoch, um zu Millers Büro zu gelangen. Dieser saß in seinem Büro und telefonierte gerade, als ich anklopfte und er mich hinein ließ. Ich wartete geduldig, bis er auflegte. Während er noch damit beschäftigt war Befehle in den Hörer zu brüllen, sah ich mir das Whiteboard an, welches er in seinem Büro aufgestellt hatte. Ganz oben stand drauf: „Harvester der Dritte.“
„Wie haben sie geschlafen?“, fragte er mich, als er aufgelegt hatte und zu mir rüber kam. Ich betrachtete weiterhin das Whiteboard und ging die einzelnen Fakten durch, die bereits zusammengetragen wurden. Die Auswahl zum Ansehen war aber weit mehr als nur sperrig. Viel wurde scheinbar nicht gefunden. Die ganzen handfesten Beweise befanden sich in meinem Gehirn auf einer Datenbank. Und ansonsten war nur die Identität des zweiten Täters herausgefunden worden. Was sich bestimmt als nicht allzu leicht herausgestellt hatte, dass sein Gesicht auf dem Foto übel zugerichtet worden war. Die Kugel, die durch sein Auge durchgedrungen war, hatte massive Schäden hinterlassen. Ich schloss die Augen und wandte mich von dem Whiteboard ab.
„Ich hab nicht geschlafen. Die ganze Zeit musste ich über diesen Fall nachdenken. Irgendetwas stimmt ganz und gar nicht. Ich meine, wieso gab es keine Absprache zwischen den beiden Tätern? Wenn einer eine professionelle Herangehensweise im Kopf hatte, dann muss er doch mit dem anderen wenigstens einmal darüber gesprochen haben, oder nicht?“, fragte ich in den Raum hinein und versuchte angestrengt eine Lösung für dieses Problem zu finden. Aber so einfach würde sich das Rätsel ganz bestimmt nicht lösen lassen.
„Ich dachte sie kommen ausgeruht hierher und können mir eventuell genau diese Frage beantworten. Aber wie es aussieht stehen wir immer noch genau da, wo wir gestern auch standen. Und das gefällt mir nicht. Die Liste ist ein klarer Hinweis darauf, dass er noch weiter töten wird, wenn wir ihm nicht das Handwerk legen. Und in ihrem eigenen Interesse sollten sie sich dafür einsetzen, dass er niemals das Ende der Liste erreicht“, entgegnete er mir und ich musste bei diesem Satz an Aria denken.
„Es hört sich fast so an, als wollten sie mir Egoismus unterstellen Miller“, sagte ich. Ich wusste, dass er darauf nicht gut reagieren würde, doch wurde er, bevor er anfangen konnte, unterbrochen. Ein weiterer Mann betrat nämlich das Büro des Direktors.
„Sie wollten mich sprechen Miller?“, fragte er und schloss die Tür wieder hinter sich, bevor er auf unseren Chef zukam und ihm die Hand reichte.
„Ja. Schön, dass sie es noch rechtzeitig geschafft haben, Jensen“, antwortete Miller und Jensen drehte sich zu mir um, wobei ich wie immer meinen Blick auf etwas anderes fixierte, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen. Seine Brillengläser verdeckten zwar seine Augen, dennoch machte mich das Gefühl wahnsinnig von ihm beobachtet zu werden und nicht in der Lage zu sein dasselbe zu tun.
„Wie hast du geschlafen Riley? Alles okay?“, fragte er mich und stellte sich neben mich, als Miller sich die Zettel auf dem Board nochmal genauer ansah. Ich lehnte mich wie er an den Schreibtisch und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ich habe nicht geschlafen. Aber ansonsten ist alles gut. Und wie geht‘s dir?“, fragte ich zurück und wandte mich dann wieder desinteressiert ab. Ich hatte wirklich nichts gegen Adam. Im Prinzip waren wir beide nur Opfer einer niemals gewollten Augmentierung. Aber wir beide verdankten Sarif unser Leben. Ohne ihn wären wir damals gestorben. Und wofür haben wir weitergelebt? Im Prinzip haben wir beide unsere Freundin verloren. Er durch eine vorgetäuschte Tötung und einer dahinter getarnten Entführung. Und ich durch meine psychische Instabilität. Wirklich ein toller Tausch für das Weiterleben.
„Der Papierkram stapelt sich und die Welt da draußen wendet sich immer mehr von uns ab. Hast du gehört, dass Aria dafür kämpft wieder in den Außendienst zu kommen? Sie muss verrückt sein, wenn sie denkt, dass das der richtige Weg ist, um den Menschen zu helfen. Wenn sie da raus geht, dann werden Demonstranten oder aus dem Schatten heraus arbeitende Männer und Frauen ihr den Kopf einschlagen oder mit einer Kugel durchlöchern. Sie sollte hier drinnen bleiben, wenn ihr etwas an ihrem Leben liegt.“
Ich stand wieder auf und drehte mich zu Adam um. Er hatte wie immer seinen dunklen und langen Mantel an, der seinen Körper vor den Blicken der Bewohner dieser Stadt schützte. Aber trotzdem war er wie ich ein Ausgeschlossener dieser Gesellschaft. Ich erkannte an seinem Gesicht, dass er genau wie ich müde vom gestrigen Abend war. Was er wohl ermittelt hat, als ich dabei war meinen Namen auf einer Todesliste zu betrachten?
„Ich habe von deinem neuen Fall gehört. Der Harvester hat scheinbar erneut einen Nachahmungstäter. Und dieser scheint noch skrupelloser zu sein als sein Vorgänger. Wenn er schon seinen Partner wegen einem Fehler umbringt, dann muss er es verdammt ernst meinen“, sagte Adam und betrachtete aus der Ferne das Whiteboard.
„Er hasst es, wenn etwas nicht nach Plan verläuft. Das macht ihn wahnsinnig, da er das Erbe des Harvester so gut es geht schützen möchte. Und wenn er dafür seine Partner töten muss, dann muss es eben so sein“, sagte ich und sah, wie Miller sich vom Whiteboard entfernte. Ich schritt auf das Board zu und betrachtete die Liste, die wir gefunden hatten. Ich blickte sofort nach unten, wo mein Name stand. Das Blatt war getrocknet worden, da es im Regen vollkommen durchnässt wurde, aber es war alles noch deutlich zu erkennen. Ich schüttelte den Kopf und betrachtete erneut das Foto des Mittäters. Irgendetwas musste ich doch übersehen. Irgendetwas war hier doch sicherlich noch zu holen. Etwas, was ich beim ersten Mal übersehen hatte. Auch wenn es nur eine kleine Spur war, es würde wesentlich mehr bringen als nur hier rumzustehen und nichts tun zu können.
„Wir haben den Autopsie Bericht des Mittäters. Offenbar hat er eine Tätowierung am linken Unterarm, die sie uns rüber senden. Scheinbar ist sie erst vor wenigen Tagen gemacht worden“, sagte Miller und lief rüber zum Drucker, um das gesendete Bild zu empfangen. Ich blieb am Board stehen und betrachtete die Liste der weiteren Opfer.
„Was zum Teufel soll das denn sein?“, fragte sich Miller und kam zum Board rüber, um den Beweis an dem Board zu befestigen. Als ich einen Blick drauf werfen konnte, verschlug es mir die Sprache. Auf dem Rücken des Täters war eine Runde Poker tätowiert. Insgesamt drei Spieler, deren Hände zu sehen waren. In ihren Händen hielten sie aber unterschiedlich viele Karten. Und in der Mitte lagen mehrere Stapel mit unterschiedlich farbenen Chips.
„Was zur Hölle soll das denn für ein Beweis sein?“, fragte sich Miller und kratzte sich am Kopf; weil er angestrengt versuchte zu entziffern, was das zu bedeuten hatte. Die Hände zeigten die Karten: „A,2,9,10, sowie A,2,6 und A,4,5,9,10.“ Aber ich verstand nicht, was das zu bedeuten hatte. Klar, es war mehr als nichts, aber es brachte mich auch nicht wirklich weiter.
„Ich muss zu einem Meeting und der Presse ein paar Fragen beantworten. Und wenn ich zurückkomme, dann will ich Resultate haben, ist das klar?“, sagte Miller und verließ das Büro, wobei er uns beide alleine zurückließ. Adam bewegte sich auch in Richtung Tür und verabschiedete sich noch von mir, bevor er die Tür hinter sich schloss. Ich blieb noch eine Weile in dem Büro zurück und betrachtete das Tattoo. Ich würde einfach nicht daraus schlau. Sicherlich musste es etwas mit dem Mord zu tun haben, denn sonst würde es schon wesentlich länger an seinem Körper kleben und mir einen organischen Beweis für das liefern, was ich herausfinden sollte. Ich entschied mich dazu das Whiteboard erstmal stehen zu lassen und es später wieder aufzusuchen, um mich weiter mit dem Fall zu befassen. Während die anderen Mitarbeiter immer noch energisch und voller Energie durch die Eingangshalle liefen, lehnte ich mich an das Geländer des ersten Stocks und betrachtete sie dabei. Nach einiger Zeit gesellte sich ein weiterer Mann zu mir, der sich ebenfalls an das Geländer lehnte.
„Muss wohl ziemlich viel los sein, wenn die da unten so herumlaufen. Ihr neuer Fall scheint die Bevölkerung doch ziemlich in Angst zu versetzen. Aber gleichzeitig sehen viele Menschen es auch als eine Art Möglichkeit an, um die Demonstration wieder auf die Straßen zu bringen. Ihr Freund, der sogenannte Harvester, erregt echt viel Aufmerksamkeit. Und das noch nicht einmal nach 24 Stunden. Wie läuft denn die Suche nach ihm Frost?“, fragte er mich und ich konnte sein hämisches Grinsen spüren.
„Wie sie bereits sagten, MacReady, es sind noch nicht einmal 24 Stunden vergangen. Also liegt es wohl ziemlich nahe, dass wir ihn noch nicht haben. Aber wenn sie Vorschläge haben, dann immer her damit. Ich kann sie momentan echt gut gebrauchen. Und sie stellen sich doch so oft als der beste Agent der TF29 dar, dass es für sie gar kein Problem sein sollte, diesen Fall innerhalb von 24 Stunden zu lösen“, sagte ich und ignorierte ihn, wobei mir aber sein leises Lachen nicht entging.
„Sie sind genau wie Jensen. Ihr Optis seid scheinbar der Meinung, dass ihr die besseren Agenten seid. Aber ihr irrt euch gewaltig. Nur weil ihr technisch verbessert seid, heißt das nicht, dass ihr euch als bessere und effizientere Agenten betiteln könnt. Ihr seid nichts weiter als künstlich am Leben erhaltene Menschen, die da draußen mittlerweile auseinandergenommen werden. Aber hey, wenn ihr wollt, könnt ihr uns bei unserem Problem helfen, wenn ich euch bei eurem Fall behilflich sein soll. Wir versuchen gerade die Daten einer Terrororganisation in Katar zu entschlüsseln, aber die Verschlüsselung ist wirklich genial. Unsere Techniker werden wohl noch bis morgen daran sitzen. Aber mit ihren Chips werden die das sicherlich noch vor Feierabend heute Nacht fertig bekommen.“
Plötzlich machte es in meinem Kopf Klick. Ich wusste, was ich mit dem Tattoo anzufangen hatte. Ohne MacReady noch irgendetwas zu sagen, ging ich zurück in Millers Büro und nahm mir das Tattoo und die Liste der Opfer, um mich an seinen Schreibtisch zu setzen. Ich betrachtete die Hände der Pokernden genau und versuchte zu erkennen, was sie zu bedeuten hatten. Bis es mir auffiel. Es war eigentlich gar nicht mal so schwer das zu erkennen.
Insgesamt befinden sich drei Mitspieler am Tisch, die unterschiedlich viele Karten in den Händen halten. Also keine realistische Darstellung einer Pokerrunde. Aber darum geht es auch nicht. Es geht um genau die Anzahl der Karten, die zu sehen sind. Und die Anzahl der Spieler deuten ebenfalls auf etwas hin. Drei Spieler sind auf der Liste drei Namen. Die ersten drei Namen, da dieser Beweis als erster aufgetaucht ist. Die ersten drei Namen auf der Liste des Harvester lauten Terence Wilson, Paula Johnson und Dennis Stamper. Die Karten, die in den Händen gehalten werden, haben alles unterschiedliche Nummern, aber jeder hat ein Ass in der Hand. Das bedeutet, dass das Ass für etwas Einheitliches stehen muss. In diesem Fall für eine Nummer, die es im Kartendeck nicht gibt, da sie jeweils vor der 2 oder der 4 steht. Und alles Hände sind sortiert. Von der niedrigsten bis zur höchsten Zahl. Also lauten die Kombinationen: „1,2,9,10, sowie 1,2,6 und 1,4,5,9,10. Und in Kombination mit den drei Namen stehen die Zahlen auf den Händen für die Buchstaben innerhalb dieser Namen.
Terence Walker: T, e, i ,l
Dennis Stamper: D, e, s
Paula Johnson: P, l, a, n, s
Teil des Plans
Als ich das auf einem Zettel notiert hatte, ließ ich ungläubig den Stift sinken und betrachtete das, was der Beweis mir sagen wollte. Scheinbar war der Mittäter Teil des Plans gewesen. Und sein Tod damit auch. Es war von Anfang an klar gewesen, dass er Teil dieses Plans sein sollte. Sein Tod war nicht auf einen Unfall zurückzuführen oder aufgrund falscher Kommunikation eingetreten. Dieser Mann sollte gestern sterben. Der Harvester wollte es so. Und der Mittäter war allem Anschein nach in dieses Vorhaben eingeweiht. Sonst hätte er sich nicht dieses Tattoo stechen lassen. Dieser Fall wurde von jetzt auf gleich wesentlich unheimlicher, denn es handelte sich hier wirklich um einen sehr gut durchdachten Plan. Ein Plan, in den jeder eingeweiht zu sein schien, der etwas damit zu tun hatte.
Ich schob den Zettel beiseite und betrachtete das Bild weiterhin. Die Chips lagen in vier unterschiedlich hohen Stapeln auf dem Tisch Ihre Farbe unterschied sich auch. Von grau, über rot und grün, bis hin zu blau war alles dabei. Wenn die drei Hände symbolisch für die drei ersten drei Opfer standen, dann mussten die Chips für das vierte Opfer stehen. Irgendwas wollten die Chips mir auch noch sagen. Die Stapel bestanden aus einem Chip, vier Chips, zehn Chips und einem weiteren Chip. Sie schienen ebenfalls jeweils für eine Zahl zu stehen. Aus den Chips würde sich dann die Zahlenkombination 1, 4, 10 und 1 ergeben. Aber das hatte wirklich gar keinen Sinn.
Ich seufzte und lehnte mich auf dem Stuhl zurück. Mit meinem Blick schweifte ich durch den Raum und versuchte hier nach Antworten zu suchen, die ich aber nicht finden würde. Meine Antworten lagen alle vor mir, aber ich konnte sie scheinbar nicht erkennen. Bis ich einen Blick auf den Kalender warf. Dieser zeigte mir das heutige Datum an. Der 14. Oktober 2030. Die drei ersten Stapel standen für das heutige Datum. Ich griff wieder nach meinem Stift und schrieb das Datum neben das vierte Opfer. Aber der letzte Chip fehlte noch. Dieser passte nicht zu dem Datum. Was wollte er mir dann sagen? Ich beugte mich über das Foto und erkannte, dass der Chip, auf dem eine 50 stehen sollte, um den Wert anzugeben, keine 50 trug. Stattdessen standen darauf die Zahlen 7, 8 und 9. Wenn die Zahlen wie davor bei den drei anderen Namen für Buchstaben standen, dann würde mir der Name des vierten Opfers weiterhelfen. Ihr Name war Ivana Snow.
Ivana Snow: n, o, w
Now. Das englische Wort für jetzt
Ich ließ den Stift fallen und sprang vom Stuhl auf. Während ich aus dem Büro lief, rief ich Miller auf seinem Handy an. Dieser ging nach ein paar Sekunden auch ran und ich hörte die angespannte Stimme durch das Telefon zu mir sagen: „Ich habe ihnen gesagt, dass ich in einem Meeting…“
„Ich kenne sein nächstes Ziel! Das nächste Ziel des Harvesters! Eine gewisse Ivana Snow. Und er wird sie jetzt gleich umbringen! Wir müssen zu ihr, sofort!“, rief ich und befahl einer Mitarbeiterin die Adresse von Ivana Snow herauszufinden und ein Einsatzteam dorthin zu schicken.
„Woher wissen sie das Riley?“, fragte Miller mich und ich konnte hören, wie er seine Sachen in seinen Aktenkoffer packte, um das Meeting vorzeitig zu verlassen.
„Das erkläre ich ihnen später! Wir treffen uns dort. Sie bekommen die Adresse zugesendet! Beeilen sie sich Miller!“, rief ich noch, bevor ich auflegte und die Aufzugtüren sich öffneten, um mich hinein zu lassen. Es war die ganze Zeit über ein Teil seines Plans gewesen. Er hat das alles so sorgfältig geplant. Dieser Harvester war wirklich professioneller, als ich geglaubt hatte. Ich hoffte, dass die Person noch leben würde, wenn wir dort ankommen würden. Als die Aufzugtüren sich schlossen, dachte ich an die Liste. Vier der Personen darauf hatte er in seinen Plan eingebaut, um seinen nächsten Schritt zu verkünden. Und mit diesen vier Personen standen noch weitere sechs auf der Liste. Mich eingeschlossen. Und wie es aussah, war niemand ohne Grund auf ihr drauf.
Wir alle waren ein Teil seines Plans…
Als ich an einer Kommode vorbeiging, fiel mein Blick auf meinen Mitarbeiterausweis. Das Logo von Sarif Industries befand sich direkt über meinem Passbild. Es war wirklich nicht leicht gewesen einen Job dort zu bekommen, aber meine Ausbildung hatte sich gelohnt. Und schließlich hatte mich Sarif höchst persönlich mit offenen Armen in seiner Firma aufgenommen. Seitdem arbeitete ich dort im Sicherheitsbereich und gelegentlich im IT Sektor der Firma. Meine Arbeit konzentriert sich aber nicht auf wesentliche Merkmale der Sicherheit. Dafür hat Sarif einen anderen Mitarbeiter. Adam Jensen, ein EX-SWAT Mitglied und nun Sicherheitschef bei Sarif Industries. Im Vergleich zu ihm erledige ich lediglich kleine Aufgaben, die aber laut ihm eine große Bedeutung für seine Arbeit haben. Manchmal halte ich das lediglich für Gerede, aber er ist immer der festen Überzeugung, dass ich doch etwas bewirke. Etwas tue, was ihm hilft.
Ich ließ von meinem Ausweis ab und betrat nun mein Badezimmer. Als ich meine Haare im Spiegel sah, seufzte ich erschöpft auf. Ich griff nach dem Wachs und begann es vorsichtig in meinen Händen zu verreiben, bevor ich es in meine Haare schmierte und mir so eine Frisur formte. Meinen Bart hatte ich erst heute abrasiert und es fühlte sich gut an wieder essen zu können, ohne sich die Reste aus dem Bart waschen zu müssen, wenn man fertig gegessen hatte. Als meine Frisur fertig war, betrachtete ich mich erneut im Spiegel und versuchte die Krawatte endlich zu richten. Immer noch erfolglos.
Die Klingel meiner Wohnungstür machte mich aufmerksam und ich ging rüber zur Tür. Sie war wie immer etwas zu früh da. Aber ich sollte mich wohl daran gewöhnen, wenn ich vorhatte noch länger Zeit mit ihr zu verbringen. Ihre Augen strahlten, als ich die Tür öffnete und sie hineinbat. Sie trug ein weinrotes Oberteil und einen dazu passenden schwarzen Rock, der in Kombination mit den schwarzen und langen Strümpfen ihre Schönheit und ihren Geschmack für Kleidung nochmal betonte. Dagegen wirkte meine schwarze Anzughose mit dem weißen Hemd und der goldenen Krawatte so, als würde ich zu einer Sitzung alter Leute gehen, die vorhatten ihr Lebensende bei einer Partie Bingo zu verbringen.
„Hast dich mal wieder für etwas Klassisches entschieden, was?“, fragte sie mich und spielte dabei an ihren braunen Haaren, während sie mich verlegen anlächelte. Ihre braunen Augen betrachteten meine Kleidung ganz sorgsam. So, als wolle sie sich jedes einzelne Detail ganz genau einprägen.
„Ich habe genau dasselbe an wie letztes Mal, als wir ausgegangen sind. Solltest du mittlerweile nicht schon wissen, wie jeder einzelne Knopf aussieht?“, fragte ich scherzend und drehte mich um, um mein Sakko vom Sofa zu holen. Ich spürte ihren Blick auf mir, als ich meine Hand nach dem maßgeschneiderten, schwarzen Stoff ausstreckte.
„Das hat doch wohl eher etwas damit zu tun, wie gerne ich dich ansehe, findest du nicht?“, fragte sie mich und ich spürte die Wärme in ihrer Stimme. Als ich meinen Sakko anhatte, betrachtete ich unsere Stadt noch einmal durch mein Fenster hindurch, bis ich mich auf mein eigenes Spiegelbild konzentrierte und dadurch erkannte, wie sie auf mich zu schlich, um mich zu umarmen.
„Du kriegst es wohl immer noch nicht hin die Krawatte richtig anzuziehen, oder?“, fragte sie mich und ich konnte mir das Grinsen nicht verkneifen. Wie sie alles wusste, bevor ich es ihr sagen konnte. Aber sie hatte ja Recht damit. Vielleicht war ich nicht für die Klassik gemacht. Zwar stand sie mir, aber ich war nicht in der Lage sie richtig zu tragen. Oder vielleicht wollte ich auch einen neuen Trend setzen. Wer weiß?
„Lass mich dir helfen“; bat sie mir an und ich drehte mich zu ihr um, damit sie mal wieder meine Krawatte binden konnte. Bisher hatte sie das bei jedem unserer Treffen getan. Und ich fühlte mich auch gar nicht schlecht deswegen. Obwohl ich es hätte tun müssen. Aber sie schien es auch gar nicht zu stören, weswegen ich sie jedes Mal machen ließ.
„Und? Wohin entführst du mich heute?“, fragte sie mich und zog die Krawatte sanft zu, was bedeutete, dass sie es erneut geschafft hatte. Ich lächelte und nahm ihre Hand, um sie zu meiner Wohnungstür zu führen.
„Tja, weißt du…es gibt da so ein Restaurant, das ich schon lange im Visier habe. Und ich dachte mir, dass wir uns das vielleicht mal ansehen sollte. Da soll es wirklich gute Pommes geben“, sagte ich und hielt ihr die Tür offen, damit sie hindurch gegen konnte.
„Wir haben uns also so schick angezogen, um Pommes essen zu gehen?“, fragte sie mich und lachte, als wir die Treppen nach unten gingen. Ich schüttelte den Kopf, was sie allerdings nicht sah, da sie vor mir lief, und antwortete: „Nein, natürlich nicht. Aber ich denke, dass es dir dort sehr gut gefallen wird.“
„Du willst mich doch nur wieder einmal hinhalten, bis wir da sind. Aber dieses Mal habe ich vorgesorgt. Ich habe jedes einzelne Restaurant in der Stadt rausgesucht. Und wenn wir in ein teures gehen, dann sind es genau sieben Stück“, sagte sie. Ich bewunderte sie für die Mühe, die sie sich machte. Musste allerdings trotzdem grinsen.
„Dieses Restaurant kennst du sicherlich noch nicht“, gab ich zurück und hielt ihr in der Eingangshalle ebenfalls die Tür auf. Eine ältere Dame nickte mir zu und ich lächelte. Diese Zustimmung ließ mich eben doch grinsen.
„Ach, gehen wir also wirklich zu einer Pommes Bude, um etwas zu essen?“, fragte sie mich und lachte, als sie die Beifahrertür meines Autos öffnete. Ich nahm dem Parkservice die Schlüssel ab und gab ihm ein paar Credits für seine Dienste, worüber er sich dankbar freute. Ich setzte mich hinters Steuer, ließ den Motor an und legte den Gang ein.
„Vertrau mir einfach. Okay?“, fragte ich sie und wartete auf ihr Okay, bevor ich losfuhr und mich zu dem Restaurant begab.
Als ich den Motor abstellte und die Scheinwerfer erloschen, steig ich aus dem Auto aus und half ihr dabei auszusteigen. Sie wunderte sich über unseren momentanen Aufenthaltsort und ich konnte es ihr nicht verübeln. Schließlich befanden wir uns auf einem kleinen Wald weg. Dieser würde uns zu dem Restaurant führen, aber sie war vollkommen verwirrt. Erklären wollte ich es ihr aber noch nicht.
„Riley, du hast dich sicherlich verfahren, oder?“, fragte sie mich und ich schüttelte den Kopf, während ich sie an ihrer Hand auf dem Weg durch den Wald führte.
„Nein, habe ich nicht. Das Restaurant liegt nur etwas außerhalb der Stadt“, sagte ich und lächelte, was sie aber nicht sehen konnte. Der Wald um uns herum verringerte sich immer mehr und letztendlich standen wir auf einer Klippe, die einen Ausblick auf die Stadt zeigte, welche in der Nacht leuchtete und einen wundervollen Hintergrund für das Restaurant darstellte. Das Restaurant war ein gedeckter Tisch und zwei Stühle, die auf dieser Klippe standen. Sie ging voran, als sie erblickte, wohin ich sie geführt hatte. Ihr Rock wehte leicht im Wind dieser warmen Sommernacht und am liebsten hätte ich diesen Moment mit einer Kamera eingefangen. Es sah alles so malerisch aus. Als würde jedes einzelne, kleine Detail stimmen.
„Ich habe dir gesagt, dass du dieses Restaurant noch nicht kennst. Ich habe es erst heute eröffnet“, sagte ich. Ihre Freude drängte die Verwirrtheit in den Hintergrund und lächelte, als sie zu mir rüber kam, zu mir hoch sah und mir in die Arme fiel.
„Wieso gibst du dir so viel Mühe für jemanden wie mich?“, fragte sie mich und vergrub ihr Gesicht in meinem Hemd. Ich sah rüber zu der Skyline. Sie machte diesen Ort hier noch so viel schöner, als er ohnehin schon war. Ich war früher immer mit meinem Vater hierhergekommen, um mir die Stadt anzusehen. Damals konnte ich mit ihm sehen, wie sie wuchs und wuchs. Die Bauphasen wurden irgendwann beendet, aber es fühlte sich für mich so an, als hätte ich einem Kind beim Aufwachsen zugesehen. Und als ich dann alleine hier stand, weil ich zu einem Mann geworden war, teilte ich mit dieser Stadt eine Sache. Wir beide waren nun ausgewachsen. Und wir beide haben miterlebt, wie der andere gewachsen war. Aus diesem Grund habe ich mir diesen Ort für diese Nacht ausgesucht. Weil ich mit ihm eine Geschichte teilte. Und diese Geschichte war mein Leben. Und an diesem Ort hier, wo das Restaurant stand, wo ich mit meinem Vater jeden Abend gesessen hatte…
„Weil ich denke, dass meine Verlobte das verdient.“
…an diesem Ort, würde sie ein Teil meines Lebens werden.
Ich spürte, wie sie ihre Augen ungläubig aufriss und ich ihr die Sprache verschlagen hatte. Während sie versuchte ihre Gedanken zu ordnen, ließ ich sie los und kniete vor ihr nieder, wobei ich etwas aus meiner Sakkotasche zog. Als ich das kleine, mit weichem Stoff bekleidete, Kästchen öffnete, offenbarte es einen kleinen Ring, der im Licht der Stadt glitzerte. Sie presste sich ihre Hände vors Gesicht und nickte ganz energisch, was mich dazu brachte zu lächeln und sie erneut in die Arme zu nehmen. Ich hatte es geschafft. Sie war nun meine Verlobte!
Ich füllte zwei Gläser mit Rotwein und trat vor sie, wobei ich ihr eines der beiden Gläser reichte. Sie spielte immer noch mit ihren Haaren. An der Hand, mit der sie das tat, befand sich nun mein Ring. Ich atmete tief durch und blickte ihr tief in die Augen.
„Auf uns“, sagte ich und hob mein Glas ein wenig in die Höhe.
„Auf uns“, antwortete sie und unsere Gläser klirrten, als wir anstießen.
Doch das Klirren hörte sich ganz anders an. Es klang nicht so wie ein Anstoß, sondern eher so wie ein zerspringendes Glas. Mein Blick war schon seit Stunden auf die Stelle an der Wand fixiert, an die das Glas geflogen war, als sie es mir aus der Hand geschlagen hatte. Die Scherben hatte ich nicht weggeräumt, sondern dem Alkohol dabei zugesehen, wie er an meiner Wand hinunter geflossen war. Das Sonnenlicht fiel durch die halb geschlossenen Jalousien in meine kleine Wohnung hinein und tauchte sie in eine goldene Farbe. Ich saß zurückgelehnt in meinem Sessel und hatte mich seit gestern Nacht nicht mehr bewegt. Doch ich wusste, dass ich bereits spät dran war und zwang mich deshalb dazu aufzustehen und zu meinem Badezimmer zu gehen.
Im Badezimmer lag meine Wäsche auf dem Boden und der Wasserhahn tropfte. Ich stützte mich mit meinen Armen am Waschbecken ab, als ich in den Spiegel sah und mich selbst betrachtete. Meine Haare waren im Vergleich zu jener Nacht länger geworden und ich machte mir auch nicht mehr die Mühe sie zu richten oder eine Frisur zu machen. Stattdessen lagen sie einfach, wie sie wollten und ließen mich nicht mehr so wirken, als wäre ich der Typ, der sich Anzüge anziehen würde. Mein Bart war auch länger geworden, denn auch den hatte ich mir lange nicht rasiert. Doch was im Vergleich zu damals deutlich anders war, war die Tatsache, dass ich noch nicht einmal mehr in meine eigenen Augen sah. Diese Augen gehörten Sarif Industries. Ebenso wie meine Arme und die Hirnimplantate. Ich sah mich im Spiegel und wollte den Mann sehen, der damals Probleme mit seiner Krawatte hatte, als er sich fertig machte, um mit seiner Freundin auszugehen. Doch dieser Mann stand nun nicht mehr vor mir. Stattdessen sah ich jemanden, der noch nicht einmal mehr in der Lage war Menschen ins Gesicht zu sehen, obwohl er damals gar nicht genug von den Augen seiner Freundin haben konnte. Der sich keine Mühe mehr machte ihr hinterher zu laufen, obwohl er ihr damals durch die gesamte Stadt nachgelaufen wäre. Jemand, der lieber dem Whiskey an seiner Wand dabei zusah, wie er langsam hinablief, als sich mit seiner Freundin wieder zu vertragen. Ich kannte diesen Mann vor mir nicht mehr. Denn ich war das sicherlich nicht mehr. Das war nicht Riley Frost.
Ein Anruf riss mich aus meinen Gedanken und ich sagte der KI, dass sie auf Lautsprecher stellen sollte. Es war Miller, der mich sagte, dass ich bereits spät dran war. Ich sagte ihm, dass ich mich sofort auf den Weg machen würde. Das kurze Gespräch endete und ich zog mir meine Jacke über. Bevor ich ging, warf ich noch einen Blick auf das zerbrochene Glas am Boden. Damals hätte ich nicht gedacht, dass es so enden würde. Dass alles, was von ihr übrig bleiben würde, ein zerbrochenes Glas sein würde. Ich senkte meinen Blick und verschwand durch die Wohnungstür. Hinaus in die Stadt.
Als ich die Treppen meines Wohnblockes hinablief, erinnerte ich mich daran zurück, wie sie vor mir lief und versuchte zu erraten, wohin ich sie dieses Mal ausführen würde. Sie hatte das wirklich jedes einzelne Mal getan, an dem ich sie ausgeführt hatte. Immer wieder versuchte sie herauszufinden, wie ich das Date geplant hatte. Schon immer hatte sie das Verlangen entweder meine Pläne offenzulegen oder ein Teil davon zu werden. Doch ich ließ sie immer daran Teil haben. Nur war ein Teil des Plans der, dass sie nichts davon wissen sollte. So konnte ich sie jedes einzelne Mal überraschen. Und ich glaube, dass sie es mir niemals vorgeworfen hat nicht eingeweiht zu sein. Im Gegenteil, das Rätseln machte ihr Spaß. Für sie wurde ich dadurch noch geheimnisvoller und das schien sie neugierig zu machen.
Ihr Lächeln brannte sich in mein Gedächtnis ein, als ich ihr den Ring hinhielt und sie kaum glauben konnte, dass das wirklich passierte. Seitdem war das die mit Abstand schönste Erinnerung an sie, die ich noch hatte. Denn nur wenige Tage später ereignete sich der Angriff auf Sarif Industries. Und wie er ausging war jedem bekannt. Sie ist trotzdem bei mir geblieben. Und ich habe gespürt, wie sie meine Hand jeden Tag lang gehalten hat. Wie sie wollte, dass ich zu ihr zurückkomme. Letztendlich kam ich auch zurück, aber nicht als der Mann, der vor dem Angriff seiner Verlobten einen Antrag gemacht hatte. Ich kam zurück als augmentierter und psychisch veränderter Mann, der Menschen nicht mehr ins Gesicht sehen konnte. Ich wich ihr nur noch aus, wollte lieber bei der Arbeit sein, anstatt zu Hause bei ihr Zeit zu verbringen und mich auf die Hochzeit vorzubereiten. Aber tief in mir verspürte ich immer wieder das Verlangen, aus diesem Kreislauf auszubrechen und wieder zu ihr zurück zu finden. Es war fast so, als befände ich mich in einem dunklen Raum, ohne die Möglichkeit den Ausgang zu finden. Und jedes Mal, wenn ein kleines Licht aufleuchtete, verschwand es direkt wieder, weil ich nicht darauf zuging und so den Ausgang fand. Ich habe mich im Prinzip selbst daran gehindert zu ihr zurückzufinden, indem ich nicht die Initiative ergriffen habe und nur darauf gewartet habe, dass sich alles zum Guten wendet. Doch es wendete sich nie zum Guten. Der Hochzeitsantrag wurde von ihr aufgehoben und sie meinte, dass sie ein paar Wochen eine Auszeit bräuchte. Ich hätte sie in dieser Zeit anrufen sollen, hätte ihr sagen sollen, dass es mir leidtat. Doch stattdessen stürzte ich mich von einem Fall direkt in den nächsten und dachte nicht eine Sekunde an sie, obwohl das Verlangen zum Hörer zu greifen unermesslich hoch war. Doch trotzdem versuchte ich es auch da nicht, die Situation wieder grade zu biegen und ignorierte die Hilferufe in mir. Als sie mich dann irgendwann anrief, spürte ich, wie sie sich die Tränen zurückhalten musste, als sie mir sagte, dass sie mich nicht mehr lieben würde. Dass ich meine ganze Magie verloren hätte, die sie umgeben hatte, als sie bei mir war. Wie ich immer versucht habe, sie bei meinen Plänen dabei zu haben, ohne sie direkt zu involvieren. Denn ihr war aufgefallen, dass sie nun nicht einmal mehr ein Teil meiner Pläne war. Ich hätte genau in diesem Moment etwas sagen sollen. Hätte ihr gestehen sollen, dass ich nicht wusste, was passierte, aber dass ich es wieder in den Griff kriegen würde. Stattdessen legte ich mit einem simplen „okay“ auf und hörte seitdem nie wieder etwas von ihr. Ich verfluchte mich immer wieder für diesen Anruf. Weil ich nichts getan habe, obwohl die Situation dafür die beste gewesen wäre. An diesem Tag habe ich sie wohl endgültig verloren. Das gestern war kein Versuch von ihr mich wieder zurück zu bekommen .Mit mir hatte sie schon längst wieder abgeschlossen. Und ich akzeptierte das, obwohl ich es nicht wollte. Ich wollte nicht, dass sie ging. Dass sie mich verließ. Aber ich musste auch einsehen, dass ich so viele Chancen gehabt habe, um das alles wieder grade zu biegen. Und jede einzelne davon habe ich vergeigt. Ich war schuld daran, dass sie mich verlassen hatte. Trotzdem wollte ich sie zurück haben. Doch mein Körper tat etwas vollkommen anderes. Und bei jeder Gelegenheit hatte ich Sarif verflucht, dass er mich gerettet hatte. Hätte er mich doch lieber sterben lassen. Denn so wie ich jetzt drauf war, war ich noch nicht einmal mehr am Leben. Sie hätte um mich getrauert, keine Frage. Aber sie hätte mich wenigstens gut in Erinnerung behalten. Sie hätte die guten Erinnerungen nicht gegen diese schlechten von mir eingetauscht. Und ich hätte in Frieden ruhen können, während sie glücklich geworden wäre. Doch jetzt? Mit meinem Weiterleben hatte ich ihr Leben nur noch verschlimmert. Und das mag vielleicht hart klingen. Dass ich mir im Nachhinein meinen Tod wünsche. Aber ich hatte an jenem Abend alles erreicht, was ich erreichen wollte. Einen guten Job, die Liebe meines Lebens an meiner Seite, eine tolle Überraschung, die mir gelungen war. Sie war ein Teil meines Plans gewesen. Und am Ende…wusste sie das auch.
Praha Dovoz. Der wohl unauffälligste Laden in ganz Prag. Jeder geht jeden Tag mindestens zehn Mal an diesem Laden vorbei und merkt sich dessen Namen trotzdem nicht. Zwar hatte eine Untergrund-Nachrichtenschriftstellerei von ihrer Existenz erfahren, aber Jensen hatte sich zuverlässig darum gekümmert. Die saßen, so viel ich wusste, jetzt sowieso in Paris und veröffentlichten dort ihre Nachrichten. Ich atmete tief durch und betrat das Geschäft. Die Rezeptionistin nickte mir nur zu und ich ging in den Lagerraum des Geschäfts. Dort angekommen schloss ich die Tür hinter mir, um keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Das Gemälde vor mir schob ich ein wenig nach oben und enthüllte so einen Kartenleser. Ich kramte nach meiner ID-Card und legte sie auf die Scanoberfläche. Sofort begann der Boden sich nach unten zu bewegen. Es war immer wieder ein seltsames Gefühl, wenn der Boden anfing sich zu bewegen. Die Laserscans verifizierten mich und die Aufzugtüren zur TF29 Zentrale öffneten sich. Wie immer war eine ganze Menge los. Ein Mitarbeiter lief gerade vor meiner Nase an mir vorbei, als ich die Aufzugtüren hinter mir ließ und diese sich wieder schlossen.
„Frost, sie sind also doch noch gekommen“, hörte ich eine Stimme hinter mir und wusste schon genau, um wen es sich handelte, bevor ich mich zu ihr umdrehte. Tatsächlich war ich überrascht sie hier stehen zu sehen, wo sie doch im Außendienst tätig sein sollte. Viele Fragen drängten sich in meinen Kopf, aber keine von ihnen wollte ich ihr stellen. Ich hatte die Befürchtung, dass ich mich dann zu tief in ein Gespräch verwickeln würde.
„Ja, ich war heute Morgen nur etwas abgelenkt und habe die Zeit aus den Augen gelassen. Und was ist mit ihnen? Geht ihr Einsatz erst noch los oder wieso warten sie hier vor dem Schießstand?“, fragte ich höflich. Ich sah auch ihr nicht in die Augen, denn Augenkontakt würde bedeuten, dass ich Interesse an einem Gespräch hätte. Aber das hatte ich nicht. Ich wollte lediglich zu Miller und fragen, ob die Polizei gestern Nacht noch irgendetwas gefunden hatte, was auf den Harvester hindeuten könnte.
„Die lassen mich erneut nicht in den Außendienst. Ich glaube, dass es jetzt an der vermehrten feindlichen Einstellung gegenüber den Augmentierten liegt. Die behandeln uns da draußen, als wären wir vogelfrei. Ist das zu glauben?“, fragte sie mich entsetzt und verschränkte die Arme vor ihrer Brust. Ich zuckte nur mit den Schultern und drehte meinen Kopf in Richtung Millers Büro.
„Angesichts der Umstände ist es wohl doch besser für ihre Gesundheit, wenn sie hier bleiben und Waffen putzen. Ohne sie damit beleidigen zu wollen Aria. Aber die Welt da draußen geht immer mehr zugrunde und ich denke nicht, dass sie dabei sein sollten, wenn die Menschen schlussendlich auf die Augmentierten losgehen. Es ist schon schlimm genug wenn andere darunter leiden müssen, was passiert ist. Machen sie es für sich nicht noch schlimmer, als es ohnehin schon ist“, sagte ich und seufzte.
„Sie reden so, als wäre ihnen das Leben der anderen egal, solange ihr eigenes dabei nicht in Gefahr kommt. Das hört sich sehr nach Egoismus an Riley. Ich bin hierhergekommen, um die Menschen zu schützen. Wenn es sein muss auch voreinander. Und das werde ich auch tun. Auch wenn ich dabei mein Leben lassen muss. Dafür wurde ich schließlich ausgebildet“, entgegnete sie mir und ich hörte den Vorwurf ganz deutlich heraus.
„Und das unterscheidet uns. Wir sind eben nicht beide ausgebildet. Sie sind Agentin, ich bin ehemaliger Büromitarbeiter. Wir teilen nicht dieselbe Vergangenheit, welche unseren Weg hierher gepflastert hat. Aber wenn es ihnen so viel bedeutet, dann sollten sie nicht aufgeben Aria. Semper Fi.“
Sie seufzte tief durch, bevor sie mir antwortete: „Semper Fi.“
Ich nickte nur leicht und ging dann die Treppen hoch, um zu Millers Büro zu gelangen. Dieser saß in seinem Büro und telefonierte gerade, als ich anklopfte und er mich hinein ließ. Ich wartete geduldig, bis er auflegte. Während er noch damit beschäftigt war Befehle in den Hörer zu brüllen, sah ich mir das Whiteboard an, welches er in seinem Büro aufgestellt hatte. Ganz oben stand drauf: „Harvester der Dritte.“
„Wie haben sie geschlafen?“, fragte er mich, als er aufgelegt hatte und zu mir rüber kam. Ich betrachtete weiterhin das Whiteboard und ging die einzelnen Fakten durch, die bereits zusammengetragen wurden. Die Auswahl zum Ansehen war aber weit mehr als nur sperrig. Viel wurde scheinbar nicht gefunden. Die ganzen handfesten Beweise befanden sich in meinem Gehirn auf einer Datenbank. Und ansonsten war nur die Identität des zweiten Täters herausgefunden worden. Was sich bestimmt als nicht allzu leicht herausgestellt hatte, dass sein Gesicht auf dem Foto übel zugerichtet worden war. Die Kugel, die durch sein Auge durchgedrungen war, hatte massive Schäden hinterlassen. Ich schloss die Augen und wandte mich von dem Whiteboard ab.
„Ich hab nicht geschlafen. Die ganze Zeit musste ich über diesen Fall nachdenken. Irgendetwas stimmt ganz und gar nicht. Ich meine, wieso gab es keine Absprache zwischen den beiden Tätern? Wenn einer eine professionelle Herangehensweise im Kopf hatte, dann muss er doch mit dem anderen wenigstens einmal darüber gesprochen haben, oder nicht?“, fragte ich in den Raum hinein und versuchte angestrengt eine Lösung für dieses Problem zu finden. Aber so einfach würde sich das Rätsel ganz bestimmt nicht lösen lassen.
„Ich dachte sie kommen ausgeruht hierher und können mir eventuell genau diese Frage beantworten. Aber wie es aussieht stehen wir immer noch genau da, wo wir gestern auch standen. Und das gefällt mir nicht. Die Liste ist ein klarer Hinweis darauf, dass er noch weiter töten wird, wenn wir ihm nicht das Handwerk legen. Und in ihrem eigenen Interesse sollten sie sich dafür einsetzen, dass er niemals das Ende der Liste erreicht“, entgegnete er mir und ich musste bei diesem Satz an Aria denken.
„Es hört sich fast so an, als wollten sie mir Egoismus unterstellen Miller“, sagte ich. Ich wusste, dass er darauf nicht gut reagieren würde, doch wurde er, bevor er anfangen konnte, unterbrochen. Ein weiterer Mann betrat nämlich das Büro des Direktors.
„Sie wollten mich sprechen Miller?“, fragte er und schloss die Tür wieder hinter sich, bevor er auf unseren Chef zukam und ihm die Hand reichte.
„Ja. Schön, dass sie es noch rechtzeitig geschafft haben, Jensen“, antwortete Miller und Jensen drehte sich zu mir um, wobei ich wie immer meinen Blick auf etwas anderes fixierte, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen. Seine Brillengläser verdeckten zwar seine Augen, dennoch machte mich das Gefühl wahnsinnig von ihm beobachtet zu werden und nicht in der Lage zu sein dasselbe zu tun.
„Wie hast du geschlafen Riley? Alles okay?“, fragte er mich und stellte sich neben mich, als Miller sich die Zettel auf dem Board nochmal genauer ansah. Ich lehnte mich wie er an den Schreibtisch und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ich habe nicht geschlafen. Aber ansonsten ist alles gut. Und wie geht‘s dir?“, fragte ich zurück und wandte mich dann wieder desinteressiert ab. Ich hatte wirklich nichts gegen Adam. Im Prinzip waren wir beide nur Opfer einer niemals gewollten Augmentierung. Aber wir beide verdankten Sarif unser Leben. Ohne ihn wären wir damals gestorben. Und wofür haben wir weitergelebt? Im Prinzip haben wir beide unsere Freundin verloren. Er durch eine vorgetäuschte Tötung und einer dahinter getarnten Entführung. Und ich durch meine psychische Instabilität. Wirklich ein toller Tausch für das Weiterleben.
„Der Papierkram stapelt sich und die Welt da draußen wendet sich immer mehr von uns ab. Hast du gehört, dass Aria dafür kämpft wieder in den Außendienst zu kommen? Sie muss verrückt sein, wenn sie denkt, dass das der richtige Weg ist, um den Menschen zu helfen. Wenn sie da raus geht, dann werden Demonstranten oder aus dem Schatten heraus arbeitende Männer und Frauen ihr den Kopf einschlagen oder mit einer Kugel durchlöchern. Sie sollte hier drinnen bleiben, wenn ihr etwas an ihrem Leben liegt.“
Ich stand wieder auf und drehte mich zu Adam um. Er hatte wie immer seinen dunklen und langen Mantel an, der seinen Körper vor den Blicken der Bewohner dieser Stadt schützte. Aber trotzdem war er wie ich ein Ausgeschlossener dieser Gesellschaft. Ich erkannte an seinem Gesicht, dass er genau wie ich müde vom gestrigen Abend war. Was er wohl ermittelt hat, als ich dabei war meinen Namen auf einer Todesliste zu betrachten?
„Ich habe von deinem neuen Fall gehört. Der Harvester hat scheinbar erneut einen Nachahmungstäter. Und dieser scheint noch skrupelloser zu sein als sein Vorgänger. Wenn er schon seinen Partner wegen einem Fehler umbringt, dann muss er es verdammt ernst meinen“, sagte Adam und betrachtete aus der Ferne das Whiteboard.
„Er hasst es, wenn etwas nicht nach Plan verläuft. Das macht ihn wahnsinnig, da er das Erbe des Harvester so gut es geht schützen möchte. Und wenn er dafür seine Partner töten muss, dann muss es eben so sein“, sagte ich und sah, wie Miller sich vom Whiteboard entfernte. Ich schritt auf das Board zu und betrachtete die Liste, die wir gefunden hatten. Ich blickte sofort nach unten, wo mein Name stand. Das Blatt war getrocknet worden, da es im Regen vollkommen durchnässt wurde, aber es war alles noch deutlich zu erkennen. Ich schüttelte den Kopf und betrachtete erneut das Foto des Mittäters. Irgendetwas musste ich doch übersehen. Irgendetwas war hier doch sicherlich noch zu holen. Etwas, was ich beim ersten Mal übersehen hatte. Auch wenn es nur eine kleine Spur war, es würde wesentlich mehr bringen als nur hier rumzustehen und nichts tun zu können.
„Wir haben den Autopsie Bericht des Mittäters. Offenbar hat er eine Tätowierung am linken Unterarm, die sie uns rüber senden. Scheinbar ist sie erst vor wenigen Tagen gemacht worden“, sagte Miller und lief rüber zum Drucker, um das gesendete Bild zu empfangen. Ich blieb am Board stehen und betrachtete die Liste der weiteren Opfer.
„Was zum Teufel soll das denn sein?“, fragte sich Miller und kam zum Board rüber, um den Beweis an dem Board zu befestigen. Als ich einen Blick drauf werfen konnte, verschlug es mir die Sprache. Auf dem Rücken des Täters war eine Runde Poker tätowiert. Insgesamt drei Spieler, deren Hände zu sehen waren. In ihren Händen hielten sie aber unterschiedlich viele Karten. Und in der Mitte lagen mehrere Stapel mit unterschiedlich farbenen Chips.
„Was zur Hölle soll das denn für ein Beweis sein?“, fragte sich Miller und kratzte sich am Kopf; weil er angestrengt versuchte zu entziffern, was das zu bedeuten hatte. Die Hände zeigten die Karten: „A,2,9,10, sowie A,2,6 und A,4,5,9,10.“ Aber ich verstand nicht, was das zu bedeuten hatte. Klar, es war mehr als nichts, aber es brachte mich auch nicht wirklich weiter.
„Ich muss zu einem Meeting und der Presse ein paar Fragen beantworten. Und wenn ich zurückkomme, dann will ich Resultate haben, ist das klar?“, sagte Miller und verließ das Büro, wobei er uns beide alleine zurückließ. Adam bewegte sich auch in Richtung Tür und verabschiedete sich noch von mir, bevor er die Tür hinter sich schloss. Ich blieb noch eine Weile in dem Büro zurück und betrachtete das Tattoo. Ich würde einfach nicht daraus schlau. Sicherlich musste es etwas mit dem Mord zu tun haben, denn sonst würde es schon wesentlich länger an seinem Körper kleben und mir einen organischen Beweis für das liefern, was ich herausfinden sollte. Ich entschied mich dazu das Whiteboard erstmal stehen zu lassen und es später wieder aufzusuchen, um mich weiter mit dem Fall zu befassen. Während die anderen Mitarbeiter immer noch energisch und voller Energie durch die Eingangshalle liefen, lehnte ich mich an das Geländer des ersten Stocks und betrachtete sie dabei. Nach einiger Zeit gesellte sich ein weiterer Mann zu mir, der sich ebenfalls an das Geländer lehnte.
„Muss wohl ziemlich viel los sein, wenn die da unten so herumlaufen. Ihr neuer Fall scheint die Bevölkerung doch ziemlich in Angst zu versetzen. Aber gleichzeitig sehen viele Menschen es auch als eine Art Möglichkeit an, um die Demonstration wieder auf die Straßen zu bringen. Ihr Freund, der sogenannte Harvester, erregt echt viel Aufmerksamkeit. Und das noch nicht einmal nach 24 Stunden. Wie läuft denn die Suche nach ihm Frost?“, fragte er mich und ich konnte sein hämisches Grinsen spüren.
„Wie sie bereits sagten, MacReady, es sind noch nicht einmal 24 Stunden vergangen. Also liegt es wohl ziemlich nahe, dass wir ihn noch nicht haben. Aber wenn sie Vorschläge haben, dann immer her damit. Ich kann sie momentan echt gut gebrauchen. Und sie stellen sich doch so oft als der beste Agent der TF29 dar, dass es für sie gar kein Problem sein sollte, diesen Fall innerhalb von 24 Stunden zu lösen“, sagte ich und ignorierte ihn, wobei mir aber sein leises Lachen nicht entging.
„Sie sind genau wie Jensen. Ihr Optis seid scheinbar der Meinung, dass ihr die besseren Agenten seid. Aber ihr irrt euch gewaltig. Nur weil ihr technisch verbessert seid, heißt das nicht, dass ihr euch als bessere und effizientere Agenten betiteln könnt. Ihr seid nichts weiter als künstlich am Leben erhaltene Menschen, die da draußen mittlerweile auseinandergenommen werden. Aber hey, wenn ihr wollt, könnt ihr uns bei unserem Problem helfen, wenn ich euch bei eurem Fall behilflich sein soll. Wir versuchen gerade die Daten einer Terrororganisation in Katar zu entschlüsseln, aber die Verschlüsselung ist wirklich genial. Unsere Techniker werden wohl noch bis morgen daran sitzen. Aber mit ihren Chips werden die das sicherlich noch vor Feierabend heute Nacht fertig bekommen.“
Plötzlich machte es in meinem Kopf Klick. Ich wusste, was ich mit dem Tattoo anzufangen hatte. Ohne MacReady noch irgendetwas zu sagen, ging ich zurück in Millers Büro und nahm mir das Tattoo und die Liste der Opfer, um mich an seinen Schreibtisch zu setzen. Ich betrachtete die Hände der Pokernden genau und versuchte zu erkennen, was sie zu bedeuten hatten. Bis es mir auffiel. Es war eigentlich gar nicht mal so schwer das zu erkennen.
Insgesamt befinden sich drei Mitspieler am Tisch, die unterschiedlich viele Karten in den Händen halten. Also keine realistische Darstellung einer Pokerrunde. Aber darum geht es auch nicht. Es geht um genau die Anzahl der Karten, die zu sehen sind. Und die Anzahl der Spieler deuten ebenfalls auf etwas hin. Drei Spieler sind auf der Liste drei Namen. Die ersten drei Namen, da dieser Beweis als erster aufgetaucht ist. Die ersten drei Namen auf der Liste des Harvester lauten Terence Wilson, Paula Johnson und Dennis Stamper. Die Karten, die in den Händen gehalten werden, haben alles unterschiedliche Nummern, aber jeder hat ein Ass in der Hand. Das bedeutet, dass das Ass für etwas Einheitliches stehen muss. In diesem Fall für eine Nummer, die es im Kartendeck nicht gibt, da sie jeweils vor der 2 oder der 4 steht. Und alles Hände sind sortiert. Von der niedrigsten bis zur höchsten Zahl. Also lauten die Kombinationen: „1,2,9,10, sowie 1,2,6 und 1,4,5,9,10. Und in Kombination mit den drei Namen stehen die Zahlen auf den Händen für die Buchstaben innerhalb dieser Namen.
Terence Walker: T, e, i ,l
Dennis Stamper: D, e, s
Paula Johnson: P, l, a, n, s
Teil des Plans
Als ich das auf einem Zettel notiert hatte, ließ ich ungläubig den Stift sinken und betrachtete das, was der Beweis mir sagen wollte. Scheinbar war der Mittäter Teil des Plans gewesen. Und sein Tod damit auch. Es war von Anfang an klar gewesen, dass er Teil dieses Plans sein sollte. Sein Tod war nicht auf einen Unfall zurückzuführen oder aufgrund falscher Kommunikation eingetreten. Dieser Mann sollte gestern sterben. Der Harvester wollte es so. Und der Mittäter war allem Anschein nach in dieses Vorhaben eingeweiht. Sonst hätte er sich nicht dieses Tattoo stechen lassen. Dieser Fall wurde von jetzt auf gleich wesentlich unheimlicher, denn es handelte sich hier wirklich um einen sehr gut durchdachten Plan. Ein Plan, in den jeder eingeweiht zu sein schien, der etwas damit zu tun hatte.
Ich schob den Zettel beiseite und betrachtete das Bild weiterhin. Die Chips lagen in vier unterschiedlich hohen Stapeln auf dem Tisch Ihre Farbe unterschied sich auch. Von grau, über rot und grün, bis hin zu blau war alles dabei. Wenn die drei Hände symbolisch für die drei ersten drei Opfer standen, dann mussten die Chips für das vierte Opfer stehen. Irgendwas wollten die Chips mir auch noch sagen. Die Stapel bestanden aus einem Chip, vier Chips, zehn Chips und einem weiteren Chip. Sie schienen ebenfalls jeweils für eine Zahl zu stehen. Aus den Chips würde sich dann die Zahlenkombination 1, 4, 10 und 1 ergeben. Aber das hatte wirklich gar keinen Sinn.
Ich seufzte und lehnte mich auf dem Stuhl zurück. Mit meinem Blick schweifte ich durch den Raum und versuchte hier nach Antworten zu suchen, die ich aber nicht finden würde. Meine Antworten lagen alle vor mir, aber ich konnte sie scheinbar nicht erkennen. Bis ich einen Blick auf den Kalender warf. Dieser zeigte mir das heutige Datum an. Der 14. Oktober 2030. Die drei ersten Stapel standen für das heutige Datum. Ich griff wieder nach meinem Stift und schrieb das Datum neben das vierte Opfer. Aber der letzte Chip fehlte noch. Dieser passte nicht zu dem Datum. Was wollte er mir dann sagen? Ich beugte mich über das Foto und erkannte, dass der Chip, auf dem eine 50 stehen sollte, um den Wert anzugeben, keine 50 trug. Stattdessen standen darauf die Zahlen 7, 8 und 9. Wenn die Zahlen wie davor bei den drei anderen Namen für Buchstaben standen, dann würde mir der Name des vierten Opfers weiterhelfen. Ihr Name war Ivana Snow.
Ivana Snow: n, o, w
Now. Das englische Wort für jetzt
Ich ließ den Stift fallen und sprang vom Stuhl auf. Während ich aus dem Büro lief, rief ich Miller auf seinem Handy an. Dieser ging nach ein paar Sekunden auch ran und ich hörte die angespannte Stimme durch das Telefon zu mir sagen: „Ich habe ihnen gesagt, dass ich in einem Meeting…“
„Ich kenne sein nächstes Ziel! Das nächste Ziel des Harvesters! Eine gewisse Ivana Snow. Und er wird sie jetzt gleich umbringen! Wir müssen zu ihr, sofort!“, rief ich und befahl einer Mitarbeiterin die Adresse von Ivana Snow herauszufinden und ein Einsatzteam dorthin zu schicken.
„Woher wissen sie das Riley?“, fragte Miller mich und ich konnte hören, wie er seine Sachen in seinen Aktenkoffer packte, um das Meeting vorzeitig zu verlassen.
„Das erkläre ich ihnen später! Wir treffen uns dort. Sie bekommen die Adresse zugesendet! Beeilen sie sich Miller!“, rief ich noch, bevor ich auflegte und die Aufzugtüren sich öffneten, um mich hinein zu lassen. Es war die ganze Zeit über ein Teil seines Plans gewesen. Er hat das alles so sorgfältig geplant. Dieser Harvester war wirklich professioneller, als ich geglaubt hatte. Ich hoffte, dass die Person noch leben würde, wenn wir dort ankommen würden. Als die Aufzugtüren sich schlossen, dachte ich an die Liste. Vier der Personen darauf hatte er in seinen Plan eingebaut, um seinen nächsten Schritt zu verkünden. Und mit diesen vier Personen standen noch weitere sechs auf der Liste. Mich eingeschlossen. Und wie es aussah, war niemand ohne Grund auf ihr drauf.
Wir alle waren ein Teil seines Plans…