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Salvation

von DerWeGaZ
Kurzbeschreibung
GeschichteDrama, Thriller / P16 / Gen
17.04.2017
01.11.2018
5
35.459
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17.04.2017 7.008
 
Der Regen prasselte gegen die Windschutzscheibe des Fahrzeuges, welches gerade auf dem Weg zu dem heute Abend gemeldeten Mordfall befand. Die Straßen waren leer, bis auf die hin und wieder zu sehenden Passanten, die ihre Kapuzen über ihr Gesicht gezogen hatten, um dem Regen zu entkommen, der seit Tagen unerbittlich hinabfiel. Das Blaulicht des Wagens warf sein Licht auf die naheliegenden Häuser und Gassen. Es war eben ein typischer Abend, an dem man aus seinem Bett wachgeklingelt wurde, um gesagt zu bekommen, dass ein weiterer Mord in dieser Stadt passiert war. Erkannten die Leute mittlerweile nicht, dass es sich hier um einen typischen Abend handelte? Jeden Tag wurden Menschen umgebracht und die Polizei kümmerte sich nur um eine Handvoll von diesen Morden, weil sie wegen der schieren Anzahl an Toten einfach nicht mehr hinterher kamen. Oder es vielleicht gar nicht wollten.
Prag, im Jahre 2030. Genauso grauenvoll und trostlos wie eh und je. Seit dem letzten Jahr hat sich hier rein gar nichts verändert, lediglich die Zahl der Bevölkerung ist dezimiert worden. Und mit dezimiert meine ich nicht durch Mord wie diesen. Ein Ort hat im Vergleich zum letzten Jahr deutlich mehr Einwohner bekommen, nicht weit außerhalb von Prag. Golem City. Die Stadt der Augmentierten. Eine Art Notlösung für jene, die seit dem Zwischenfall von vor drei Jahren keinerlei Bürgerrechte mehr genossen und sich selbst noch nicht einmal mehr Menschen nennen durften. Prag führt die Liste der Städte, die eine Deportierung ihrer augmentierten Einwohner legitimieren und verfolgen. Und wie sie ihr Vorhaben verfolgen. Und das auch noch mit Stolz. Familien werden auseinandergerissen, Menschen bewusstlos geprügelt, weil sie für einen Fehler gradestehen müssen, den sie selbst gar nicht verursacht hatten. Die Welt, in der wir lebten, war einfach nur krank. Da brauchte es keine Morde wie diese, um das zu beweisen.
Das Auto kam zum Stehen und zwei Männer stiegen aus. Sie wurden umgehend nass durch den Regen, der auf sie herabströmte. Einer der beiden hielt sich seine Aktentasche über den Kopf und lief schnell zur Tür, wo er seine Marke zeigte und hindurchgewunken wurde. Der andere Mann stand noch etwas im Regen, bevor auch er sich dazu entschied zur Tür zu gehen und von den Polizisten aufgehalten zu werden, bevor er hindurchgehen konnte.
„Sir, ihre Marke bitte“, sagte einer der Polizisten und betrachtete den Mann, bis ihm auffiel, dass dieser augmentiert war. Und wie verhielten sich Menschen, die einen Augmentierten sahen?
„Er gehört zu mir. Mein Profiler“, sagte der Mann, der vorangegangen war und wank dem Mann, der im Regen stand zu. Die Polizisten warteten noch einen kurzen Moment, bevor sie ihn hindurchließen. Man konnte ihnen ansehen, dass sie es gar nicht mochten mich durchzulassen, geschweige denn mit jemandem wie mir aushalten zu müssen. Ich konnte ihre hassenden Blicken in meinem Rücken spüren, während ich den langen und dunklen Flur entlang zu den Fahrstühlen ging. Inzwischen hatte ich mich bereits daran gewöhnt, dass sie das taten, aber mögen würde ich es sicherlich nie können. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie mich so ansahen, als sei ich derjenige gewesen, weswegen sie nachts um diese Uhrzeit aus ihren Betten geklingelt wurden und bei Regen zu einem weiteren Tatort fahren mussten. Doch als ich im Fahrstuhl stand und mich umdrehte, sah ich, dass sie ihren Blick wieder in Richtung der Dunkelheit vor der Tür gerichtet hatten und das bedrückende Gefühl erlöste mich. Zumindest für jetzt. Wer wusste schon, wann ich es wieder spüren würde?
Während der Aufzug nach oben fuhr, betrachtete ich mich selbst im Spiegel, der an meiner linken Seite hing. Ich hatte meine alte, olivgrüne Jacke angezogen, unter der ich ein weinrotes Hemd trug, welches ich mit einer schwarzen Weste kombiniert hatte. Meine braunfarbene Jeans sah schon so aus, als hätte ich sie eine lange Zeit nicht gewaschen. Im Grunde genommen stimmte das sogar, mit all meinen Kleidungen. Ich legte nicht sonderlich viel Wert darauf meine Sachen zu bügeln oder sauber aufzuhängen. Solange ich sie anziehen konnte und niemanden mit dem übel riechenden Geruch umbrachte, war es in Ordnung für mich. Meine braunen, wuscheligen Haare hingen mir leicht ins Gesicht, wie ein langsam fallender Vorhang, der meine Augen verdecken wollte. Womöglich, um sie der Welt nicht zu zeigen. Oder mir nicht die Welt zu zeigen, in der ich leben musste. Auch sah ich meine blauen Augen, die wie meine Arme augmentiert waren. Sie leuchteten in einem eisblauen Farbton und fokussierten immer wieder, um meine Sicht immer möglichst klar zu halten. Auf meiner Nase saß eine Brille, die ich wegen der Augen gar nicht bräuchte, aber es fiel mir schwer sich von ihr zu trennen, weswegen ich sie zu meinem Optiker geschickt habe, um die Gläser gegen welche auszutauschen, die keine Sehstärke hatten. So konnte ich für einen kurzen Moment den Schein wahren, dass ich an meinen Augen doch etwas Menschliches hatte. Doch da war nichts menschliches mehr an ihnen. Nur das Wesen, das durch sie hindurch sah. Und selbst das stellte ich hin und wieder infrage. War ich wirklich noch ein Mensch oder bereits eine Maschine? Oder ein Hybrid aus beidem?
Meine Arme waren durch die Jacke nicht zu sehen, aber auch sie waren Körperteile von mir, die meine echten Arme ersetzt hatten. Jetzt konnte man nur die Hände sehen, die fast schon leblos hinunterhingen. Die mitunter beste Technologie, die man sich für jemanden wie mich leisten konnte. Aber sie war unauffällig, was wohl das Einzige war, was mir besonders an ihnen gefiel. Anders als bei anderen Bewohnern von Prag, deren Augmentierungen schon aus mehreren Kilometern zu erkennen waren. Die nicht einmal aussahen, als hätte man sich dabei Mühe gegeben. Lediglich die Technologie in ein Gehäuse gepackt und es als Prothese verkauft. Aber nicht jeder Bürger hier hatte die finanziellen Möglichkeiten, um sich solche Reparaturen zu leisten. Von einer Krankenkasse, die das bezahlt, ganz zu schweigen. Augmentierte hatten hier nicht einmal das Recht jedes Stadtviertel zu besuchen, wieso sollten sie dann das Recht auf eine Finanzierung ihrer benötigten Prothesen bekommen? So langsam glaubte ich, dass es für die Regierung Prags wohl besser oder einfacher wäre, Menschen wie mich einfach auszulöschen, sobald die Genesung auf eine Augmentierung gestützt wurde.
Als das Klingen des Fahrstuhls ankündigte, dass wir im richten Stockwerk angekommen waren, öffneten sich die Türen und gemeinsam verließen wir die hell beleuchteten Wände des kleinen Raumes, um in einen weiteren Flur aus Dunkelheit zu gelangen, der am Ende durch eine offen stehende Tür minimal erhellt wurde. Das Licht am Ende eines dunklen Ganges. Was für eine unpassende Metapher, wenn man bedachte, dass dieser Flur uns zu einem Tatort führte. Vor der Tür standen erneut zwei Polizisten, die aber damit beschäftigt waren eine Zeugenaussage einer Nachbarin aufzunehmen oder mit einer Kamera Fotos zu machen. Außerdem wiesen mich mehrere Absperrbänder darauf hin, dass ich, wenn ich durch diese Tür ging, einen Tatort betreten würde.
„…war ein dumpfes Aufschlagen, als wäre irgendjemand hingefallen. Wenig später hat es sich wiederholt. Danach war es still in seiner Wohnung“, hörte ich die Nachbarin sagen, als ich an ihr vorbeiging. Der Polizist schrieb die Aussage fleißig mit und nickte hin und wieder, las ihr einzelne Passagen ihrer Aussage erneut vor, um ihre Richtigkeit zu bestätigen und stellte selbst gelegentlich ein paar Fragen, um die Sachlage besser verstehen zu können. Als der Mann vor mir seine Marke dem fotografierenden Polizisten zeigte, nickte dieser nur und ließ uns hindurch. Ich ging nach ihm durch die Tür und betrat eine sehr modern und teuer aussehende Wohnung, die zudem noch sauber gehalten wurde. Im Prinzip das komplette Gegenteil von dem, was ich mein Zuhause nennen konnte. Der Wohnungsflur war weiträumig, doch das, was uns interessierte, befand sich im angrenzenden Wohnzimmer. Als ich einen Blick in das Zimmer riskierte, sah ich einen dünnen Polizisten, der irgendetwas auf einem Notizblock niederzuschreiben schien. Als er hörte, dass wir den Raum betraten, drehte er sich zu uns um und ich konnte in sein Gesicht sehen. Er wirkte nervös, hatte einen drei Tage Bart und seine Haare zur Seite gekämmt. Seine Hände waren geschützt von Gummihandschuhen und in seinen Händen hielt er wirklich einen Notizblock. Angestrengt versucht er zu lächeln und begrüßte uns beide, doch ich erwiderte diese nett gemeinte Geste nicht. Es lag nicht an ihm, sondern daran, dass ich sowas so gut wie nie tat. Auch lag es nicht daran, dass er eine Marke trug, denn dann hätte ich bei ihm eine Ausnahme gemacht, weil er sich Mühe gab mich nicht zu hassen für das, was ich war.
„Sie müssen dann von der Task Force 29 sein, richtig?“, fragte er uns, nachdem die peinliche Stille schon fast unerträglich wurde. Der Mann hinter mir trat einen Schritt vor und nickte. Seine kurzen, leicht blonden Haare hatte es diesmal nicht gekämmt, bevor er sich auf den Weg gemacht hatte mich abzuholen. Doch hatte er es nicht versäumt sich seinen schwarzen Anzug anzuziehen, mit dem man ihn nur rumlaufen sah, egal, wo man ihn antraf.
„Ja, mein Name ist Jim Miller. Und das hier ist…“
Er drehte seinen Kopf zu mir und erwartete, dass ich dem Polizisten vor mir eine Antwort gab. Dieser drehte seinen Kopf ebenfalls zu mir und ich spürte wieder diese peinliche Stille, die anfing auf meinen Ohren zu drücken. Ich mied jeden Augenkontakt mit ihm und sah zur Seite, als ich ihm antwortete.
„Riley Frost“, sagte ich und hoffte, dass ich dem Polizisten keine Fragen beantworten müsste. Zum Glück nickte er nur und wandte sich wieder an meinen Vorgesetzten, um ihm zu erklären, dass das Opfer von ihnen bereits untersucht worden war und er jetzt für uns zur Verfügung stand. Als der dürre Mann vor mir sich von seiner Position bewegte, konnte ich das Opfer sehen, welches er mit seinem Körper bislang verdeckt hatte, obwohl das bei dieser Anmutung von Mensch kaum möglich gewesen wäre. Ich sah auf einen im Bademantel gekleideten Mann, der in einer Lache seines eigenen Blutes lag. Neben seiner rechten Hand, welche er von seinem Körper gestreckt hatte, lagen kleine Scherben in einer goldenen Flüssigkeit. Womöglich ein kleiner Drink nach einem anstrengenden Arbeitstag. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich mir nicht auch einen genehmigen würde. Oder zwei.
„Danke, ab hier übernehmen wir Officer. Sie können nach Hause gehen. Wenn wir Fragen haben sollten, dann kontaktieren wir sie“, sagte Miller neben mir und schüttelte dem Polizisten die Hand, der an uns vorbeiging und die Wohnung kurz darauf verließ. Ich machte einen Schritt nach vorne und betrachtete die Leiche aus der Nähe. Was ich sehen konnte, war ein Durchschuss durch seine Stirn. Seine Schädeldecke am Hinterkopf war zerstört worden, als das Projektil wieder aus dem Kopf austrat, weswegen das Hirn herausquoll. Doch das war nicht der Grund für die riesige Menge an Blut, in der er lag. Sein linker Arm fehlte. Wie es aussah, war er ihm mit Gewalt herausgerissen worden. Was mir aber auffiel, war die Tatsache, dass dies ein augmentierter Arm gewesen sein muss. Denn da, wo der Arm sein sollte, befanden sich nun kaputte Metallverbindungen und lose Kabel.
Es war kein Zufall, dass ich heute Abend hier war, um diesen Mord zu untersuchen. Und das lag nicht daran, dass der Mann, der vor mir lag, ebenfalls ein Augmentierter zu sein schien. Das hatte einen ganz anderen Grund, wieso von allen Profilern ausgerechnet ich ausgesucht wurde. Denn das, was mich in dieser Stadt, oder in dieser Welt, zu einem Ziel oder einem Außenseiter machte, erwies sich für die Mordermittlung der Task Force 29 mehr als nur nützlich. Meine Augmentierungen ermöglichten mir nämlich etwas, was andere in meinem Beruf nicht konnten. Als ich nach einem Unfall, bei dem ich schwer verletzt wurde, repariert wurde, wurden mir ebenfalls Hirnimplantate eingesetzt. Wie ich später erfahren habe, handelt es sich dabei um eine experimentelle Augmentierung. Und diese ermöglicht es mir Morde, die bereits geschehen sind, zu rekonstruieren. Anhand der Beweise und den Details, die ich aus meiner Umgebung finde und aufnehme, kann ich eine 3D Animation erstellen, die mir vor meinen Augen zeigt, wie der Mord abgelaufen sein könnte. Das gilt natürlich nicht nur für Morde, aber in meinem Beruf bearbeite ich so gut wie nichts anderes. Was die Technologie nicht für Wunder wirken konnte, wenn sie nicht gerade ein Grund dafür war mehrere Millionen von Menschen in ein Ghetto zu verfrachten, um sie von denen zu trennen, die nur passiv etwas mit ihr zu tun hatten. Sie hassen der fürchten uns, brauchen uns aber, weil wir Dinge tun können, zu denen sie nicht in der Lage sind. Oder besser gesagt: Weil wir Dinge tun können, in den wir besser sind als sie, wobei das schon ziemlich arrogant klingt. Zumindest fühle ich mich noch nicht wie ein Werkzeug. Auch wenn ich mich manchmal wie eins eingesetzt sehe.
„Frost? Sind sie soweit?“, fragte mich Miller und riss mich aus meinen Gedanken. Ich atmete durch und drehte mich leicht in seine Richtung, vermied aber jeglichen Augenkontakt. Ich mochte es nicht wirklich gerne Menschen anzusehen. Es lenkte mich irgendwie ab, weil ich dazu neigte mich in den Augen meiner Gegenüber zu verlieren. Oder war es vielleicht nur die tief in mir sitzende Trauer wegen dem, was sie im Vergleich zu mir noch besaßen? Das letzte klang selbst für mich ziemlich melancholisch, aber verdrängen konnte ich diesen Gedanken deswegen nie. Er hatte sich festgebissen, also konnte er nicht einfach eine übertriebene Umschreibung dessen sein, was ich dabei empfand, wenn ich dem Menschen mir gegenüber in die Augen sehen musste. Als Antwort nickte ich ihm zu und ging wieder ein paar Schritte auf die Leiche zu, vor der ich mich dann hinkniete und sie mir aus der Nähe genauer ansah.
„Wie man unschwer erkennen kann, fehlt unserem Opfer der linke Arm. Sehr wahrscheinlich gewaltsam entfernt, ohne sich viel Mühe dabei zu geben. So schnell und stumpf, wie es eben ging. Aber wie es aussieht hat das Opfer all das gar nicht mehr mitbekommen. Die Kugel muss ihn getroffen haben, bevor sich der Täter an die Drecksarbeit gemacht hat. Ich kann nämlich auch keine Spuren einer möglichen Gegenwehr unseres Mannes erkennen.“
Während ich das alles meinem Vorgesetzten vortrug, speicherte mein System die Details in eine neue Datei ein, um sie dort dann alle gemeinsam auszuwerten und zu verbinden, wenn ich denke, dass ich genügend Material gesammelt und eine Reihenfolge festgelegt habe. Änderungen waren natürlich immer möglich, denn manchmal könnte es passieren, dass die Rekonstruktion unlogisch erschien oder Lücken hatte, die einen bestimmten Vorgang oder eine bestimmte Tatsache nicht erklären konnten. Ich wandte mich der rechten Hand des Opfers zu, die von ihm ausgestreckt in einer goldenen Flüssigkeit und einer Menge Scherben lag. Auch unter dieser Hand befand sich Blut, aber weitaus weniger als an der Stelle, an der ihm ein kompletter Arm fehlte. Ich griff in meine Jackentasche und holte einen Handschuh hervor, den ich mir schnell über die künstliche Hand stülpte. Zwar konnte ich keine Spuren hinterlassen, da diese Arme aus allem außer Haut und Fleisch bestanden, hielt aber trotzdem an den hygienischen Vorschriften fest. Vorsichtig hob ich die rechte Hand aus dem Blut und drehte sie leicht zu mir.
„Wie ich vermutet hatte. Möglicherweise hat der das Glas bereits in der Hand zerdrückt, als er von der Kugel getroffen wurde. Falls nicht, ist es auf dem Boden zu Bruch gegangen und ein paar der Scherben sind unter den Arm an die Pulsadern gekommen. Mehrere unsaubere Schnitte sind zu erkennen.“
Ich legte die Hand ruhig wieder zurück und drehte meinen Kopf nach hinten um, um das Blut zu erkennen, welches auf dem Boden lag, in kleiner Entfernung. Sicherlich das Blut, das durch den Schuss aus dem Kopf geschossen wurde, als die Kugel diesen durchbohrte. An der Schiebetür eines begehbaren Schrankes war ebenfalls Blut. Muss wohl eine ziemlich großkalibrige Waffe gewesen sein, die ihn getötet hat.
„Das Projektil wurde nicht aus nächster Nähe abgefeuert, es ist viel zu groß dafür. Eine Waffe mit dieser Größe kann man nicht aus nächster Nähe abfeuern, selbst wenn man es versuchen würde. Man würde es merken, wenn so ein Lauf hervorsticht, sobald man das Zimmer betritt“, sagte ich und stand wieder auf, wobei ich mich auch zu Miller umdrehte, meinen Blick aber durch das Zimmer schweifen ließ, um nach möglichen Verstecken zu suchen. Bis auf den Schrank konnte ich keins erkennen. Und das würde aufgrund des Blutes daran nicht funktionieren.
„Wenn die Waffe nicht hier drinnen abgefeuert wurde, dann muss sie…“
Weiter kam er nicht, denn ich ging bereits rüber zum Vorhang, welcher leiht im Wind wehte. Mit einem Ruck zog ich die Vorhänge zur Seite und präsentierte ihm das Balkonfenster, welches ein kleines Loch hatte mit mehreren feinen Rissen, die davon wegführten. Das war entweder verdammt gutes und bruchfestes Glas oder ein schnelles und sauber schießendes Projektil. Vielleicht wieder eine Mischung von beidem?
„Der Mörder war also nicht in der Wohnung, als er den Mord begangen hat. Bevor er unserem Opfer den Arm entfernt hat, hat er ihn durch dieses Fenster erschossen und ist dann hierher gekommen, um seine Arbeit zu beenden. Und wenn ich mich jetzt nicht täusche…“
Ich ging rüber zum Kleiderschrank und öffnete auch diesen. Und wie ich vermutete habe, befand sich in der Wand ein Einschussloch, aus welchem die Kugel leicht hervorstach. Ein weiteres Detail, das ich der Datei hinzufügte und eine Auswertung startete. Ich kombinierte die Kugel mit dem Einschussloch im Fenster, um so die Flugbahn vor meinen Augen zu berechnen.
„Wenn wir minimale Abweichungen der exakten Ballistik abziehen, was passieren könnte, wenn das Projektil nach dem Austritt aus dem Schädel die Flugbahn leicht geändert hat, dann muss die Waffe von dort abgefeuert worden sein“, sagte ich und zeigte auf einen alten Wasserturm, der sich auf einem der Hausdächer auf der anderen Straßenseite befand. Miller trat ans Fenster heran und betrachtete aus der Entfernung die Position, die ich ihm gezeigt hatte, während ich mich wieder vor die Leiche stellte und meine Augen schloss. Jetzt wurde die Rekonstruktion begonnen. Als ich die Augen wieder öffnete, lag auf ihnen ein blau schimmernder Film, als wäre ich blind. Ich konnte meine Umgebung jedoch noch klar wahrnehmen. Sie war jetzt nur durch ein paar Modelle erweitert worden.
„Das Opfer kommt nach einem anstrengenden Tag bei der Arbeit nach Hause und möchte mit einem Glas Whiskey abschalten. Bevor er es aber auf die andere Seite des Zimmers schafft, schießt unser Mörder von der anderen Straßenseite einen präzisen Schuss ab und durchbohrt ihm den Schädel. Noch bevor der Mann auf dem Boden aufschlägt, ist er bereits tot. Beim Aufprall auf dem Boden schneiden ihm die Splitter des Glases die Pulsadern auf und verursachen so eine starke Blutung. Die Kugel bleibt im Kleiderschrank stecken. Währenddessen macht sich der Mörder auf den Weg, um seine Tat zu vollenden. Seinen Weg hat er vielleicht über den Balkon oder durch die Eingangstür gefunden. Den Arm zu entfernen war ohne Gegenwehr kaum ein Problem, ebenso wenig das mögliche Geschrei. Nachdem er fertig war, floh er und hinterließ uns jede Menge Details, die er vielleicht hätte vermeiden können, um seine Spuren besser zu verwischen.“
Ich blinzelte und meine Augen wurden wieder normal. So normal, wie sie nun mal wurden. Mein Chef stand nun ebenfalls vor der Leiche und betrachtete diese. Ich wusste, dass das nicht der komplette Tathergang gewesen sein kann. Scheinbar war er derselben Meinung, denn sein Kopfschütteln sagte manchmal mehr als tausend Worte es könnten. Irgendetwas muss ich noch übersehen haben, was dem Bild für die Fertigstellung fehlt. Auch wenn es nur ein kleines Detail ist, es kann den Mordverlauf komplett verändern. Und in diesem Fall war es sogar eine ganze Menge, die sich veränderte. Und es war nicht nur ein einziges kleines Detail.
„Miller, erinnern sie sich an den Fall, den Jensen letztes Jahr bearbeitet hat? Einen Mordfall, der vor seiner Wohnung passiert ist, bei dem einem augmentierten die Augmentierungen ebenfalls entfernt wurden?“, fragte ich ihn und wieder zum Kleiderschrank rüber. Jim musste kurz überlegen, bevor er mir antworten konnte.
„Er hat diesen Fall nicht als Task Force 29 Agent ermittelt, aber er hat einen Bericht verfasst, den ich gelesen habe. Und jetzt, wo sie es sagen: diese beiden Morde scheinen eine gewisse Ähnlichkeit zu haben.“
Er war hörbar erstaunt über die Erkenntnis, die ich ihm soeben gegen hatte. Mir war es bereits als mögliche Antwort auf diesen Mord in den Sinn gekommen, als ich gesehen habe, dass dem Opfer ein Arm rausgerissen worden war. Durch diese Tatsache konnte ich mir vom Mörder ein besseres Bild machen, da ich wusste, was sein Motiv war und wie sein Synonym lautete.
„Der Harvester. Ein Mörder, der es primär auf Augmentierte abgesehen hat. Er versucht sie durch diese grausame Tat zu ‚erlösen‘, indem er ihnen das entfernt, was ihren Körper vergiftet: Die Augmentierungen. Der wahre Harvester ist schon seit langer Zeit tot, aber letztes Jahr konnte Jensen eine Nachahmungstäterin stellen, die zuerst eine Reporterin umgebracht hat und dann vorhatte ihn zu ermorden. Das konnte er jedoch verhindern und die Polizei übernahm die Inhaftierung der Mörderin. Und wie es aussieht, ist der Harvester immer noch ein berühmter Killer, den bestimmte Menschen als Inspiration ansehen und seine Taten kopieren. Aber hier passt etwas nicht. Ganz und gar nicht.“
Ich betrachtete das Blut an der Schranktür und analysierte dieses. Meine Vermutung bewahrheitete sich auch hier und ichwandte meinen Blick nicht ab, als Miller berichtete, was mein Gedanke war.
„Es waren zwei Täter an diesem Mord beteiligt. Das Blut an der Schranktür stimmt nicht mit dem des Opfers überein. Außerdem kann das Blut unmöglich so eine Strecke geflogen sein. Das ist selbst für einen solchen Schaden eine große Distanz. Eine zu große.“
„Moment mal. Sie wollen mir erzählen, dass zwei Mörder hier gewesen sind?“, fragte er mich und wandte sich mir zu. Ich drehte mich ebenfalls zu ihm um und wich wie immer seinem Blick aus. Mit einem Nicken bestätigte ich seine Aussage und machte wieder ein paar Schritte auf die Leiche zu.
„Als wir die Wohnung betreten haben, hörte ich, wie die Nachbarin von zwei dumpfen Aufprällen sprach. Das würde zu dem Blut des zweiten Täters passen. Sicherlich ist er wegen dem Rückstoß oder wegen der Schmerzen zu Boden gegangen. Aber er wurde nicht getötet, soviel ist sicher.“
„Aber wieso sollte einer der Täter den anderen anschießen? Aus welchem Grund sollte er das tun?“, fragte Miller nach und drängte mich so dazu den Gedanken weiter zu denken. Ich dachte über die vielen Details nach und versuchte sie irgendwie in die Richtige Reihenfolge zu bringen. Je mehr ich über diesen Fall nachdachte, desto komplexer wurde er. Und wir standen hier nur in einem Wohnzimmer. Wer weiß, wo wir noch landen würden, um den Mörder zu stellen? Meine Augen schlossen sich ein wenig, während ich weiter laut nachdachte.
„Der Harvester hat eine andere Vorgehensweise. Er möchte seine Opfer nicht töten, sondern sie erlösen. Die Augmentierungen müssen weg, aber die Menschen sollen weiterleben. Nur ohne das an oder in sie verbaute Gift. Beim letzten Fall vor einem Jahr wurde ein EMP Granaten Fragment am Tatort gefunden, mit dem das Opfer außer Gefecht gesetzt wurde, während die Teile herausgerissen wurden. Hier haben wir das Opfer mit einem glatten Durchschuss im Kopf und einen angeschossenen Mittäter. Wenn ich das also richtig kombiniere, dann gab es ein Missverständnis in der Ausführung des Plans und das Opfer wurde getötet, bevor die Erlösung begonnen hatte. Bei unserem neuen Harvester scheint es sich aber um einen Perfektionisten zu handeln. Er möchte auf gar keinen Fall das Werk seines Vorbildes zerstören oder es durch neue Pinselstriche ergänzen, sondern bei der klassischen Vorgehensweise bleiben. Der andere Mörder hatte da offenbar ganz andere Vorstellungen. Letztendlich können wir sehen, welcher von beiden sich letztendlich durchsetzen konnte. Und wie das für den anderen ausgegangen ist.“
Ich schloss erneut meine Augen und wartete ab, bis die neue Rekonstruktion geladen war. Meine Augen nahmen wieder den trüben Anblick an und ich betrachtete die neue Animation, die sich vor mir im Wohnzimmer abspielte. Alles blieb gleich bis zum Schuss. Ab da änderte sich der Verlauf und der Harvester trat aus dem Kleiderschrank hervor, wo er sich versteckt hat. Wie gesagt, es gab wirklich keinen anderen möglichen Platz, um sich hier zu verstecken. Als der Schütze das Zimmer betrat, kam es zu einer Auseinandersetzung. Da die Nachbarin nicht von einem Schuss, sondern nur von einem Aufprall berichtete hatte, muss der Harvester einen Schalldämpfer auf seiner Waffe montiert haben. Die Waffe war allem Anschein nach auf eine Pistole, denn ich konnte kein Projektil finden, was dies wiederlegen könnte. Nach erledigter Arbeit verließen beide das Apartment allem Anschein nach über den Balkon, denn mit einer blutenden Verletzung warne sie nicht durch den Flur gegangen. Ich hätte das Blut gesehen. Und der starke regen draußen hätte das Blut sofort verwischt. Ich blinzelte und war nun der Meinung, dass ich wusste, wie der Mord abgelaufen war.
„Das bedeutet, dass wir einen der beiden identifizieren können. Sein Blut klebt ja nach wie vor an dem Kleiderschrank“, sagte Miller, nachdem ich ihm gesagt hatte, wie ich den Mord analysiert hatte.
„Das können wir mit Sicherheit, die Frage ist aber, ob uns das etwas bringen wird“, antwortet ich ihm.
„Wie meinen sie das, Frost?“
„Der Harvester Nachahmer ist ein Perfektionist, das steht außer Frage. Wenn er so dicht den Tathergängen seines Vorbilds folgt, dann kann er sich keine Fehltritte erlauben. Ebenso kann es sich sein Partner auch nicht erlauben das zu zerstören, was der Harvester hinterlassen hat. Das war ein Fehlschlag für ihn. Es war unprofessionell“, sagte ich und sah ihm in die Augen. Zum ersten Mal heute Nacht sah ihm jemandem ins Gesicht. Die neuen Erkenntnisse haben ihn sicherlich überrumpelt. Außerdem sah ich in seinen Augen den Drang diesen Kerl zu schnappen. Die sah man ihm immer an, wenn es um eine solche Art von Fall ging. Er konnte es scheinbar nicht ertragen solche Kerle frei rumlaufen zu lassen. Genauso, wie er lose Ende hasste. Wenn es irgendwie eine Lücke gab, dann musste man das letzte Puzzleteil suchen und es einsetzen. Wie oft hat er wohl nicht schlafen können mit der Gewissheit, dass etwas fehlte?
„Die Sache scheint weitaus komplexer zu sein, als wir denken“, sagte er schließlich und schüttelte den Kopf. Bevor er etwas Weiteres sagen konnte, klingelte sein Handy und er kramte in seiner Sakkotasche danach. Ich wandte mich währenddessen von ihm ab und betrachtete die Leiche, die vor mir lag. Als ich sie mir so ansah, ohne mich auf einen Mordfall zu konzentrieren, fing ich an über ganz andere Fragen nachzudenken. Der Harvester machte nur Jagd auf Augmentierte. Und selbst Jensen war ein Ziel von einem seiner Nachahmer gewesen. Sicherlich würde es dem neuen Täter gar nicht gefallen, wenn ein augmentierter Profiler sich daran machte ihn zu stellen. Ich stellte mir vor, ich würde dort in der Blutlache liegen. Mit beiden Armen herausgerissen und einem zerbrochenen Schädel, um mein Hirn zu ‚reinigen‘. Die leeren Augenhöhlen waren das, was mir am meisten Gänsehaut bereitete und Angst einjagte. Ich schüttelte den Kopf leicht und meine Leiche war verschwunden. Stattdessen lag dort unten der Mann, dessen Tod ich hier versuchte aufzuklären.
„Ja, verstehe. Wir sind sofort da“, sagte Miller und legte auf. Ich drehte mich zu ihm um und fragte, wohin wir gehen würden. Er zeigte mir als Antwort mit dem Finger auf den Wasserturm auf der anderen Straßenseite.
„Sie haben unseren Schützen gefunden“, sagte er.

Als wir den Tatort verließen, war die Frau, die vorhin noch mit dem Polizisten gesprochen hatte, bereits verschwunden. Bestimmt war sie wieder in ihre Wohnung zurückgegangen und versuchte das zu verarbeiten, was in dieser Nacht passiert war. Wenn sich die beiden näher gestanden haben, oder sich auch nur flüchtig gekannt haben, dann würde es für sie sicherlich schwer werden heute Nacht einzuschlafen und Ruhe zu finden. Ich meine, nur wenige Meter von ihrem Bett entfernt wurde einem Mitbewohner der Arm herausgerissen, nachdem ihm in den Kopf geschossen wurde. Ich nahm an, dass sie die Leiche nicht gesehen hatte. Falls doch, würde das Einschlafen nur noch schwerer für sie werden. Die Polizisten gingen, nachdem wir die Wohnung verlassen hatten, in sie hinein und begannen mit den Aufräumarbeiten. Hinter ihnen waren bereits die Männer, die das alles so steril wie möglich verpacken sollten, damit wir später einen genaueren Blick darauf werfen konnten. Innerlich verfluchte ich mich selbst diesen Gedanken zu haben. Ein Opfer eines Mordes auf eine Sache zu reduzieren, aber zu meiner Verteidigung musste ich sagen, dass ich nicht mehr wirklich in der Lage war Gefühle nach außen hin zu zeigen. Wenn mich etwas traf, dann schwieg ich eher und brach nicht in Tränen aus. Das war zu meiner Art geworden die Dinge zu verarbeiten. Und sicherlich verstanden das viele nicht. Aber sie mussten es auch nicht verstehen. Ich allerdings hatte den Job die Menschen um mich herum zu verstehen. Als Profiler musste ich mich in die Mörder hineinversetzen können und so herausfinden, warum sie es taten, was sie tun würden und wie ich ihnen das Handwerk legen könnte.
Der Regen hatte nicht nachgelassen und so würde meine Brille von vielen wässrigen Kugeln dekoriert, die es mir etwas schwer machten zu sehen. Ich entschied mich aber nicht dazu die Brille abzunehmen. Wie gesagt, eigentlich bräuchte ich sie nicht, aber sie gehörte zu mir. Ich habe sie vor dem Unfall getragen und habe sie, nachdem ich diese Augen bekommen habe, erneuern lassen, damit die Gläser lediglich Gläser waren, aber keinen Stärke besaßen, um mich beim Sehen zu unterstützen. Irgendwo wollte ich noch einen Teil von mir bei mir behalten. Um mich nicht im Spiegel zu betrachten und durch mich selbst hindurch schlagen zu müssen, weil ich nicht wollte, dass ich das sah, was dort vor mir stand.
Die Polizisten hatten sich bereits in einer Gasse versammelt, die von mehreren Lichtern ausgeleuchtet wurde. Eine Leiter sollte unser Weg nach oben sein. Einer der Beamten wies uns sogar auf die Leiter zu, um uns zu verdeutlichen, was wir bereits wussten. Ich ging vor, da Miller noch ein Wort mit dem Polizisten wechseln wollte. Sicherlich versuchte er irgendwelche Informationen darüber zu bekommen, ob eine verdächtige Person gesichtet wurde, wie sie den Tatort verlassen hatte oder sowas in der Art. Und während ich auf dem Weg nach oben war bestätigte sich mein Verdacht. Oben auf dem Dach angekommen konnte ich nicht wirklich viel erkennen. Nur die Skyline unserer Stadt und die Palaside Blade leuchteten im Dunkeln der Nacht. Zwei Beamte standen in Reichweite meines Ziels und ich schritt auf sie zu. Ich konnte mir bereits ihre Blicke vor meinen Augen ausmalen, versuchte aber diese Gedanken zu verdrängen. Wieso machte ich mir schon jetzt Gedanken darüber, wenn es ohnehin sofort passieren würde? Und auch hier bestätigte sich meine Befürchtung und sie wichen ein paar Schritte zurück, als ich mich neben die Leiche stellte. Was man unschwer erkennen konnte, war, dass diese Person ebenfalls durch einen Kopfschuss getötet worden war. Doch konnte ich noch eine Wunde an seiner Schulter erkennen. Damit handelte es sich ohne jeden Zweifel um unseren Mittäter.
„Frost, haben sie schon etwas gefunden?“, fragte mich Miller, als er sich ebenfalls auf dem Dach befand und die Polizisten wegschickte, die über diesen Befehl mehr als erfreut waren. Ich kniete mich neben den reglosen Körper und betrachtete ihn. Er war in einer knienden Position an das Geländer befestigt worden. Mehrere Kabelbinder befanden sich an seinen Gliedern, um ihn zu fixieren und so den Anschein zu erwecken, als würde er gerade ein Ziel anvisieren. Ich musste gar nicht erst analysieren, auf welches Ziel er gerade zielte. Doch was mir auffiel, war, dass das Zielfernrohr eingeschossen war. Also muss der Harvester ihm durch das Zielfernrohr die Kugel verpasst haben.
„So wie ich das sehe, will er zeigen, was schief gegangen ist und gleichzeitig noch, wer dafür verantwortlich ist. Und zwar er hier, der Mittäter des Harvesters“, sagte ich und aktivierte daraufhin meine Augmentierung. Ich betrachtete seinen ganzen Körper, bis mir etwas in seiner Hand auffiel. Irgendetwas hielt er umklammert und es wurde mir so präsentiert, als sollte ich es unbedingt nehmen. Vorsichtig griff ich nach dem Objekt und hielt ein nasses Blatt Papier in der Hand. Ich versuchte meinen Kopf darüber zu halten, damit es nicht vollständig durchnässt wurde. Außerdem musste ich darauf achten es nicht zu zerreißen, was sich als eine sehr schwierige Aufgabe herausstellte. Bei diesem ganzen Regen war es ein Wunder, dass ich es letztendlich hinbekam. Als ich einen Blick auf die mit einem Computer geschrieben Wörter warf, war ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder sichtbar erstaunt. In meinen Händen hielt ich eine Liste. Unschwer zu erkennen von eins bis zehn durchnummeriert. Und hinter jeden einzelnen Ziffer ein Name. Scheinbar hatte er eine Liste seiner Opfer erstellt, die er „erlösen“ würde. Womöglich in dieser Reihenfolge, vielleicht aber auch vollkommen wirr und ohne jegliches erkennbares Muster. Ich reichte Miller das Papier, der es erst angestrengt betrachtete und dann genauso entsetzt war wie ich.
„Also hat er uns seine Opfer hinterlassen, die noch kommen werden? Wieso sollte er das tun?“, fragte er und sah mich dabei fragend an, wartend auf eine Antwort. Ohne ihn anzusehen antwortete ich ihm: „Haben sie sich die Liste komplett durchgelesen?“, fragte ich ihn. Als er einen weiteren Blick riskierte konnte ich seinen entsetzten Blick in meinem Rücken spüren.
„Am Ende der Liste steht mein Name…“

Ich sah das Auto im Regen verschwinden, als ich mich dazu bewegte mich zu meiner Wohnung zu begeben. Miller hatte mich nach Hause gefahren, als ich den Tatort noch ein wenig analysiert hatte und wir beide den Schock der aufgetauchten Liste ein wenig verarbeitet hatten. Trotzdem konnte ich nicht glauben, was ich da gefunden habe. Jetzt wusste ich ganz genau, wie sich die Mitbewohnerin des Opfers in der Wohnung nun fühlen musste. Sicherlich würde ich jetzt auch nicht ruhig schlafen können. Vielleicht sogar noch unruhiger als sie selbst, da sie kein Ziel auf der Liste war. Sie war nur jemand, der etwas gehört hatte, was jetzt ohnehin nichts nützte, da wir den Mittäter wenig später gefunden haben. Aber der Harvesters befand sich immer noch da draußen, getarnt im Schatten dieser Stadt, sicherlich jederzeit bereit erneut zuzuschlagen. Und dieser Gedanke würde mich die nächsten Tage und Wochen nicht schlafen lassen. Denn ich wusste nur zu gut, wie so etwas ausgehen konnte. Und wie es das in den meisten Fällen tat. Wenn ich nicht getötet werden würde, sondern den Täter davor fassen könnte, dann würden sicherlich Menschen vor mir sterben. Bestimmt war das seine Intention hinter dieser Liste. Er wollte mich dadurch vielleicht schwächen, um mich am Ende aufgeben zu sehen. Wenn ich mich am Ende seiner Mordserie in meinen eigenen Schuldgefühlen gefangen sehen würde. Dieser Plan seinerseits bereitete mir Gänsehaut. Es musste schließlich einen Grund haben, dass ich am Ende dieser Liste stand. Dass ich überhaupt auf dieser Liste stand. Er musste wissen, dass ich an diesem Fall arbeitete. Und zu wissen, dass er meine Identität bereits kannte, war unheimlich auf seine ganz spezielle Art und Weise.
Als ich meine Wohnung betrat begrüßte mich meine Haus KI und informierte mich über die eingegangenen Nachrichten, die verpassten Besuche und das Geschehen im Allgemeinen. Ich ging schnurstracks zu meinen Esstisch, wo sich meine Flasche Whiskey befand, die ich damals von meinem Vater bekommen hatte, als ich nach Prag gegangen war. Ich habe in jeder Nacht, in der ich entweder nicht schlafen konnte oder in der ich mit meinen eigenen Gedanken zu kämpfen hatte, einen Schluck von ihr genommen. Mittlerweile war die Flasche schon fast leer, denn um es einfach zu sagen: so eine Nacht hatte ich so gut wie immer. Als ich ein paar Schlücke in ein kleines Glas goss, hörte ich, wie sich jemand in meinem Schlafzimmer bewegte. Ich wusste aber, dass es sich dabei um keine Gefahr für mich handelte und nippte an meinem Glas, ohne der Quelle des Geräuschs weiterhin Aufmerksamkeit zu schenken.
„Oh, ich dachte du kommst erst morgen zurück“, hörte ich sie zu mir sagen, als sie im Türrahmen erschien und mich ansah. Ich sah aus dem Fenster, während ich spürte, wie der Regen von meiner Jacke tropfte. Das Glas in meiner Hand glitzerte im Licht meiner Lampen und der Laterne draußen vor der Wohnung. Sie und ich wohnten schon seit ein paar Monaten getrennt. Zuerst war es nur als eine Pause gedacht, aber schließlich lebten wir uns nach und nach auseinander und nun standen wir hier. Zwei Individuen, die mal in einer Beziehung waren, jetzt aber nicht mehr miteinander lebten und so gut wie keinen Kontakt mehr miteinander hatten. Und ich habe noch nicht mal darauf geachtet, weil ich so sehr in meiner Arbeit versunken gewesen war, dass ich vollkommen aus den Augen verloren habe, dass es neben Kriminellen und Mördern noch eine weitere Person in meinen Leben gab, die mir ihre Aufmerksamkeit aber anders entlockte. Nicht durch Blut und Waffen, sondern durch Liebe und Zuneigung.
„Eigentlich wäre ich den ganzen Tag hier gewesen, wenn ich nicht von Miller aufgeweckt und zu einem weiteren Tatort geschleift worden wäre“, sagte ich und nahm einen weiteren Zug von meinem Glas. Ich wusste, dass sie es nicht mochte, wenn ich trank, aber das hatte sie noch nie an mir gemocht. Und jetzt schien es mir nicht mehr notwendig es zu ändern.
„Scheinst wohl immer noch so sehr in deiner Arbeit zu stecken, was?“, fragte sie, aber ich konnte den vorwurfvollen Unterton in ihrer Aussage hören. Ich wusste nicht, wieso sie nochmal hierhergekommen war. Sicherlich nicht nur ´, um ihre Bücher abzuholen, die sie in einer kleinen Kiste in den Armen hielt. Aber ich wollte auch nicht nachfragen. Stattdessen fokussierte ich meinen Blick weiterhin auf das Fenster und die dahinter im Regen liegende Skyline.
„Du hast dich wirklich stark verändert Riley. Nach diesem Unfall warst du einfach nicht mehr derselbe“, sagte sie dann schließlich und kam auf mich zu, um mich zu ihr umzudrehen, damit ich sie endlich ansah. Ich verzog keine Miene. Wie gesagt, ich konnte Emotionen nicht wirklich nach außen hin zeigen. Und hier war das genauso. Auch wenn ich verstand, was sie meinte und was die damit aussagen wollte. Ich war nach einem Unfall augmentiert worden. Dieser Unfall ereignete sich 2027, als Sarif Industries angegriffen wurde. Richtig gehört. Ich war ebenfalls ein Angestellter des angesehensten Biotech-Unternehmens der Welt. Und als der Angriff die Firma beinahe in den Abgrund riss, wurde ich wie Adam augmentiert. Er wurde instand gesetzt, weil er dem Boss sehr nahe stand und weil er ihn in der Lage sah, die ganze Verschwörung gegen sich und seine Firma aufdecken zu können. Ich war dafür gedacht, Jensen dabei zu unterstützen. Die experimentelle Augmentierung in meinem Gehirn ist ein Teil dieses Plans. Genauso wie heute sollte ich damals die Angriffe untersuchen, um als Profiler meine Arbeit zu leisten. Leider dauerte meine Genesung viel zu lange und ich war erst einsatzbereit, als sich Adam bereits auf Panchaia befand. Da war es für mich auch schon zu spät bei etwas zu helfen, da Adam das Rätsel bereits gelöst hatte. Als er dann nach Prag ging, wurde ich mit ihm dort stationiert und arbeite nun bei der Task Force 29 als Profiler, um meinen Augmentierungen einen Sinn zu geben. Für mich fühlte es sich so an, als wäre ich ein lebender Feldtest und nur ein Versuchskaninchen. Doch war meine Rettung jemals für etwas anderes gedacht gewesen?
„Ich habe es mir nicht ausgesucht, wenn du dich daran erinnerst. Und ich musste auch vieles durchmachen, seit das alles passiert ist. Du bist schließlich nicht die einzige, die unter den Veränderungen leiden muss“, sagte ich schließlich und merkte zu spät, was ich da losgetreten habe.
„Ich bin bei dir geblieben. Sechs Monate saß ich jeden Tag neben dir und habe gehofft, dass du aus einem Koma aufwachst. Ich habe dir beider Erlernung deiner Grundfunktionen begleitet. Und ich bin mit dir nach Prag gekommen, nur um bei dir zu bleiben. Und währenddessen hast du dich immer mehr zurückgezogen. Ich wollte nur verstehen, wieso das alles passiert ist. Wieso du dich so sehr zurückgezogen hast. Aber du hast es mir nie gesagt. Stattdessen hast du dich in deiner Arbeit vergraben und nicht mal mehr mit mir geredet. Hast ständig den Blickkontakt vermieden. Und nur noch diesen dreckigen Alkohol getrunken!“
Mit diesen Worten schlug sie mir das Glas aus der Hand und es zersplitterte an der Wand, was mich an den Mord heute erinnerte. Obwohl ich jetzt nicht daran denken wollte, konnte ich es nicht verhindern. Sie hatte Recht. Ich habe mich nur auf meine Arbeit fokussiert. Und…
„Und als Dank für das alles gibst du mir rein gar nichts zurück. Und dann wunderst du dich, wieso es nicht mehr funktioniert? Ich habe mein Leben aufgegeben, um mit dir ein neues zu kreieren. Mit dir zusammen ein neues Bild auf die Leinwand zu malen Riley.“
Ich sah, wie ihr die Tränen aus den Augen kullerten und vermied den Blickkontakt. Was war nur los mit mir? Umarm sie doch du Idiot! Entschuldige dich für das, was du ihr angetan hast! Verdammt nochmal, sieh sie doch wenigstens an!
„Aber letztendlich war der Gedanken daran ein neues und besseres Leben zu haben sowas von kindisch von mir. Und so wie ich das sehe…war das der schlimmste Fehler meines Leben…“
Mit diesen Worten, und einem gesenkten Blick, verließ sie meine Wohnung und ich meinte ihr Weinen noch draußen hören zu können, während sie die Treppen hinab ging. Ich lief ihr aber nicht nach, ich sah ihr noch nicht einmal hinterher. Dieser Unfall hatte mich wirklich verändert. Und wie es aussah, oder wie es sich anfühlte, habe ich gerade den Menschen gehen lassen, der das alles mit mir durchgestanden hatte. Der In der Lage gewesen war mich zu verstehen und sich in mich hinein zu fühlen, als es kein anderer konnte. Sie hatte Recht mit dem, was sie gesagt hatte. Dass sie für mich dagewesen war, dass sie nur wegen mir nach Prag gekommen war, um mit mir ein neues Leben anzufangen. Und ich erinnerte mich daran, wie ich ihr versprochen habe diesen Wunsch zu erfüllen. Ihr zu beweisen, dass wir beide in der Lage waren ihren Traum zu verwirklichen. Gemeinsam. Egal, was sich uns in den Weg stellen würde. Und jetzt stand ich hier. Alleine. Ohne sie. Ohne ihr den Wunsch erfüllt zu haben, den sie sich so sehr gewünscht hatte.
Das war unprofessionell gewesen Riley. Sehr sogar…
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