Willkommener Neuanfang
von Monster144
Kurzbeschreibung
Als John Watson zum ersten Mal die Praxis betritt, weiß er nicht, wie wichtig ihm diese Sitzungen in Zukunft sein werden. Er weiß nur, dass es so nicht weiter geht, dass er endlich wieder leben will. Egal wie anstrengend oder mühsam, schmerzvoll oder zerstörerisch, er ist an einem Punkt von dem aus es nur noch zwei Möglichkeiten gibt. Die Waffe ein letztes Mal zu erheben oder endlich wirklich Hilfe anzunehmen. Er wählt die zweite Möglichkeit und fordert sämtliche Gefallen ein, um einen zeitnahen Termin bei dem renommierten und angesehenen Dr. Sherlock Holmes zu bekommen. (Alternative Universe)
GeschichteSchmerz/Trost, Liebesgeschichte / P12 / MaleSlash
Dr. John Watson
Sherlock Holmes
28.01.2017
20.03.2018
12
39.414
26
Alle Kapitel
45 Reviews
45 Reviews
Dieses Kapitel
3 Reviews
3 Reviews
31.08.2017
5.851
Schon als John die Tür zur Praxis aufdrückt, vernimmt er eine zornige Stimme, die, wie er bald darauf feststellt, zu einer älteren Dame gehört. Die unbekannte Dame steht auf einen Stock gestützt mitten im Eingangsbereich, zwischen Theke und Treppenaufgang, und zieht ein Gesicht, als würden schon sieben Monate, statt sieben Tagen, Regenwetter herrschen. Mit energischer, aber mittlerweile leiser, Stimme spricht sie gerade auf einen Mann – schätzungsweise um die dreißig Jahre alt – ein, als er sie einfach umstößt.
Geschockt setzt sich John in Bewegung. Er weiß nicht, worum es hier gerade geht, aber seiner Meinung nach ist das auch völlig egal. Wer auch immer es wagt, eine alte wehrlose Frau umzustoßen, ist für ihn per se auch nicht im Recht. Aus seinem Mund löst sich ein Ton der Entrüstung, der dafür sorgt, dass sich der Mann kurz vor der Treppe noch einmal umdreht.
Was dieser Mann sieht, lässt ihm zugleich das Blut in den Adern gefrieren und es in den Ohren rauschen. Wer dort auf ihn zukommt, ist kein Mensch mehr, es ist ein sehr wütender blonder kleiner Mann, der jedoch wirkt, als hätte er Kraft und Wut für dreißig. Reflexartig will er schon die Flucht ergreifen, egal wohin, nur raus aus der Schusslinie, als er plötzlich den Boden näher kommen sieht und engste Bekanntschaft mit ihm schließt.
»Ich weiß ja nicht, was Sie glauben, was Sie hier tun, aber ich habe Ihnen deutlich gesagt, dass Dr. Holmes Sie nicht zu sprechen wünscht!«, kommt es wütend von der älteren Dame, bevor sie sich ganz ohne Stock wieder aufrichtet. Ihn hält sie nun wie einen Schläger in der Hand, um den Mann zur Not noch ein zweites Mal an der Flucht zu hindern.
Verblüfft bleibt John auf Höhe des Tresens stehen und blickt die ältere Dame konsterniert an. Da ist man einmal im Urlaub und kommt wieder und erlebt erst mal so was. Amüsiert beobachtet er, wie die ältere Dame nun bewaffnet mit ihrem Stock und völlig ohne Hüftprobleme oder dergleichen auf den Mann zu geht. Zweifelsohne ist das eine Frau, mit der man sich nicht anlegen will. Als wäre der Mann eine Jagdtrophäe und kein unangemeldeter Besuch stellt sie ihm ihren rechten Fuß auf den Rücken und dreht sich dann zu John.,
»Und Sie sind, Jungchen?«, fragt sie ihn dann, als ob nichts gewesen wäre. Genauso steht sie auch da, so als ob sie das nicht zum ersten Mal macht. Als wäre es eine liebe Erinnerung an alte Tage, als wäre es ihr in Fleisch und Blut übergegangen.
John kann nicht anders, er weiß nicht, wer sie ist, was sie hier macht oder woher sie kommt, aber: Er ist schockverliebt in eine Dame von schätzungsweise über siebzig Jahren. Unwillkürlich muss er breit grinsen bei ihrem resoluten Gesichtsausdruck der geradezu »Kommen Sie doch her, mit Ihnen werde ich auch noch fertig!« schreien will.
»John Watson, Mam!«, erwidert er ordnungsgemäß.
Sofort tritt ein wissender Ausdruck auf ihr Gesicht und sie lächelt ihn mütterlich an.
»Ach natürlich, Doktor John Watson. Sie haben ja gleich den Termin bei Dr. Holmes«, erwidert Sie ruhig und drückt mit ihrem Absatz noch einmal kräftiger zu, als der Mann unter Ihr bei Erwähnung von Sherlock wieder Anstalten macht aufzustehen.
»Sie können eigentlich direkt durchgehen in den Außenbereich, aber könnten Sie mir vorher vielleicht noch einen Gefallen tun?«, fragt sie ihn leicht ärgerlich über den Mann unter ihrem linken Fuß.
»Natürlich, Mam, wie kann ich ihnen helfen?«
»Ach nennen Sie mich Mrs. Hudson, wir werden uns von nun an ja noch öfter treffen. Ich bin die neue Sprechstundenhilfe von Dr. Holmes. In der Schublade links von meinem Drehstuhl finden Sie zwei silberfarbene Freundschaftsarmbänder. Könnten Sie mir die vielleicht mitbringen?«
John kann nicht sagen, ob es jetzt für oder gegen ihn spricht, dass er sich in dieser Situation nicht über den Wunsch nach Freundschaftsarmbändern wundert. Schulterzuckend nickt er und klappt das Verbindungsstück zwischen Tresen und Wand nach oben, um dahinter zu gelangen. Als er schließlich die Schublade öffnet und ein Paar glänzende Handschellen erblickt, kann er nicht anders und bekommt einen Lachanfall, wie es ihm schon lange nicht mehr passiert ist.
Auf dem Weg in den Therapiegarten übergibt er dann die Handschellen, stellt sich mit Handschlag noch einmal vor und beobachtet dann grinsend, wie sie den jungen Mann einfach an das Treppengeländer kettet und zurück an den Empfang geht.
Noch immer mit einem breiten Grinsen im Gesicht öffnet er dann auch die Tür und begibt sich in den Garten. Es erfordert ein paar Minuten suchen und fluchen, bis John Sherlock schließlich findet. Er will gerade schon sagen, dass dieser Garten doch wirklich verwirrend ist mit seinen Wegen, als er sieht, dass Sherlock die Augen geschlossen und das Gesicht in die Sonne gedreht hat. Sofort übermannt John eine Welle von Sympathie für den anderen Mann, es tut gut zu sehen, dass er eben auch mal eine Minute nur für sich hat. Immerhin weiß John selbst gut genug, wie einnehmend der Beruf des Arztes manchmal sein kann.
Bevor er auch nur einen Ton sagen kann, um auf sich aufmerksam zu machen, öffnet Sherlock auch schon die Augen und dreht sich dann zu John um. Er streckt sich noch nicht einmal, sondern setzt sich nur noch einmal gerader hin und blickt ihn dann gewohnt souverän an.
»Schottland also«, erklärt Sherlock ohne jede Begrüßung und grinst dann bei Johns verblüfftem Gesichtsausdruck. Statt eine Erklärung dazu abzugeben, wartet er bis John sich setzt und führt dann seine Beobachtung aus.
»Ein Schuss ins Blaue, aber ein guter.* Sie haben oben am Hemdkragen einen dunklen Fleck vom Essen, außerdem sind Sie heute erst wiedergekommen. Bedenkt man nun, dass Sie innerhalb eines Tages Ihren Urlaub geplant haben und zudem mit leichtem Gepäck gereist sind, dürfte klar sein, dass Sie nicht weit weggefahren sind. England haben Sie aber sicherlich verlassen, weit auf den Kontinent werden Sie aber auch nicht gereist sein. Frankreich scheidet auch aus, da die Franzosen bekanntermaßen kaum Englisch können und Sie nur in einem Land Urlaub machen würden, wo man sie versteht. Also das Vereinigte Königreich. Wales habe ich auch direkt ausgeschlossen. Ein dunkler Fleck am Kragen, der möglicherweise von Haggis stammen könnte, gleich: Schottland.«
»Das war brillant!«, bricht es aus John hervor, bevor er überhaupt darüber nachdenken kann. Beinahe ist es ihm peinlich, doch eigentlich meint er es so, wie er es sagt.
Sherlock jedoch zuckt nur die Schultern und lächelt jetzt selbst etwas. Auch wenn er jetzt ein angesehener Arzt ist und für seine Fähigkeiten auf diesem Gebiet beneidet wird, es war nicht immer so. Zu gut erinnert er sich an Zeiten, in denen er nicht Dr. Holmes, sondern nur ein Freak war. Um davon abzulenken und auf John nicht zu nachdenklich zu wirken, blickt Sherlock einmal durch den Garten um dann wieder John anzusehen.
»Wieso sind sie eigentlich so gut gelaunt?«, fragt er schließlich, als John immer noch lächelt. Natürlich könnte man aus diesem Wortlaut heraushören, dass er es John nicht gönnt, aber es ist nicht ihre erste Stunde und Sherlock vertraut darauf, dass John schon weiß, wie er es meint.
»Ich habe geradeeben Mrs. Hudson kennengelernt. Sehr kompetente Dame mit recht speziellen Freundschaftsbändern.« John kann es nicht sagen, ohne zu lachen. Vermutlich wird er sie niemals wieder ansehen können, ohne daran zu denken, wie sie ihre Jagdtrophäe an den Handlauf der Treppe gefesselt hat.
Sofort setzt sich Sherlock noch aufrechter als sowieso schon hin. Sein Blick wird so ernst, wie John ihn noch nie gesehen hat. Seine Augen werden so kalt, wie seine Stimme damals am Telefon war und seine Augenbrauen ziehen sich unheilvoll zusammen. Sherlock muss nichts sagen oder fragen, John begreift es auch so und erzählt ihm, was er beobachtet hat.
Als er an der Stelle ankommt, an der man Mrs. Hudson umgeworfen hatte, springen Sherlock beinahe die Augen aus dem Kopf und er entwickelt eine Hautfarbe, die man vorsichtig als ungesund und rasend bezeichnen könnte. John will gar nicht wissen, wo Sherlocks Blutdruck aktuell ist.
Eben jetzt in dem Moment, in dem John endet, muss er wieder nicht fragen, was er noch erzählen soll. John kennt diesen Gesichtsausdruck von den Vätern verprügelter Kinder. Diesem Gesichtsausdruck schwankend zwischen Sorge um ein geliebtes Familienmitglied und unbändiger Wut, folgt meistens die Frage, wer das war. John kann nicht anders, als sich zu fragen, in welcher Beziehung die beiden, Mrs. Hudson und Sherlock Holmes, stehen. Mutter und Sohn scheinen sie aber aufgrund des Namens nicht zu sein, wenn gleich Sherlock gerade wie ein besorgter Sohn wirkt.
»Schwarze Sneaker ohne Markenaufdruck, einfache Jeans und schwarzes Hemd. Braune Haare, blaue Augen, Hasenscharte.« Ja John ist Mediziner, er setzt sich dafür ein, dass solche Begriffe wie Hasenscharte aus dem Sprachgebrauch verschwinden und man dafür anfängt, von einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte zu sprechen, aber: Er kann diesen Typen auf Anhieb nicht leiden. Egal wie rüstig Mrs. Hudson auch sein mag, man stößt keine Frauen um, erst recht keine, die die eigene Mutter sein könnten.
Vermutlich würde man es nicht merken, wenn man es nicht wüsste oder gelernt hätte darauf zu Achten, aber John sieht es. Er sieht dieses Zucken in der Augenbraue, in der Hand und auch den verkniffenen Mund. Es ist eindeutig, dass Sherlock weiß, wer das war.
Verblüffend zu beobachten ist allerdings auch, wie Sherlock einmal tief durchatmet, kurz die Augen schließt und dann wieder völlig normal zu sein scheint. Auch als er spricht, wirkt es auf John so, als habe er sich innerhalb weniger Sekunden abgekühlt. John versteht zwar nicht, wie das möglich ist, er will Sherlock aber auch nicht bedrängen. Immerhin ist er eigentlich der Patient und Sherlock der Psychiater.
»Victor Trevor«, stößt Sherlock leise hervor. Und auch wenn er deutlich beruhigt wirkt, es schwingt eine latente Aggression in diesem Namen mit.
»Ihr Ex-Freund?«, rät John. Immerhin hieß dieser Mann am Telefon ja auch Victor.
»Allerdings. Seit ich mich mit ihm im Juni getroffen habe, lässt er mich einfach nicht mehr in Ruhe«, sagt Sherlock. Schweigend nimmt er das Tonbandgerät zur Hand und stoppt die Aufzeichnung, bevor er weiterspricht. »Ich habe mich damals mit ihm getroffen, um mich daran zu erinnern, dass Partnerschaften nichts bringen. Ich habe in meinem Leben keinen Platz für einen Mann, egal wie sehr ich ihn auch will. Und aus eben diesem Grund wollte ich mich mit ihm daran erinnern, wie die letzte Beziehung ausging. Gebracht hat es mir nichts, außer, dass er mich nun nicht mehr in Ruhe lässt.«
John will gerade fragen, wer dieser Mann ist. Denn er muss etwas Besonderes sein, wenn er es geschafft hat, dass Sherlock offen davon erzählt. Er muss verdammt tief in sein Herz gekrochen und es sich dort bequem gemacht haben. Aber er fragt nicht, will nicht, dass Sherlock die Eifersucht aus seinen Worten herauslesen kann. Stattdessen ersetzt Sherlock sein Gesicht durch die gewohnt professionelle Maske und stellt das Tonbandgerät wieder ein.
»Aber genug von mir John, wie war Ihr Urlaub?«
Als John in Edinburgh aus dem Zug steigt, ist er denkbar verwirrt. Hinter ihm liegen anstrengende Tage und Wochen, während die Erkenntnis, Sherlock zu lieben, in ihm um Gehör kämpft. Gehör, das er nicht bereit ist zu geben, zumindest jetzt noch nicht. Es ist ein Wunder, dass er es sowohl schafft, die Waverley Station Richtung Süden zu verlassen, als auch sich auf dem Weg zur Blair Street weder zu verlaufen noch überfahren zu werden.
Als er schließlich das ›Ibis‹* hinter sich gebracht hat, wirft er noch einmal einen Blick auf den Zettel, den er vor wenigen Stunden selbst geschrieben hat, nach den Angaben von Tom. Suchend schaut er sich erst die rechte und dann die linke Häuserzeile an, bevor er dann findet, was er gesucht hat. Wie Tom ihm so passend beschrieb, findet John den Laden genau gegenüber dem ›City Cafe‹* und links von ›Mercat Tours‹*.
Er muss die schweren Maschinen und Lederkluften im Schaufenster nicht sehen, um zu wissen, dass dieser Laden der gesuchte ist. Tom Delaney höchstselbst steht vor seinem Laden und putzt gerade die Schaufenster, als er John Watson oben an der Straße stehen sieht.
Niemand, der Tom Delaney auf den ersten Blick sehen würde, würde ihn für den Besitzer eines Motorradfachgeschäfts mit Verleih halten. Vielleicht ein Schauspieler, Musiker, Maler, irgendein Künstler eben. Ein schwuler Künstler mit sehr viel Glitter und Puder im Gesicht. Tatsächlich hat Tom bestimmt so viele Highlighter und Puder in seinem Schlafzimmer, wie Motorräder in seinem Laden. Auf den ersten Blick sieht man meistens nur abstehende wildfrisierte Haare, glitzernde Wangen und rosa Shirts. Er ist optisch das genaue Gegenteil des typischen Bikers, aber auch nur optisch. Fragt man ihn nach Motorrädern, erkennt man schon nach einer Minute, dass dieser Mann vom Fach ist. Und so typisch schwul er sich kleidet und manchmal auch benimmt, er hat das Herz am richtigen Fleck und eine Lautstärke, dass einem manchmal die Ohren klingeln.
»WATSON!«, brüllt er über die Straße, dass sich alle Touristen auf dieser Straße umdrehen und verwirrt um sich blicken. Grinsend überquert John die Straße und geht auf seinen Freund zu. Es gibt Dinge, die verändern sich mit der Zeit, es gibt aber auch Dinge, die bleiben bis zum Sankt Nimmerleinstag immer gleich. Tom gehört zum letzten Teil.
John kommt nur auf zwei Meter an Tom heran, als dieser auch schon die Augenbrauen bis an den Haaransatz hebt. Er hat John schon in vielen Verfassungen gesehen, von himmelhochjauchzend über betrunken bis todtraurig, auch verliebt. Oftmals folgte auch das eine auf das andere.
»Wer ist es diesmal?«, fragt Tom dementsprechend auch nur.
»Mein Psychiater«, antwortet John trocken wie niedergeschlagen. Zwei Worte, die alles sagen und das ganze Drama offenbaren. Es macht auch keinen Sinn, Ausflüchte zu suchen, Tom würde sie alle doch durchschauen.
Tom liegen die Worte schon auf der Zunge, er will John schon fragen. Warum er nichts von der Therapie wusste, wofür er die braucht, seit wann er so offen bi ist. Er tut es nicht, hat es nie so direkt getan. Dafür gab es immer andere Orte als die offene Straße. Orte die es in London gibt, in Berlin, Bern, Paris oder Liverpool. In beinahe jeder Stadt. Cafés, in denen man nicht gefragt wird, was man gerne trinken möchte, sondern in denen man einen Stammplatz hat und sein Getränk automatisch bekommt. Genau so ein Lokal, mit einem äußerst intimen Hinterhof gibt es nur wenige Fußminuten von ihnen entfernt, sodass Tom John einfach packt und mit ihm losmarschiert.
»Wo geht es denn hin?«, fragt John schließlich, als ihm das Ganze zu bunt wird.
»Ins Old Barber. Ich weiß, was Du sagen willst, dass die doch damals zugemacht haben, aber der jüngste von denen ist nach fünf Jahren doch zurückgekommen, um den Laden zu führen«, erklärt Tom, bevor John auch nur fragen kann. Freunde sind eben so, sie wissen was du fragen und sagen willst, bevor du es selbst weißt.
Wie sie schließlich die Straße betreten in der der Pub liegt, kann Tom nicht anders als dem vorgelaufenen John etwas zu zurufen, dass sie beide sofort in ihre Jugend und die Sommerferien versetzt.
»James?«, ruft Tom also die Straße hinunter.
»Ja Mylord?«, antwortet John automatisch, eben auch, weil er weiß, wie es weitergeht. Und automatisch färben sich seine Wangen rot – eine Sache, die sich im Laufe, der Zeit auch geändert hat. Gott, wenn er an früher denkt… Damals konnte er diesen Spaß in einer vollen Fußgängerzone mitmachen ohne Rot zu werden.
»Die Eier bitte?«
»Geschüttelt oder gerührt?«
»Gekrault, du Arsch gekrault!«
In deinem Leben kann so viel daneben gehen. Du kannst dich in deinen Psychiater verlieben und wissen, dass es das Dümmste ist, was du jemals getan hast. Aber wenn du wirklich gute Freunde und einen Stammpub hast, gibt es kaum etwas, das nicht lösbar ist. Und manches kann man für den Abend in drei Bier gut auflösen.
Als sie den Pub also betreten, staunt nicht nur der Besitzer. John selbst war vielleicht lange nicht mehr hier, aber so modern hatte er es nicht in Erinnerung. Was folgt, ist eine typische Begrüßung unter Jugendfreunden. Sie fällt gewohnt herzlich aus und so locker wie seine Bekanntschaften lange nicht mehr waren. Hier wird er nicht gefragt, wie es in der Armee lief. Viele wissen es gar nicht und die, die es wissen, fragen nicht. Es ist ein Pub in dem nicht gefragt, sondern von sich aus erzählt wird.
Sie bekommen den Stammtisch, der einer Kegeltruppe oder Freunden des Hauses vorbehalten ist. Ein überdimensionales Weinfass, in das man sich hineinsetzen kann. Kaum dass sie sitzen, steht auch schon jeweils ein ganzer Krug Bier vor ihnen. Und wie der Kellner auch nur drei Schritte vom Tisch weggegangen ist, tut Tom, was ihn in seiner Jugend so manches Mal schon in Bedrängnis brachte. Er pfeift ihm hinterher und grinst ihn vielsagend an, als er sich umdreht.
»Hey, du bist doch keine 18 mehr! Das kannst du doch nicht mehr machen!«, weißt ihn John in seine Schranken – oder versucht es zumindest.
»Wieso denn nicht? Irgendeinen Vorteil muss es doch haben, dass ich ihn vor drei Jahren geheiratet habe.«
Es gibt diese Sätze, die machen John sprachlos. Aber immerhin hat er hiermit ein Gegenargument, als er sich später anhören muss, dass er doch gefälligst vom Krankenhaus aus hätte anrufen können.
Drei Bier später müssen sie John Watson schon beinahe aus dem Laden tragen. Einquartiert wird er auf Tom und Seans Couch. Tom und Sean, auch so eine Sache, die sich geändert hat und bei einem betrunkenen John für reichlich lachen sorgt. Shaun the gay sheep.
»Ich habe einen alten Freund besucht und dort übernachtet«, erzählt John schlicht. Was soll er denn sonst auch sagen? Dass er sich volltrunken bei einem seiner besten und ältesten Freunde ausgeheult hat? Dass der Grund dafür genau vor ihm sitzt? Nein, das kann und will er nicht tun. Denn das würde Sherlock als Arzt nur in arge Bedrängnis bringen. Außerdem entspricht es auch nicht ganz der Wahrheit. Wenn John nur genau genug nachdenkt, dann merkt er, dass er eigentlich ein Problem mit sich selbst hat. Damit, dass er sich in seinen Arzt verliebt hat.
»Ein alter Freund?«, fragt Sherlock interessiert nach. Für einen Moment platzt die professionelle Maske ab und John erkennt echtes Interesse an seinen Belangen. Natürlich ist er sonst nicht uninteressiert, aber jetzt liegt ein gewisses Funkeln in seinen Augen, sodass John eigentlich schon erwähnen will, dass sie niemals etwas miteinander hatten. Er lässt es doch.
»Wir stammen aus komplett gegensätzlichen Elternhäusern, aber wir waren beide jedes Jahr im Sommer bei unseren Großeltern in Edinburgh. Da haben wir uns auch kennengelernt, die restlichen Wochen im Jahr bis Weihnachten und dann wieder den Sommerferien haben wir uns Briefe geschrieben.«
John erzählt ihm nicht, dass sich Tom einen Monat vor den Sommerferien per Brief bei ihm outete. Auch nicht, wie er es nicht fertig brachte, ihm zurückzuschreiben. Wohl aber muss er bei der Erinnerung an ihr erstes Wiedertreffen versonnen lächeln. Wochenlang hat John überlegt, wie er ihm plausibel machen soll, dass es ihn nicht stört, sondern lediglich überrascht hat. Am Ende hat er ihn wie früher umarmt und gut war es. Seitdem hat sich Tom zu einem seiner besten Freunde, zu seinem Rückzugspunkt gemausert. Tom ist einer dieser Freunde, die hast du am besten Tag deines Lebens an der Seite, genauso wie am schlechtesten Tag deines Lebens. (Und dennoch hat er auch bei ihm immer ein Problem gehabt, einzugestehen, wenn er einen Mann attraktiv fand.)
»Sie haben also Urlaub in Edinburgh gemacht?«
»Nein, dort habe nicht nur etwas abgeholt. Tom hat einen Motorradverleih. Urlaub gemacht habe ich in ganz Schottland.«
Irgendwie überrascht es Sherlock nicht, dass John immer noch etwas neues in Petto hat. Letzten Monat verreist er einfach so und heute erfährt er, dass John Motorrad fährt. Aber irgendwie passt das auch zu ihm. Nur die Gedanken über John in Motorradkleidung sollte Sherlock lieber während der Sitzung lassen. John und Leder in einem Gedanken sind hier definitiv fehl am Platze.
Am nächsten Morgen, es ist noch beinahe dunkel, steigt John auf die Maschine. Es ist ein kleines Wunder, dass er tatsächlich schon wach und ausgenüchtert ist. (Immerhin haben sie ihm doch im Pub in die Biere noch Schnäpse gekippt.) Seine Sachen aus dem Rucksack hat er in Motorradtaschen gepackt und ist nun abfahrbereit, als Tom ihn noch einmal zurückhält:
»Bevor ich in drei Wochen vergesse, es dir zu erzählen: Ich habe letzten Monat einen Brief aus Deutschland bekommen. Timo hat sich mal wieder gemeldet und gefragt, ob wir uns treffen wollen. Ich hab ihm geschrieben, dass ich versuche, alle wieder zusammen zu bekommen. Aber das wollte ich dir gar nicht erzählen. Der hat doch tatsächlich diese Julietta geheiratet.«
John zieht ein Gesicht, als hätte er gerade ein ganzes Glas scharfen Senf auf ex gegessen und genauso fühlt er sich auch. Alleine der Gedanke an diese… Nein an dieser Stelle denkt er nicht weiter, hat er sich doch jeden Gedanken an diese… Person verboten. Aber nach allem, was mit Clara und ihr war… Ihm liegt der Gedanke nah, dass es für sie Glück ist, ihm nicht in Afghanistan begegnet zu sein. Diese Dame trifft man am besten ohne Waffen. (Bei ihr gilt allerdings auch: Wenn das Hirn eine Waffe ist, ist sie unbewaffnet – und das jeden einzelnen Tag ihres Lebens.)
Also nickt er nur, symbolisiert damit, dass er alle gerne wiedertreffen würde. John setzt den Helm auf, verabschiedet sich mit einem Winken von Tom und Shaun Sean und fährt Richtung Nordwesten aus Edinburgh.
Kurz überlegt John, wie er Sherlock erklären soll, was er in seinem Urlaub gemacht hat, aber eigentlich ist diese Überlegung Schwachsinn. Wenn es etwas geben sollte, das Sherlock wirklich nicht versteht, dann wird er schon fragen. Dennoch gibt sich John Mühe, alles genauso durchdacht zu erzählen, wie er es geübt hat. Nicht, dass er doch noch preisgibt, was auf keinen Fall jemals an die Luft gelangen darf. Sein Blick fällt auf einen Strauch in der Nähe und bleibt dort auch liegen. Besser er schaut Sherlock in den nächsten Minuten nicht an. John mag sich nicht vorstellen, was passiert, wenn Sherlock erkennt, dass sich John in ihn verliebt hat. Sie haben so ein gutes Verhältnis zu einander, das würde er nur ungern verlieren.
»Wahrscheinlich würde man meinen Urlaub klassisch einen Roadtrip nennen. Sie wissen ja wie schnell ich nur noch wegwollte. Es gab in den letzten Monaten einfach so viel Veränderung in meinem Leben, dass ich nur noch gearbeitet habe. Das Problem ist aber einfach, dass sich die Kollegen irgendwann auf einen verlassen und das als normales Pensum hinnehmen. Als dann noch eine Grippewelle über London hereingebrochen ist…. Weil ich an dem Tag dann auch noch ständig aufgehalten wurde, wurde mir klar, dass ich eine Auszeit brauche. Mit ein paar Klicks im Internet wusste ich, dass Tom sich seinen Traum wirklich erfüllt hat.«
Nein, John erzählt Sherlock nicht, warum er wirklich weggefahren ist. Warum er wirklich so durcheinander war. Dass es da einen Mann in seinem Leben gibt, zu dem er sich hingezogen fühlt. Dass Sherlock der Mann ist, den er am liebsten niemals wieder gehen lassen würde.
Doch obwohl Sherlock merkt, dass es einstudiert ist und John nicht alles erzählt, er lässt es sich nicht anmerken. Mittlerweile haben sie August, wenn John noch immer nicht weiß, dass er sich ihm anvertrauen kann, kann Sherlock daran auch nichts mehr ändern. Vielleicht ist es das aber auch gar nicht und John möchte sich einfach ein wenig Privatleben bewahren. Und eben weil es auch das Letzte sein kann, lässt Sherlock ihn in Ruhe und beschließt einfach nur, auch weiterhin einen Blick auf seinen Lieblingspatienten zu haben.
»Bevor ich Sie bitte, weiter zu erzählen, John, habe ich noch eine Frage, die mir seit Ihrem letzten Besuch im Kopf umgeht. Wie haben Sie es geschafft, so schnell Urlaub zu bekommen? Im Krankenhaus verlässt man sich doch auf Sie und ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihr Chef die Idee so gut fand?«
Kurz lacht John, stellt sich das Gesicht seiner Kollegen vor, wenn er es tatsächlich so gemacht hätte und einfach abgehauen wäre.
»Nein, allerdings nicht. Ich hatte wahnsinniges Glück. Dr. Jacksons Frau und Tochter hatten ein paar Tage zuvor eine schwere Magen-Darm-Infektion erlitten. Er hätte eigentlich diese drei Wochen Urlaub und ich die nächsten drei gehabt. Wir haben einfach unseren Urlaub samt den Schichten getauscht. Jetzt gehe ich einfach die nächsten drei Wochen arbeiten und Jackson nimmt meinen Urlaub.«
Einen Moment schweigen sie. Sherlock denkt darüber nach, dass John ja reichlich Glück hatte und John wiederum, dass er sofort wieder Urlaub machen könnte. Insgesamt hat ihm dieser Urlaub wirklich gutgetan, er ist sich über einige sehr wichtige Dinge klar geworden. Dann als er sich erinnert, dass er Sherlock ja von seinem Roadtrip berichten sollte, spricht er weiter.
»Ich habe mir vorher überlegt, wo ich immer gut nachdenken konnte und es gab vieles, über das ich nachdenken musste«, erzählt John und ist froh, dass Sherlock nicht nachfragt, worüber er nachgedacht hat. Tatsächlich ist Sherlock klar, dass es Dinge gibt, die John ihm nicht erzählt, aber das ist auch nicht schlimm. Solange sich John immer an ihn wendet, sobald es ihm über den Kopf wächst, ist alles in bester Ordnung. Wer wüsste besser als Sherlock Holmes, dass jeder Geheimnisse braucht?
Eine geheime Wohnung im Dachstuhl, eine bekannte in der Montague Street, eine privatere Wohnung in der Bakerstreet und einen weiteren Job als Berater für New Scottland Yard. Ja Sherlock weiß, was Geheimnisse und Überarbeitung bedeuten.
»Ungefähr 51 Meilen von Edinburgh entfernt liegt der Queen Elizabeth Forest Park, der sehr sehenswert sein soll. Und da ich dank Ihnen wusste, dass ich in der Natur besser nachdenken kann, habe ich einen Abstecher dorthin unternommen.«
Schon als John Watson von den größeren Straßen auf immer schmalere wechselt und schließlich die Maschine am Waldrand abstellt, weiß er es schon. Er versucht zwar, es auszublenden, aber instinktiv weiß er, dass er hier nicht entspannen kann. Die Gegend ist wunderschön, der alte Baumbestand bietet ihm auch den Schutz, den er so nötig hat und dennoch. Er kann sich hier nicht entspannen.
Vielleicht ist die Umgebung zu ruhig, vielleicht die Bäume zu laut. Vielleicht ist der Wald zu dunkel, vielleicht zu licht. John kann es nicht erklären, doch Tatsache ist: Er fühlt sich hier pudelwohl, aber es hilft ihm nicht weiter.
Dennoch wandert er eine Stunde durch den Wald, versucht nachzudenken und wieder zu sich selbst zu finden, aber es passiert einfach nicht. Als er am Ende den Wald wieder verlässt und auf seine Maschine steigt, ist er niedergeschlagen wie schon lange nicht mehr.
Es ist unsinnig, das weiß John selbst, aber als er sich zu diesem Urlaub entschlossen hat, hat er geglaubt, sofort zu sich zu finden und nicht erst nach dem richtigen Ort suchen zu müssen. Jetzt stellt sich ihm nur noch die Frage, ob es überhaupt noch Sinn macht, zum Cairngorms Nationalpark zu fahren oder ob er es lieber lassen soll.
Letztlich stellen sich auch diese 95 Meilen als wirkungslos heraus. Es ist nicht so, dass er hier nicht nachdenken kann, ganz im Gegenteil. Auf weiter Flur ist niemand zu sehen, der ihm irgendwie zu nahe kommen könnte. Fuchs und Hase sagen sich an diesem Ort gute Nacht, dennoch ist es nicht das Richtige für ihn. Denn nur kurz denkt er an seine verzwickte Situation, daran, das erste Mal in einen Mann verliebt zu sein, der weiß das man bi ist. Das erste Mal in einen Mann verliebt zu sein, dem man schon vorher alles anvertraut hat. In seinen Therapeuten verliebt zu sein.
Bevor die ersten Tränen fließen – und es würden dann nicht die Letzten sein –, hat sich John schon wieder auf das Motorrad gesetzt und fährt weiter. Irgendwie will er hier nicht die Fassung verlieren, dafür fühlt er sich auch noch nicht bereit genug. Stattdessen fährt er wieder einmal weiter an diesem Tag.
Bei Inverness kauft er sich bei einer Bäckerei ein belegtes Brötchen und eine Flasche Wasser. Ein paar Kilometer weiter, außerhalb des Orts an einem kleinen Rastplatz, hält er dann erneut sein Motorrad an und macht eine kurze Pause. Mit sichtlichem Genuss beißt er in das Brötchen – ein typischer Gummiadler, der ihm ziemlich am Gaumen klebt – und spült mit dem Wasser hinterher. Für eine Viertelstunde vertritt er sich noch die Beine, will so noch etwas Blut in die Extremitäten bekommen, bevor er sich dann auf den Toiletten erleichtert und wieder weiterfährt Richtung Südwesten.
Als er gegen Abend endlich das Motorrad in der Nähe von Urquhart Castle abstellen und die letzten Meter zu Fuß gehen kann, ist John sichtlich erschöpft. Er ist lange kein Motorrad mehr gefahren und auch früher schon nicht so ein langes Stück. Dennoch bereut er es nicht. Was er im Fahren gesehen hat, die Landschaften, Wald und Nationalpark, es hat ihm alles außerordentlich gut gefallen.
Niven* will den Pub schon schließen, als er überrascht die Augen aufreißt und dann anfängt zu strahlen. Bei einem seiner alten Kameraden, noch vor ihm ausgeschieden aus dem Dienst, findet er nicht nur einen warmen Schlafplatz, sondern auch ein offenes Ohr, das ihn nicht für seine PTBS verurteilt oder bemitleidet.
Wenn ihm sein Urlaub bis zu diesem Zeitpunkt auch nichts anderes als schöne Landschaftseindrücke beschert hat, wird John in diesem Moment doch eines klar. Egal wie sehr er sich von der Welt abgekapselt hat, egal wie schlecht es ihm geht, egal welche Probleme er mit seiner Schwester hat: Es gibt diese Menschen, die den alten John Watson kennen und den neuen dennoch mögen. Dass diese Menschen zu großen Teilen in Schottland leben, ist hinderlich, aber kein Problem. Dann muss er eben zur Not jedes Jahr nach Schottland fahren.
»Ich war hier und dort und bin hinterher einfach nur noch so gefahren, wie ich wollte. Die meiste Zeit habe ich aber in dem schottischen Dorf Crosskirk verbracht«, erzählt John und sein Gesicht nimmt direkt so einen entspannten Gesichtsausdruck an. » Die ersten vier Tage bin ich einfach nur durch Schottland und die Highlands gefahren, danach bin ich irgendwie in Crosskirk gestrandet.«
»Crosskirk?«
»Ein kleines Dorf an der nördlichen Küste. Ich glaube, da standen ungefähr drei Häuser? Ich bin einfach irgendwo abgebogen und habe dann dort halt gemacht. Da war wirklich gar nichts außer ein paar Häusern und viel Küste. Es gab nicht einmal ein Bed and Breakfast, stattdessen bin ich bei einer älteren Lady untergekommen, die mir Kost und Logis gegen Arbeiten am Haus bot.«
Was er Sherlock nicht erzählt, ist eine ganze Menge. Dass man dort oben, so weit ab von der Zivilisation automatisch leerläuft, dass man sich nicht ablenken kann und sich mit sich selbst beschäftigen muss. Dass Tante Agathe, wie er sie nennen sollte, einen siebten Sinn für Geheimnisse hat. Dass sie erkannt hat, was er sich nur unfreiwillig eingestehen wollte. Dass sie dem Ganzen endlich einen wirksamen Riegel vorgeschoben hat. Sie hat als Einzige erkannt, was sie sagen muss, dass es ihm besser geht.
»Weißt du John, ich kann verstehen, weswegen du dich in deinen Psychiater verliebt hast und er wirkt unglaublich sympathisch, aber wenn du weglässt, dass es verboten ist, was bleibt dann über? Er ist schwul, das ist schon mal hilfreich, du bist in ihn verliebt, aber: Du bist auch krank. PTBS ist nichts, mit dem man spielen darf, und wäre es ihm gegenüber nicht unfair, wenn er dich mit der Krankheit teilen müsste? Deine Schwester macht dir noch immer Sorgen und da soll er reinplatzen? Werd erst mal gesund mein Junge, klär die Dinge, die dir auf dem Herzen liegen und dann, wenn endlich einmal wirklich Land in Sicht ist, kannst du noch mal drüber nachdenken. Das Alphabet beginnt doch schließlich auch bei A und nicht bei W.«
Dieses Wissen, dieses klare Gespräch hilft John ungemein. Endlich weiß er, dass es in Ordnung ist, dass diese Liebe nicht schlimm ist. Er kann es genießen, wieder verliebt zu sein, er darf es nur nicht so offen zeigen. Und wenn er endlich das Gefühl hat, gefestigt zu sein und nicht bei jedem Windstoß zu wackeln, kann er vielleicht über eine Lösung des Problems nachdenken.
Letztendlich hat er Tante Agathe versprechen müssen, dass er wiederkommt und ihr immer wieder Briefe schreiben wird. Er konnte ihr auch nicht widersprechen, sie war so offen und auch knallhart, dass er ihr einfach nicht widersprechen konnte. (Dass er ihr versprechen musste, einmal seinen Partner mitzubringen, kann er noch geflissentlich ausblenden.)
So vergeht diese Sitzung zwischen Blütenduft und heimlichen Gefühlen, ohne dass ein Turm wackelt oder John sich zu einer Aussage hinreißen lässt. Sie plaudern in ruhigem Ton über den Urlaub und über das ungeplante Ausscheiden Marys. (Was Sherlock nicht erzählt, ist, dass Mary Akten gestohlen und an die Konkurrenz weitergeleitet hat. Dass sie eine Spionin war. Dass sie jetzt für Mycroft die eigentlichen Arbeitgeber ausspioniert.)
Dieses Mal versucht John, nicht zu flirten – und bringt Sherlock damit auch nicht durcheinander. Seit Langem ist endlich wieder alles in bester Ordnung. Sie sind Arzt und Patient mit einem sehr intimen Verhältnis, aber auch nicht mehr. Das ist doch ein Status quo, mit dem man arbeiten kann.
*****
Einige Stunden sind seit der Sitzung mit John vergangen, Sherlock hat gerade das letzte Tonband abgehört und die Akte geschlossen, als es energisch an der Tür klopft. Ohne ein weiteres Wort abzuwarten, öffnet Mrs. Hudson auch direkt die Tür, immerhin waren sie für genau jetzt verabredet.
Sherlock muss nicht fragen und Mrs. Hudson sagt auch nichts, es ist ein Blickduell, das keiner gewinnt, aber für beide äußerst aufschlussreich ist. Im Laufe des Tages kam dann auch die Polizei, das sogar sehr schnell in Form von Detective Inspector Greg Lestrade. Zu diesem Zeitpunkt entstand dann auch diese Verabredung. Sherlock ist den ganzen Tag in seinen Pausen durchgegangen, wie sie am besten gegen Victor vorgehen können, ohne ihre eigenen Karten zu offenbaren.
»Erstatten Sie bitte Anzeige wegen Körperverletzung und Bedrohung. Mycroft stellt Ihnen ein Attest auf eine angeknackste Hüfte aus, die sie zuvor nur wegen des Adrenalins nicht gemerkt haben.«
»Aber Sherlock«, will Mrs. Hudson direkt einwenden, als Sherlock auch schon weiterspricht. Er weiß genau, dass sie nicht unbedingt ein Problem mit einer Falschaussage hat, sondern damit nicht, zu wissen, warum.
»Ich bitte Sie. Dann können Sie eine Einstweilige Verfügung erwirken, dass er sich Ihnen auf eine bestimmte Entfernung nicht mehr nähern darf. Das gilt dann sowohl für diese Praxis – Ihren Arbeitsplatz –, und die Bakerstreet. Es reicht schon, dass er weiß, dass ich hier arbeite und in der Montague Street eine Wohnung habe, von der im Dachboden oder in der Bakerstreet muss er nichts wissen. Ich habe selbst schon Anzeige wegen Hausfriedenbruches erstattet und ein generelles Hausverbot ausgesprochen, jetzt müssen wir uns nur noch um die Bakerstreet kümmern.«
Er ist eine Bedrohung für unsere Patienten, die meisten haben schon genug Schlimmes ausgestanden. Er bringt mich langsam an meine Grenzen und ich habe das Gefühl, dass meine Arbeit darunter leidet. Alleine schaffe ich das nicht! Außerdem hat er Sie angegriffen und das kann und werde ich nicht tolerieren!
Mrs. Hudson hört auch die Dinge, die Sherlock nicht sagt und nickt schließlich nur und verspricht, sofort bei der Polizei anzurufen.
---------------------------
1) Zitat aus der Serie – Staffel 1, Folge 1
2) Diesen Ort gab es, als Google seine Streetview-Aufnahmen machte, tatsächlich. Wie es heute ist, kann ich nicht sagen.
3) s.O.
4) s.O.
5) Vergleiche Sherlock und John von Asperger bis Überforderung Kapitel 28. (Ja ich weiß, nicht selbes Universum, aber ich mag Niven halt.)
Geschockt setzt sich John in Bewegung. Er weiß nicht, worum es hier gerade geht, aber seiner Meinung nach ist das auch völlig egal. Wer auch immer es wagt, eine alte wehrlose Frau umzustoßen, ist für ihn per se auch nicht im Recht. Aus seinem Mund löst sich ein Ton der Entrüstung, der dafür sorgt, dass sich der Mann kurz vor der Treppe noch einmal umdreht.
Was dieser Mann sieht, lässt ihm zugleich das Blut in den Adern gefrieren und es in den Ohren rauschen. Wer dort auf ihn zukommt, ist kein Mensch mehr, es ist ein sehr wütender blonder kleiner Mann, der jedoch wirkt, als hätte er Kraft und Wut für dreißig. Reflexartig will er schon die Flucht ergreifen, egal wohin, nur raus aus der Schusslinie, als er plötzlich den Boden näher kommen sieht und engste Bekanntschaft mit ihm schließt.
»Ich weiß ja nicht, was Sie glauben, was Sie hier tun, aber ich habe Ihnen deutlich gesagt, dass Dr. Holmes Sie nicht zu sprechen wünscht!«, kommt es wütend von der älteren Dame, bevor sie sich ganz ohne Stock wieder aufrichtet. Ihn hält sie nun wie einen Schläger in der Hand, um den Mann zur Not noch ein zweites Mal an der Flucht zu hindern.
Verblüfft bleibt John auf Höhe des Tresens stehen und blickt die ältere Dame konsterniert an. Da ist man einmal im Urlaub und kommt wieder und erlebt erst mal so was. Amüsiert beobachtet er, wie die ältere Dame nun bewaffnet mit ihrem Stock und völlig ohne Hüftprobleme oder dergleichen auf den Mann zu geht. Zweifelsohne ist das eine Frau, mit der man sich nicht anlegen will. Als wäre der Mann eine Jagdtrophäe und kein unangemeldeter Besuch stellt sie ihm ihren rechten Fuß auf den Rücken und dreht sich dann zu John.,
»Und Sie sind, Jungchen?«, fragt sie ihn dann, als ob nichts gewesen wäre. Genauso steht sie auch da, so als ob sie das nicht zum ersten Mal macht. Als wäre es eine liebe Erinnerung an alte Tage, als wäre es ihr in Fleisch und Blut übergegangen.
John kann nicht anders, er weiß nicht, wer sie ist, was sie hier macht oder woher sie kommt, aber: Er ist schockverliebt in eine Dame von schätzungsweise über siebzig Jahren. Unwillkürlich muss er breit grinsen bei ihrem resoluten Gesichtsausdruck der geradezu »Kommen Sie doch her, mit Ihnen werde ich auch noch fertig!« schreien will.
»John Watson, Mam!«, erwidert er ordnungsgemäß.
Sofort tritt ein wissender Ausdruck auf ihr Gesicht und sie lächelt ihn mütterlich an.
»Ach natürlich, Doktor John Watson. Sie haben ja gleich den Termin bei Dr. Holmes«, erwidert Sie ruhig und drückt mit ihrem Absatz noch einmal kräftiger zu, als der Mann unter Ihr bei Erwähnung von Sherlock wieder Anstalten macht aufzustehen.
»Sie können eigentlich direkt durchgehen in den Außenbereich, aber könnten Sie mir vorher vielleicht noch einen Gefallen tun?«, fragt sie ihn leicht ärgerlich über den Mann unter ihrem linken Fuß.
»Natürlich, Mam, wie kann ich ihnen helfen?«
»Ach nennen Sie mich Mrs. Hudson, wir werden uns von nun an ja noch öfter treffen. Ich bin die neue Sprechstundenhilfe von Dr. Holmes. In der Schublade links von meinem Drehstuhl finden Sie zwei silberfarbene Freundschaftsarmbänder. Könnten Sie mir die vielleicht mitbringen?«
John kann nicht sagen, ob es jetzt für oder gegen ihn spricht, dass er sich in dieser Situation nicht über den Wunsch nach Freundschaftsarmbändern wundert. Schulterzuckend nickt er und klappt das Verbindungsstück zwischen Tresen und Wand nach oben, um dahinter zu gelangen. Als er schließlich die Schublade öffnet und ein Paar glänzende Handschellen erblickt, kann er nicht anders und bekommt einen Lachanfall, wie es ihm schon lange nicht mehr passiert ist.
Auf dem Weg in den Therapiegarten übergibt er dann die Handschellen, stellt sich mit Handschlag noch einmal vor und beobachtet dann grinsend, wie sie den jungen Mann einfach an das Treppengeländer kettet und zurück an den Empfang geht.
Noch immer mit einem breiten Grinsen im Gesicht öffnet er dann auch die Tür und begibt sich in den Garten. Es erfordert ein paar Minuten suchen und fluchen, bis John Sherlock schließlich findet. Er will gerade schon sagen, dass dieser Garten doch wirklich verwirrend ist mit seinen Wegen, als er sieht, dass Sherlock die Augen geschlossen und das Gesicht in die Sonne gedreht hat. Sofort übermannt John eine Welle von Sympathie für den anderen Mann, es tut gut zu sehen, dass er eben auch mal eine Minute nur für sich hat. Immerhin weiß John selbst gut genug, wie einnehmend der Beruf des Arztes manchmal sein kann.
Bevor er auch nur einen Ton sagen kann, um auf sich aufmerksam zu machen, öffnet Sherlock auch schon die Augen und dreht sich dann zu John um. Er streckt sich noch nicht einmal, sondern setzt sich nur noch einmal gerader hin und blickt ihn dann gewohnt souverän an.
»Schottland also«, erklärt Sherlock ohne jede Begrüßung und grinst dann bei Johns verblüfftem Gesichtsausdruck. Statt eine Erklärung dazu abzugeben, wartet er bis John sich setzt und führt dann seine Beobachtung aus.
»Ein Schuss ins Blaue, aber ein guter.* Sie haben oben am Hemdkragen einen dunklen Fleck vom Essen, außerdem sind Sie heute erst wiedergekommen. Bedenkt man nun, dass Sie innerhalb eines Tages Ihren Urlaub geplant haben und zudem mit leichtem Gepäck gereist sind, dürfte klar sein, dass Sie nicht weit weggefahren sind. England haben Sie aber sicherlich verlassen, weit auf den Kontinent werden Sie aber auch nicht gereist sein. Frankreich scheidet auch aus, da die Franzosen bekanntermaßen kaum Englisch können und Sie nur in einem Land Urlaub machen würden, wo man sie versteht. Also das Vereinigte Königreich. Wales habe ich auch direkt ausgeschlossen. Ein dunkler Fleck am Kragen, der möglicherweise von Haggis stammen könnte, gleich: Schottland.«
»Das war brillant!«, bricht es aus John hervor, bevor er überhaupt darüber nachdenken kann. Beinahe ist es ihm peinlich, doch eigentlich meint er es so, wie er es sagt.
Sherlock jedoch zuckt nur die Schultern und lächelt jetzt selbst etwas. Auch wenn er jetzt ein angesehener Arzt ist und für seine Fähigkeiten auf diesem Gebiet beneidet wird, es war nicht immer so. Zu gut erinnert er sich an Zeiten, in denen er nicht Dr. Holmes, sondern nur ein Freak war. Um davon abzulenken und auf John nicht zu nachdenklich zu wirken, blickt Sherlock einmal durch den Garten um dann wieder John anzusehen.
»Wieso sind sie eigentlich so gut gelaunt?«, fragt er schließlich, als John immer noch lächelt. Natürlich könnte man aus diesem Wortlaut heraushören, dass er es John nicht gönnt, aber es ist nicht ihre erste Stunde und Sherlock vertraut darauf, dass John schon weiß, wie er es meint.
»Ich habe geradeeben Mrs. Hudson kennengelernt. Sehr kompetente Dame mit recht speziellen Freundschaftsbändern.« John kann es nicht sagen, ohne zu lachen. Vermutlich wird er sie niemals wieder ansehen können, ohne daran zu denken, wie sie ihre Jagdtrophäe an den Handlauf der Treppe gefesselt hat.
Sofort setzt sich Sherlock noch aufrechter als sowieso schon hin. Sein Blick wird so ernst, wie John ihn noch nie gesehen hat. Seine Augen werden so kalt, wie seine Stimme damals am Telefon war und seine Augenbrauen ziehen sich unheilvoll zusammen. Sherlock muss nichts sagen oder fragen, John begreift es auch so und erzählt ihm, was er beobachtet hat.
Als er an der Stelle ankommt, an der man Mrs. Hudson umgeworfen hatte, springen Sherlock beinahe die Augen aus dem Kopf und er entwickelt eine Hautfarbe, die man vorsichtig als ungesund und rasend bezeichnen könnte. John will gar nicht wissen, wo Sherlocks Blutdruck aktuell ist.
Eben jetzt in dem Moment, in dem John endet, muss er wieder nicht fragen, was er noch erzählen soll. John kennt diesen Gesichtsausdruck von den Vätern verprügelter Kinder. Diesem Gesichtsausdruck schwankend zwischen Sorge um ein geliebtes Familienmitglied und unbändiger Wut, folgt meistens die Frage, wer das war. John kann nicht anders, als sich zu fragen, in welcher Beziehung die beiden, Mrs. Hudson und Sherlock Holmes, stehen. Mutter und Sohn scheinen sie aber aufgrund des Namens nicht zu sein, wenn gleich Sherlock gerade wie ein besorgter Sohn wirkt.
»Schwarze Sneaker ohne Markenaufdruck, einfache Jeans und schwarzes Hemd. Braune Haare, blaue Augen, Hasenscharte.« Ja John ist Mediziner, er setzt sich dafür ein, dass solche Begriffe wie Hasenscharte aus dem Sprachgebrauch verschwinden und man dafür anfängt, von einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte zu sprechen, aber: Er kann diesen Typen auf Anhieb nicht leiden. Egal wie rüstig Mrs. Hudson auch sein mag, man stößt keine Frauen um, erst recht keine, die die eigene Mutter sein könnten.
Vermutlich würde man es nicht merken, wenn man es nicht wüsste oder gelernt hätte darauf zu Achten, aber John sieht es. Er sieht dieses Zucken in der Augenbraue, in der Hand und auch den verkniffenen Mund. Es ist eindeutig, dass Sherlock weiß, wer das war.
Verblüffend zu beobachten ist allerdings auch, wie Sherlock einmal tief durchatmet, kurz die Augen schließt und dann wieder völlig normal zu sein scheint. Auch als er spricht, wirkt es auf John so, als habe er sich innerhalb weniger Sekunden abgekühlt. John versteht zwar nicht, wie das möglich ist, er will Sherlock aber auch nicht bedrängen. Immerhin ist er eigentlich der Patient und Sherlock der Psychiater.
»Victor Trevor«, stößt Sherlock leise hervor. Und auch wenn er deutlich beruhigt wirkt, es schwingt eine latente Aggression in diesem Namen mit.
»Ihr Ex-Freund?«, rät John. Immerhin hieß dieser Mann am Telefon ja auch Victor.
»Allerdings. Seit ich mich mit ihm im Juni getroffen habe, lässt er mich einfach nicht mehr in Ruhe«, sagt Sherlock. Schweigend nimmt er das Tonbandgerät zur Hand und stoppt die Aufzeichnung, bevor er weiterspricht. »Ich habe mich damals mit ihm getroffen, um mich daran zu erinnern, dass Partnerschaften nichts bringen. Ich habe in meinem Leben keinen Platz für einen Mann, egal wie sehr ich ihn auch will. Und aus eben diesem Grund wollte ich mich mit ihm daran erinnern, wie die letzte Beziehung ausging. Gebracht hat es mir nichts, außer, dass er mich nun nicht mehr in Ruhe lässt.«
John will gerade fragen, wer dieser Mann ist. Denn er muss etwas Besonderes sein, wenn er es geschafft hat, dass Sherlock offen davon erzählt. Er muss verdammt tief in sein Herz gekrochen und es sich dort bequem gemacht haben. Aber er fragt nicht, will nicht, dass Sherlock die Eifersucht aus seinen Worten herauslesen kann. Stattdessen ersetzt Sherlock sein Gesicht durch die gewohnt professionelle Maske und stellt das Tonbandgerät wieder ein.
»Aber genug von mir John, wie war Ihr Urlaub?«
Als John in Edinburgh aus dem Zug steigt, ist er denkbar verwirrt. Hinter ihm liegen anstrengende Tage und Wochen, während die Erkenntnis, Sherlock zu lieben, in ihm um Gehör kämpft. Gehör, das er nicht bereit ist zu geben, zumindest jetzt noch nicht. Es ist ein Wunder, dass er es sowohl schafft, die Waverley Station Richtung Süden zu verlassen, als auch sich auf dem Weg zur Blair Street weder zu verlaufen noch überfahren zu werden.
Als er schließlich das ›Ibis‹* hinter sich gebracht hat, wirft er noch einmal einen Blick auf den Zettel, den er vor wenigen Stunden selbst geschrieben hat, nach den Angaben von Tom. Suchend schaut er sich erst die rechte und dann die linke Häuserzeile an, bevor er dann findet, was er gesucht hat. Wie Tom ihm so passend beschrieb, findet John den Laden genau gegenüber dem ›City Cafe‹* und links von ›Mercat Tours‹*.
Er muss die schweren Maschinen und Lederkluften im Schaufenster nicht sehen, um zu wissen, dass dieser Laden der gesuchte ist. Tom Delaney höchstselbst steht vor seinem Laden und putzt gerade die Schaufenster, als er John Watson oben an der Straße stehen sieht.
Niemand, der Tom Delaney auf den ersten Blick sehen würde, würde ihn für den Besitzer eines Motorradfachgeschäfts mit Verleih halten. Vielleicht ein Schauspieler, Musiker, Maler, irgendein Künstler eben. Ein schwuler Künstler mit sehr viel Glitter und Puder im Gesicht. Tatsächlich hat Tom bestimmt so viele Highlighter und Puder in seinem Schlafzimmer, wie Motorräder in seinem Laden. Auf den ersten Blick sieht man meistens nur abstehende wildfrisierte Haare, glitzernde Wangen und rosa Shirts. Er ist optisch das genaue Gegenteil des typischen Bikers, aber auch nur optisch. Fragt man ihn nach Motorrädern, erkennt man schon nach einer Minute, dass dieser Mann vom Fach ist. Und so typisch schwul er sich kleidet und manchmal auch benimmt, er hat das Herz am richtigen Fleck und eine Lautstärke, dass einem manchmal die Ohren klingeln.
»WATSON!«, brüllt er über die Straße, dass sich alle Touristen auf dieser Straße umdrehen und verwirrt um sich blicken. Grinsend überquert John die Straße und geht auf seinen Freund zu. Es gibt Dinge, die verändern sich mit der Zeit, es gibt aber auch Dinge, die bleiben bis zum Sankt Nimmerleinstag immer gleich. Tom gehört zum letzten Teil.
John kommt nur auf zwei Meter an Tom heran, als dieser auch schon die Augenbrauen bis an den Haaransatz hebt. Er hat John schon in vielen Verfassungen gesehen, von himmelhochjauchzend über betrunken bis todtraurig, auch verliebt. Oftmals folgte auch das eine auf das andere.
»Wer ist es diesmal?«, fragt Tom dementsprechend auch nur.
»Mein Psychiater«, antwortet John trocken wie niedergeschlagen. Zwei Worte, die alles sagen und das ganze Drama offenbaren. Es macht auch keinen Sinn, Ausflüchte zu suchen, Tom würde sie alle doch durchschauen.
Tom liegen die Worte schon auf der Zunge, er will John schon fragen. Warum er nichts von der Therapie wusste, wofür er die braucht, seit wann er so offen bi ist. Er tut es nicht, hat es nie so direkt getan. Dafür gab es immer andere Orte als die offene Straße. Orte die es in London gibt, in Berlin, Bern, Paris oder Liverpool. In beinahe jeder Stadt. Cafés, in denen man nicht gefragt wird, was man gerne trinken möchte, sondern in denen man einen Stammplatz hat und sein Getränk automatisch bekommt. Genau so ein Lokal, mit einem äußerst intimen Hinterhof gibt es nur wenige Fußminuten von ihnen entfernt, sodass Tom John einfach packt und mit ihm losmarschiert.
»Wo geht es denn hin?«, fragt John schließlich, als ihm das Ganze zu bunt wird.
»Ins Old Barber. Ich weiß, was Du sagen willst, dass die doch damals zugemacht haben, aber der jüngste von denen ist nach fünf Jahren doch zurückgekommen, um den Laden zu führen«, erklärt Tom, bevor John auch nur fragen kann. Freunde sind eben so, sie wissen was du fragen und sagen willst, bevor du es selbst weißt.
Wie sie schließlich die Straße betreten in der der Pub liegt, kann Tom nicht anders als dem vorgelaufenen John etwas zu zurufen, dass sie beide sofort in ihre Jugend und die Sommerferien versetzt.
»James?«, ruft Tom also die Straße hinunter.
»Ja Mylord?«, antwortet John automatisch, eben auch, weil er weiß, wie es weitergeht. Und automatisch färben sich seine Wangen rot – eine Sache, die sich im Laufe, der Zeit auch geändert hat. Gott, wenn er an früher denkt… Damals konnte er diesen Spaß in einer vollen Fußgängerzone mitmachen ohne Rot zu werden.
»Die Eier bitte?«
»Geschüttelt oder gerührt?«
»Gekrault, du Arsch gekrault!«
In deinem Leben kann so viel daneben gehen. Du kannst dich in deinen Psychiater verlieben und wissen, dass es das Dümmste ist, was du jemals getan hast. Aber wenn du wirklich gute Freunde und einen Stammpub hast, gibt es kaum etwas, das nicht lösbar ist. Und manches kann man für den Abend in drei Bier gut auflösen.
Als sie den Pub also betreten, staunt nicht nur der Besitzer. John selbst war vielleicht lange nicht mehr hier, aber so modern hatte er es nicht in Erinnerung. Was folgt, ist eine typische Begrüßung unter Jugendfreunden. Sie fällt gewohnt herzlich aus und so locker wie seine Bekanntschaften lange nicht mehr waren. Hier wird er nicht gefragt, wie es in der Armee lief. Viele wissen es gar nicht und die, die es wissen, fragen nicht. Es ist ein Pub in dem nicht gefragt, sondern von sich aus erzählt wird.
Sie bekommen den Stammtisch, der einer Kegeltruppe oder Freunden des Hauses vorbehalten ist. Ein überdimensionales Weinfass, in das man sich hineinsetzen kann. Kaum dass sie sitzen, steht auch schon jeweils ein ganzer Krug Bier vor ihnen. Und wie der Kellner auch nur drei Schritte vom Tisch weggegangen ist, tut Tom, was ihn in seiner Jugend so manches Mal schon in Bedrängnis brachte. Er pfeift ihm hinterher und grinst ihn vielsagend an, als er sich umdreht.
»Hey, du bist doch keine 18 mehr! Das kannst du doch nicht mehr machen!«, weißt ihn John in seine Schranken – oder versucht es zumindest.
»Wieso denn nicht? Irgendeinen Vorteil muss es doch haben, dass ich ihn vor drei Jahren geheiratet habe.«
Es gibt diese Sätze, die machen John sprachlos. Aber immerhin hat er hiermit ein Gegenargument, als er sich später anhören muss, dass er doch gefälligst vom Krankenhaus aus hätte anrufen können.
Drei Bier später müssen sie John Watson schon beinahe aus dem Laden tragen. Einquartiert wird er auf Tom und Seans Couch. Tom und Sean, auch so eine Sache, die sich geändert hat und bei einem betrunkenen John für reichlich lachen sorgt. Shaun the gay sheep.
»Ich habe einen alten Freund besucht und dort übernachtet«, erzählt John schlicht. Was soll er denn sonst auch sagen? Dass er sich volltrunken bei einem seiner besten und ältesten Freunde ausgeheult hat? Dass der Grund dafür genau vor ihm sitzt? Nein, das kann und will er nicht tun. Denn das würde Sherlock als Arzt nur in arge Bedrängnis bringen. Außerdem entspricht es auch nicht ganz der Wahrheit. Wenn John nur genau genug nachdenkt, dann merkt er, dass er eigentlich ein Problem mit sich selbst hat. Damit, dass er sich in seinen Arzt verliebt hat.
»Ein alter Freund?«, fragt Sherlock interessiert nach. Für einen Moment platzt die professionelle Maske ab und John erkennt echtes Interesse an seinen Belangen. Natürlich ist er sonst nicht uninteressiert, aber jetzt liegt ein gewisses Funkeln in seinen Augen, sodass John eigentlich schon erwähnen will, dass sie niemals etwas miteinander hatten. Er lässt es doch.
»Wir stammen aus komplett gegensätzlichen Elternhäusern, aber wir waren beide jedes Jahr im Sommer bei unseren Großeltern in Edinburgh. Da haben wir uns auch kennengelernt, die restlichen Wochen im Jahr bis Weihnachten und dann wieder den Sommerferien haben wir uns Briefe geschrieben.«
John erzählt ihm nicht, dass sich Tom einen Monat vor den Sommerferien per Brief bei ihm outete. Auch nicht, wie er es nicht fertig brachte, ihm zurückzuschreiben. Wohl aber muss er bei der Erinnerung an ihr erstes Wiedertreffen versonnen lächeln. Wochenlang hat John überlegt, wie er ihm plausibel machen soll, dass es ihn nicht stört, sondern lediglich überrascht hat. Am Ende hat er ihn wie früher umarmt und gut war es. Seitdem hat sich Tom zu einem seiner besten Freunde, zu seinem Rückzugspunkt gemausert. Tom ist einer dieser Freunde, die hast du am besten Tag deines Lebens an der Seite, genauso wie am schlechtesten Tag deines Lebens. (Und dennoch hat er auch bei ihm immer ein Problem gehabt, einzugestehen, wenn er einen Mann attraktiv fand.)
»Sie haben also Urlaub in Edinburgh gemacht?«
»Nein, dort habe nicht nur etwas abgeholt. Tom hat einen Motorradverleih. Urlaub gemacht habe ich in ganz Schottland.«
Irgendwie überrascht es Sherlock nicht, dass John immer noch etwas neues in Petto hat. Letzten Monat verreist er einfach so und heute erfährt er, dass John Motorrad fährt. Aber irgendwie passt das auch zu ihm. Nur die Gedanken über John in Motorradkleidung sollte Sherlock lieber während der Sitzung lassen. John und Leder in einem Gedanken sind hier definitiv fehl am Platze.
Am nächsten Morgen, es ist noch beinahe dunkel, steigt John auf die Maschine. Es ist ein kleines Wunder, dass er tatsächlich schon wach und ausgenüchtert ist. (Immerhin haben sie ihm doch im Pub in die Biere noch Schnäpse gekippt.) Seine Sachen aus dem Rucksack hat er in Motorradtaschen gepackt und ist nun abfahrbereit, als Tom ihn noch einmal zurückhält:
»Bevor ich in drei Wochen vergesse, es dir zu erzählen: Ich habe letzten Monat einen Brief aus Deutschland bekommen. Timo hat sich mal wieder gemeldet und gefragt, ob wir uns treffen wollen. Ich hab ihm geschrieben, dass ich versuche, alle wieder zusammen zu bekommen. Aber das wollte ich dir gar nicht erzählen. Der hat doch tatsächlich diese Julietta geheiratet.«
John zieht ein Gesicht, als hätte er gerade ein ganzes Glas scharfen Senf auf ex gegessen und genauso fühlt er sich auch. Alleine der Gedanke an diese… Nein an dieser Stelle denkt er nicht weiter, hat er sich doch jeden Gedanken an diese… Person verboten. Aber nach allem, was mit Clara und ihr war… Ihm liegt der Gedanke nah, dass es für sie Glück ist, ihm nicht in Afghanistan begegnet zu sein. Diese Dame trifft man am besten ohne Waffen. (Bei ihr gilt allerdings auch: Wenn das Hirn eine Waffe ist, ist sie unbewaffnet – und das jeden einzelnen Tag ihres Lebens.)
Also nickt er nur, symbolisiert damit, dass er alle gerne wiedertreffen würde. John setzt den Helm auf, verabschiedet sich mit einem Winken von Tom und Shaun Sean und fährt Richtung Nordwesten aus Edinburgh.
Kurz überlegt John, wie er Sherlock erklären soll, was er in seinem Urlaub gemacht hat, aber eigentlich ist diese Überlegung Schwachsinn. Wenn es etwas geben sollte, das Sherlock wirklich nicht versteht, dann wird er schon fragen. Dennoch gibt sich John Mühe, alles genauso durchdacht zu erzählen, wie er es geübt hat. Nicht, dass er doch noch preisgibt, was auf keinen Fall jemals an die Luft gelangen darf. Sein Blick fällt auf einen Strauch in der Nähe und bleibt dort auch liegen. Besser er schaut Sherlock in den nächsten Minuten nicht an. John mag sich nicht vorstellen, was passiert, wenn Sherlock erkennt, dass sich John in ihn verliebt hat. Sie haben so ein gutes Verhältnis zu einander, das würde er nur ungern verlieren.
»Wahrscheinlich würde man meinen Urlaub klassisch einen Roadtrip nennen. Sie wissen ja wie schnell ich nur noch wegwollte. Es gab in den letzten Monaten einfach so viel Veränderung in meinem Leben, dass ich nur noch gearbeitet habe. Das Problem ist aber einfach, dass sich die Kollegen irgendwann auf einen verlassen und das als normales Pensum hinnehmen. Als dann noch eine Grippewelle über London hereingebrochen ist…. Weil ich an dem Tag dann auch noch ständig aufgehalten wurde, wurde mir klar, dass ich eine Auszeit brauche. Mit ein paar Klicks im Internet wusste ich, dass Tom sich seinen Traum wirklich erfüllt hat.«
Nein, John erzählt Sherlock nicht, warum er wirklich weggefahren ist. Warum er wirklich so durcheinander war. Dass es da einen Mann in seinem Leben gibt, zu dem er sich hingezogen fühlt. Dass Sherlock der Mann ist, den er am liebsten niemals wieder gehen lassen würde.
Doch obwohl Sherlock merkt, dass es einstudiert ist und John nicht alles erzählt, er lässt es sich nicht anmerken. Mittlerweile haben sie August, wenn John noch immer nicht weiß, dass er sich ihm anvertrauen kann, kann Sherlock daran auch nichts mehr ändern. Vielleicht ist es das aber auch gar nicht und John möchte sich einfach ein wenig Privatleben bewahren. Und eben weil es auch das Letzte sein kann, lässt Sherlock ihn in Ruhe und beschließt einfach nur, auch weiterhin einen Blick auf seinen Lieblingspatienten zu haben.
»Bevor ich Sie bitte, weiter zu erzählen, John, habe ich noch eine Frage, die mir seit Ihrem letzten Besuch im Kopf umgeht. Wie haben Sie es geschafft, so schnell Urlaub zu bekommen? Im Krankenhaus verlässt man sich doch auf Sie und ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihr Chef die Idee so gut fand?«
Kurz lacht John, stellt sich das Gesicht seiner Kollegen vor, wenn er es tatsächlich so gemacht hätte und einfach abgehauen wäre.
»Nein, allerdings nicht. Ich hatte wahnsinniges Glück. Dr. Jacksons Frau und Tochter hatten ein paar Tage zuvor eine schwere Magen-Darm-Infektion erlitten. Er hätte eigentlich diese drei Wochen Urlaub und ich die nächsten drei gehabt. Wir haben einfach unseren Urlaub samt den Schichten getauscht. Jetzt gehe ich einfach die nächsten drei Wochen arbeiten und Jackson nimmt meinen Urlaub.«
Einen Moment schweigen sie. Sherlock denkt darüber nach, dass John ja reichlich Glück hatte und John wiederum, dass er sofort wieder Urlaub machen könnte. Insgesamt hat ihm dieser Urlaub wirklich gutgetan, er ist sich über einige sehr wichtige Dinge klar geworden. Dann als er sich erinnert, dass er Sherlock ja von seinem Roadtrip berichten sollte, spricht er weiter.
»Ich habe mir vorher überlegt, wo ich immer gut nachdenken konnte und es gab vieles, über das ich nachdenken musste«, erzählt John und ist froh, dass Sherlock nicht nachfragt, worüber er nachgedacht hat. Tatsächlich ist Sherlock klar, dass es Dinge gibt, die John ihm nicht erzählt, aber das ist auch nicht schlimm. Solange sich John immer an ihn wendet, sobald es ihm über den Kopf wächst, ist alles in bester Ordnung. Wer wüsste besser als Sherlock Holmes, dass jeder Geheimnisse braucht?
Eine geheime Wohnung im Dachstuhl, eine bekannte in der Montague Street, eine privatere Wohnung in der Bakerstreet und einen weiteren Job als Berater für New Scottland Yard. Ja Sherlock weiß, was Geheimnisse und Überarbeitung bedeuten.
»Ungefähr 51 Meilen von Edinburgh entfernt liegt der Queen Elizabeth Forest Park, der sehr sehenswert sein soll. Und da ich dank Ihnen wusste, dass ich in der Natur besser nachdenken kann, habe ich einen Abstecher dorthin unternommen.«
Schon als John Watson von den größeren Straßen auf immer schmalere wechselt und schließlich die Maschine am Waldrand abstellt, weiß er es schon. Er versucht zwar, es auszublenden, aber instinktiv weiß er, dass er hier nicht entspannen kann. Die Gegend ist wunderschön, der alte Baumbestand bietet ihm auch den Schutz, den er so nötig hat und dennoch. Er kann sich hier nicht entspannen.
Vielleicht ist die Umgebung zu ruhig, vielleicht die Bäume zu laut. Vielleicht ist der Wald zu dunkel, vielleicht zu licht. John kann es nicht erklären, doch Tatsache ist: Er fühlt sich hier pudelwohl, aber es hilft ihm nicht weiter.
Dennoch wandert er eine Stunde durch den Wald, versucht nachzudenken und wieder zu sich selbst zu finden, aber es passiert einfach nicht. Als er am Ende den Wald wieder verlässt und auf seine Maschine steigt, ist er niedergeschlagen wie schon lange nicht mehr.
Es ist unsinnig, das weiß John selbst, aber als er sich zu diesem Urlaub entschlossen hat, hat er geglaubt, sofort zu sich zu finden und nicht erst nach dem richtigen Ort suchen zu müssen. Jetzt stellt sich ihm nur noch die Frage, ob es überhaupt noch Sinn macht, zum Cairngorms Nationalpark zu fahren oder ob er es lieber lassen soll.
Letztlich stellen sich auch diese 95 Meilen als wirkungslos heraus. Es ist nicht so, dass er hier nicht nachdenken kann, ganz im Gegenteil. Auf weiter Flur ist niemand zu sehen, der ihm irgendwie zu nahe kommen könnte. Fuchs und Hase sagen sich an diesem Ort gute Nacht, dennoch ist es nicht das Richtige für ihn. Denn nur kurz denkt er an seine verzwickte Situation, daran, das erste Mal in einen Mann verliebt zu sein, der weiß das man bi ist. Das erste Mal in einen Mann verliebt zu sein, dem man schon vorher alles anvertraut hat. In seinen Therapeuten verliebt zu sein.
Bevor die ersten Tränen fließen – und es würden dann nicht die Letzten sein –, hat sich John schon wieder auf das Motorrad gesetzt und fährt weiter. Irgendwie will er hier nicht die Fassung verlieren, dafür fühlt er sich auch noch nicht bereit genug. Stattdessen fährt er wieder einmal weiter an diesem Tag.
Bei Inverness kauft er sich bei einer Bäckerei ein belegtes Brötchen und eine Flasche Wasser. Ein paar Kilometer weiter, außerhalb des Orts an einem kleinen Rastplatz, hält er dann erneut sein Motorrad an und macht eine kurze Pause. Mit sichtlichem Genuss beißt er in das Brötchen – ein typischer Gummiadler, der ihm ziemlich am Gaumen klebt – und spült mit dem Wasser hinterher. Für eine Viertelstunde vertritt er sich noch die Beine, will so noch etwas Blut in die Extremitäten bekommen, bevor er sich dann auf den Toiletten erleichtert und wieder weiterfährt Richtung Südwesten.
Als er gegen Abend endlich das Motorrad in der Nähe von Urquhart Castle abstellen und die letzten Meter zu Fuß gehen kann, ist John sichtlich erschöpft. Er ist lange kein Motorrad mehr gefahren und auch früher schon nicht so ein langes Stück. Dennoch bereut er es nicht. Was er im Fahren gesehen hat, die Landschaften, Wald und Nationalpark, es hat ihm alles außerordentlich gut gefallen.
Niven* will den Pub schon schließen, als er überrascht die Augen aufreißt und dann anfängt zu strahlen. Bei einem seiner alten Kameraden, noch vor ihm ausgeschieden aus dem Dienst, findet er nicht nur einen warmen Schlafplatz, sondern auch ein offenes Ohr, das ihn nicht für seine PTBS verurteilt oder bemitleidet.
Wenn ihm sein Urlaub bis zu diesem Zeitpunkt auch nichts anderes als schöne Landschaftseindrücke beschert hat, wird John in diesem Moment doch eines klar. Egal wie sehr er sich von der Welt abgekapselt hat, egal wie schlecht es ihm geht, egal welche Probleme er mit seiner Schwester hat: Es gibt diese Menschen, die den alten John Watson kennen und den neuen dennoch mögen. Dass diese Menschen zu großen Teilen in Schottland leben, ist hinderlich, aber kein Problem. Dann muss er eben zur Not jedes Jahr nach Schottland fahren.
»Ich war hier und dort und bin hinterher einfach nur noch so gefahren, wie ich wollte. Die meiste Zeit habe ich aber in dem schottischen Dorf Crosskirk verbracht«, erzählt John und sein Gesicht nimmt direkt so einen entspannten Gesichtsausdruck an. » Die ersten vier Tage bin ich einfach nur durch Schottland und die Highlands gefahren, danach bin ich irgendwie in Crosskirk gestrandet.«
»Crosskirk?«
»Ein kleines Dorf an der nördlichen Küste. Ich glaube, da standen ungefähr drei Häuser? Ich bin einfach irgendwo abgebogen und habe dann dort halt gemacht. Da war wirklich gar nichts außer ein paar Häusern und viel Küste. Es gab nicht einmal ein Bed and Breakfast, stattdessen bin ich bei einer älteren Lady untergekommen, die mir Kost und Logis gegen Arbeiten am Haus bot.«
Was er Sherlock nicht erzählt, ist eine ganze Menge. Dass man dort oben, so weit ab von der Zivilisation automatisch leerläuft, dass man sich nicht ablenken kann und sich mit sich selbst beschäftigen muss. Dass Tante Agathe, wie er sie nennen sollte, einen siebten Sinn für Geheimnisse hat. Dass sie erkannt hat, was er sich nur unfreiwillig eingestehen wollte. Dass sie dem Ganzen endlich einen wirksamen Riegel vorgeschoben hat. Sie hat als Einzige erkannt, was sie sagen muss, dass es ihm besser geht.
»Weißt du John, ich kann verstehen, weswegen du dich in deinen Psychiater verliebt hast und er wirkt unglaublich sympathisch, aber wenn du weglässt, dass es verboten ist, was bleibt dann über? Er ist schwul, das ist schon mal hilfreich, du bist in ihn verliebt, aber: Du bist auch krank. PTBS ist nichts, mit dem man spielen darf, und wäre es ihm gegenüber nicht unfair, wenn er dich mit der Krankheit teilen müsste? Deine Schwester macht dir noch immer Sorgen und da soll er reinplatzen? Werd erst mal gesund mein Junge, klär die Dinge, die dir auf dem Herzen liegen und dann, wenn endlich einmal wirklich Land in Sicht ist, kannst du noch mal drüber nachdenken. Das Alphabet beginnt doch schließlich auch bei A und nicht bei W.«
Dieses Wissen, dieses klare Gespräch hilft John ungemein. Endlich weiß er, dass es in Ordnung ist, dass diese Liebe nicht schlimm ist. Er kann es genießen, wieder verliebt zu sein, er darf es nur nicht so offen zeigen. Und wenn er endlich das Gefühl hat, gefestigt zu sein und nicht bei jedem Windstoß zu wackeln, kann er vielleicht über eine Lösung des Problems nachdenken.
Letztendlich hat er Tante Agathe versprechen müssen, dass er wiederkommt und ihr immer wieder Briefe schreiben wird. Er konnte ihr auch nicht widersprechen, sie war so offen und auch knallhart, dass er ihr einfach nicht widersprechen konnte. (Dass er ihr versprechen musste, einmal seinen Partner mitzubringen, kann er noch geflissentlich ausblenden.)
So vergeht diese Sitzung zwischen Blütenduft und heimlichen Gefühlen, ohne dass ein Turm wackelt oder John sich zu einer Aussage hinreißen lässt. Sie plaudern in ruhigem Ton über den Urlaub und über das ungeplante Ausscheiden Marys. (Was Sherlock nicht erzählt, ist, dass Mary Akten gestohlen und an die Konkurrenz weitergeleitet hat. Dass sie eine Spionin war. Dass sie jetzt für Mycroft die eigentlichen Arbeitgeber ausspioniert.)
Dieses Mal versucht John, nicht zu flirten – und bringt Sherlock damit auch nicht durcheinander. Seit Langem ist endlich wieder alles in bester Ordnung. Sie sind Arzt und Patient mit einem sehr intimen Verhältnis, aber auch nicht mehr. Das ist doch ein Status quo, mit dem man arbeiten kann.
*****
Einige Stunden sind seit der Sitzung mit John vergangen, Sherlock hat gerade das letzte Tonband abgehört und die Akte geschlossen, als es energisch an der Tür klopft. Ohne ein weiteres Wort abzuwarten, öffnet Mrs. Hudson auch direkt die Tür, immerhin waren sie für genau jetzt verabredet.
Sherlock muss nicht fragen und Mrs. Hudson sagt auch nichts, es ist ein Blickduell, das keiner gewinnt, aber für beide äußerst aufschlussreich ist. Im Laufe des Tages kam dann auch die Polizei, das sogar sehr schnell in Form von Detective Inspector Greg Lestrade. Zu diesem Zeitpunkt entstand dann auch diese Verabredung. Sherlock ist den ganzen Tag in seinen Pausen durchgegangen, wie sie am besten gegen Victor vorgehen können, ohne ihre eigenen Karten zu offenbaren.
»Erstatten Sie bitte Anzeige wegen Körperverletzung und Bedrohung. Mycroft stellt Ihnen ein Attest auf eine angeknackste Hüfte aus, die sie zuvor nur wegen des Adrenalins nicht gemerkt haben.«
»Aber Sherlock«, will Mrs. Hudson direkt einwenden, als Sherlock auch schon weiterspricht. Er weiß genau, dass sie nicht unbedingt ein Problem mit einer Falschaussage hat, sondern damit nicht, zu wissen, warum.
»Ich bitte Sie. Dann können Sie eine Einstweilige Verfügung erwirken, dass er sich Ihnen auf eine bestimmte Entfernung nicht mehr nähern darf. Das gilt dann sowohl für diese Praxis – Ihren Arbeitsplatz –, und die Bakerstreet. Es reicht schon, dass er weiß, dass ich hier arbeite und in der Montague Street eine Wohnung habe, von der im Dachboden oder in der Bakerstreet muss er nichts wissen. Ich habe selbst schon Anzeige wegen Hausfriedenbruches erstattet und ein generelles Hausverbot ausgesprochen, jetzt müssen wir uns nur noch um die Bakerstreet kümmern.«
Er ist eine Bedrohung für unsere Patienten, die meisten haben schon genug Schlimmes ausgestanden. Er bringt mich langsam an meine Grenzen und ich habe das Gefühl, dass meine Arbeit darunter leidet. Alleine schaffe ich das nicht! Außerdem hat er Sie angegriffen und das kann und werde ich nicht tolerieren!
Mrs. Hudson hört auch die Dinge, die Sherlock nicht sagt und nickt schließlich nur und verspricht, sofort bei der Polizei anzurufen.
TBC
[31.08.2017 // 5797 Worte]
---------------------------
1) Zitat aus der Serie – Staffel 1, Folge 1
2) Diesen Ort gab es, als Google seine Streetview-Aufnahmen machte, tatsächlich. Wie es heute ist, kann ich nicht sagen.
3) s.O.
4) s.O.
5) Vergleiche Sherlock und John von Asperger bis Überforderung Kapitel 28. (Ja ich weiß, nicht selbes Universum, aber ich mag Niven halt.)